Die Psychologie hat im Laufe ihrer Geschichte als eigenständige Disziplin eine Vielzahl von Theorien hervorgebracht, die unser Denken in Wissenschaft und Alltagsleben verändert haben. Erstmals werden nun die maßgeblichen Konzepte und Zusammenhänge in einem Band kompakt präsentiert und gut verständlich dargestellt, mit dem Ziel, eine Übersicht über das vielfältige Gebiet der Psychologie, den derzeitigen Stand der Theoriebildung sowie über die Vernetzung der einzelnen Theorien zu bieten. Entstanden ist ein unverzichtbares Kompendium für Studierende des Fachs und seiner Nachbardisziplinen, aber auch für Lehrende, Praktiker sowie alle, die an psychologischen Themen interessiert sind.
Mark Galliker ist Professor für Psychologie bei den Universitären Fernstudien Schweiz.
Uwe Wolfradt ist Professor für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Kompendium
psychologischer
Theorien
Herausgegeben von
Mark Galliker
und Uwe Wolfradt
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2154.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74225-9
www.suhrkamp.de
Vorwort
THEORIEN
Abbild- und Widerspiegelungstheorie Mark Galliker
Affiliationstheorie Lysann Zander
Akkulturations- und Migrationstheorien Andrea Riecken
Aktionstheorie des Gehirns Mark Galliker
Analytische Psychologie Uwe Wolfradt
Anerkennungstheorie Walter Herzog
Assoziationstheorien Uwe Wolfradt
Attributionstheorie Mark Galliker
Austauschtheorie Walter Herzog
Autoritarismus-Theorie Bernd Six
Bedürfnispyramide Uwe P. Kanning
Beeinflussungstheorien Hans-Peter Erb
Bindungstheorie Alexander Kochinka
Biologische Psychologie Mark Galliker
Coping Guy Bodenmann
Deliberationstheorie mentaler Evolution Werner Loh
Denktheorien Uwe Wolfradt
Dialogmodelle Margot Klein
Diskurstheorie Carina López Uribe
Emotionstheorien Mark Galliker
Entscheidungstheorien Arndt Bröder
Entwicklungstheorie der Emotionsregulation Marc Schipper
Entwicklungstheorien Chirly dos Santos-Stubbe
Erlernte Hilflosigkeit Mike Lüdmann
Evolutionstheorie und Evolutionäre Psychologie Walter Herzog
Existentialistische und daseinsanalytische Ansätze Mark Galliker
Feldtheorien Wolfgang Schönpflug
Feministische Theorien in der Psychologie Julia Scholz und Anna Sieben
Führungstheorien Susanne Braun und Dieter Frey
Ganzheitstheorie Susanne Guski-Leinwand
Gedächtnistheorien Jürgen Bredenkamp
Geisteswissenschaftliche Psychologie Mark Galliker
Gelernte Sorglosigkeit Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt
Genetische Epistemologie Georg W. Oesterdiekhoff
Gerechtigkeitstheorien Mike Lüdmann
Gerontopsychologische Theorien Christiane Bahr
Geschichtswissenschaftliche Ansätze Mark Galliker
Gestalttheorie Uwe Wolfradt
Handlungskontrolltheorie Peter Gröpel und Tom Nicolas Kossak
Hebbsche Lernregel Mark Galliker
Hermeneutik als Theorie des Verstehens Jobst Finke
Historische Psychologie als allgemeine Psychogenesetheorie Gerd Jüttemann
Humanistische Psychologie Mark Galliker
Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung Dieter Frey und Stephanie Draschil
Ideomotorische Verhaltens- und Handlungssteuerung Armin Stock
Impression-Management-Theorie Petia Genkova
Individualpsychologie Mark Galliker
Interaktionsbasierte Theorien der Face-to-face-Kommunikation Uta Quasthoff
Interdependenztheorie Silvia Macher, Ursula Athenstaedt und Paul A. M. Van Lange
Klinische Psychologie Mark Galliker
Kognitive Emotionstheorien Mark Galliker
Kognitive Dissonanztheorie Claudia Vogrincic
Kognitiv-physiologische Theorie der Emotionen Marc Schipper
Konnektionismus Beat Meier
Konstruktivistische Ansätze der Psychologie Lisa Schönberg
Konzeptgesteuerte Informationsverarbeitung Margarete Imhof
Kreativitätstheorien Norbert Groeben
Kritische Psychologie Morus Markard
Kritische Theorie Elena Demke
Kulturvergleichende Psychologie Hannes Stubbe
Kulturhistorischer Ansatz Carlos Kölbl
Leib-Seele-Problem Mark Galliker
Lerntheorien Jürgen Bredenkamp
Lesekompetenz Norbert Groeben und Ursula Christmann
Libidotheorie Horst Gundlach
Linguistisches Relativitätsprinzip Mark Galliker
Medienpsychologische Theorien Petia Genkova
Menschenbilder der Psychologie Mark Galliker
Modell der Extension Dieter Frey und Stefan Schulz-Hardt
Morphologische Psychologie Herbert Fitzek
Motivationstheorien Mark Galliker
Neopsychoanalyse Mark Galliker
Neuropsychologische Theorien Uwe Wolfradt
Organisationspsychologische Theorien Mark Galliker
Pädagogisch-psychologische Theorien Mark Galliker
Personzentrierte Entwicklungstheorie Eva-Maria Biermann-Ratjen
Personzentrierte Persönlichkeitstheorie Jochen Eckert
Personzentrierte Systemtheorie Jürgen Kriz
Phänomenologische Psychologie Uwe Wolfradt
Positive Psychologie Marc Schipper
Problemlösungstheorien Joachim Funke
Produktionstheorie des Denkens Mark Galliker
Produktionstheorie des Sprechens Mark Galliker
Psychoanalyse Daniel Weimer
Psychoanalytische Beziehungstheorie Daniel Weimer
Psychoanalytische Kulturtheorie Norbert Rath
Psychoanalytische Theorien des Unbewussten Florian Geyer
Psychologik Walter Herzog
Psychologische Ansätze moralischer Entwicklung Fabio Sticca
Religionspsychologische Theorien Uwe Wolfradt
Risikowahl-Modell Jürgen Beckmann
Rollentheorie der religiösen Erfahrung Bernhard Lang
Rubikon-Modell der Handlungsphasen Jürgen Beckmann
Selbstaufmerksamkeitstheorie Petia Genkova
Selbstbeobachtungskonzepte Michael Schwarz
Selbstbestimmungstheorie Lysann Zander
Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung Andreas Höfler und Ursula Athenstaedt
Semiotisch-ökologische Psychologie Christian Allesch
Sinntheorie Stefan Schulz-Hardt und Dieter Frey
Soziale-Dominanz-Theorie Bernd Six
Soziale Kategorisierung und Diskriminierung Franc Wagner
Soziale Vergleichstheorie Katja Corcoran
Sozialisationstheorie des Lesens Norbert Groeben und Ursula Christmann
Sozialpsychologie des sozialen Urteils Chirly dos Santos-Stubbe
Sozialpsychologische Theorien Hans-Peter Erb
Sozialwissenschaftlicher Ansatz der Psychologie Norbert Groeben
Spracherwerbstheorien Uta Quasthoff
Sprachliche Diskriminierung Franc Wagner
Sprachpsychologische Theorien Mark Galliker
Strukturalistische Entwicklungstheorie Burkhard Vollmers
Subjektive Theorien Mark Galliker
Symbolische Handlungstheorie Christian Allesch
Tätigkeitstheorie der Persönlichkeit Carlos Kölbl
Theoretische Psychologie Uwe Wolfradt und Mike Lüdmann
Theorie der Sozialen Identität Christine Flaßbeck und Hans-Peter Erb
Theorien der Psychologie und Empirie Mark Galliker
Theorie-Praxis-Transfer Margot Klein
Traumatheorie Elena Demke
Traumtheorien Mark Galliker
Überredungstheorien Birga Mareen Schumpe und Hans-Peter Erb
Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-Theorie Uwe P. Kanning
Völkerpsychologie Susanne Guski-Leinwand
Vulnerabilitäts-Stress-Theorie Elena Demke
Wahrnehmungstheorien Uwe Wolfradt
Wertetheorie Paul H. P. Hanel
Willensfreiheit Norbert Groeben
Wissenschaftstheorie Norbert Groeben
Wohlbefindenstheorien Pasqualina Perrig-Chiello und Stefanie Spahni
Zeichentheorie der Sprache Elfriede Billmann-Mahecha
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Mit dem vorliegenden Band wird zum ersten Mal ein umfangreiches Kompendium der relevanten Theorien der wissenschaftlichen Psychologie vorgelegt. Der Schwerpunkt liegt auf den Theorien der akademischen Psychologie, doch werden auch Theorien einbezogen, die von praktischer Relevanz für die Psychotherapie-Ausbildung sind. Innerhalb der akademischen Psychologie wird insbesondere der Allgemeinen Psychologie und der Sozialpsychologie eine zentrale Bedeutung zuerkannt.
Das Kompendium psychologischer Theorien bringt allen psychologisch Interessierten – Studierenden der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen, Lehrenden, Praktikern und einem breiteren Leserkreis – die vielfach rezipierten und verwendeten klassischen, aber auch die neueren und und besonders interessanten zukunftsweisenden Theorien der Psychologie näher. Es versteht sich als hilfreicher Begleiter zur Vorbereitung von Lehrveranstaltungen und zur Konzipierung schriftlicher Arbeiten im Studium, in der Forschung sowie in der Berufspraxis. Hinweise zu Rezeptionsgeschichte, Sekundärliteratur und weiterführender Literatur bieten einen optimalen Einstieg in das jeweilige Theoriefeld. Die Gliederung der Beiträge folgt daher einer bestimmten Struktur: (1) Wichtige Vertreter/innen, (2) Theorien, (3) Rezeption und (4) Literatur/Quellen.
Im Allgemeinen beziehen sich Lexika und Kompendien der Psychologie auf einzelne Termini, Experimente und/oder Personen. Diese Ausrichtung gründet in einer langen und bewährten Tradition, die mit der empirisch-experimentellen Forschung der Psychologie begonnen und sich mit der theoretischen Einordnung psychologischer Wissensinhalte etabliert hat. Bereits im Jahr 1732 unterschied Christian Wolff (1679-1754) indes zwischen einer empirischen Psychologie (psychologia empirica) und einer theoretischen Psychologie (psychologia rationalis) und hob die Bedeutung von Theorien für die Psychologie hervor. Und Wilhelm Wundt (1832-1920) prognostizierte kurz vor dem ErstenWeltkrieg, dass Psychologen, die sich nicht mit Theorie und insbesondere mit Erkenntnistheorie auseinandersetzten, sich in Handwerker verwandeln würden, »aber nicht gerade in Handwerker der nützlichsten Gattung« (vgl. Wundt, W. [1913/1921]. Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Kleine Schriften. Bd. 3. Stuttgart: Kröner, S. 533). Theo Herrmann (1928-2013) betonte in seinem 1979 erschienenen Werk Psychologie als Problem ebenfalls die Wichtigkeit von Theorien für das psychologische Forschungsprogramm. Seiner Meinung nach erfüllen Theorien nicht nur heuristische Aufgaben, sondern es kommen ihnen auch elementare Funktionen bei der Rekonstruktion von psychologischen Bereichen zu.
Indessen wird bis heute den für die psychologische Forschung zur Verfügung stehenden Theorien und Modellen erstaunlicherweise relativ wenig Beachtung geschenkt. Dies ist sicherlich dem komplexen Gegenstand der psychologischen Forschung, dem individuellen Erleben und Verhalten, geschuldet. Die Psychologie konzentrierte sich lange Zeit eher auf experimentelle Untersuchungen und vernachlässigte das Feld der Theorien.
Das genaue Studium der Theorien im Original kann das vorliegende Kompendium selbstverständlich nicht ersetzen; es kann allerdings wichtige Hinweise geben, um die Leser/innen zum Studium der Quellen anzuregen. Die Herausgeber sind der Ansicht, dass die oft theoretisch sehr interessierten Studierenden allzu selten auf die Quellen alternativer Erklärungen in der Psychologie aufmerksam gemacht werden und sich so mit der Vielzahl psychologischer Ansätze kaum je ausreichend auseinandersetzen können. Das Kompendium möchte in diesem Sinne nicht nur dem bestehenden großen Informationsbedürfnis entsprechen, sondern auch zu einem pluralistischen Verständnis der Psychologie beitragen. Die Psychologie reicht erheblich über ihren experimentellen Bereich hinaus. Eine lebhafte Diskussion ihrer vielfältigen theoretischen Ansätze sollte daher möglich werden; nicht zuletzt deshalb, weil sinnvolles Experimentieren darin besteht, alternative Theorien und ihre Hypothesen gegeneinander zu testen.
Die Auswahl von Theorien für das Kompendium fiel erwartungsgemäß schwer. Zwar wurde ein Gesamtbild psychologischer Theorien angestrebt, doch konnten natürlich nicht sämtliche Theorien berücksichtigt werden, und die einzelnen Theorien konnten über die globale Darstellung hinaus nur stellenweise differenzierter und konkreter wiedergegeben werden. Der vorliegende Band vermag daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität zu erheben. Verschiedene Bereiche der Psychologie werden in Übersichtsbeiträgen mit ihren zentralen Paradigmen kurz vorgestellt, die nur ausschnittsweise näher beleuchtet und in besonderen Beiträgen vertieft werden können.
Ein wichtiges Anliegen der Herausgeber ist es, eine Vernetzung der vielen theoretischen Ansätze zu schaffen, gilt es doch zunächst, eine Übersicht zu gewinnen, um im Weiteren zu einer bereichsübergreifenden Einordnung und längerfristig zu einer theoretisch fundierten Integration zu gelangen. Sämtliche Artikel sind mit Verweisen auf andere Beiträge sowie mit weiterführenden bibliographischen Hinweisen ausgestattet, um den Benutzer/innen die selbständige Einarbeitung in größere Problemzusammenhänge zu erleichtern. Auf eine hierarchische Gliederung der einzelnen Kapitel wurde verzichtet, da eine solche nach diversen, sich teilweise widersprechenden Kriterien hätte vorgenommen werden müssen und der Charakter eines alphabetisch geordneten Nachschlagewerks verlorengegangen wäre.
Zu jedem Beitrag wären sehr viele Literaturangaben möglich gewesen. Die Autoren und Autorinnen mussten sich jedoch im Literaturverzeichnis der Übersicht halber sowie aus Platzgründen auf maximal vier Titel beschränken. Dazu gehören die ersten Arbeiten zur Theorie, weitere Texte wichtiger Repräsentanten der Theorie und besonders auch die aktuelle und weiterführende Literatur. In den meisten Beiträgen wird mit Namen, Jahreszahl und/oder Titel auf zusätzliche Literatur hingewiesen. Bei wörtlichen Zitaten wurden indes die Literaturangaben immer vollständig im Literaturverzeichnis ausgewiesen. Die formale Darstellung der in diesem Band präsentierten psychologischen Theorien orientiert sich an den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs).
Die Artikel wurden von Autorinnen und Autoren verfasst, die in ihrer Forschung und Lehre und/oder in ihrer Praxis mit den betreffenden psychologischen Ansätzen bestens vertraut sind. In den meisten Fällen handelt es sich um renommierte Spezialisten. Auch einige vielversprechende Nachwuchswissenschaftler/innen beteiligten sich am »Theorie-Projekt«. Ohne die engagierten Autoren und Autorinnen hätten wir unser Anliegen niemals realisieren können. Allen Beteiligten an der Verwirklichung des Kompendiums psychologischer Theorien möchten wir an dieser Stelle herzlich danken. Unser besonderer Dank gilt Christian Heß und Marc Münster (beide Halle/Saale) sowie Andrea Heiß und Werner Zimmermann (beide Mannheim) für ihre Hilfe bei Lektoratsarbeiten und bei der Manuskripterstellung.
Mark Galliker (Mannheim) und Uwe Wolfradt (Halle/Saale)
Die Abbild- und spätere Widerspiegelungstheorie setzt einen konsequenten materialistischen Monismus voraus (→ Leib-Seele-Problem). Ein materialistisch-monistischer Ansatz wurde bereits von dem griechischen Philosophen Demokrit formuliert. Nach seiner Auffassung werden sämtliche Dinge durch ein Ensemble von Atomen gebildet, die sich durch Ordnung, besondere Qualitäten und Quantitäten voneinander unterscheiden und fortwährend Atomgruppen (eidola) aussenden, die als feinste Abbilder derselben im Kontakt mit den Sinnesorganen der Menschen deren Erkenntnis ermöglichen.
Dem römischen Denker Titus Lucretius Carus zufolge besteht das Universum aus Körpern und Leere. Letztere ist auch zwischen den mehr oder weniger dichtgedrängten Elementarteilchen innerhalb der sicht- und greifbaren Körper vorhanden (sogenannte Poren). Etwas Drittes außerhalb der Körper und der mit ihnen konstituierten (Innen-)Räume existiert nach Lukrez nicht. Auch das der menschlichen Wahrnehmung nicht zugängliche, sublimale Seelische besteht aus feinsten Partikeln, indes in minimaler Konzentration, und wird durch sich (mitunter wellenförmig) fortbewegende Korpuskel (u. a. Licht, Gerüche, Geräusche und Stimmen) über die Sinnesorgane der Organismen angestoßen und mit denselben (wenn man will: auch durch dieselben) in Bewegung versetzt und beständig verändert. Die Wahrnehmung erfolgt ausschließlich stofflich vermittelt, wobei als Inneres der Reize die Empfindungen den Wahrnehmungen zugrunde liegen. Lukrez fasst die Seele der Lebewesen als Stoffliches sowie als Stoffliches in Relation zum Nichtstofflichen auf, wobei Letzteres nicht etwa mit irgendeiner positiven Lehre (z. B. des Übersinnlichen), sondern ausschließlich mit Leere gleichgesetzt wird (vgl. Lukrez, 60 v. u. Z./2014, S. 135-169).
Eine Weiterentwicklung des materialistischen Ansatzes und der Abbildtheorie erfolgte durch den englischen Empirismus und Sensualismus (John Locke) und den an ihn anknüpfenden französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts (u. a. Denis Diderot). Nach Diderot besteht ein organischer Zusammenhang zwischen Empfindung, Wahrnehmung und Denken – Funktionen des Gehirns, welche durch die Einwirkung der externen Dinge evoziert werden.
Zur Weiterentwicklung der Widerspiegelungstheorie im 19. Jahrhundert trugen diverse Autoren bei (u. a. Baruch de Spinoza, Ludwig Feuerbach sowie die Klassiker des historischen und dialektischen Materialismus). Von Naturwissenschaftlern wurde die Widerspiegelungstheorie in der Form einer einfachen Abbildtheorie ohne gesellschaftliche Einbettung oft wie selbstverständlich bekräftigt, was von philosophischer Seite zuweilen als ›naiver Realismus‹ kritisiert wurde.
Die historisch-materialistisch versierte Widerspiegelungstheorie geht von den Wechselwirkungen organischer Systeme mit ihrer Umwelt aus, wobei externe Einwirkungen auf den Organismus durch diesen intern reproduziert werden. Dies setzt eine spezifische Eigenschaft der organischen Systeme voraus, die als Irritabilität bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um eine somatisch höchst verfeinerte Wiedergabe der materiellen Außenwelt und des eigenen Leibes, wobei die Kompositionen der somatischen Bestandteile, die gegebenenfalls subtile Darstellungen erbringen, für die Wahrnehmung sublimal bleiben. Die Widerspiegelung erfolgt nicht nur durch passive Rezeption, sondern auch (selbst)tätig bzw. durch weit entwickelte, differenzierende Aktivitäten des Kleinhirns sowie der Großhirnrinde, welche den Tonus der Motorik regulieren und zwischenzeitlich auch jene durch unwillkürliche oder willkürliche Aufmerksamkeit gekennzeichnete Ruhe gewährleisten, die für die Beobachtung notwendig ist (→ Aktionstheorie des Gehirns).
Die Widerspiegelung setzt die Möglichkeit voraus, nicht nur automatisch auf sensorische Reize zu reagieren, sondern in Auseinandersetzung mit den Gegenständen in koordinierten Tätigkeiten zu operieren. Leitend für diese Abbildung ist die externe Gegenständlichkeit in ihrer Gestalthaftigkeit. Das sich entlang der materiellen Gegenständlichkeit konstituierende Bewusstsein wird durch die Lebensvoraussetzungen, Interessen und Tätigkeiten bestimmt, die sich auf ebendieselbe beziehen, sie einbinden und zugleich deren Bedeutungshaftigkeit und Relevanz explizieren (→ Motivationstheorien). Mithin umfasst es in psychologischer Hinsicht weit mehr als das Gehirn, den Organismus und dessen natürliche Besonderheiten. Die neurologischen Mechanismen werden durch Gegenstände und ihre Verhältnisse abgestimmt und in den Gesamtprozess einbezogen.
Nach Sergej L. Rubinstein (1940/1971) entwickeln die Menschen im Verlauf der Phylogenese immer höhere Formen der Widerspiegelung. »[Es] geht […] von der sensorischen Differenzierung eines äußeren Reizes zur Wahrnehmung eines Gegenstandes beziehungsweise einer Situation und von da zum Denken über, welches die Verbindungen und wechselseitigen Beziehungen des Seins erkennt. Dabei hebt es sich immer mehr von seiner nächsten Umgebung ab und verbindet sich mit einer immer größeren Sphäre der Wirklichkeit« (ebd., S. 131; Hervorhebungen im Original). Vergleichbare Entwicklungsschritte wurden auch in ontogenetischer Hinsicht postuliert (u. a. von Lurija, 1973/1996). Bewusstsein ist dabei die höchste Stufe der Widerspiegelung; es bedeutet bewusstes Sein respektive bewusst gewordenes Sein.
Die Widerspiegelung wird letztlich als Moment gesellschaftlicher Praxis intersubjektiv bestimmt und setzt Beziehungen der Menschen zu ihren Objekten voraus; hierin sind auch die neuronalen Prozesse eingebunden. Die ›Gegenständlichkeit‹ dieser Praxis ist in letzter Instanz Kriterium der Erkenntnis. Sie erlaubt es zu überprüfen, inwieweit die Wirklichkeit »tatsächlich« wahrgenommen wird. Dabei wird zwischen bereits Erkanntem und noch nicht Erkanntem unterschieden und unterstellt, dass objektive Erkenntnis möglich ist, aber nicht in einem absoluten Sinne, sondern nur in bestimmten Grenzen, die immer wieder in Frage gestellt und neu bestimmt werden.
Der Widerspiegelungstheorie zufolge existiert nur eine einheitliche Wirklichkeit, die indes aus mehr oder weniger natürlichen Elementen besteht. Zu den un- oder übernatürlichen Bestandteilen der Realität gehören jedoch ›nur‹ die von den Menschen produzierten künstlichen materiellen und ideellen Gegenstände, die Verhältnisse der Menschen, die diese Gegenstände produzieren, untereinander sowie die Verhältnisse ihrer Produkte, die sich wiederum in neuen Gegenständen (z. B. Geld) und ihren Relationen verselbständigen. Die Widerspiegelung selbst ist ebenfalls lediglich als materielle intersubjektiv manifestierbar (Schriftsprache, Zeichnungen u. Ä.) und drückt ausschließlich Stoffliches im Verhältnis zu anderem Stofflichen sowie zum Nichtstofflichen aus, wobei Letzteres an sich nie positiv bestimmbar ist.
Rubinstein beeinflusste die Psychologen der russischen Kulturhistorischen Schule (→ Kulturhistorischer Ansatz) und über dieselben auch jene der → Kritischen Psychologie (u. a. Klaus Holzkamp). Die Wahrnehmungspsychologie wurde mitunter im Sinne der Widerspiegelungstheorie ausgearbeitet, wobei in Anbetracht der Kognitiven Wende insbesondere die aktive Komponente des Gesamtprozesses hervorgehoben und näher untersucht wurde (vgl. u. a. Stadler, Seeger & Raeithel, 1975).
In den letzten Jahrzehnten wurde der Kern der Widerspiegelungstheorie, die Abbildtheorie, zugunsten mehr konstruktivistischer Ansätze in Frage gestellt (→ Konstruktivistische Ansätze der Psychologie). Mit der Abbildtheorie wird angenommen, dass zumindest im Prinzip adäquate Bilder des Originals auch unabhängig vom Prozess der Abbildung feststellbar sind, obgleich den Menschen die Wirklichkeit sprachlich respektive begrifflich vorgegeben ist. Diese Kritik trifft insbesondere die naturwissenschaftlich reduzierte Abbildtheorie, die von den historischen Voraussetzungen der Erkenntnis abstrahiert. Das Wahrheitskriterium der elaborierten Widerspiegelungstheorie ist die (gesamt)gesellschaftliche Praxis, die u. a. auch die Sprache involviert. Das dialektische Verhältnis zwischen Theorie und Praxis lässt sich am Beispiel der Überprüfung von Darwins Selektionstheorie illustrieren und konkretisieren (→ Theorie-Praxis-Transfer).
Lukrez (um 60 v. u. Z./2014). Über die Natur der Dinge. Berlin: Galiani.
Rubinstein, S. L. (1940/1971). Grundlagen der allgemeinen Psychologie. Berlin: Volk und Wissen.
Stadler, M., Seeger, F. & Raeithel, A. (1975). Psychologie der Wahrnehmung. Grundfragen der Psychologie. München: Juventa.
Lurija, A. R. (1973/1996). Das Gehirn in Aktion: Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Mark Galliker
Als Affiliation wird Gesellung bezeichnet, das Aufsuchen sozialer Interaktion (→ Interaktionsbasierte Theorien der Face-to-face-Kommunikation). Stanley Schachter leistete 1959 mit der frühesten systematischen Publikation The Psychology of Affiliation Pionierarbeit. Wesentliche Präzisierungen der ursprünglichen Affiliationstheorie folgten 1984 durch Yakob Rofé mit der Kognitiven Nutzen-Theorie (engl.: utility affiliation theory) und 1996 durch Shawn O’Connor und Lorne Rosenblood mit dem Sozialen Affiliationsmodell.
Die Forschung zur Erklärung von Ursachen, Wirkungen und des Ausmaßes affiliativer Tendenzen lässt sich zwei Traditionen zuordnen. Persönlichkeitspsychologische Ansätze (→ Personzentrierte Persönlichkeitstheorie) beschäftigen sich vorrangig mit situational überdauernden Affiliationstendenzen, bezüglich deren sich Personen unterscheiden. In Sozialpsychologischen Ansätzen – wie der Affiliationstheorie von Schachter – wird das Bedürfnis nach Affiliation als situationsabhängig untersucht. Integrative Ansätze wie das Soziale Affiliationsmodell von O’Connor und Rosenblood (1996) verbinden beide Sichtweisen, indem sie dem Affiliationsbedürfnis sowohl situationale Variabilität als auch interindividuelle Unterschiede zugrunde legen.
Die Forschungstradition der persönlichkeitspsychologischen Ansätze ist begründet durch Henry Murrays (1938) Diskussion eines affiliativen Bedürfnisses, das er als einen Sinn für Verbundenheit und die Tendenz verstand, harmonische zwischenmenschliche Kontakte als angenehm und befriedigend wahrzunehmen. Diese persönlichkeitspsychologische Tradition quantifiziert und untersucht entsprechend das Bedürfnis nach Affiliation als Motiv (need for affiliation), das bei Menschen über verschiedene Kulturen und Nationen hinweg unterschiedlich stark ausgeprägt ist. So verbringen Personen mit starkem Affiliationsmotiv mehr Zeit mit anderen Personen, sind aufmerksamer in Bezug auf soziale Reize und kommunizieren, beispielsweise über ihre Körperhaltung und Augenkontakt, sogenannte nonverbale Reize der Unmittelbarkeit, und damit ihre Bereitschaft zum Kontakt.
Die von Schachter (1959) formulierte Affiliationstheorie gilt als wegbereitend für die sozialpsychologische Forschungstradition (→ Sozialpsychologische Theorien). Zentrale Annahme ist, dass Menschen vor allem in bedrohlichen oder angstauslösenden Situationen Kontakt zu anderen Personen suchen. Bestätigung für diese Annahme fand Schachter beispielsweise darin, dass Versuchspersonen, denen angekündigt wurde, dass ihnen in einem Experiment schmerzhafte elektrische Schocks verabreicht würden, sich gegenüber (oder: im Vergleich zu) Personen, denen die elektrischen Schocks als angenehm beschrieben wurden, häufiger dafür entschieden, mit anderen Personen (und nicht allein) zu warten. Schachter wertete dies als Bestätigung seiner Annahme des engen Zusammenhangs von Furcht und Affiliation. Er vermutete, dass Personen in bedrohlichen Situationen Nähe zu anderen Personen suchen, weil sie ihre Furcht reduzieren und die Angemessenheit ihrer Emotionen und Gedanken durch den Vergleich mit anderen Personen beurteilen möchten. Schachter knüpft damit eng an die → Soziale Vergleichstheorie an. Entsprechend konnte er zeigen, dass es Personen nicht gleichgültig ist, mit wem sie in Kontakt treten, sondern dass sie bevorzugt den Kontakt mit anderen Personen suchen, die das gleiche Schicksal teilen.
Schachters Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Furcht und Affiliation wurden in zahlreichen Experimenten ergänzt und präzisiert, z.T. allerdings mit widersprüchlichen Ergebnissen (→ Theorien der Psychologie und Empirie). Entsprechend schlug Rofé (1984) eine Kognitive Nutzen-Theorie (engl.: utility affiliation theory) zum Zusammenhang von Stress und Affiliation vor. Diese Theorie liegt an der Schnittstelle der sozialpsychologischen und persönlichkeitspsychologischen Forschungstradition, besitzt jedoch auch Relevanz für die → Klinische Psychologie. Hiernach resultiert die Stärke des Affiliationsbedürfnisses aus dem Verhältnis der in einer Situation wahrgenommenen Kosten und Nutzen der Kontaktaufnahme.
Die Affiliation mit Personen kann sowohl positive Konsequenzen (z. B. Erleichterung) als auch negative Konsequenzen (z. B. Beschämung) nach sich ziehen. Das entsprechende Kosten-Nutzen-Verhältnis variiert in Abhängigkeit von Merkmalen der Person selbst (z. B. Sensibilität, Geschlecht), der Situation (vermeidbar-gefährlich, vermeidbar-peinlich, unvermeidbar) und der verfügbaren oder gewünschten Kontaktperson (z. B. Einfühlsamkeit). Demnach wägen Personen in Abhängigkeit von ihren eigenen Merkmalen, den vermuteten Merkmalen der Kontaktperson und der Situation ab, ob Affiliation positive Konsequenzen bzw. eine Verbesserung des Erlebens mit sich bringen würde. So prognostiziert Rofé beispielsweise eine stärkere Affiliationstendenz, wenn sich eine Person in einer vermeidbar-gefährlichen Situation befindet und einer Kontaktperson gegenübersteht, von der sie annimmt, dass sie kompetent sei, die empfundene Furcht zu reduzieren.
Das Soziale Affiliationsmodell von O’Connor und Rosenblood (1996) konzeptualisiert das Bedürfnis nach Affiliation alltagsnah als ein homöostatisches Modell (→ Motivationstheorien), wonach Personen versuchen, ein optimales Level an Sozialkontakt herzustellen. Ausgehend von einem bevorzugten Level der Kontaktmotivation, welches von Person zu Person verschieden ist, regulieren Personen ihr Kontaktverhalten vergleichbar mit einer Ist-Soll-Diskrepanz: Nach Phasen intensiven Kontaktes mit anderen Personen folgt Rückzug, nach kontaktarmen Phasen steigt das Affiliationsbedürfnis. Personen streben also nicht nach Konstanz, sondern oszillieren – in Abhängigkeit von ihrem optimalen Kontaktniveau und der Intensität des interpersonellen Kontakts in der jeweils vorangegangenen Situation – zwischen Einsamkeit und Geselligkeit.
Der größte Teil der Affiliationsforschung fand zwischen den 1950er und 1970er Jahren statt. In der gegenwärtigen Sozialpsychologie spielt die Affiliationsforschung keine so wichtige Rolle mehr. Allerdings lässt sich gegenwärtig wieder ein Anstieg des Interesses an der Entwicklung neuer Verfahren zur Messung des Bedürfnisses nach Affiliation verzeichnen, z. B. in der psychophysiologischen und persönlichkeitspsychologischen Forschung. Im Zusammenhang mit den oben genannten nonverbalen Unmittelbarkeitsreizen finden sich aktuell interessante Anwendungen in der schulpsychologischen Forschung (→ Pädagogisch-psychologische Theorien). So zeigte sich, dass Lehrpersonen, die stärker ihre Affiliationsbereitschaft signalisieren, bei ihren Schüler/innen Verbesserungen von Lernmotivation und kognitiven Leistungen bewirken können.
Murray, H. A. (1938). Explorations in personality. New York, NY: Oxford University Press.
Rofé, Y. (1984). Stress and affiliation: A utility theory. Psychological Review, 91, 235-250.
Schachter, S. (1959). The psychology of affiliation. Stanford, CA: Stanford University Press.
O’Connor, S. C. & Rosenblood, L. K. (1996). Affiliation motivation in everyday experience: A theoretical comparison. Journal of Personality and Social Psychology, 70, 513-522.
Lysann Zander
Psychologische Akkulturations- und Migrationstheorien beschäftigen sich mit subjektiven Verarbeitungsprozessen von Migration und Akkulturation. Die Anpassungsanforderungen, die aus Kulturkontakten und Eingliederungsprozessen entstehen, werden theoretisch unterschiedlich eingeordnet. Persönlichkeitspsychologische und psychoanalytisch orientierte Theorien gehen von einer dispositionell verankerten Wanderungsbereitschaft aus, welche die Verarbeitung der Migration positiv beeinflusst. Transkulturell, ethnopsychologisch und interkulturell geprägte Theorien stellen kulturelle Differenzen heraus, aus denen sich psychische Adaptationsprobleme ableiten. Akkulturationsstress entsteht durch einen ›Kulturschock‹, der durch kulturelles Lernen überwunden werden kann, wenn das Individuum über entsprechende Kompetenzen verfügt (Ward, Bochner & Furnham, 2001).
Theorien, die stärker die Diversität des Individuums – Kultur ist ein Merkmal neben anderen – und die Migrationsfolgen in den Blick nehmen, verstehen Akkulturation als komplexen, durch verschiedene Variablen moderierten Adaptationsprozess. Eine dieser zentralen Akkulturationstheorien wurde in den USA seit den 1980er Jahren entwickelt. Bereits 1980 entstanden die Grundzüge der Theorie der Akkulturationsstile: Integration, Assimilation, Segregation und Marginalisation. Dass Akkulturationsprozesse nicht nur von einem Individuum, sondern von einem ganzen Familiensystem – und damit auch intergenerativ – zu leisten sind, erklärt Sluzki (1979) als Familienkonflikt (family conflict).
Seit den 1990er Jahren beschäftigen sich Akkulturationstheorien stärker mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen Akkulturation stattfindet. So können Akkulturationsprozesse ungünstig beeinflusst werden, wenn eine Gesellschaft Zuwanderung ablehnt und eine segregierende Migrationspolitik verfolgt. Aktuelle Akkulturationsmodelle sind sehr komplex, weil sie moderierende Variablen einbeziehen und wie beim ABC-Model of Culture Shock von Ward, Bochner und Furnham (2001) andere psychologische Theorien (stress and coping theories, culture learning theories, social identification theories) integrieren (→ Coping).
Berry und Kollegen (vgl. u. a. Berry & Kim, 1988) entwickelten die umfangreichste Theorie zur Akkulturation. Sie gehen davon aus, dass der Akkulturationsstress mit steigenden Kulturkontakten zunimmt, weil Annäherungs- und Anpassungsleistungen immer stärker erforderlich werden. In ihrem frühen Modell besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Akkulturationsstress und dem Prozess des Cultural and Behavioural Change. Der Verlauf des Akkulturationsstresses wird über die Phasen Pre-contact, Contact, Conflict, Crisis und Adaptation abgebildet. Der anwachsende Akkulturationsstress mündet letztlich in einer Akkulturationskrise, an deren Ende die Ausbildung der Akkulturationsstile Integration, Assimilation, Segregation und Marginalisation steht.
Das Konstrukt der Akkulturationsstile ist zweidimensional und beschreibt die Nähe bzw. Distanz zur Herkunfts- und zur Aufnahmekultur (Werte, Normen und Verhalten). Integration meint die gleichwertige Existenz von verschiedenen kulturellen Werten, die ohne große Widersprüche nebeneinander bestehen und gelebt werden. Davon abzugrenzen sind Assimilation und Segregation. Erfolgt bei der Assimilation eine Orientierung an der Aufnahmekultur bei gleichzeitiger Distanzierung von der Herkunftskultur, so besteht bei der Segregation die genau umgekehrte Option – Elemente der Aufnahmegesellschaft werden abgelehnt, und die Beibehaltung der Herkunftskultur wird präferiert. Beim letzten Typus, der Marginalisation oder Marginalisierung, kommt es zur Distanzierung von der Herkunfts- und der Aufnahmekultur. Die Akkulturationsstile sollen laut Berry und Kollegen wiederum mit psychischer Gesundheit korrelieren.
Es wird davon ausgegangen, dass langfristig die Integration die beste Funktionalität aufweist und die effizienteste Strategie darstellt. Von den drei schlechteren Möglichkeiten soll Marginalisation die ungünstigste Verhaltensvariante darstellen und mit psychosozialen Störungen und psychischen Erkrankungen einhergehen.
Akkulturationsstile lassen sich nicht nur bei Individuen, sondern auch bei Gruppen identifizieren. Ändern sich auf individueller Ebene Werte, Einstellungen, Identität und Verhalten des Einzelnen, so ändern sich auf der Gruppenebene kollektive Merkmale wie politische, ökonomische und soziale Strukturen sowie kulturelle Eigenschaften und Lebensgewohnheiten.
Da sich der Akkulturationsstil eines Individuums unabhängig von der akkulturativen Orientierung der ethnischen Herkunftsgruppe entwickeln kann, müssen Adaptationsprozesse auf der Gruppen- und der individuellen Ebene getrennt erfasst werden. Nach dem Konzept der Akkulturationsstile ist es zudem möglich, in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedliche Akkulturationsstrategien zu verfolgen. Auch diese Variabilität ist empirisch zu erfassen. Berry und Kollegen schlagen unterschiedliche Möglichkeiten vor, um Akkulturationsstile empirisch zu ermitteln. Sie gehen von einem zweidimensionalen Konzept aus, das sich sowohl über eine Zwei- als auch eine Vier-Skalenversion messen lässt. Abgebildet werden soll das Verhältnis zur Aufnahme- und zur Herkunftskultur.
In den 1990er Jahren erweiterten Berry und Mitarbeiter ihr Akkulturationsmodell um eine genaue Erläuterung des Akkulturationsstressprozesses. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stand die Erklärung, wie aus Akkulturationserfahrungen, die Menschen vor dem Hintergrund ihrer Herkunftskultur in der Aufnahmegesellschaft sammeln, ein psychologisches, kulturelles, soziales und gesundheitliches Adaptationsergebnis entsteht. Eine zentrale Annahme ist, dass Stressoren, die aufgrund von Akkulturationserfahrungen entstehen, kognitiv bewertet und mehr oder minder erfolgreich bewältigt werden. Der Ausgang der Bewertungs- und Bewältigungsprozesse ist abhängig von moderierenden Variablen, die während des Akkulturationsprozesses wirken.
Berry und Kollegen haben über Jahre eine Taxonomie der moderierenden Variablen auf Gesellschafts-, Gruppen- und Individualebene entwickelt. Neben den personalen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung, Status und Ressourcen unterliegt die Bewertung von Stressoren dem Einfluss der persönlichen Migrationsmotive sowie den mit der Migration verbundenen Erwartungen, den zuvor gesammelten Migrationserfahrungen, den wahrgenommenen Kulturunterschieden, den grundlegenden Akkulturationseinstellungen, den erprobten Akkulturationsstrategien und den entwickelten Akkulturationsstilen, den Vorurteilen (→ Soziale Kategorisierung und Diskriminierung) und nicht zuletzt auch der → Sprachlichen Diskriminierung. Kulturelles Lernen setzt dann ein, wenn Akkulturationserfahrungen als günstig, nützlich und bewältigbar eingeschätzt werden. Es kommt zu Verhaltensänderungen, so dass eine bessere Passung mit der Aufnahmegesellschaft entsteht.
Die Theorie von Berry und Kollegen gilt sowohl in den USA als auch in Europa als eine der wichtigsten Akkulturationstheorien. Sie ist weit verbreitet, wird kritisch diskutiert und hat unzählige Impulse für die Akkulturations- und Migrationsforschung geliefert. So können z. B. neu entdeckte Variablen, die für Akkulturationsprozesse wichtig sind, in die Taxonomie der moderierenden Variablen eingeordnet werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben verschiedene Messinstrumente für Akkulturationsstile entwickelt: u. a. den Acculturation Index und die deutschsprachige Skala zur Erfassung der Akkulturationsstile. In weiteren Studien zeigt sich, dass Akkulturationsstile unterschiedlich stark mit Wohlbefinden, Gesundheit oder Persönlichkeitsdimensionen korrelieren.
Berry, J. W. & Kim, U. (1988). Acculturation and mental health. In P. R. Dasen, J. W. Borg & N. Satorius (Eds.), Health and cross-cultural psychology. Toward applications (pp. 207-236). Newbury Park, CA: Sage.
Sluzki, C. E. (1979). Migration and family conflict. Family Process, 18, 379-490.
Ward, C., Bochner, S. & Furnham, A. (2001). The psychology of culture shock. East Sussex, UK: Routledge.
Zick, A. (2010). Psychologie der Akkulturation: Neufassung eines Forschungsbereiches. Wiesbaden: Springer VS.
Andrea Riecken
Im Unterschied zu den Klassikern der Neurologie sowie der Neuropsychologie bzw. -psychiatrie (→ Neuropsychologische Theorien), Paul Broca und Karl Wernicke, fasste Alexander Romanowitsch Lurija das Gehirn als Aktion oder, wie man es heute ausdrücken würde, als Prozess auf. Ab 1928 arbeitete der 1902 in Kasan (Russland) geborene Wissenschaftler am Institut für Psychologie in Moskau zusammen mit Lew Semjonowitsch Vygotskij und Alexej Nikolajewitsch Leontjew (→ Kulturhistorischer Ansatz). Lurija beschrieb, wie unsere höheren geistigen Fähigkeiten – Wahrnehmen und Handeln, Aufmerksamkeit und Gedächtnis, Sprache und Denken – entstehen und in Aktion treten. Lurija hat wohl wie kein zweiter Psychologe soziokulturelle Formation, neurologische Basis und Repräsentation des Psychischen miteinander vereint.
Nach Lurija (1973/1996) spiegeln sich die soziokulturellen Formationen, in denen Personen aufgewachsen sind, in der zerebralen Organisation der höheren psychischen Prozesse wider (→ Abbild- und Widerspiegelungstheorie). Da das Gehirn sich soziohistorisch konstituiere, bleibe es im Prinzip zeitlebens ein wandelbares Organ, wenngleich es sich in späteren Lebensphasen immer mehr stabilisiere und sich schließlich nur noch minimal verändere. Lurija lehnte es ab, das Gehirn in vulgärmaterialistischer Art als Ursache psychischer Phänomene zu hypostasieren, und betrachtete es als materiales Moment individueller, interindividueller und überindividueller Prozesse; letztlich sah er das Gehirn also eingebettet in den kulturhistorischen Kreislauf. Jeder psychischen Tätigkeit liegt dabei ein komplexes funktionelles neuronales System im Organismus zugrunde. »Dieses System wird von gemeinsam arbeitenden Hirnregionen aufrechterhalten, wobei jede von ihnen ihren eigenen Beitrag zum System als Ganzem liefert« (ebd., S. 34). Zwischen den traditionellen Ansätzen, welche die einzelnen psychischen Prozesse an einzelnen Stellen im Kortex zu lokalisieren suchten, und den das Ganze betreffenden, holistischen Ansätzen postulierte Lurija sein eigenes Modell als eine Kombination beider Ansätze. Insbesondere hinsichtlich der komplexen psychischen Tätigkeiten (z. B. Sprechen) gelte es herauszufinden, welche Gruppen der gemeinsam arbeitenden Zonen des Gehirns beteiligt seien.
Unter Berufung auf Vygotskijs Prinzip der extrakortikalen Organisation komplexer geistiger Funktionen nimmt Lurija an, dass insbesondere die höheren psychischen Tätigkeiten des Menschen mit Unterstützung äußerer Hilfsmittel entstanden sind. »Es ist einleuchtend, daß diese äußeren Hilfsreize oder geschichtlich gewordenen Werkzeuge wichtige Elemente bei der Schaffung funktioneller Verbindungen zwischen einzelnen, unabhängigen Teilen des Gehirns sind und daß mit ihrer Hilfe Hirnregionen, die vorher unabhängig voneinander arbeiteten, zu Bestandteilen eines einzigen funktionellen Systems werden« (Lurija, 1973/1996, S. 26 f.; Hervorhebung im Original). Lurija nahm folgende an jeder psychischen Tätigkeit mitwirkenden Funktionseinheiten des Gehirns an:
(1) Steuerung von Tonus und Wachheit,
(2) Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung eintreffender Informationen,
(3) Programmierung, Steuerung und Kontrolle psychischer Tätigkeiten (vgl. ebd., S. 39).
Demnach baut sich das Gehirn aus drei einander überlagernden kortikalen Zonen auf: »Das primäre [Projektions-]Feld, welches Impulse aus der Peripherie empfängt oder an sie sendet, das sekundäre [Projektions-Assoziations-]Feld, in dem eintreffende Informationen verarbeitet werden, […] und schließlich das tertiäre, aus übergreifenden Zonen bestehende Feld« (ebd., S. 39). Das zuletzt genannte Feld ist das phylogenetisch jüngste. Es enthält die Systeme der zerebralen Hemisphären, die beim Menschen für die komplexesten Formen psychischer Tätigkeit zuständig sind.
Nach seinem Tod im Jahre 1977 wurde Lurija von zahlreichen Wissenschaftlern als Begründer der Neuropsychologie gewürdigt und sein Werk als eine reichhaltige Ressource der zeitgenössischen Neurologie eingeschätzt (u. a. Oliver Sacks). Hasler (2012) stellte fest, dass die Vorstellung, komplexe mentale Funktionen seien an bestimmten Orten des Gehirns fix verankert, der Vergangenheit angehörte. »Viel wahrscheinlicher ist es nämlich, dass komplex fluktuierende kortikale und subkortikale Netzwerke in einem höchst dynamischen Zusammenspiel aus gegenseitiger Aktivierung und Hemmung unser bewusstes Erleben ermöglichen. Biologische Grundlage unseres Bewusstseins scheint eine ganze Anzahl miteinander verbundener paralleler Netzwerke zu sein – in höchstem Maße plastisch und zur eigenen Weiterentwicklung und Selbstreparatur befähigt« (ebd., S. 54 f.).
Inzwischen haben sich auch einige kognitive Psychologen dem Ansatz Lurijas angenähert. So gelangte etwa Kiefer (2008) zur Auffassung, dass »die kognitive Architektur des Menschen aus dynamisch miteinander interagierenden Teilsystemen besteht, die erst durch ihre Wechselwirkung ihre Funktionalität erhalten« (ebd., 2008, S. 93).
Lurijas Ansatz ist von praktischer sowie theoretischer Relevanz. Nach dem Prinzip der extrakortikalen Organisation komplexer geistiger Funktionen können beispielsweise in der Aphasie-Therapie die höheren psychischen Tätigkeiten, die sich in der Ontogenese kulturell konstituiert haben, bevor sie sich von den externen Stützen wiederum lösten bzw. internalisiert wurden, nach einem Unfall zunächst künstlich wieder eingesetzt werden, indem zur neuerlichen Vermittlung besondere, der jeweiligen Läsion angemessene und sie ergänzende klinische Hilfsmittel entwickelt werden. Mit der allmählichen Reorganisation funktionaler Systeme (z. B. Übernahme von Funktionen der ausgeschalteten linken Hirnhemisphäre durch die rechte) verschwindet die Aphasie, wenngleich meistens nicht vollständig (Näheres in Galliker, 2013).
Hasler, F. (2012). Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld: transcript.
Kiefer, M. (2008). Zusammenwirken kognitiver Systeme: Kognitionspsychologische und neurophysiologische Befunde zur Rolle des semantischen Gedächtnisses bei der Informationsverarbeitung. Psychologische Rundschau, 59, 87-97.
Lurija, A. R. (1973/1996). Das Gehirn in Aktion: Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Galliker, M. (2013). Sprachpsychologie. Tübingen: Francke.
Mark Galliker
Die Analytische Psychologie gehört neben der → Psychoanalyse und der → Individualpsychologie zu den klassischen tiefenpsychologischen Schulen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Ihr Begründer Carl Gustav Jung (1875-1961) führte diesen Begriff 1913 ein, um sich gegenüber der Psychoanalyse theoretisch abzugrenzen. Ähnlich wie bei der Psychoanalyse Sigmund Freuds steht ein energetisches Konzept des Unbewussten im Zentrum.
Jung führte ab 1904 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Burghölzli, Assoziationsexperimente durch (→