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»Auf der Straße werde wieder geschossen, sagte sie noch, der Krieg gehe weiter, und niemand habe die Absicht, sich zu ergeben.« Romeo, zwanzig Jahre alt, ist zum Studium nach Charkiw gekommen. Staunend lauscht er den rhapsodischen Liebeserklärungen an die Stadt, mit denen seine Vermieterin ihn von täppischen Annäherungsversuchen abzubringen versucht. Ungläubig nimmt er ihre Sätze zur Kenntnis – wie auch wir, die Leser.

Mesopotamien – der Titel ist wörtlich zu nehmen. Das Zweistromland, der Schauplatz seiner neun »Geschichten und Biographien«, ist ein vieldeutiges Zwischenreich: eine besiedelte Anhöhe zwischen zwei ineinander fließenden Flüssen, zwischen Oberstadt und Unterstadt, privatem Sektor und Armenvierteln, zwischen Sprachen, Kulturen, Nationen, zwischen gestern und morgen, Leben und Tod.

Bewohnt wird das ukrainische Babylon von Menschen wie Marat, Boxer und ungläubiger Moslem aus dem Kaukasus, der eines Abends auf dem Weg zum Zigarettenkiosk erschossen wird. Oder Jura, privat und geschäftlich so gut wie am Ende, der eine schlimme Diagnose neugierig-erleichtert zur Kenntnis nimmt, weil er im Krankenhaus vor seinem Gläubiger sicher ist.

Aus dreißig als »Erläuterungen und Verallgemeinerungen« getarnten Gedichten entwickelt Zhadan poetische Porträts von Menschen, die nur noch auf sich selbst, auf ihre Liebe und Solidarität angewiesen sind. Er findet Bilder für die Hilflosigkeit der Heiligen, für die unaufhaltsame Verwirrung der Seelen, für den Einbruch des Vergangenen in die unklare Gegenwart, für die Glücksmomente angehaltener Zeit.

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk geboren, debütierte als 17-Jähriger und publizierte seit 1995 zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass (2010; dt. 2012) erhielt er 2014 den Jan-Michalski-Literaturpreis und den Brücke-Berlin-Preis (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2015 erschien ein Band mit jüngsten Gedichte aus dem Krieg: Žittja Mariï (Marienleben). Serhij Zhadan, der populärste ukrainische Schriftsteller seiner Generation, lebt in Charkiw.

»Der Tod, sagte er, kommt uns nie entgegen, er kann warten, steht im frischen smaragdgrünen Gras, unsichtbar und unvermeidlich, und beobachtet, wie leichtsinnig und unvorsichtig wir in seinen Schatten laufen.«

Ein Porträt der Stadt Charkiw und seiner Bewohner an der Schwelle tiefgreifender Veränderungen. In der ostukrainischen Metropole, einem Babylon des 21. Jahrhunderts, steht alles auf dem Spiel. Gelingt es, Vertrauen und Liebe gegen Hass und Gewalt zu verteidigen? Mit poetischem Übermut und in kühnen surrealen Szenen beschwört Serhij Zhadan den Menschheitstraum, trotz aller Unterschiede friedlich und ohne Angst zusammenzuleben.

Serhij Zhadan

Mesopotamien

Aus dem Ukrainischen von
Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

des suhrkamp taschenbuchs 4778

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Serhij Zhadan 2014

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Umschlaggestaltung: Brian Barth

nach einem Entwurf von Teona Chanishvili

eISBN 978-3-518-74354-6

www.suhrkamp.de

Mesopotamien

Niemand weiß, woher sie gekommen waren und warum sie sich an diesen Flüssen niedergelassen hatten. Aber ihre Lust am Fischfang und ihre Kenntnisse in Navigation deuten darauf hin, dass sie über das Wasser kamen, flussaufwärts wanderten. Ihre Sprache, so heißt es, eignete sich gut für Gesänge und Verwünschungen. Ihre Frauen waren zart und unbändig. Solche Frauen gebaren kühne Kinder und verursachten ernste Probleme.

Wahre Geschichte der Sumerer, Band 1

Erster Teil

Geschichten und Biographien