Gina Mayer & Frank M. Reifenberg
in Gefahr
Mit Illustrationen von Gerda Raidt
Alle Abenteuer der Schattenbande:
1. Die Schattenbande legt los!
2. Die Schattenbande jagt den Entführer
3. Die Schattenbande in Gefahr
4. Die Schattenbande und die große Verschwörung
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Gina Mayer und Frank M. Reifenberg, vermittelt durch die
Literaturagentur Birgit Arteaga, München
Lektorat: Malte Ritter
Cover- und Innenillustrationen: © Gerda Raidt,
vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg,
www.auserlesen-ausgezeichnet.de
Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, unter Verwendung von
Bildmaterial von © Getty Images/Thinkstock
Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH
ISBN eBook 978 - 3-8458 - 0601-3
ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 0495-8
www.bloomoon-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Cover
Titel
Impressum
Die Schattenbande
1. Kapitel,
mit dem alles anfängt
2. Kapitel,
in dem es zum ersten Mal krabbelt und kriecht
3. Kapitel,
in dem es um Leben und Tod geht
4. Kapitel,
in dem es Schweinshaxe mit Klößen gibt
5. Kapitel,
in dem Klara ein Kleid anzieht
6. Kapitel,
in dem Lina in die Falle geht
7. Kapitel,
in dem Otto mit Schwarzwälder Kirschtorte wirft
8. Kapitel,
in dem es spukt
9. Kapitel,
das gut anfängt und traurig endet
10. Kapitel,
in dem allen ein Licht aufgeht
11. Kapitel,
in dem es zappenduster wird
12. Kapitel,
in dem es ausnahmsweise nicht um Kakerlaken geht
13. Kapitel,
in dem ein Kameltreiber einen neuen Kopf bekommt
14. Kapitel,
in dem leider jemand im Sarg und jemand im Krankenbett landet
15. Kapitel,
in dem Ottos Regeln für Meisterdiebe nicht immer helfen
16. Kapitel,
in dem Lina leider zur falschen Zeit am falschen Ort ist
17. Kapitel,
in dem der Kakerlakenmann wieder auftaucht
18. Kapitel,
in dem Lina keine Antwort bekommt
19. Kapitel,
in dem es brennt
20. Kapitel,
das auch das letzte ist
Die Autoren
Die Illustratorin
Schiebermütze, Knickerbocker und Dreck unter den Fingernägeln: Das ist Klara Schlapp. Dass sie ein Mädchen ist, ist geheim. Nur ihre Freunde wissen, dass sie blonde Zöpfe unter der Mütze versteckt. Klara ist eine begnadete Taschendiebin und die Anführerin der Schattenbande. Das Blöde ist nur: Otto will das einfach nicht einsehen.
Im Fassadenklettern nimmt es keiner so schnell mit Otto Karwuttke auf und auch im Pläneschmieden ist er große Klasse. Leider hat Klara oft schon Nägel mit Köpfen gemacht, bevor er sagen kann, wo es langgeht. Otto und Klara sind ein Superteam, das meinen alle. Aber Otto findet, dass sie noch besser wären, wenn Klara endlich einsehen würde, dass er der Chef ist.
Paule Kowalski ist ein genialer Panzerknacker und Erfinder. Aus Schrottteilen und Abfall baut er die erstaunlichsten Apparate, Maschinen und Sprengkörper. Wenn er einmal nicht an seinen Erfindungen tüftelt, stiehlt er Kohlen. Denn die Dampfmaschinen, mit denen er seine Maschinen betreibt, wollen gefüttert werden. Paule träumt von einem eigenen Automobil – und von einer Weste aus Samt mit echten Perlmuttknöpfen.
Lina Kowalski ist Paules kleine Schwester und das jüngste Mitglied der Schattenbande. Sie ärgert sich furchtbar darüber, dass die anderen sie oft nicht ernst nehmen. Dabei könnte sie den Freunden nicht selten den Hals retten, wenn man sie nur mitmachen ließe. Lina hat nämlich einen sechsten Sinn. Sie wittert Gefahr und spürt Dinge, die anderen verborgen bleiben.
mit dem alles anfängt
»Ick gloob ditt nich«, flüsterte Paule.
»Kannste aber«, sagte Moneten-Mizzi.
Es war unüberhörbar, wie groß Mizzis Freude war. Schadenfreude. Darüber, dass sie doch recht behalten hatte, obwohl Paule immer wieder steif und fest behauptet hatte: »Nie und nimmer! Lina? Zur Schule jehn? So ’n Quatsch mit dicker Soße!«
Von den Schatten war bisher niemand zur Schule gegangen und es hatte ihnen auch nicht gefehlt. Alles, was sie wissen mussten, hatten sie auf der Straße gelernt oder sich selbst beigebracht. Oder sie hatten Billy Barrakuda gefragt. Oder Muttchen Pieper. Oder Madame Fatale, bei der man allerdings nur recht sonderbare Dinge lernen konnte. Zum Beispiel, wie man mit Toten sprach.
Paule traute seinen Augen nicht, aber es gab überhaupt keinen Zweifel: Sie war es, seine Schwester Lina. Oder auch nicht, denn so hatte Paule sie noch nie gesehen.
Die Füße in blank geputzten Lackschuhen mit einer silbernen Schnalle darauf, trippelte Lina neben den anderen Mädchen die Stufen hinauf. Alle in Reih und Glied, immer zu zweit, jede hielt in der einen Hand eine Zeichenmappe und mit der anderen die Hand der Nachbarin. Alle trugen dunkelblaue Kleider mit weißen Spitzenkragen und hatten Strohhüte auf dem Kopf.
Seine Schwester. So schnieke und etepetete.
»Deine kleine Schwester geht zur Freifrau-von-Schnöselwang-Privatschule und du weißt nichts davon«, streute Mizzi weiter Salz in Paules Wunde. »Schule für höhere Töchter!«, fügte sie noch hinzu.
»Ick gloob ditt einfach nich«, wiederholte Paule mittlerweile zum fünften Mal.
»Ich hab’s dir doch gesagt, dass mit der was nicht stimmt«, flüsterte Mizzi.
Das hatte Mizzi, in der Tat. Seit Tagen schon lag sie Paule damit in den Ohren, dass seine kleine Schwester heimlich zur Schule ging. »Eure Schattenbande ist Lina wohl nicht mehr fein genug«, sagte sie hämisch. »Da hat sie sich neue Freundinnen gesucht.«
Und nun sah Paule mit eigenen Augen, dass Mizzi recht hatte. Lina, seine Lina, hatte sie alle angelogen. Aber warum nur, warum? »Wahrscheinlich will sie bald die Fliege machen«, flüsterte Mizzi. »Ein besseres Leben, das kann man ja verstehen.«
»Sei doch mal leise!«, fuhr Paule sie an.
Mizzi kicherte. Eine hübsche junge Frau mit rosigen Wangen zählte die Mädchen gerade durch. Das musste die Lehrerin sein. An ihren Ohren baumelten gewaltige goldene Ohrringe. »Voilà!«, rief sie fröhlich. »Alle da. Alors – nichts wie rein in die Müseum!«
Ein schwitzender Mann, der statt einer Brille einen Zwicker auf der Nase trug, folgte der Gruppe. Bei jedem Schritt klackerten zuerst sein Gehstock und dann die harten Absätze seiner spitz zulaufenden Schuhe auf den Treppenstufen. Er war klein und dick und ziemlich außer Atem.
»Fräulein Popinet«, schnaufte er ärgerlich. »Die ›Göttin der aufgehenden Sonne‹ läuft uns nicht weg. Sie rührt seit ein paar Tausend Jahren keines ihrer hübschen Marmorbeine, das können Sie mir glauben.«
»Sie läuft nicht weg? Haha, c’est vraiment drôle«, kicherte die rosenwangige Frau auf Französisch. »Das ist lüstisch!«
»Das ist nicht lüsti … ich meine, lustig«, unterbrach der Mann sie mit donnernder Stimme. »So bleiben Sie doch stehen!«
Die junge Frau und die Schülerinnen hatten sich schon wieder in Bewegung gesetzt.
»Arrêtez-vous!« Sie hob ihre schmale Hand. »Stopp! ’err Ballerstedt braucht ein … «, sie suchte nach einem Wort und fand es, » … kleines Pause.«
»Doktor Ballerstedt«, knurrte der Mann und fügte leise hinzu: »Nicht einmal Deutsch kann diese … diese Französin.« Er blieb auf der zweitletzten Stufe stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Paule duckte sich hinter einen der mächtigen Sockel, der in noch mächtigere Säulen überging. Sie trugen das Vor-
»Hau ab«, zischte er Mizzi an.
»Spinnst du?«, zischte sie zurück. »Warum bist du denn so sauer auf mich? Du solltest mir dankbar sein, dass ich dir die Augen geöffnet habe.«
Paule zog missmutig die Brauen zusammen. Dankbar? Am liebsten hätte er Mizzi kräftig geschüttelt und gegen beide Schienbeine getreten. Und Mizzi wusste das genau. Sie hatte ihn ja auch nicht aus Freundlichkeit zum Kaiser-Friedrich-Museum geschleppt, sondern aus purer Bosheit.
Sie waren keine Freunde. Mizzi war die Anführerin der MonetenBande, sie hatte sich in den letzten Monaten zur schärfsten Konkurrentin der Schatten entwickelt. Wenn es irgendeine Chance gab, ihre Widersacher zu ärgern, dann ergriff Mizzi die mit beiden Händen.
»Soll ich deinem Schwesterchen ein Zeichen geben, dass wir hier sind?«, flüsterte sie.
»Wehe!«, fuhr Paule sie an. »Duck dir lieba.«
Mizzi war nämlich nicht nur eine Nervensäge, sondern auch schrecklich auffällig. Heute hatte sie ihre blonden Locken zu einem hohen Dutt aufgesteckt und mit künstlichen Blumen verziert. Sie tat wie eine Dame, dabei war sie gerade mal vierzehn – zwei Jahre älter als Paule selbst.
»Hast du gesehen?«, wisperte Mizzi. »Herr Doktor Ballerstedt trägt unter seinem muffigen Jackett eine sehr schöne Taschenuhr. Zweiundzwanzig Karat Gold, das rieche ich.«
Es war klar, die würde sich Mizzi nicht entgehen lassen. Uhren waren ihre Leidenschaft. Und tatsächlich: Ballerstedt verstaute gerade sein Taschentuch in der Innentasche der Anzugjacke, und da glitzerte eine Uhrkette auf der grauen Weste.
Die Schülerinnen warteten auf den kugeligen Mann. Lina war die letzte in der Reihe. Paule schlich um die Säule. Er wollte seine Schwester gerade am Ärmel zupfen, als er sie flüstern hörte: »Nicht, Paule.«
Er zuckte zusammen. Manchmal war ihm Lina unheimlich. Sie konnte ihn unmöglich gesehen haben. Nun drehte sie sich um und tat so, als wollte sie die Säulen genauer betrachten.
»Lina Kowalski … «, zischte Paule. Eigentlich vermieden die Schatten es, Gott und der Welt ihren Namen auf die Nase zu binden. Aber es war Paule einfach herausgerutscht, weil er sich so ärgerte. Weiter kam er allerdings nicht.
Fräulein Popinet stand schon neben ihm. Auch Dr. Ballerstedt wackelte herbei.
»’at disch der Junge verlästigt, Karolinà?«, fragte die Lehrerin.
»Belästigt«, murmelte Lina.
Paule grinste. Ihn verbesserte Lina auch immer dann, wenn seine Berliner Schnauze allzu sehr mit ihm durchging.
»Gesindel«, schimpfte der Lehrer. »Vor diesem abgerissenen Pack ist man aber auch nirgendwo sicher. Da drüben war doch ein Schupo, wir rufen ihn!«
Plötzlich drängelte sich eine junge Dame mit ziemlich roten Lippen und Kunstblumen im Haar durch die kleine Gruppe: Mizzi. Sie rempelte Ballerstedt an, zwinkerte Paule zu und verschwand blitzschnell zwischen den Säulen.
Dr. Ballerstedt war sehr wahrscheinlich seine Uhr los, das ahnte Paule. Jetzt musste er schnell die Mücke machen. Wenn der Lehrer den Diebstahl bemerkte, würde Paule als Helfershelfer in Verdacht geraten. Ein solcher war er manchmal auch, aber nur für Klara, die eine weitaus bessere Taschendiebin als Mizzi war.
Lina hatte auch begriffen, was vor sich ging.
»Nein, Pa … «, schnell verbesserte sie sich, »der … der Junge hat mir nur mein Taschentuch aufgehoben.«
»Das ist très, très nett! Merci, danke«, sagte Fräulein Popinet und klatschte in die Hände: »Jetzt aber schnell, schnell, enfants! Isch meine natürlisch – langsam, Kinder!«, korrigierte sie sich mit einem schuldbewussten Blick auf Ballerstedt.
Lina trippelte mit den anderen Schülerinnen zum Eingang des Museums. Bevor sie darin verschwand, drehte sie sich noch einmal um, legte den Zeigefinger auf die Lippen und schaute Paule flehend an.
Paule warf einen grimmigen Blick zurück, aber eigentlich war klar, dass er Lina nicht lange böse sein konnte. Er verstand nur nicht, warum sie ihn und die anderen Schatten angelogen hatte. Warum erzählte sie ihnen, dass sie draußen in Köpenick einer alten Offizierswitwe für ein paar Groschen am Tag vorlas, wenn sie eigentlich in eine Schule für feine Leute ging? Jetzt verstand er auch, warum sie noch nie Geld für die Bandenkasse abgeliefert hatte.
Die Glocken des Berliner Doms machten Paules Überlegungen ein Ende. Zwölf Schläge zählte er, dazu brauchte er keinen Unterricht im Rechnen. Außerdem knurrte sein Magen schon seit mindestens einer Stunde, ein noch untrüglicheres Zeichen, dass es höchste Zeit war, zum Kurfürstendamm aufzubrechen.
»Wer war das denn?«, fragte Nele, als Lina und die anderen Mädchen im ersten großen Saal der Ausstellung anlangten.
Sie war das Mädchen mit den dicksten blonden Zöpfen, die Lina je gesehen hatte. Ein bisschen beneidete sie Nele darum, auch wenn sie sonst nicht viel für sie übrig hatte. Im Klassenzimmer war nur noch der Platz neben Nele frei gewesen. Sie war die einzige Tochter eines sehr reichen Gutsherrn aus Vorpommern und bildete sich ziemlich viel darauf ein.
Ihr richtiger Name war Cornelia von Prittwitz, aber alle in der Schule nannten sie nur Nele. Außer Dr. Ballerstedt, der darauf bestand, Nele mit »Fräulein von Prittwitz« anzusprechen. Das von betonte er dabei besonders.
Lina dachte noch über eine passende Antwort nach, als sich ein dünner, hochgewachsener Mann mit einer Habichtsnase und einer sonderbaren Kappe auf dem Kopf durch die Menge der Mädchen schob. Das war die ideale Ablenkung, fand Lina. »Guck mal da!«, kicherte sie.
Normalerweise kicherte Lina nie so blöd wie ihre Mitschülerinnen, die bei jedem Loch im Strumpf in albernes Gelächter verfielen. Aber jetzt zeigte sie auf die Kopfbedeckung und kicherte noch einmal.
Die Kappe war kreisrund, aus goldgelbem Stoff mit verschlungenen Mustern und einer Troddel obenauf. Als der Mann plötzlich stehen blieb und sich nach Lina umdrehte, erstarb ihr Kichern jedoch sofort. Die Blicke des Mannes schienen sie durchbohren zu wollen. Die schwarzen, buschigen Augenbrauen hatte er zusammengezogen – wenn Blitze aus den Augen geschlagen hätten, hätte sie sich nicht gewundert.
Linas Haare knisterten und reckten sich langsam und zielstrebig in die Höhe. Wenn sie es nicht schon beim Anblick des Mannes geahnt hätte, wusste sie es nun ganz genau. Ihre Haare führten oft ein Eigenleben, besonders wenn ihr sechster Sinn ihr eine Warnung geben wollte.
Nele streckte dem Mann die Zunge heraus und wandte sich wieder Lina zu: »Der Junge hat doch dein Taschentuch gar nicht aufgehoben.«
Lina trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Nele war gefährlich, sie hörte und sah nicht nur alles, sie petzte es auch weiter.
»Dein Haar hat sich gelöst«, machte Lina einen zweiten Versuch, vom Thema abzulenken. Sie griff nach dem Kamm aus braunem Schildpatt, der in Neles Frisur steckte, und schob die Zinken mit einem Ruck tiefer.
»Autsch, lass das!« Nele schlug ihr auf die Finger. »Er hat dich irgendwie anders genannt.«
Lina schaute Nele in die Augen. Sie waren blau und meistens ein bisschen wässrig. Schon mehrmals hatte Lina versucht, irgendetwas in ihnen zu lesen, aber bei Nele klappte es einfach nicht.
»Lina Ko-ko – irgendwie«, sagte Nele. »Ich habe es genau gehört.«
Ihren Vornamen hatte Lina in der neuen Geburtsurkunde nur ein klein wenig geändert. Statt Lina: Karolina.
Wenn man schon log, musste man immer hart an der Wahrheit entlanglügen, das war viel einfacher. Und Karolina war ein schöner Vorname. Ihren neuen Nachnamen fand Lina jedoch so richtig toll: Rosenstolz. Das war um Welten besser als Kowalski!
Sie hatte schon vor Monaten damit begonnen, alles vorzubereiten. Nach und nach hatte sie in der Wäscherei, die sich um die schicken Schuluniformen kümmerte, Stück für Stück mitgehen lassen, am schwierigsten war es gewesen, an ein Paar der eleganten Lackschuhe zu gelangen.
Die Urkunden für ihren neuen Namen, die sie zur Anmeldung an der Schule brauchte, hatte ein Fälscher angefertigt. Alle nannten ihn nur Onkel Wanja, weil er seine Aufträge immer in einer russischen Teestube entgegennahm. Onkel Wanja stellte die echtesten falschen Papiere von ganz Berlin her.
Von ihm hatte Lina eine Geburtsurkunde, ein paar Zeugnisse von sehr vornehmen englischen Internaten und die Briefe von Frau Rosenstolz, in denen diese sehr bedauerte, dass sie wegen einer äußerst ansteckenden Lungenkrankheit nicht persönlich aus den Schweizer Bergen nach Berlin kommen könne, um ihre kleine Karolina anzumelden. Und die drei schönen Schecks des Bankhauses Ürlimann, Pfäffikon & Comp über jeweils dreitausend Schweizer Franken für das Schulgeld waren Onkel Wanja besonders gut gelungen.
Den anderen Schatten hatte Lina das alles verheimlicht. Sogar ihrem eigenen Bruder. Ganz bestimmt hätten sie ihr nicht erlaubt, auf diese vornehme Schule zu gehen. Jeden Tag, manchmal bis tief in den Nachmittag hinein, das war unmöglich!
»Wir müssen schließlich für unser Auskommen arbeiten«, hatte Klara schon oft gesagt. Da war keine Zeit für Erdkunde, Handarbeiten, Rechnen oder Klavierstücke klimpern.
Aber nun hatte Paule sie erwischt.
»Was wollte der Junge von dir?«, bohrte Nele weiter. »Und dieser Name! Scheußlich, so gewöhnlich, dass man ihn gleich wieder vergisst!«
Lina biss sich auf die Lippen. »Das passiert mir öfter«, murmelte sie. »Ich werde ständig verwechselt. Ich sehe eben aus wie … wie alle!«
»Wahrscheinlich wollte er dich ausrauben. Oder entführen? Vielleicht war es ein Trick, um … «
»Mademoiselle von Prittä-wiits! Machen Sie Ihrer Freundin keinä Angst, s’il vous plaît«, mischte sich Fräulein Popinet ein. »Wir wollän ’eute diese wünderbaren Kunstwerke zeischnän! ’aben Sie einä Objekt für das Zeischnän ausgesucht?«
Lina nickte eifrig, obwohl sie sich noch gar nicht umgeschaut hatte.
Direkt vor ihr stand eine Skulptur. Ein steinerner Junge reckte Hilfe suchend den Arm, um den sich eine Schlange gewickelt hatte. In seiner Miene spiegelte sich grässliche Angst, denn gleich würde die Bestie sich um seinen Hals winden und ihn erwürgen. Der Junge gehörte zu einem früher einmal größeren Standbild, das meiste davon war jedoch abgebrochen und verloren gegangen. Nur der Junge und die Schlange waren übrig geblieben. Und die Angst. Lina konnte sie richtig spüren.
Manchmal gruselte sich Lina ein bisschen vor sich selbst. Ihr besonderes Gespür für Dinge, die in anderen vorgingen, hatte sie vor nicht allzu langer Zeit bei Madame Fatale in der »Schwarzen Katze« entdeckt.
»Du bist ein Medium«, hatte Madame Fatale ihr erklärt. Durch Menschen mit dieser Begabung könnten sogar die Toten zu den Lebenden sprechen, und tatsächlich hatte der Geist der Großfürstin Drosskova die Schattenbande damals auf die Spur der Diamantenräuber gebracht.
Nele drängelte sich vor. »Ich will die Schlange zeichnen!« Das passte zu ihr.
Lina zuckte die Achseln. Endlich war sie Nele los. Am anderen Ende des Saals drängelten sich die meisten der Mädchen um die »Göttin der aufgehenden Sonne«. Lina entfernte sich immer weiter von den anderen, bis sie den letzten Ausstellungsraum erreichte. Er war leer, bis auf einen einzigen Besucher.
Es war der Mann, den sie vorhin zusammen mit Nele gesehen hatte. Der lange, dürre Mann mit der gelben Kappe. Zum Glück schaute er jetzt nicht zu Lina, sondern schien ganz in den Anblick einer kleinen Statue versunken, die in der hintersten Ecke des Raumes stand.
Lina zögerte. Der Mann gefiel ihr nicht, er war unheimlich, das spürte sie ganz deutlich. Dennoch schaffte sie es nicht, den Saal zu verlassen und zurück zu den anderen zu gehen. Es war, als ziehe sie etwas an, als zerre sie jemand tiefer in den Raum hinein. Widerstrebend setzte sie einen Fuß vor den anderen und näherte sich dem Fremden, obwohl sie sich ihm nicht nähern wollte.
Jetzt hatte der Mann Lina bemerkt. Er drehte unwillig den Kopf in ihre Richtung. Lina wandte erschrocken den Blick ab und schaute die Skulptur an, die der Mann vorher betrachtet hatte.
Die Statue war nicht sehr groß, in der Höhe hatte sie ungefähr die Länge von Linas Arm. Sie schimmerte mattweiß, fast durchscheinend. An den Füßen endete sie in einem hölzernen Sockel, der mit teilweise unleserlichen Schriftzeichen bedeckt war. Auf einem Schildchen stand: »2000 vor Christus, Alabaster«.
Lina trat noch näher.
Die Figur war es, die Figur zog sie an, stellte sie jetzt fest, und von einer Sekunde zur anderen verspürte sie eine unendliche Traurigkeit.
In ihrem Kopf ging plötzlich alles durcheinander. Sie hörte eine Stimme. War es der seltsame Mann, der mit ihr sprach? Aber als sich Lina umsah, war er verschwunden. Er hatte sich lautlos entfernt, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte.
Die Stimme in Linas Kopf erhob sich wieder. Aber Lina konnte nicht verstehen, was sie sagte. »Sprich lauter«, wisperte sie.
Das Säuseln verstummte, aber die Traurigkeit wurde noch stärker.
»Wer bist du?«, fragte Lina leise.
Worte purzelten in ihren Gedanken herum: Geliebter – nie mehr – Sonnenaufgang – Moria … Dann wurde es plötzlich ganz still in Linas Kopf und sie betrachtete die Statue genauer.
Erst jetzt erkannte sie, dass es sich bei der Figur gar nicht um eine menschliche Gestalt handelte: Nur der Leib war der eines Mannes oder einer Frau, genau konnte Lina das nicht erkennen. Vor allem der Kopf war ganz eigentümlich. War das eine Maske, die das Wesen trug? Lina trat einen Schritt näher. Sie rückte noch weiter heran, stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Seltsam. Der Kopf sah aus … wie ein Insekt.
»Finger weg!«, ertönte es plötzlich hinter ihr.
Lina zuckte zusammen. Sie verlor das Gleichgewicht. Immer noch auf den Zehenspitzen balancierend, geriet sie ins Wanken und kippte nach vorne. Der hölzerne Sockel, auf dem die Figur stand, kam immer näher. Lina schrie auf und fuchtelte mit den Armen.
»Die wichtigsten Regeln im Museum sind die folgenden«, hatte Dr. Ballerstedt den Schülerinnen in den letzten Tagen wieder und wieder eingebläut: »Kein Lärm. Nichts berühren. Nichts essen und trinken.«
Die ersten beiden Regeln hatte Lina soeben gebrochen. Sie hatte laut geschrien. Und beim Herumfuchteln hatte sie das Alabasterwesen berührt. Nur ganz leicht, aber das genügte. Es stürzt, dachte Lina, es fällt hinunter, es zerbricht, es ist wertvoll.
Krach. Ballerstedt. Riesenärger.
Ein Telegramm an Frau Amalia Rosenstolz, Bergsanatorium, Schweiz. An ihre erfundene Mutter, die es weder dort noch sonst wo gab.
Schon nach einer Woche war alles aufgeflogen.
Kein Schulabschluss, den sie sich so sehr gewünscht hatte, stattdessen das Kinderheim von Tante Elfi, die keine Tante, sondern eine Hexe war.
in dem es zum ersten Mal krabbelt und kriecht
»Wird das heute noch was?«, blaffte der Chefkoch, dem seine weiße Mütze tief in die Stirn gerutscht war. Sein Kopf war rot wie ein Zündholz und fast genauso klein, weshalb ihm keine der Kochmützen passte.
Otto balancierte einen Stapel schmieriger Suppenteller zum Spülbecken. »Das schmutzige Geschirr … «
» … ist mir völlig wurscht! Die Wachtelbrüstchen für Tisch sieben müssen raus, sonst überlegen die Vögelchen es sich und fliegen wieder nach Hause.«
So verkohlt, wie die waren, würden sie höchstens durchs Fenster fliegen – mitsamt dem Teller, dachte Otto, aber er biss sich auf die Lippen.
Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
Otto war der dritte Hilfskellner, was aber eigentlich bedeutete, dass er alleine schuften musste. Franz Ferdinand, der Oberkellner, der in seinem vornehmen Frack und mit der weißen Hemdbrust wie ein Pinguin aussah, umschwänzelte die Gäste und versprach jedem neu Eintreffenden den allerallerbesten Platz. Danach schwirrten ein paar andere Kellner um den Tisch herum, brachten Speisekarten fast im Format der Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, empfahlen den Reichen Champagner und edle Weine aus Frankreich oder reichten Zigarren herum, die beinahe die Größe eines Zeppelins hatten. Vom Preis einer einzigen dieser Zigarren konnten die vier Schatten eine ganze Woche leben!
Die Hilfskellner mussten die Bestellungen aufnehmen und an die Köche weiterreichen, die Gläser auf Hochglanz polieren, den Wein holen, die Speisen zu den Tischen schleppen und das schmutzige Geschirr abräumen. Ottos Versuch, den Lebensunterhalt für sich und die anderen drei der Bande mit ehrlicher Arbeit zu verdienen, entpuppte sich als ziemlich anstrengende Angelegenheit. Andererseits lebten Klara, Paule, Lina und er seit ein paar Wochen wie die Maden im Speck.
Die Gäste des »Rose d’Or« waren nicht nur reich und berühmt. Meistens waren sie auch schon satt, wenn sie das Restaurant mit dem klangvollen französischen Namen betraten. Die Hälfte von ihrem Essen ließen sie auf dem Teller. Eigentlich kamen die Generaldirektoren und Reichsminister und Filmschauspieler bloß in das Lokal, um gesehen zu werden. Nur wer sich die unglaublichen Preise hier leisten konnte, gehörte zur gehobenen Gesellschaft der Hauptstadt.
Wie befohlen, brachte Otto die Teller hinaus. Knapp vor Tisch sieben schnappte sich der Oberkellner die Wachteln und schwebte damit zu den Gästen. Otto erkannte sofort, für wen die kleinen gebratenen Vögelchen gedacht waren.
»Fräulein Ginelli«, flötete der Oberkellner, »welche Freude bereitet mir Ihr Anblick. Sie sehen wieder bezaubernd aus.«
»Franz Ferdinand«, flötete die Ginelli zurück. »Sie sind ein Schmeichler!«
Ein Schleimer ist er, dachte Otto.
Hinter der Schwingtür zur Küche hatte der Kerl noch gelästert: Die Ginelli habe auch schon bessere Tage gehabt, ein Pfund Puder reiche schon nicht mehr, um ihre Falten im Gesicht zu überdecken, und pleite, so munkelte man, sei die Schauspielerin auch, seit ihr der österreichische Botschafter Prockauer-Waldenfels den Laufpass gegeben hatte.
Otto schaute auf die große Uhr über dem Aufgang zur Galerie im oberen Geschoss. Der große Zeiger schob sich gerade vorwärts auf die sechs. Halb eins! Die anderen Schatten warteten bestimmt schon. Ottos Blicke glitten durch den Speisesaal.
Tisch drei hatte einiges zu bieten. Das Wiener Schnitzel mit Herzoginnen-Kartoffeln sah sehr lecker aus und die magere Dame hatte es schon nach dem ersten Bissen zur Seite geschoben. Tisch elf mit gebackener Kalbszunge und jungen Erbsen machte auch einen guten Eindruck, aber Tisch vierzehn hinten in der Ecke schoss den Vogel ab: eine gefüllte Ochsenbrust im Kräutermantel, von der mehr als die Hälfte weggeworfen würde.
Wenn Otto die Leckereien nicht schnell einsammelte.
Er umkurvte die Servierwagen, die Kellner und die Damen, die zu den Waschräumen stöckelten, und steuerte die Tische einen nach dem anderen an. Im Vorbeilaufen schnappte er sich mit einem freundlichen Lächeln die Teller, murmelte: »Ich hoffe, es hat den Herrschaften geschmeckt!?«, und verschwand mit seiner Beute durch den Hinterausgang. An den Mülltonnen vorbei schlich er sich zu einem Türchen, durch das er einen Verschlag betrat.
Paule saß schon startklar vor einer alten Weinkiste. »Ick sterbe vor Hunger«, begrüßte er Otto.
»So schnell stirbt es sich nicht«, hörte Otto Klaras Stimme hinter sich. Sie trat aus dem Dunkel des Schuppens hervor und stellte ebenfalls eine Weinkiste vor sich. »Aber einen leckeren Happen zwischen die Beißer – das wäre nicht schlecht.«
»Gnädiges Fräulein«, säuselte Otto und machte Franz Ferdinand, den Oberkellner, nach.
»Oh, Franz Furzinand«, trällerte Klara. »Was gibt es denn heute für köstliche Speisen?«