Impressum

Ingrid Möller

Wetterleuchten über Isenheim

Ein Grünewald-Roman

ISBN 978-3-95655-068-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2011 im Fouqué Literaturverlag Egelsbach, Frankfurt a. M., München, New York.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Bildes „Auferstehung Christi“ von Matthias Grünewald (Isenheimer Altar).

 

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1. Kapitel

Hoch und stolz ragt es empor, das Schloss Aschaffenburg. Bollwerkartige Festungsmauem grenzen es ab gegen die Stadt tief unten in der Mainebene. Trutzige, spitz auslaufende Türme und kleinere Nebentürme stechen in den Himmel. Noch prächtiger, noch großartiger wird es sein, wenn der Umbau erst fertig ist, an dem jetzt fieberhaft gearbeitet wird. Der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen nämlich hat eine Vorliebe für dieses Schloss. Es soll sein Hauptaufenthaltsort sein, besonders in den Sommermonaten.

Wolken türmen sich auf, werden dunkler und dunkler und überziehen schließlich den ganzen Himmel mit Schwärze. Schwül und drückend ist die Luft, unheimlich die Stille. Sehr fern, weit hinter den Höhen des Spessart, beginnt das Wetterleuchten und Donnergrollen. Spürbar rückt es näher.

Voller Groll steht Kanonikus Hain am Fenster und beobachtet das Wetter. Zu ärgerlich! Wieder muss die Kaminfeuerprobe abgesagt werden. Dabei wäre es so wichtig, jetzt eine Erfolgsmeldung mit entsprechenden Ausschmückungen ans Erzstift weiterzuleiten, damit der hohe Herr nicht ungeduldig wird. Der neue Kamin in der Kemenate zwischen Ratsstube und Kanzlei ist nicht irgendeine Feuerstelle. Es soll ein Prachtkamin werden mit einem baldachinartigen Vorbau, gebildet als Blattrankenwerk aus Sandstein. So kunstvoll wie ein Gesprenge auf einem Altar, wie eine steinerne Ehrenpforte oder wie ein durchbrochener Lettner. Eine Laube gewissermaßen aus heiteren, arabeskenhaft verschlungenen Ruten und Schlingpflanzen, eine Laube allerdings, in der der Eintretende nicht die Kühle sucht, sondern angenehme Wärme an unfreundlichen Tagen.

Die Einzelteile sind schon zugehauen, aber sie können nicht aufeinandergemauert werden bevor sicher ist, dass der Kamin zieht.

Meister Mathis in seiner Turmstube wäre es auch lieber, wenn das lästige Spektakel heute stattgefunden hätte. Zweifel an der Richtigkeit seiner Berechnungen hat er nicht. Mit Sicherheit wird der Kamin ziehen! Aber es ist störend, zwischen so unterschiedlichen Pflichten hin- und hergehetzt zu werden. Woher soll er die Ruhe nehmen, an den Grisailletafeln weiterzumalen! Gewiss, heute ist es zum Malen ohnehin viel zu dunkel, wie viele Kerzen er auch anstecken mag. Trotzdem zieht er sich einen Hocker vor die Staffelei. Zu kritischer Überprüfung.

Seltsam. In dieser Gewitterstimmung wirkt das Bild auf einmal ganz anders. Ähnlich düster wird sein Standort in der Frankfurter Dominikanerkirche sein. Das bedeutet: die Schwärzen müssen tiefer und die Umrisse schärfer herausgearbeitet werden. Kontrast ist nötig; die Grautöne könnten verwaschen wirken.

Schließlich ist es das erste Mal, dass Meister Mathis solche Grau-in-Grau-Bilder malt. Ausgiebig und mit der Lupe hat er die alten flandrischen Vorbilder studiert, die Untermalungen, die Farbschichten, die Lasuren. Er hat seine Schlüsse daraus gezogen und doch alles ganz anders gemacht. Wozu sonst hätte er sich so ausgiebig mit Mineralien, Alchemie und Farbpigmenten befasst, wenn er Grau begreifen wollte als Mischung von Schwarz und Weiß! Niemals hätte er dieses berückende Eisblau erreichen können, hätte er nicht die durchsichtigen Farbschichten über einen orangefarbenen Grund gelegt!

Und doch! Was mag der reiche Kaufmann Jacob Heller zu diesen Heiligen wohl sagen! Der ursprüngliche Sinn solcher Grisaillen war doch, Steinplastiken vorzutäuschen. Durch Steinfarbe, Licht- und Schatteneffekte, statuarische Ruhe. Nichts davon ist hier zu finden. Keine Ruhe. Keine Steinhaftigkeit. Ganz im Gegenteil: alles quirlt und vibriert, jeder Muskel, jede Miene und besonders jede Gewandfalte. Nein, kein Mensch wird diese Märtyrerin mit Palmwedel je für eine Steinfigur halten! Selbst aus größter Entfernung nicht!

Meister Mathis rückt die Kerzen dichter vor das Bild. Er betrachtet Detail für Detail: den ovalen Kopf mit den seitwärts gedrehten Augen, den lächelnden Mund - wirkt er nicht geradezu sinnlich? -, die lang wehenden gelockten Haare, die Hände - jeder Finger spreizt sich eigenwillig und führt sein Eigenleben -, die den Körper überrieselnden Plisseefalten. Wie sie sich stauen und bauschen, Fächer und Faltengrate bilden - Spiegelbild einer unruhigen, wechselhaften Seelenlage. Rätselhaft. Verlockend.

Meister Mathis steht auf, geht mit dem Leuchter vor das Bild der heiligen Elisabeth. Bei ihr, der Mildtätigen, fließen alle Linien abwärts, gekräuselt wie die Oberfläche eines in der Tiefe unruhigen Sees. Wie anders beim heiligen Laurentius! Wild bewegt bauscht und wirbelt das Tuch wie die Strudel einer Untiefe. Der fransenbesetzte Saum verheddert sich am Martergerät, dem Rost.

Noch niemandem hat Meister Mathis diese Tafeln gezeigt. Indagine, dem Astrologen, Handliniendeuter und Gestenerforscher, würden sie gefallen. Sie würden ihm seine Lehre bestätigen, dass alles - jede äußere Form, jede Miene, jede Geste, jede Haltung - Ausdruck ist für eine bestimmte Gemütsverfassung, eine innere Haltung. Bewusst oder unbewusst. Indagine hat Meister Mathis gelehrt, genauer hinzusehen, Feinheiten wahrzunehmen und die Übertriebenheit falschen Lamentierens. Nicht der laut herausgeplärrte Schmerz muss der tiefste sein, nicht das lauteste Lachen die größte Freude, und Wildheit nicht der Beweis äußerster Leidenschaft. Die echten Gefühle liegen tiefer, auf einer anderen Ebene. Die aber sollte der Künstler sichtbar machen.

Die Kerzenflammen flackern. Draußen grollt der Donner, und Blitze überfluten für kurze Augenblicke das Zimmer mit greller Helligkeit. Eine Fensterluke hat sich geöffnet und wird vom Sturm hin- und hergeschleudert, als wolle sie aus den Angeln reißen.

Meister Mathis stellt den Leuchter aus der Zugluft, öffnet das Fenster und verriegelt die Luke. Vernünftig wäre, das Turmzimmer zu verlassen. Aber es liegt ihm nicht zu tun, was vernünftig wäre. Er bleibt.

Jetzt prasselt der Regen herunter wie aus Waschzubern gekippt. Er platscht auf die Schindeldächer, lässt die Wetterfahnen wie Stimmgabeln klingen, stürzt in Bächen an den vorkragenden Gebäudeecken herab, dringt durch Risse im Mauerwerk. Das wirft die Arbeit um mindestens eine Woche zurück, denkt Meister Mathis und meint die Bauarbeiten, für die er verantwortlich ist. Das ganze Baumaterial lagert im Schlosshof. Die Sackleinwand reichte nicht, um alles abzudecken. Sie würde solche Sturzbäche ohnehin nicht abhalten. Niemand konnte aber auch mit solchem Unwetter rechnen!

Plötzlich stürzt Contz, der Knecht, herein: »Kommt schnell, Meister, der Brunnen!«

Mehr braucht er nicht zu sagen. Meister Mathis kennt die Schwachstellen der Wasserzu- und -ableitung. Das Röhrengewirr ist überholt. Dringend wäre ein ganz neuer Brunnen nötig. Von der Sorte, wie er ihn vor gut einem Jahr in Bingen gebaut hat. Dann gäbe es nicht bei jedem Wolkenbruch diesen Ärger!

Er zeigt auf die Ingenieurgeräte, die Contz mitnehmen soll, zieht die gepechten Fischerstiefel an und das lederne Arbeitszeug, löscht die Kerzen bis auf eine, die er als Windlicht in ein Gehäuse stellt und mitnimmt, und schon sind sie die Wendeltreppe hinunter. Draußen ist fast nichts zu sehen vor lauter Wasser. Wasser von oben und von unten. Meister Mathis tastet mit einer gekrümmten Metallstange die Rohreingänge ab. »Hier! Hier muss die Verstopfung sein!«

Contz wendet alle Kräfte auf, um mit einem Haken den Widerstand zu lösen. Jetzt! Etwas unförmig Aufgequollenes springt ihm wie ein Pfropf entgegen: eine tote Ratte. Im gleichen Augenblick wird das gestaute Wasser mit schlürfendem Geräusch weggesogen. Geschafft!

Auf der Schwelle ins Schloss schütteln sie das Wasser von den Sachen, die in der Gesindeküche zum Trocknen aufgehängt werden müssen. Meister Mathis und Contz lassen sich etwas Heißes zu trinken geben und wickeln sich in Wolldecken. »Jesses Maria«, schnauft Contz, »so a Sauwetter! Die hohen Herren täten besser, eine Reliquie weniger zu kaufen und so was richten zu lassen.«

Meister Mathis überhört es. Bei besserer Laune könnte er darüber schmunzeln, denn diese Bemerkung stammt von ihm. Doch aus dem Mund des Knechts klingt sie ganz anders. Der aber hält sich für mutig. Sein Herr besitzt zwar die vornehme Hoftracht, rot, mit Samtaufschlägen, Atlaswams, Damastbrusttuch und Schlapphut, aber trotzdem ist sein Titel »Hofdiener«. Und ist das nicht irgendwie fast das Gleiche wie »Knecht«?

Oben im Turmzimmer fröstelt Meister Mathis noch immer. Er steckt sich ein Katzenfell unter die trockenen Kleider. Wegen des Rheumas.

Der Sturm ist abgeklungen, es regnet jetzt gleichmäßig. Allmählich klart es auf. Meister Mathis steht wieder vor seinen grauen Heiligenbildern. Der Nachhall eines Wetterleuchtens huscht über die rechte Hand des Laurentius mit dem aufgeschlagenen Buch. Es durchfährt Meister Mathis wie ein Schlag. »Mein Gott! Diese Hand ist wirklich ganz unübertrefflich gemalt! Danke! Ich kann kaum glauben, dass es wirklich mein Werk ist!«

Eine tiefe Demut erfasst ihn. Alle Zweifel sind hinweggefegt. Er weiß plötzlich, dass Jacob Heller zwar überrascht, aber doch froh sein wird über seine Arbeit. Und er weiß, dass diese Arbeit den Vergleich aushalten wird mit jenem Großen, hoch gerühmten: Albrecht Dürer.

Es war schon eine ungeheure Herausforderung, gegen ihn anzutreten. Und es war eine große Überraschung, dass Jacob Heller damals keinen Schüler Dürers mit den Standflügeln des Altars beauftragte, sondern ihn, Meister Mathis. Nach Gründen fragte er nicht. Irgendjemand musste ihn empfohlen haben. Dürer selbst? Höchst unwahrscheinlich! Es muss Krach gegeben haben zwischen Heller und Dürer. Wegen der Bezahlung der Haupttafeln. Heller fand Dürers Forderungen überhöht. Also blieben die letzten vier Tafeln ungemalt. Heller, verärgert wie er war, sperrte die Ohren auf nach einem, der sie ausführen konnte. Nur billiger als Dürer? Nein, sicher sollten sie auch möglichst ebenso gut sein. Es würde sich dann zu Dürer herumsprechen, und es wäre für Heller eine kleine Rache, ihm zu zeigen, dass er nicht der einzige begnadete Künstler unter der Sonne ist.

So könnte es gewesen sein, grübelt Meister Mathis.

Wie auch immer! Hätte ich mich genauso angestrengt mit diesen Tannenholzbrettern, wenn ich nicht bei jedem Pinselstrich daran gedacht hätte, dass sie an einem Altar befestigt werden, den Dürer gemalt hat? Vielleicht nicht. An ihm gemessen zu werden, setzt neue Kräfte frei. Lange stand ich damals vor seinem Altar. Jede seiner Figuren hab ich noch genau im Gedächtnis. Die Krönung der Maria im Mittelteil - bei geöffneten Flügeln die Anbetung der heiligen drei Könige - bei geschlossenen Flügeln - und auch die Gestalten auf den Flügeln, besonders die Grisaillen. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass Dürer, der Gepriesene, eigentlich mehr Zeichner ist als Maler. Heller ließ mich die Zeichnungen zu diesem Altar betrachten. Da wurde es noch deutlicher. Und dann der Vergleich mit den Holzschnitten der Apokalypse! Warum malt er nicht mit der gleichen Leidenschaft, mit der er ins Holz schneidet? Weil seine Stärke die Linie ist! Das ist’s! Als ich das erkannt hatte, wurde mir auch die eigene Stärke bewusst: eben das Malerische, Farben, Reflexlichter, Hell-dunkel-Werte. Während der Maler Dürer aus dem Verstand heraus arbeitet, male ich aus dem Gefühl. Der Auftrag reizte mich.

Meister Mathis nimmt wieder so viel Abstand, dass er alle seine vier Bilder gleichzeitig überblicken kann. Er ist mit sich zufrieden. Eine Frage allerdings bleibt es, ob Dürer jemals einen Blick auf diese Tafeln werfen wird. Wenn, was würde er wohl sagen?

Inzwischen scheint die Sonne schon wieder. Meister Mathis stellt das Cyriacusbild auf die Staffelei. An ihm fehlt noch die ganze Feinarbeit. Mit etwas Glück schafft er heute wenigstens noch die Durchziselierung des Bisamapfels am rechten Halskragen. Das Modell dieses Schmuckstücks hängt an der Staffelei. Es stammt aus dem eigenen Schatzkästchen.

Bald sind Unwetter, Kamin und Brunnenabfluss vergessen. Meister Mathis hat nur noch Augen für den Mikrokosmos seiner Farbpigmente.

2. Kapitel

Würdevoll, wie es sich für Repräsentanten der mächtigen Kirche geziemt, stehen sie da und warten auf das Ereignis: das Probeheizen des Kamins. Das Horoskop für den heutigen Tag ist günstig, die Wetterlage ruhig. Nichts kann mehr schiefgehen. So Gott will!

Kanonikus Hain hält eine Ansprache. Über die Symbolik der Feuerstätte, die Wärmewirkung des Feuers, das nach der Vorstellung der ungläubigen Griechen ein gewisser Prometheus zu den Menschen gebracht habe.

»Wir aber wissen es besser ...« Beschwörend hebt er den Arm und lässt seine Rede gewohnheitsgemäß ausklingen in einen Lobpreis der Gottesmutter, der heiligen Dreieinigkeit und aller himmlischen Heerscharen. Während er den Segen spricht, lässt er einige Tropfen Weihwasser in die Kaminöffnung spritzen.

Inzwischen hat der Heizer in einer Kohlenpfanne Glut aus der Küche geholt. Kanonikus Hain nimmt ihm den brennenden Fidibus ab und hält ihn an die unteren Reiser der aufgestapelten Holzscheite. Die Reiser knistern, nehmen zögernd etwas Feuer an, aber - nichts lodert auf, die dürren Zweige glimmen rötlich, krümmen sich und zerfallen zu Aschestückchen. Gleichzeitig bildet sich grauer Qualm, der zunehmend den ganzen Holzstoß umhüllt, dann zu dicken Schwaden verdichtet und schließlich aus dem Kamin herausdrängt und sich mit rasanter Geschwindigkeit im ganzen Raum ausbreitet. Ein Husten und Röcheln setzt ein. Alle halten sich Tücher vor den Mund, möchten rauslaufen, fühlen sich aber ans Zeremoniell gebunden.

So eine Blamage! Das Gesicht des Kanonikus Hain schwillt puterrot an vor Zorn. »Wie kommt das? Ist etwa das Holz nass?«

Der Heizer schüttelt den Kopf. »Nein! - Knochentrocken!«

»Ist die Zugklappe zu?« Auch nicht.

Einen Schuldigen aber muss es geben! Der zornfunkelnde Blick Hains trifft den Maurermeister Baltz von Martenstein. Der zuckt verschreckt die Schultern. »Ich hab nur die Ausführung besorgt. Für den Plan bin ich nicht verantwortlich.« Damit ist er aus der Sache heraus. Der nächste in der Stafette der Schuldzuweisungen ist Meister Mathis. »Raus hier!«, herrscht der Kanonikus ihn an. Der Qualm ist inzwischen wirklich unerträglich geworden und lässt keine Unterhaltung mehr zu.

Draußen im Gang stehen sie sich erneut gegenüber. »Nun, was habt Ihr zu Eurer Rechtfertigung vorzubringen?« Der Kanonikus kocht vor Wut. Meister Mathis ist wie gelähmt vor Schreck. Seine Berechnungen müssen doch richtig sein!

»Nichts, Hochwürden! Ich könnte meine Hand dafür ins Feuer legen ...«

»Das lasst nur ja bleiben!« fährt der Kanonikus dazwischen, »es qualmt schon so genug. Aber -«, er durchbohrt Meister Mathis mit seinem Blick - »die Sache hat ein Nachspiel! Bis morgen erwarte ich Euern ausführlichen Bericht - schriftlich!«

Von so schneidender Härte war des Kanonikus Hains Stimme noch nie. Meister Mathis jedenfalls kennt ihn so nicht. Es ist ein Ton, in dem vor Gericht wohl Todesurteile ausgesprochen werden. Unerbittlich!

Er gibt sich einen Ruck. Bis morgen - das wird knapp. Das heißt, die Nacht zum Tage machen, keine Zeit verlieren. Sofort anfangen!

Baltz von Martenstein muss erst gesucht werden; so eilig hatte er es, den unrühmlichen Schauplatz zu verlassen. Der Heizer bekommt Weisung, die Glut zu löschen und den Kamin völlig zu leeren. Die Fenster der Kemenate stehen längst sperrangelweit auf. Meister Mathis rennt die Wendeltreppe hoch in sein Turmzimmer, zieht sich altes Arbeitszeug an und greift Winkeleisen und Messgeräte. Unaufgefordert hilft Contz, die Mappe mit den Konstruktionsunterlagen zu suchen. So, das wär’s!

»Wir müssen alles noch einmal genau nachmessen«, sagt Meister Mathis zu Meister Baltz von Martenstein. Er bemüht sich, einen sachlichen Ton anzuschlagen und seine Aufregung zu verbergen. Dabei ist er überzeugt, dass eine Schlamperei der Maurer vorgefallen sein muss.

Im Kaminzimmer hat der Qualm einen beißenden Geruch hinterlassen, aber es lässt sich atmen. Meister Mathis breitet die Pläne auf einem Tisch aus und weist Meister Baltz an, die einzelnen Mauerteile und Winkel nachzumessen. Es geht lakonisch zu. Zahlen werden angesagt, verglichen, bestätigt. Weiter hinein in den verrußten Abzug muss der Geselle kriechen. Bisher decken sich alle Angaben.

Plötzlich aber gibt es eine Abweichung. Meister Mathis wird hellwach. »Noch mal! Sagtet Ihr sechsundvierzig? Bei mir steht sechsundsiebzig!«

»Wo?« Im Nu steht Baltz von Martenstein neben Meister Mathis. »Die Zahl soll eine Sieben sein? Wo habt Ihr denn das Zahlenschreiben gelernt? Ihr habt statt dessen wohl Männchen gemalt!«

Ein üblicher Vorwurf! Vielen Leuten will es nicht in den Schädel, dass ein und derselbe Mensch ein exakter Rechner und gleichzeitig ein fantasiebegabter Künstler sein kann. Als ob andere das nicht wären! Leonardo da Vinci zum Beispiel oder Albrecht Dürer. Immer dieser Argwohn: Eines kann er nur vernünftig machen. Entweder - oder. Ein wunder Punkt für Meister Mathis. Folglich geht er jetzt hoch: »Und Ihr! Habt Ihr in Eurer Lehre nichts vom maßstabgerechten Zeichnen gehört?! Selbst wenn Euch die Zahl nicht eindeutig war, so brauchtet Ihr doch wohl nur die Längen zu vergleichen! Und außerdem hättet Ihr mich im Zweifelsfall jederzeit fragen können. Das ist eine verdammt faule Ausrede!«

»Euch oblag die Oberaufsicht! Also hättet Ihr aufpassen müssen!«

»Wie soll ich ahnen, dass ich es mit fachlichen Analphabeten zu tun habe!«

Die Wut schaukelt sich hoch, droht in unsinnige Feindschaft auszuarten. Meister Mathis erschrickt selbst. Das ging zu weit. Das hätte er besser nicht sagen sollen! Er sucht zu beschwichtigen: »Jedenfalls wissen wir jetzt, wo der Fehler liegt. Wir müssen eine Überschlagsrechnung machen, wie viel zusätzliche Arbeitsstunden der Umbau bedeutet. Wie viel muss abgerissen werden?«

Der Maurermeister schluckt. Eigentlich wollte er’s dem Maler geben, der sich hier als Ingenieur aufspielt, aber vor eine so konkrete Frage gestellt unterdrückt er seinen Zorn. Er guckt in den Kaminabzug, bedenkt die Mauerdicke. Ihm wird siedend heiß. »Ich fürchte, fast alles!«

Meister Mathis wird starr vor Schreck. »Das bedeutet - sieben Wochen Arbeit umsonst? Ist der Mörtel denn schon so hart, dass die Steine nicht wieder verwendet werden können?«

»Ein Teil der Steine geht sicher dabei zu Bruch.«

»Und das Maßwerk? Habt Ihr denn die Zahlen richtig abgelesen?« Eine böse Ahnung treibt Meister Mathis in die Steinmetzbaracke. Schon beim ersten Aufeinanderpassen der Teile sieht er, dass auch hier ungenau gearbeitet worden ist. Ihm wird übel. Woher den zusätzlichen Arbeitslohn nehmen? Wie die Verzögerung erklären? Denn eigentlich sollte der Kamin schon Ostern fertig sein. Er grübelt. »Wie lange sind der Geselle und die beiden Handlanger noch unter Vertrag?«

»Nur bis jetzt.«

»Würden sie bleiben, auch wenn der Lohn etwas niedriger wäre?«

Baltz von Martenstein schüttelt den Kopf. »Die nicht!«

»Wisst Ihr andere?«

»Man müsste in einer Gegend suchen, wo schwer Arbeit zu haben ist.«

»Wir können schließlich nicht in der Gegend herumfahren und billige Arbeitskräfte suchen. Es eilt. Morgen will Kanonikus Hain den Bericht sehen. Es müssen Vorschläge hinein, wie der Schaden möglichst schnell und mit geringen Kosten behoben wird.«

»Dann sollten wir den Gastwirten sagen, sie sollen uns Bescheid geben, wenn Handwerksburschen Arbeit suchen.«

Das könnte eine Lösung sein, überlegt Meister Mathis. Auf keinen Fall aber darf er in seinem Bericht andeuten, wie lange die Fertigstellung voraussichtlich dauern wird.

Mit seinen Plänen, Notizen und Berechnungen zieht er sich ins Turmzimmer zurück. Die Wahrheit muss äußerst schonend formuliert werden. Er stützt das Kinn auf die Hände und sucht seine Gedanken zu sammeln.

Der erste Fehler bei der ganzen Unternehmung war, dass nicht mehr als zweiunddreißig Gulden bewilligt wurden. Das ist für einen Kamin von solcher Pracht und Größe äußerst knapp bemessen. Besser wäre auch gewesen, Meister Backhofen aus Mainz kommen zu lassen. Der hätte Tuffstein aus Andernach verwendet, der leichter zu behauen ist als der Miltenberger Sandstein. Backhofen hätte vielleicht mehr Lohn verlangt, aber ein solcher Reinfall wäre allen Beteiligten erspart geblieben. Wieder einmal wurde an der falschen Stelle gespart, und dann wird es - wie oft - viel teurer.

Wie teuer? Meister Mathis greift sich einen Schmierzettel und berechnet die Arbeitslöhne von zwei Maurern und zwei Handlangem für sieben Wochen, dazu Verpflegungskosten, zusätzliche Materialkosten. Es ergibt eine Summe von etwa sechzehn Gulden. Also noch mal halb so viel, wie das Ganze kosten sollte! Schnell zerknüllt er den Zettel. Kein Mensch darf diese Berechnungen finden!

Er entwirft den Bericht über die Nachmessungen, spricht von bedauerlichen Lesefehlern bei den Zahlenangaben, verbürgt sich für die Richtigkeit seiner Berechnungen, verspricht baldige Korrektur der Fehler bei äußerster Geringhaltung der Kosten.

Nochmals überdenkt er alles. Ja, so etwa müsste der Bericht angelegt sein. Trotzdem! Wird man ihm nicht mangelnde Aufsichtspflicht anlasten? Mit Recht? Kaum, denn Baltz von Martenstein hat selbst einen Meisterbrief als Maurer und sollte wohl in der Lage sein, technische Zeichnungen zu lesen. Außerdem gab es ein Modell in kleinem, aber genauem Maßstab. Auch daraus hätte er erkennen müssen, dass Fehler begangen wurden.

Zur eigenen Sicherheit jedoch rechnet Meister Mathis die Pläne noch einmal durch. Alles stimmt.

Erst tief in der Nacht hat er den Bericht in Reinschrift fertig. Erleichtert setzt er seinen Namen darunter: Meister Mathis Neithart. Viel Zeit zum Schlafen bleibt nicht. Der kommende Tag verheißt wenig Gutes.

3. Kapitel

Endlich mal weg von Aschaffenburg! Langsam gleitet das Frachtschiff dahin, mainabwärts, in Richtung Frankfurt.

Meister Mathis streckt sich entspannt aus. Seit Langem fühlte er sich nicht mehr so wohl. Das Schloss, das ihn einst so beeindruckte, sieht er jetzt mit Freuden in die Ferne rücken, kleiner werden und schließlich ganz verschwinden. Weg ist es - wie die beiseitegeschobene Kulisse einer Puppenbühne.

Meister Mathis atmet tief durch. Welch ein Gefühl der Befreiung! Seltsam eigentlich, dass die schönsten Gegenden einem verleidet werden können durch übermäßigen Ärger! Jetzt erst nimmt er wahr, wie bilderbuchhaft schön dieses Frühjahr ist. Wie in zahllosen Liedern besungen. Wiesen und Felder in sattem Grün, durchsetzt mit den Farbtupfern der Blumen. Vogelgezwitscher, blauer Himmel mit Lämmerwolken ...

Erstaunt sieht Meister Mathis sich um. Sicher war das alles schon lange da. Aber eben nicht für ihn. Mit Berichten und Rechtfertigungen hatte er sich in den letzten Wochen herumzuschlagen, mit Forderungen und Rechnungslisten. Schließlich wurden zähneknirschend die Tagegelder von drei Schillingen für neue Arbeitskräfte bewilligt. Mehr als knapp. Baltz von Martenstein trieb die Steinmetzgesellen Conrad Eulner und den Tiroler zur Eile an. Ständig musste der Fortgang der Arbeiten überprüft werden. Eine zweite Panne durfte es auf gar keinen Fall geben!

Schlecht hatte er geschlafen in der letzten Zeit. Die innere Unruhe wuchs mit jedem Tag. Heimlich veranlasste er ein Vorprobeheizen. Erst als das günstig ausfiel, begann er, diese Reise vorzubereiten. Viel gab es zu bedenken. Nicht nur den leidigen Kamin. Auch die übrigen Umbauarbeiten mussten in einem Zustand sein, der seine Abwesenheit zuließ. Dann war da noch die Färberei, die mit ausreichend Farben versehen sein musste, die Seifensiederei mit den nötigen Rezepten ...

Das alles geht Meister Mathis noch durch den Kopf, während die Landschaft an ihm vorbeigleitet. Gottlob, für die nächsten Wochen hat er nur Maler zu sein und darf vergessen, ein wie vielseitig verwendbarer Hofdiener er sonst ist.

Er sieht sich nach seinen Gepäckstücken um. Dass nur die schmalen Bildtafeln nicht verrutschen und sich scheuern! Dass die Verschnürung der Farbbeutel dicht bleibt und keine Wasserspritzer in die Nähe kommen! Aber es besteht kein Anlass zur Besorgnis.

Dieses Dahintreiben mit der Strömung - ist es nicht die angenehmste Art des Reisens! So recht dazu geeignet, die Gemütsruhe wieder herzustellen! Er beobachtet, wie die Wasseroberfläche vom Schiffskiel durchschnitten wird, wie die Wellen sich bilden und sich schräg seitwärts nach hinten kräuseln und dann verebben. Alles hat seine Gesetzmäßigkeit, und diese Gesetzmäßigkeiten zu durchschauen, reizt ihn täglich neu. Es ist ihm Gegengewicht zum Reich der Fantasie und jener sichtbaren Dinge, die Ausdruck sind des gänzlich Unwägbaren, das wir Seele nennen.

Nicht jede Gegend hat schiffbare Ströme. Sie stellen wichtige Verkehrsadern dar. Wie viel mehr lässt sich in einem großen Schiffsrumpf verstauen als in einem Pferdefuhrwerk! Handel ist wichtige Voraussetzung für Wohlstand. Ohne den Main als Nebenfluss des noch viel größeren Rheins hätte Aschaffenburg gewiss nicht so weitreichende Handelsverbindungen - im Norden bis Holland und im Süden bis Straßburg und Basel.

Nachdenklich betrachtet Meister Mathis die Ladung. Die meisten Verpackungen lassen keinen Zweifel über den Inhalt. In den Säcken ist das kostbare Salz aus Orb, das die Esel über die Spessartberge zu tragen haben, auf eigens für sie angelegten Wegen. In den strohgepolsterten Kisten befinden sich die Waren der Glasbläser, die auf kurfürstliches Geheiß hier vor zwei Jahrhunderten angesiedelt wurden. Seitdem mehren sich die Klagen über den Schwund des Waldes. Zuviel Holz verschlingen die Glashütten. Trotzdem ist der Spessart noch immer eines der größten Waldgebiete weit und breit und der Wildbestand beträchtlich. Riesentannen, die in Holland zu Schiffsmasten verarbeitet werden, gibt es auch immer noch genug.

Fachkundig betrachtet Meister Mathis die untadelig gerade gewachsenen Tannenstämme, die im Schlepptau dem Schiff angehängt sind. Aus solchen Stämmen sind auch die Bretter gesägt, auf die er seine Altarbilder malt. Doch diese hier werden in einer Schiffswerft landen, in Amsterdam vielleicht. Viele Äxte und Stemmmeißel werden daran gesetzt werden, bis sie zu jenen stolzen Masten geworden sind, an denen Segel und Flaggen hängen und von deren Ausguck der Maat das erlösende »Land in Sicht« rufen wird. Der eine oder andere Stamm mag auch anderem dienen. Wird vielleicht zu einer Galionsfigur, einer riesigen Nixe mit bannendem Blick oder zu einem Seeungeheuer.

Ins Träumen geraten, möchte Meister Mathis am liebsten alle Pflichten vergessen und einfach diesen Baumstämmen nachreisen, um zu erleben, wo sie landen, was aus ihnen wird. Wie als kleiner Junge, wo er irgendein Pfand auf ein vorbeifahrendes Schiff warf, damit es an seiner Stelle auf Reisen ging. Schon damals steckte dieses Fernweh in ihm, die Neugier auf dort, wo die Welt anders ist. Auch damals war es der Main, der seine Sehnsüchte weckte und seiner Fantasie Flügel wachsen ließ, der Main bei Würzburg.

Würzburg! Auch eine Stadt, die zu Füßen und im Schatten einer Residenz lebt. Für ihn war sie Schauplatz seiner frühen Welterfahrung.

Lange schon war er nicht mehr dort. Schade, allein schon wegen all der neuen Werke des berühmten Tilman Riemenschneider! So malen können wie der Figuren aus dem Holz meißelt, das hat er sich schon immer gewünscht.

Reisen heißt unterwegs sein, heißt, den Gedanken die Zügel abnehmen, sie frei lassen wie Zugpferde auf der Koppel. Trotzdem nimmt Meister Mathis sehr wohl wahr, welche Krümmungen der Main macht, wie die Weinhänge bergan kriechen, als ob sie den Windschutz der hohen Wälder suchten. Er sieht sehr wohl die Libellen und Schmetterlinge über dem Deck, die Zugvögel hoch oben im Azurblau und hört auch den fernen Ruf des Kuckucks. Nur auf die Mitreisenden achtet er wenig.

Plötzlich steht ein kleines Mädchen vor ihm: »Nun sag du mal, können die Räuber schwimmen?«

»Welche Räuber?«, fragt Meister Mathis.

»Hast du denn nicht zugehört, was wir die ganze Zeit über erzählt haben?«

»Nein!«

Die Kleine zeigt hoch zu den Wäldern. »Wir sprachen darüber, dass da hinten in den dunklen Wäldern ganz viele Räuber sind. Wenn die nicht genug Wagen oder Leute zu Fuß zum Überfallen finden, könnten sie auf den Einfall kommen, Schiffe auszurauben. Dazu brauchen sie Boote oder müssten gut schwimmen können. Was glaubst du?«

Erwartungsvoll blickt die Kleine zu ihm auf.

Meister Mathis bemüht sich, ernst zu bleiben. »Ich glaub nicht, dass sie schwimmen können.«

»Und warum nicht?«

»Sie sind bestimmt viel zu faul, es zu lernen.«

»Seht ihr!«, ruft das Mädchen triumphierend zu ihren Eltern hin, »sie können es nicht!«

»Komm her, belästige den Herrn nicht!«, ruft die Mutter.

Die Kleine aber fragt weiter: »Seid Ihr aus der Gegend?«

»Ja!«

»Dann erzählt doch mal von den Räubern, wie sie aussehen und so!«

Märchen erzählen - auch das noch! Stumm greift Meister Mathis nach seinem Skizzenblock. Mit schwarzen Kohlestrichen entwirft er ein Bild: dunkle wirre Haare, stechende Blicke, lange Schlapphüte, zerlumpte Kleider, ein Messer in der Rechten, zum Zustechen erhoben.

Entsetzt zuckt die Kleine zurück. »So schrecklich sehen die aus?«

»Mindestens so schrecklich!« Meister Mathis will ihr das Blatt schenken, aber sie schüttelt den Kopf und geht lieber wieder zu ihren Eltern. Nur hin und wieder wagt sie einen furchtsamen Blick auf den Mann, der so Schlimmes zeichnen kann.

Zunehmend verbreitert sich die Mainebene. Die Ausläufer des Spessart rechts und des Odenwalds links verschwimmen im Blau der Ferne.

In Seligenstadt gibt es eine längere Fahrtunterbrechung. Waren werden zu- und ausgeladen. Meister Mathis vertritt sich die Füße. Dieses Städtchen hat es ihm angetan, es hat etwas Anheimelndes. Kein Schloss, nur ein Kloster. Winklige Straßen mit dem Hauch des Altertümlichen. Stadtmauern mit Wehrtürmen, sogar eine Jahrhunderte alte Kaiserpfalz. Aber auch, was jetzt gebaut wird, kann sich sehen lassen: Wohnhäuser mit kunstvollen Fachwerkomamenten, an denen die Zimmerleute ihre Kunstfertigkeit beweisen. Bogenomamente, Rauten, Vielecke. Dazu geschnitzte Schmuckelemente, Masken, Figuren, Köpfe, Tiere. Kein Haus gleicht dem anderen.

Während Meister Mathis mit hintenübergebeugtem Kopf all das betrachtet, läuft er an einer Mauerecke fast mit einer Frau zusammen. Ein kurzes Stutzen. »Ihr hier?«, sagen sie beide fast gleichzeitig.

»Ich wohn hier doch.«

Er sollte es sich eigentlich gemerkt haben. Sie stand ihm Modell für die Grisaillen. Und nur als Modell hat er sie bisher gesehen, als sehr geeignetes und willfähriges Modell. Auch bei längerem Stehen gab es kein Murren.

Jetzt aber sieht er sie zum ersten Mal als Frau und ist verwirrt.

Nach einer Pause, die fast peinlich lang ist, stammelt er:

»Ich muss nach Frankfurt. Die Bildtafeln aufstellen. - Wenn ich zurück bin, habe ich Euch etwas zu fragen. - Wo genau wohnt Ihr?«

Sie wird rot, setzt den Korb ab und zeigt auf das Haus. »Dort! Das schmale mit dem spitzen Giebel! Aber -«

Weiter kommt sie nicht. Die Schiffsglocke verkündet die Weiterfahrt. Meister Mathis schiebt sie auf eine Art beiseite, die fast einer Umarmung gleichkommt, und läuft in Richtung Anlegeplatz. Auf halbem Wege dreht er sich kurz um und ruft: »Bis bald!«

Weg ist er.

Sie schüttelt den Kopf. War das ein Tagtraum? Ein bisschen verrückt sollen sie ja alle sein, diese Maler. Doch dieser Meister Mathis hat daneben ja noch einen vernünftigen Beruf. Immerhin, irgendwie gefällt er ihr. Was mag das sein, was er sie fragen will? Verträumt nimmt sie ihren Korb hoch. Ach, grübelt sie, was mach ich mir da bloß für dumme Hoffnungen. Vielleicht soll ich ihm nur wieder Modell stehen. Aber - es war da so etwas in seinem Blick - er wird ja bald wiederkommen und es mir sagen.

Die Last im Korb scheint leichter geworden zu sein.

4. Kapitel

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wird das Schiff an der Zollstelle Steinheim vertäut. Die Mitfahrenden müssen sich nach einem Nachtlager umsehen. Meister Mathis weiß, bei wem er bleiben kann. Bei Indagine, dem Hofastrologen. Von Weitem schon winkt er. Die Zollabwicklung dauert eine Weile, obgleich die Gepäckstücke an Bord bleiben. Dann endlich begrüßen sich die Freunde.

»Abgehetzt siehst du aus - fast wie einer, der auf der Flucht ist!«

»Da hättest du mich erst mal vor der Reise sehen sollen«, sagt Meister Mathis und sieht in das stolze, harte Gesicht Indagines, »unterwegs bin ich schon viel ruhiger geworden.«

»Was ich dir immer sage: Dein Fell ist zu dünn! Wie eine Membrane, durch die alles hindurchgeht, an der nichts abprallt! Als Maler mag das eine Stärke sein, aber es taugt nicht für die harten Auseinandersetzungen des Lebens. Da wirst du den Hartgesottenen immer unterlegen sein.«

Meister Mathis seufzt. »Also hat sich die leidige Kamin-Geschichte auch schon bis zu dir herumgesprochen -«

»Allerdings. Sie hat in der Mainzer Kanzlei einigen Wirbel ausgelöst. Sei froh, dass du für eine Weile Abstand gewinnen kannst! - Sind sie denn inzwischen fertig, die Tafeln für Frankfurt?«

Meister Mathis ist dankbar über den Themenwechsel. »Fast fertig. Sie müssen noch auf die dortigen Lichtverhältnisse abgestimmt werden.«

Indagine wird lebhaft. »Am liebsten würde ich sagen: Lad sie aus, damit ich sie sehen kann. Aber natürlich weiß ich, wie schwierig das richtige Verpacken ist. Hoffentlich hast du die Zeichnungen und Entwürfe mit!?«

»Natürlich.«

»Ich bin sehr gespannt!«

»Sie sind hier in der Reisetasche.«

Während beide durch Steinheim gehen, denkt Meister Mathis wieder an die unerwartete Begegnung in Seligenstadt. Dort zu wohnen, in der Enge und Trautheit einer Kleinstadt, ein angemessenes Stückchen entfernt von der erzbischöflichen Residenz, wäre das nicht erstrebenswert? Geordnete Verhältnisse, eine Frau, vielleicht auch Kinder -.

»Was hat dich eigentlich dazu gebracht, hierher zu ziehen?«, fragt er völlig unvermittelt.

»Das fragst du! Ich ziehe es vor, unter ganz normalen Menschen zu leben. Die Hofluft bekommt mir nicht. Sie macht blind und taub für die Nöte des gemeinen Mannes. Und - Mathis, glaub mir - diese Nöte sind groß. Es kocht und brodelt im Volk. Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis sich all der aufgestaute Hass und die Bitterkeit entladen werden. Die sogenannten hohen Herren laden viel Schuld auf sich. Das kann nicht gut gehen!«

»Es geht aber schon sehr lange gut. Das macht sie immer dreister.«

Indagine verhält den Schritt und sagt fast beschwörend: »Eines Tages wird der Punkt erreicht sein, wo das Maß übervoll ist. Ich beobachte das schon eine ganze Weile. Man munkelt von Geheimbünden unter den Bauern. Da tut sich was. Eines Tages werden sie losschlagen und dann

»- dann werden sie auch uns nicht schonen. Uns alle, die wir die Hoftracht tragen.«

»Kann sein. Es hängt davon ab, zu wem wir uns bekennen, wenn sich die Lage zuspitzt.«

Meister Mathis schüttelt den Kopf. »So einfach wird das nicht sein. Stell dir vor, die Aufständischen kämen nach Aschaffenburg, plündern die Residenz, morden und brandschatzen. Glaubst du wirklich, sie werden erst fragen, wen sie im Einzelfall vor sich haben. Freund oder Feind? - Nein, in solchem Fall wären wir mit dran. Wir wissen da genau zu unterscheiden. Die nicht. Können sie auch gar nicht.«

Indagine schweigt eine Weile.

»Trotzdem. Dass sie blindwütig drauflosschlagen, glaub ich nicht. Ich denke, sie haben überall ihre Beobachter und wissen, dass eine Hoftracht noch lange kein Bekenntnis ist.«

Sie haben das Haus erreicht, in dem Indagine wohnt. Ein Abendessen steht bereit, Wein auch. Sie lassen sich Zeit mit dem Essen. Dann zündet der Hausherr einen mehrarmigen Kupferleuchter an. Jetzt endlich möchte er die Zeichnungen sehen.

Meister Mathis öffnet die Mappe. Erst legt er die groben Skizzen auf den Tisch. »Du weißt, es sollten Nischenfiguren sein, Grau in Grau gemalt. Die beiden Frauen hab ich auch in Rundnischen gestellt. Die männlichen Heiligen sind ohne solche Rahmung. Ihre Gewänder sind fußlang, die Falten nur angedeutet. Sie sind das, was du wohl Spiegel der Seele nennen würdest. Sanft. Unruhig. Aufgewühlt. - Schade, in der Ausführung wirkt das ganz anders! - Kommst du nicht in nächster Zeit mal nach Frankfurt?«

Indagine antwortet nicht und wartet ungeduldig auf die nächsten Blätter. »Zeig mir die Hände!«

Meister Mathis blättert alles in der Reihenfolge hin, in der es liegt: Gewandstudien, Köpfe, Ranken, Pflanzen, Schmuckstücke, dann erst Hände. Hände, die Brot und Wasser reichen. Hände, die Palmwedel halten. Hände, die ein Gewand raffen. Hände, die Kranke heilen oder ein Martergerät fassen. Hände, die ein aufgeschlagenes Buch halten.

Indagine ist hell begeistert, kann sich nicht sattsehen.

»Großartig!«, stammelt er, »ganz großartig!«

Er blättert hin und her, guckt sich immer wieder an den Händen fest, besonders an den Händen mit den Büchern.

Meister Mathis erinnert sich an jenen Augenblick, als ein Blitz ihm die Hand des Laurentius in ganz neuer Weise zeigte. Was erst wird Indagine zu den gemalten Tafeln sagen!

»Du siehst, ich habe deine Lehren beherzigt.«

»Weiß Gott, das hast du! Wenn die Gemälde nur halb so gut sind, kann ich dich immer noch sehr beglückwünschen! Wirklich, dein Name wird in einem Atemzug mit dem Dürers genannt werden. Nicht nur, weil die Tafeln am gleichen Altar sein werden.«

»Die Gemälde sind mindestens ebenso gut, wenn nicht besser.«

»Du machst mich neugierig.«

Indagine stellt die Zeichnungen aufs Schreibpult, um mehr Abstand zu haben. Seine Blicke sprühen Begeisterung. »Es gibt wahrhaftig nichts Spannenderes als die Sprache der Mienen, der Gesten, der Haltungen - vor allem aber der Hände.«

Meister Mathis sieht sich im Zimmer um. Ein Berg beschriebener Pergamente liegt neben dem Schreibpult.

»Du kommst gut voran?«

Indagine überhört es.

Er deklamiert: »In manu omnium Deus signa posuit ut noverint singuli opera sua. - Aller Menschen Hand hält er verschlossen, nur der Kundige weiß die Linien zu deuten. Die Hand ist ein eigenes Universum. Um die Daumenwurzel läuft die Lebenslinie, und der Handteller ist sieben Planetenregionen und Planetenbergen nachgebildet. Wir haben unser Schicksal in der Hand. Wie wahr!«

Meister Mathis hört diese Weisheiten nicht zum ersten Mal.

»Hast du schon einen Titel für dein Werk?«

»Wie soll es schon heißen«, sagt Indagine nebenher, »Introductione - Einführung in die Chiromantie, Physiognomie und anderes. - Wird sich finden!«

»Es scheint, dass Steinheim dir ausreichend Ruhe verschafft für deine Studien. Beneidenswert und - bedenkenswert!«

»Gewiss. Warum siehst du dich nicht auch nach einem ruhigen Winkel um?«

Meister Mathis behält seine geheimen Pläne für sich.

Noch später, als er schlaflos auf dem strohgepolsterten Gastbett liegt, gehen ihm die Eindrücke des Tages durch den Kopf. Er sollte wirklich mehr Ruhe und Beständigkeit in sein Leben bringen, sich weniger hetzen lassen, nicht ständig greifbar sein. Wenn er an die Aufregungen der letzten Wochen denkt, wird ihm noch immer übel in der Magengrube. Indagine hat recht wenn er sagt, er wirke wie auf der Flucht. Denn immer noch nicht ist die dumme Geschichte mit dem Kamin ausgestanden. Noch ahnen die Schatzmeister nicht, um welche Summen es geht. Bestimmt werden die Wogen noch einmal aufbrausen.

Ein schrecklicher Traum quält ihn. Am nächsten Morgen aber kann er sich nicht mehr genau erinnern. Nur dass spukhafte Fratzen ihn gejagt haben, dass er Zuflucht suchte in einem Kloster, sie ihm aber auch dorthin folgten.

Indagine erzählt er davon nichts. Der hat ihm ohnehin ein Horoskop gestellt, das viel Unerwartetes voraussagt, viel Schlimmes und wenig Gutes.

So ist Meister Mathis froh, keine weitere Nacht in dem Haus mit dem gespenstischen Inventar und den düsteren Geheimnissen bleiben zu müssen.

5. Kapitel

»Nürnberger Hof« heißt das Haus des Jacob Heller und ist eines der prachtvollsten Patrizierhäuser in ganz Frankfurt. Es entspricht der Rolle, die sein Besitzer hier spielt. Zweimal schon hatte er das Amt des Bürgermeisters inne. Als Kaufmann reichen seine Verbindungen bis Antwerpen und Venedig, als Jurist dient er dem Kaiser als Diplomat und Finanzier. Das Haus ist geräumig genug, dem Gefolge Kaiser Maximilians als Herberge zu dienen während der Reichstage. So versteht es sich von selbst, dass auch Meister Mathis hier wohnen wird, solange die Aufstellung der Altartafeln ihn in der Stadt festhält.

Während er zielsicher auf das Haus zugeht, mustert er die Fassade. Ihr Schmuck ist nicht aufdringlich, sie verrät bei allem Wohlstand Geschmack. Vom holzgetäfelten Treppenhaus führt eine breite Treppe ins Arbeitszimmer des Hausherrn.

Meister Mathis wird erwartet. Mit einer gewissen Ungeduld. Er dachte gar nicht, dass dem viel beschäftigten Mann dieser Altar so wichtig ist. Ohne Umschweife kommt Jacob Heller zur Sache:

»Ich bin beruhigt und erleichtert, dass unsere Gedächtnisstätte nun bald fertig sein wird. Ihr wisst, dass mir keine Erben beschert worden sind. Keine Nachkommen zu haben heißt aber, in keinem Menschen weiterzuleben und vergessen zu werden. Ist es nicht so?«

Er mustert Meister Mathis, ob er ihn auch nicht langweilt, denn eigentlich ist es eher ein Monolog. Doch sein Gast scheint zu der seltenen Sorte Menschen zu gehören, die zuhören können.