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Edgar Wallace

Die Bande des Schreckens

Edgar Wallace

Die Bande des Schreckens

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Ravi Ravendro
1. Auflage, ISBN 978-3-954181-95-7

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

Ka­pi­tel 24

Ka­pi­tel 25

Ka­pi­tel 26

Ka­pi­tel 27

Ka­pi­tel 28

Ka­pi­tel 29

Ka­pi­tel 30

Ka­pi­tel 31

Ka­pi­tel 32

Ka­pi­tel 33

Ka­pi­tel 34

Ka­pi­tel 35

Ka­pi­tel 36

Ka­pi­tel 37

Ka­pi­tel 38

Ka­pi­tel 39

Ka­pi­tel 40

Ka­pi­tel 41

Ka­pi­tel 42

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Kapitel 1

Ula­nen-Har­ry kam zur Po­li­zei­sta­ti­on in der Bur­ton Street, um sei­ne Pa­pie­re vor­zu­zei­gen. Düs­ter und ver­bis­sen trat er nä­her und reich­te dem dienst­tu­en­den Ser­gean­ten sei­nen Ent­las­sungs­schein.

»Hen­ry Be­ne­ford, auf Be­wäh­rung ent­las­sen – ich soll mich hier mel­den.«

Dann sah er sich um und be­merk­te De­tek­ti­v­in­spek­tor Long, den man auch den »Wet­ter« nann­te. Sei­ne Au­gen blitz­ten un­heim­lich auf.

»Mor­gen, In­spek­tor – le­ben Sie auch noch?«

»Wie Sie se­hen, bin ich im­mer noch im Amt«, ent­geg­ne­te Long ver­gnügt.

Ula­nen-Har­ry grins­te häß­lich.

»Wun­der mich nur, daß Sie bei Ihrem ver­dammt schlech­ten Ge­wis­sen noch schla­fen kön­nen. Die letz­ten fünf Jah­re hab ich durch Ihre Lü­gen auf den Bu­ckel ge­kriegt!«

»Hof­fent­lich ge­lingt es mir bald, Ih­nen wei­te­re fünf Jah­re auf­zu­pa­cken«, er­wi­der­te der Wet­ter in gu­ter Lau­ne. »Wenn es nach mir gin­ge, wür­de ich Sie an den Gal­gen brin­gen, dann gäbe es einen schlech­ten Men­schen we­ni­ger auf der Welt.«

Har­ry hat­te tat­säch­lich frü­her ein­ein­halb Jah­re lang bei den Ula­nen ge­dient, war aber dann mit drei Jah­ren Fes­tung be­straft wor­den, weil er sei­nen Un­ter­of­fi­zier miß­han­delt hat­te. Er war ein viel­fach vor­be­straf­ter, bru­ta­ler, ge­fähr­li­cher Mensch. Aber auch der Wet­ter war auf sei­ne Art ge­fähr­lich.

»Hö­ren Sie zu, In­spek­tor. Ich will Ih­nen nicht dro­hen. Sie sol­len kei­ne Ge­le­gen­heit ha­ben, mich wie­der ins Kitt­chen zu ste­cken. Aber eins sage ich Ih­nen: Neh­men Sie sich in acht!«

»Sie re­den zu­viel«, mein­te der Wet­ter gut­mü­tig. »Am Ende kom­men Sie noch ins Par­la­ment.«

Har­ry koch­te vor Zorn und konn­te vor Auf­re­gung nicht spre­chen. Er wand­te sich kurz zu dem Ser­gean­ten um und leg­te mit zit­tern­der Hand sei­ne Pa­pie­re auf das Pult.

»Ge­ris­sen sind Sie … wirk­lich ge­ris­sen«, stieß er schließ­lich wü­tend her­vor. »Leu­te wie mich kön­nen Sie ja leicht fan­gen – aber warum ma­chen Sie sich denn nicht hin­ter Shel­ton? Wa­rum fan­gen Sie den nicht? Das kriegt kein Po­li­zist in Eng­land fer­tig! Nicht ein­mal die Ama­teu­re!«

Der Wet­ter ant­wor­te­te nicht dar­auf. Er in­ter­es­sier­te sich im Au­gen­blick nicht für Clay Shel­ton. Die Be­mer­kung über Ama­teur­de­tek­ti­ve war na­tür­lich auf ihn ge­münzt, aber er küm­mer­te sich nicht wei­ter dar­um.

Aber als er nach Scot­land Yard zu­rück­kehr­te, er­fuhr er, daß er sich in Zu­kunft doch ein­ge­hend mit Mr. Shel­ton be­fas­sen muß­te.

Ei­nen Mann wie Shel­ton gab es auf der gan­zen Welt nicht wie­der. Fünf­zehn Jah­re lang war es ihm bis­her ge­lun­gen, un­ter den ver­schie­dens­ten Na­men Kre­dit­brie­fe, Schecks, Trat­ten und an­de­re Wert­pa­pie­re zu fäl­schen. Und fünf­zehn Jah­re sind eine lan­ge Zeit.

In­spek­tor Van­sit­ter saß nie­der­ge­schla­gen und mit düs­te­rem Ge­sichts­aus­druck im Büro sei­nes Vor­ge­setz­ten.

»Es tut mir au­ßer­or­dent­lich leid, Van­sit­ter, aber es geht Ih­nen eben­so wie al­len an­de­ren Be­am­ten«, sag­te Co­lo­nel Macfar­la­ne. »Es ist noch das Bes­te, was Ih­nen pas­sie­ren kann, daß ich Ih­nen die Be­ar­bei­tung des Fal­les neh­me und sie ei­nem an­de­ren über­tra­ge. Wirk­lich ein Glück für Sie, daß alle Leu­te, die sich bis­her mit Shel­tons Fäl­schun­gen be­faßt ha­ben, auch nur Mi­ßer­folg hat­ten.«

»Wir kön­nen ihn nicht fan­gen, weil wir sei­ne Per­son ja gar nicht ken­nen«, ent­geg­ne­te Van­sit­ter, »und vor al­lem, weil er voll­kom­men al­lein ar­bei­tet. Nur ein glück­li­cher Zu­fall könn­te uns hel­fen. Wenn eine Frau in die Sa­che ver­wi­ckelt, wenn er ver­hei­ra­tet wäre oder sons­ti­ge Hel­fers­hel­fer hät­te, wäre er nicht fünf­zehn Jah­re lang un­ent­deckt ge­blie­ben. Ich glau­be kaum, daß es je­man­dem ge­lin­gen wird, Shel­ton zu fas­sen, wenn er nicht einen gro­ben Schnit­zer ma­chen soll­te. Höchs­tens –«

Der In­spek­tor woll­te nicht wei­ter­spre­chen, be­vor er nicht von sei­nem Vor­ge­setz­ten dazu er­mu­tigt wur­de. Co­lo­nel Macfar­la­ne wuß­te sehr wohl, wen er mein­te, sag­te aber nichts, da er die Verant­wor­tung nicht al­lein tra­gen woll­te.

»Der Wet­ter«, sag­te Van­sit­ter schließ­lich.

Der Co­lo­nel run­zel­te die Stir­ne.

»Der Wet­ter!« Er schüt­tel­te miß­bil­li­gend den Kopf.

»Wet­ter« Long hat­te stu­diert und war Po­li­zei­be­am­ter, ob­wohl er sich den Sohn ei­nes Mil­lio­närs nen­nen konn­te. Er wand­te sich die­sem Be­ruf zu, weil er von Cam­bridge re­le­giert wur­de. Mit Schimpf und Schan­de schick­te man ihn nach Hau­se zu­rück, weil er einen Uni­ver­si­täts­pe­dell ver­prü­gelt hat­te. Sein Va­ter war sehr böse dar­über und sag­te sei­nem Sohn Ar­nold, daß er in die wei­te Welt ge­hen und sich sei­nen Le­bens­un­ter­halt selbst ver­die­nen soll­te. Der Wet­ter tat das auch und er­schi­en einen Mo­nat spä­ter wie­der im Hau­se sei­nes Va­ters, und zwar in der Uni­form ei­nes Po­li­zis­ten. Und alle Bit­ten und Dro­hun­gen Sir God­leys konn­ten ihn nicht dazu be­we­gen, von sei­nem Ent­schluß ab­zu­las­sen.

We­gen Ar­nolds ein­fluß­rei­cher Be­zie­hun­gen hät­ten es sei­ne Vor­ge­setz­ten gern ge­se­hen, daß er nicht so schnell avan­cier­te. Sie fürch­te­ten den Vor­wurf der Be­vor­zu­gung. Si­cher wür­den im Par­la­ment An­fra­gen kom­men, wenn man ihn au­ßer der Rei­he be­för­der­te. Trotz­dem war er aber nach zwei Jah­ren Ser­geant, denn es ge­lang sei­nem klu­gen Vor­ge­hen, ei­ni­ge be­rüch­tig­te Ver­bre­cher zu fas­sen.

»Rei­nes Glück«, sag­ten sei­ne Kol­le­gen und Vor­ge­setz­ten von Scot­land Yard. Und als er sich wei­ter aus­zeich­ne­te, konn­te man nicht um­hin, ihm die Stel­le ei­nes Po­li­zei­in­spek­tors zu ge­ben, weil ihn der Mi­nis­ter des In­nern selbst zu die­ser Be­för­de­rung vor­schlug. Den »Wet­ter« nann­ten sie ihn, weil er gern her­aus­for­dernd sag­te: »Wet­ten, daß?«

Aber er war kein Mann nach dem Her­zen der Be­am­ten von Scot­land Yard, und sie hiel­ten ihn den jün­ge­ren Leu­ten auch nicht als leuch­ten­des Bei­spiel vor.

Wet­ter Long war groß, schlank und hübsch und ver­füg­te über die Kraft ei­nes trai­nier­ten, ge­schul­ten Kör­pers. Er zeich­ne­te sich be­son­ders im Lau­fen aus und hat­te als Bo­xer seit zwei Jah­ren den Meis­ter­ti­tel für Ama­teu­re im Mit­tel­ge­wicht. Klet­tern konn­te er wie eine Kat­ze, und er be­saß auch et­was von der Zä­hig­keit und dem In­stinkt die­ses Tie­res.

Auf sei­nem lan­gen, schma­len Ge­sicht lag ge­wöhn­lich ein Lä­cheln, denn er be­trach­te­te Le­ben und Welt als einen großen Scherz.

»Mei­nen Sie wirk­lich, der Wet­ter wäre die­ser Auf­ga­be ge­wach­sen?«, frag­te Co­lo­nel Macfar­la­ne und biß sich nach­denk­lich auf die Un­ter­lip­pe. »Das kann ich ei­gent­lich nicht ris­kie­ren. Er stellt si­cher ir­gend et­was Un­mög­li­ches an, und wir müs­sen nach­her wie­der die Vor­wür­fe hö­ren … und doch, man müß­te es über­le­gen …«

Er dach­te den gan­zen Tag dar­über nach, und um fünf Uhr abends ließ er Ar­nold Long in sein Büro kom­men.

Mit ei­nem ver­gnüg­ten Grin­sen hör­te der Wet­ter, was ihm sein Vor­ge­setz­ter zu sa­gen hat­te.

»Nein, ich brau­che die Ak­ten nicht ein­zu­se­hen, ich weiß al­les aus­wen­dig, was über Shel­ton be­rich­tet wor­den ist. Ge­ben Sie mir drei Mo­na­te Zeit, dann sitzt der Mann hin­ter Schloß und Rie­gel.«

»Neh­men Sie die Sa­che nur nicht zu leicht«, warn­te Co­lo­nel Macfar­la­ne.

»Wet­ten, daß?«

Kapitel 2

An ei­nem schö­nen Früh­lings­mor­gen ging Mr. Shel­ton die Lom­bard Street ent­lang, in der aus­schließ­lich große Bank­häu­ser lie­gen. Er schwang sei­nen sorg­fäl­tig zu­sam­men­ge­roll­ten Schirm und dach­te an die Zei­ten, als hier noch Pfand­lei­her und Geld­wechs­ler ihre Ge­schäf­te hat­ten.

Vor ei­nem Ge­bäu­de mit ei­ner blen­den­den Gra­nit­fassa­de hielt er an und be­trach­te­te die mo­nu­men­ta­le Archi­tek­tur, als ob er ein Tou­rist wäre, der sich zum ers­ten­mal Lon­don an­schau­te.

»Was ist das für ein Ge­bäu­de?«

Der Po­li­zist, den er frag­te, stand ge­ra­de in der Nähe des Geh­steigs.

»Die City & Southern Bank.«

»Don­ner­wet­ter«, sag­te Shel­ton be­wun­dernd. »Wirk­lich statt­lich!«

Ein Auto hielt vor dem Ge­bäu­de. Der Chauf­feur sprang her­aus und riß den Wa­gen­schlag auf. Zu­erst stieg ein schö­nes jun­ges Mäd­chen aus, dann eine äl­te­re Dame mit erns­tem Ge­sicht und schließ­lich ein hüb­scher jun­ger Mann mit schwar­zem Schnurr­bart und Mo­no­kel.

Die drei gin­gen in die Bank, und der Po­li­zist trat zu dem Chauf­feur.

»Wie lan­ge ha­ben sie wohl in der Bank zu tun?«

»Vi­el­leicht fünf Mi­nu­ten«, er­wi­der­te der Mann und streck­te sich be­hag­lich auf sei­nem Sitz aus.

»Wenn es aber län­ger dau­ern soll­te, müs­sen Sie drü­ben auf der an­de­ren Sei­te par­ken …«

Der Po­li­zist gab ihm noch ei­ni­ge An­wei­sun­gen und kehr­te dann wie­der zu dem »Tou­ris­ten« zu­rück.

»Sie sind wohl fremd in Lon­don?«

»Ja. Ich bin erst vor kur­z­em aus Süd­ame­ri­ka zu­rück­ge­kom­men. Drei­und­zwan­zig Jah­re war ich dort. Liegt nicht auch das Ge­bäu­de der Ar­gen­ti­ni­schen Bank hier in der Nähe?«

Der Po­li­zist gab ihm Aus­kunft, aber Mr. Shel­ton mach­te kei­ne An­stal­ten, dort­hin zu ge­hen.

»Es ist schwer, zu glau­ben, daß in die­ser Stra­ße Mil­lio­nen und aber Mil­lio­nen von Gold­re­ser­ven im De­pot lie­gen.«

»Ich habe sie auch noch nicht zu se­hen be­kom­men«, mein­te der Be­am­te und lä­chel­te iro­nisch. »Aber zwei­fel­los –«

Plötz­lich hob er die Hand halb zum Gruß. Eine Au­to­drosch­ke war vor­ge­fah­ren, und ein jun­ger Mann war aus­ge­stie­gen. Er sah den Po­li­zis­ten vor­wurfs­voll an und be­trach­te­te Mr. Shel­ton mit ei­nem prü­fen­den Blick. Dann ver­schwand er auch in der Bank.

»War das ein Po­li­zei­be­am­ter?«, Shel­ton hat­te den un­ter­bro­che­nen Gruß wohl be­merkt.

»Nein, ein Herr aus der City, den ich ken­ne«, ent­geg­ne­te der Po­li­zist und ging zu dem Chauf­feur der Drosch­ke, um auch ihm In­struk­tio­nen zu ge­ben.

Als Wet­ter Long in die Bank kam, sah er das hüb­sche Ge­sicht des jun­gen Mäd­chens am Schal­ter und blieb ei­ni­ge Au­gen­bli­cke ste­hen, be­vor er in das Pri­vat­bü­ro des Di­rek­tors trat. Der klei­ne, un­ter­setz­te Herr mit dem kah­len Kopf er­hob sich so­fort bei sei­nem Ein­tritt und schüt­tel­te ihm herz­lich die Hand.

»Ent­schul­di­gen Sie mich, bit­te, noch ein paar Mi­nu­ten – ich muß eben eine Kun­din be­grü­ßen.«

Mit die­sen Wor­ten ver­schwand er aus dem Büro, kam aber nach kur­z­er Zeit wie­der. Er lä­chel­te und rieb sich die Hän­de.

»Das ist eine cha­rak­ter­vol­le Frau«, sag­te er. »Ha­ben Sie die Dame ge­se­hen?«

»Ja, sie ist wirk­lich un­ge­wöhn­lich hübsch.«

»Ach, Sie mei­nen die Se­kre­tä­rin. Ich spre­che aber von der äl­te­ren Dame – Miß Re­vel­sto­ke. Sie ist schon fast drei­ßig Jah­re mei­ne Kun­din. Die soll­ten Sie ei­gent­lich ken­nen­ler­nen. Der jun­ge Mann, der sie be­glei­tet, ist ihr Rechts­an­walt. Et­was ei­tel und stut­zer­haft, aber er wird si­cher Kar­rie­re ma­chen.«

Durch ein klei­nes, vier­e­cki­ges Fens­ter konn­te man von dem Pri­vat­bü­ro aus die lan­ge Rei­he der Schal­ter be­ob­ach­ten. Die äl­te­re Dame zähl­te ge­ra­de ein Bün­del Bank­no­ten, das ihr der Kas­sie­rer aus­ge­hän­digt hat­te. Ihre Se­kre­tä­rin schi­en sich zu lang­wei­len, denn sie be­trach­te­te die schön­ge­schnitz­te De­cke des pracht­vol­len Raums. Ihr an­zie­hen­des Ge­sicht ver­riet Leb­haf­tig­keit und In­tel­li­genz. Den freund­lich lä­cheln­den jun­gen Mann ne­ben Miß Re­vel­sto­ke be­ach­te­te er kaum. Plötz­lich sah die jun­ge Dame zu dem Fens­ter hin­über und be­geg­ne­te Longs Blick. Eine Se­kun­de schau­ten sie ein­an­der wie ge­bannt an, dann wand­te sich der Wet­ter schnell ab. Erst jetzt kam ihm zum Be­wußt­sein, daß der Bank­di­rek­tor dau­ernd zu ihm ge­spro­chen hat­te.

»… ich bin ja nicht der An­sicht, daß es Ih­nen ge­lingt, den Mann zu fas­sen. Dazu ist wahr­schein­lich nie­mand im­stan­de. Der Mensch ist glatt wie ein Aal und wahr­schein­lich der Füh­rer ei­ner sehr ge­ris­se­nen Ban­de –«

»Ich wünsch­te von Her­zen, es wäre so«, ent­geg­ne­te Long lä­chelnd. »Aber den Ge­dan­ken kön­nen Sie auf­ge­ben, Mr. Monk­ford. Un­ter Ver­bre­chern und Die­ben gibt es kei­ne Ehr­lich­keit, höchs­tens un­ter den ganz Gro­ßen. Die­ser Shel­ton ar­bei­tet ganz auf ei­ge­ne Faust, und dar­in be­steht sei­ne größ­te Stär­ke.«

Der Bank­di­rek­tor nahm eine di­cke Map­pe aus sei­nem Schreib­tisch und leg­te sie auf die Plat­te.

»Hier fin­den Sie alle Tat­sa­chen, nicht nur von der City & Southern Bank, son­dern auch von al­len an­de­ren Ban­ken, die von Shel­ton be­tro­gen wur­den. Alle Ori­gi­nal­un­ter­schrif­ten sind in Pho­to­gra­phie vor­han­den. Aber ich glau­be nicht, daß es Ih­nen viel hel­fen wird.«

Long brach­te eine hal­be Stun­de da­mit zu, den In­halt der Map­pe zu prü­fen, aber am Ende war er auch nicht klü­ger als vor­her.

Als er wie­der auf die Stra­ße trat, sah er sich nach links und nach rechts um, als ob er nicht ent­schlos­sen wäre, nach wel­cher Rich­tung er ge­hen soll­te. Schließ­lich wand­te er sich nach der Grace Church Street. An der Ecke die­ser Stra­ße und der Lom­bard Street sah er einen schlan­ken, äl­te­ren Herrn ste­hen, der of­fen­bar den leb­haf­ten Ver­kehr be­ob­ach­te­te. Er schau­te ihn an, als er an ihm vor­über­ging, und die Bli­cke der bei­den tra­fen sich. Die arg­wöh­nisch for­schen­den Au­gen des Frem­den ver­rie­ten Long so­fort, daß der Mann den De­tek­tiv in ihm er­kannt hat­te.

Ein ei­gen­tüm­li­ches Ge­fühl über­kam den Wet­ter, ohne daß er sich über die Ur­sa­che klar wer­den konn­te. Er über­quer­te die Stra­ße, ging auf einen Zei­tungs­jun­gen zu und kauf­te ihm ein Blatt ab. Der Frem­de stand im­mer noch an sei­nem Platz. Er war ele­gant ge­klei­det und sah wie ein Oberst in Zi­vil aus. Ab­sicht­lich gab der Wet­ter dem Zei­tungs­jun­gen einen Schil­ling, um den Mann noch wäh­rend des Wech­selns be­ob­ach­ten zu kön­nen. Es muß­te ir­gend­ein Schwind­ler aus der City sein, ei­ner der vie­len, die hier ihre dunklen Ge­schäf­te trie­ben. Der miß­traui­sche Blick hat­te Long ge­nug ver­ra­ten. Es schoß ihm der Ge­dan­ke durch den Kopf, um­zu­keh­ren und den Frem­den un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand an­zu­spre­chen. Aber er ge­hör­te zu Scot­land Yard und be­fand sich in der City. Und die City hat­te ihre ei­ge­nen De­tek­ti­ve, die ei­fer­süch­tig dar­über wach­ten, daß nicht an­de­re Be­am­te in ihre Rech­te ein­grif­fen.

Wäh­rend er sich noch über­leg­te, was er tun soll­te, rief der Mann ein Auto an, das die Stra­ße her­un­ter­kam, und fuhr da­von. Kaum war er au­ßer Sicht, als der Wet­ter ei­nem plötz­li­chen Im­puls folg­te und sich eben­falls einen Wa­gen nahm.

»Fah­ren Sie die Lom­bard Street ent­lang«, sag­te er schnell, »und se­hen Sie zu, daß Sie den gel­ben Wa­gen ein­ho­len.«

Bald dar­auf sah er das Auto wie­der. Er hielt die Zei­tung schüt­zend vor das Ge­sicht und be­ob­ach­te­te über den Rand des Blat­tes hin­weg, daß der Frem­de durch das hin­te­re Fens­ter nach rück­wärts schau­te.

Als Co­lo­nel Macfar­la­ne an die­sem Abend das Büro ver­las­sen woll­te, hielt ihn In­spek­tor Long freu­de­strah­lend an.

»Sie kön­nen mir gra­tu­lie­ren – ich habe Shel­ton aus­fin­dig ge­macht!«

»Das ist doch nicht mög­lich!«

»Wet­ten, daß?«, ent­geg­ne­te Mr. Long prompt.

Kapitel 3

Eine Wo­che spä­ter lenk­te Shel­ton sei­nen Wa­gen dicht vor Col­che­s­ter auf einen Sei­ten­weg und brach­te ihn zum Ste­hen. Aus ei­ner Schub­la­de un­ter dem Sitz nahm er einen Kof­fer her­aus, der einen An­zug, Sche­re, Ra­sier­mes­ser und Cre­me ent­hielt, und kur­ze Zeit dar­auf hat­te er sich voll­kom­men ver­wan­delt. Er sah jetzt aus wie ein ehr­ba­rer äl­te­rer Herr. Nach­dem er einen Blick nach rechts und links ge­wor­fen hat­te, ging er zur nächs­ten Hal­te­stel­le der Stra­ßen­bahn und fuhr von dort zum Zen­trum der Stadt.

Es schlug zehn Uhr, als er den großen Kas­sen­raum der Eas­tern Coun­ties Bank be­trat. Er leg­te ein Bank­buch und ein aus­ge­füll­tes For­mu­lar auf den Schal­ter­tisch. Der Be­am­te prüf­te bei­des sorg­fäl­tig und ging dann da­mit in das Büro des Di­rek­tors. Als er zu­rück­kam, lä­chel­te er re­spekt­voll, als ob er sich für sei­ne schlim­men Be­fürch­tun­gen ent­schul­di­gen müß­te.

»Sie­ben­tau­send­sechs­hun­dert«, sag­te er lie­bens­wür­dig. »Wie wol­len Sie das Geld ha­ben, Co­lo­nel Wea­ther­by?«

»In Hun­dert­pfund­no­ten.«

Gleich dar­auf zähl­te der Kas­sie­rer ein Pa­ket Bank­no­ten mit au­ßer­or­dent­li­cher Ge­schwin­dig­keit ab und no­tier­te dann die Num­mern der Schei­ne in sein Buch.

»Dan­ke schön.« Shel­ton wand­te sich ab und steck­te das Päck­chen in sei­ne Brust­ta­sche.

Au­ßer ihm be­fan­den sich noch zwei an­de­re Her­ren im Kas­sen­raum, und ein drit­ter kam ge­ra­de durch die Dreh­tür her­ein. Der eine sah et­was müde aus und lehn­te sich an den Schal­ter. Shel­ton wür­dig­te ihn kei­nes Blickes, wohl aber schau­te er sich den an­de­ren ge­nau an, der vor dem Aus­gang stand und ihn an­lä­chel­te.

»Gu­ten Mor­gen, Shel­ton.«

Der Wet­ter Long! Höchs­te Ge­fahr! Shel­ton blieb ste­hen und schob trot­zig das Kinn vor.

»Wol­len Sie mit mir spre­chen? Ich hei­ße al­ler­dings nicht Shel­ton.«

Ar­nold Long nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch sein dich­tes, schwar­zes Haar.

»Ja, ich woll­te mit Ih­nen spre­chen.«

Im nächs­ten Au­gen­blick sprang Shel­ton auf ihn zu.

Eine Se­kun­de spä­ter wälz­ten sich drei Män­ner auf dem Bo­den. Shel­ton ge­lang es, wie­der auf die Füße zu kom­men. Der Po­li­zist war eif­rig bei dem Hand­ge­men­ge, stand aber dem Wet­ter im­mer im Wege. Plötz­lich misch­te sich auch noch der müde Herr ein, der vor­her am Schal­ter ge­lehnt hat­te.

»Hier! Ver­dammt …«

Ein be­täu­ben­der Knall er­tön­te, und der Po­li­zist stürz­te blu­tend auf die Mar­morflie­sen nie­der.

»Ge­ben Sie die Pis­to­le her, oder ich schie­ße so­fort!«

Shel­ton wand­te den Kopf. Der Bank­be­am­te mit der Bril­le hat­te mit ei­nem schwe­ren Ar­mee­re­vol­ver auf ihn an­ge­legt. Der Mann hat­te den Krieg auch mit­ge­macht, in dem selbst Bank­be­am­te mit Bril­len lern­ten, kalt­blü­tig an­de­re Men­schen über den Hau­fen zu schie­ßen.

Long leg­te Shel­ton Hand­schel­len an. Zwei Po­li­zis­ten in Uni­form ka­men in den Schal­ter­raum, wäh­rend der Bank­be­am­te be­reits an das Ho­spi­tal te­le­pho­nier­te.

»Ich ver­haf­te Sie we­gen Be­trugs«, sag­te Ar­nold und schau­te dann ernst auf den To­ten, der in ei­ner großen Blut­la­che lag. »Ich dach­te, Sie trü­gen nie­mals eine Pis­to­le bei sich?«

Shel­ton er­wi­der­te nichts, und der Wet­ter wand­te sich an den frem­den Herrn, der sich am Hand­ge­men­ge be­tei­ligt hat­te.

»Ich dan­ke Ih­nen … ich bin Ih­nen wirk­lich sehr ver­pflich­tet.« Plötz­lich leuch­te­ten sei­ne Au­gen auf. »Ach, Sie sind ja Mr. Cray­ley.«

Der Mann sah to­ten­bleich aus.

»Bei­na­he hät­te er mich selbst ge­trof­fen«, sag­te er hei­ser. »Nun, ich habe mein Bes­tes ge­tan. Sa­gen Sie es nur, wenn ich Ih­nen noch ir­gend­wie be­hilf­lich sein kann. Ist er tot?«

»Ja.« Der Wet­ter starr­te düs­ter auf den Po­li­zis­ten. »Ich wünsch­te, das hät­ten Sie nicht ge­tan, Shel­ton. Aber die­sen Mord kön­nen wir we­nigs­tens leich­ter be­wei­sen als die an­de­ren, die Sie be­gan­gen ha­ben. Wir wol­len ihn schnell zur Po­li­zei­sta­ti­on brin­gen, be­vor ein zu großer Auf­lauf ent­steht. Zei­gen Sie mir, bit­te, den Ne­ben­aus­gang«, wand­te er sich an den Bank­be­am­ten.

Kapitel 4

Am vier­zehn­ten Juni ver­ließ In­spek­tor Long mit sei­nem Wa­gen um fünf Uhr mor­gens die Haupt­stadt. Die Son­ne schi­en strah­lend, und alle Dör­fer, durch die er kam, sa­hen schmuck und freund­lich aus.

Er hat­te ge­ra­de eine klei­ne Ort­schaft ver­las­sen und kam wie­der auf die Land­stra­ße, die durch grü­ne Fel­der führ­te, als er einen Mann pas­sier­te, der am Rand des We­ges saß. Im Au­gen­blick er­kann­te er ihn, brems­te und fuhr zu der Stel­le zu­rück. Ula­nen-Har­ry sah ihn ru­hig an und rauch­te sei­ne Zi­ga­ret­te wei­ter.

»Auf der Wal­ze?«, frag­te der Wet­ter lie­bens­wür­dig.

»Ich habe Ar­beit, wenn Sie es wis­sen wol­len – und zwar eine recht loh­nen­de!« Ula­nen-Har­ry warf ihm einen merk­wür­di­gen Blick zu. »Wo­hin ge­hen Sie denn, Sie Blut­hund?«

Ar­nold lä­chel­te, ob­wohl er nie­mals ge­glaubt hät­te, daß er an die­sem Mor­gen lä­cheln könn­te.

»Ich bin wie­der da­bei, Die­be zu fan­gen«, er­wi­der­te er und schau­te über die Fel­der. Das ein­zi­ge Ge­bäu­de, das man in der Nähe se­hen konn­te, war eine große, schwar­ze Scheu­ne. »Sie ha­ben die Nacht nicht im Frei­en ge­schla­fen, und Sie sind auch noch nicht weit ge­gan­gen. Ihre Schu­he sind nicht stau­big. Was ha­ben Sie denn wie­der vor, Har­ry?«

Der Mann ant­wor­te­te nicht. Ar­nold Long zeig­te in die Rich­tung nach Chelms­ford, lach­te vor sich hin und fuhr wei­ter.

Vor den großen, düs­te­ren To­ren des Ge­fäng­nis­ses von Chelms­ford hielt er schließ­lich an, als es ge­ra­de sie­ben schlug. Er klin­gel­te und wur­de von dem Por­tier ein­ge­las­sen. Ein Wär­ter brach­te ihn dann zu dem Di­rek­tor der An­stalt, der al­lein in sei­nem klei­nen Büro saß.

»Hof­fent­lich ist Ih­nen die Sa­che nicht zu un­an­ge­nehm. Mir sind sol­che Sa­chen im­mer sehr zu­wi­der.« Ar­nold nick­te.

»Ich habe schon den gan­zen Weg fest dar­an ge­dacht, daß er doch sei­ne Ab­sicht än­dern soll­te, da­mit ich ihn nicht mehr zu se­hen brauch­te.«

Der Di­rek­tor schüt­tel­te den Kopf.

»Das wird nicht der Fall sein. Sei­ne letz­te Fra­ge ges­tern abend war noch, ob Sie kom­men wür­den.«

Er er­hob sich und führ­te Long zu Shel­tons Zel­le. Mit schwe­rem Her­zen be­trat der Wet­ter den en­gen Raum.

Der zum Tode ver­ur­teil­te Mann saß auf sei­nem Bett und hat­te die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen ge­steckt. Sein Ge­sicht war mit grau­en Bart­stop­peln be­deckt, und Ar­nold er­kann­te ihn kaum wie­der.

»Neh­men Sie Platz.«

Aber In­spek­tor Long blieb ste­hen.

»Ich woll­te Sie noch spre­chen – vor mei­nem Tode.« Shel­ton nahm die Zi­ga­ret­te aus dem Mund, blies ei­ni­ge Rauch­rin­ge zur De­cke em­por und be­ob­ach­te­te sie, bis sie sich in Nichts auf­lös­ten. »Ich habe vier Men­schen um­ge­bracht, und ich be­reue es nicht«, sag­te er nach­denk­lich. Dann lä­chel­te er den Wet­ter plötz­lich an, der düs­ter auf ihn nie­der­blick­te. »Sie glau­ben, daß es jetzt mit mir zu Ende geht, aber Sie ir­ren sich schwer! Sie wer­den mich hän­gen, und sie wer­den mich be­gra­ben, aber trotz­dem lebe ich wei­ter, und ich fas­se Sie, Wet­ter Long, ver­las­sen Sie sich dar­auf! Ich zah­le es al­len Leu­ten heim, die an mei­nem Tode schuld sind.« Als er Longs Ge­sichts­aus­druck sah, lä­chel­te er noch rät­sel­haf­ter. »Sie glau­ben, daß ich nicht mehr bei Ver­stand bin, aber es gibt viel Din­ge in die­ser Welt, von de­nen Ihre Schul­weis­heit sich nichts träu­men läßt, mein Freund. Die Gal­gen­hand ist kein lee­rer Wahn – sie exis­tiert!«

Er run­zel­te die Stir­ne einen Au­gen­blick und schau­te auf den Stein­fuß­bo­den, dann lach­te er laut auf.

»So, das wäre al­les, was ich Ih­nen sa­gen woll­te. Den­ken Sie dar­an, Mr. Long, die Gal­gen­hand wächst aus dem Grab her­vor und packt Sie frü­her oder spä­ter an der Gur­gel!«

Long ant­wor­te­te nichts dar­auf und ging mit dem Di­rek­tor zu­rück.

»Was hal­ten Sie da­von?«, frag­te der Be­am­te und wisch­te sich den Schweiß von der Stir­ne. Er sah bleich und ver­stört aus. »Die Gal­gen­hand – ent­setz­li­cher Ge­dan­ke!«

»Fürch­ten Sie sich nicht, mich faßt sie nicht.« Ar­nold nick­te lang­sam. »Wet­ten, daß?«

Er blieb nicht bis zum Ende da.

Dicht vor Chelms­ford liegt ein klei­nes Dorf mit ei­ner sehr al­ten Kir­che. Die Uhr schlug ge­ra­de acht. Long hielt den Wa­gen an und nahm den Hut ab.

»Hof­fent­lich fin­det der arme Mensch den Frie­den«, sag­te er vor sich hin, denn in die­sem Au­gen­blick en­de­te Clay Shel­tons ir­di­sche Lauf­bahn.

In der nächs­ten Se­kun­de schlug et­was ge­gen die Wind­schei­be des Au­tos, und sie zer­split­ter­te.

Ping!

Die zwei­te Ku­gel pfiff an sei­nem Kopf vor­über, und die drit­te schwirr­te dicht an sei­ner lin­ken Ba­cke vor­bei.

Er sprang aus dem Wa­gen und sah sich in der fried­li­chen Ge­gend um. Nie­mand war zu ent­de­cken, auch kei­ne He­cken, wo sich ein Mann ver­ste­cken konn­te, nur dort hin­ten –

Über ei­nem klei­nen Ge­büsch schweb­te eine blas­se Rauch­wol­ke in der Luft. Im Lauf­schritt eil­te er über die Wie­se, die ihn da­von trenn­te. Wäh­rend er lief, ver­nahm er einen vier­ten Schuß und warf sich flach auf den Bo­den. Er hör­te das Ge­schoß nicht ein­schla­gen, er­hob sich wie­der und lief im Zick­zack auf sein Ziel los.

Plötz­lich pack­te ihn ein Grau­sen. Aus dem Gra­se streck­te sich ihm eine wei­ße Hand ent­ge­gen, de­ren Fin­ger im Krampf er­starrt wa­ren, und die ins Nichts zu grei­fen schie­nen.

Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te er die Stel­le er­reicht. Ein Mann lag dort auf dem Rücken, und sei­ne Hand zeig­te zum blau­en Him­mel em­por. Die an­de­re um­krall­te ein Mi­li­tär­ge­wehr.

Kapitel 5

Ar­nold schau­te ent­setzt in das Ge­sicht des to­ten Ula­nen-Har­ry und woll­te sei­nen Au­gen nicht trau­en. Eine kur­ze Un­ter­su­chung er­gab, daß der Mann aus nächs­ter Nähe von hin­ten er­schos­sen wor­den war. Der Lauf des Ge­wehrs war noch heiß. Als Long die Kam­mer auf­riß, sah er noch ei­ni­ge Pa­tro­nen im Ma­ga­zin. Ein paar Schrit­te da­von ent­fernt be­fand sich die He­cke, und da­hin­ter ent­deck­te er einen Ab­hang, der steil zur Stra­ße ab­fiel. Kein Le­be­we­sen war dort zu se­hen, aber auf der Stra­ße un­ten zeig­ten sich Rä­der­spu­ren. Er klet­ter­te wie­der die An­hö­he hin­auf und neig­te sich ge­ra­de über den To­ten, als er das Rat­tern ei­nes Mo­tor­ra­des hör­te. Er schau­te sich rasch um und sah die Le­der­kap­pe des Fah­rers.

Der Mann fuhr auf die Chaus­see, wo der De­tek­tiv sei­nen Wa­gen hat­te ste­hen las­sen. Long gab ihm ein Si­gnal, zu hal­ten. Der Frem­de be­ach­te­te es je­doch nicht, ob­wohl er es ge­se­hen ha­ben muß­te. Nur einen Au­gen­blick schi­en er das Tem­po zu ver­lang­sa­men, als er das Auto pas­sier­te, und kurz dar­auf ver­schwand er hin­ter den großen Er­len bei ei­ner Stra­ßen­bie­gung.

Der In­spek­tor sah sich nach Hil­fe um. Die Schüs­se muß­ten ge­hört wor­den sein. In ei­ni­ger Ent­fer­nung ent­deck­te er eine schwar­ze Scheu­ne, die ihm son­der­bar be­kannt vor­kam, und er er­in­ner­te sich dar­an, daß er am frü­hen Mor­gen Har­ry dort ge­se­hen hat­te.

Es blieb ihm nichts an­de­res üb­rig, als in das nächs­te Dorf zu fah­ren und Hil­fe zu ho­len. Halb­wegs war er schon zu sei­nem Wa­gen ge­kom­men, als plötz­lich eine große Flam­mengar­be dar­aus em­por­schoß. Er hör­te eine lau­te Ex­plo­si­on und sah vie­le Me­tall- und Holz­tei­le durch die Luft wir­beln.

Long stand einen Au­gen­blick starr vor Schre­cken, dann eil­te er zu der Un­glücks­stel­le. Das Auto be­stand nur noch aus ei­ner Mas­se von Blech und rau­chen­den Trüm­mern.

Kurz dar­auf kam ein Po­li­zist auf ei­nem Rad die Stra­ße ent­lang, der die Ex­plo­si­on auch ge­hört hat­te.

»Was ist denn mit Ihrem Wa­gen pas­siert? Ist er in die Luft ge­flo­gen?«, frag­te er atem­los.

»Er ist durch eine Bom­be ge­sprengt wor­den«, er­wi­der­te der Wet­ter grim­mig.

»Eine Bom­be?«, wie­der­hol­te der Mann ver­blüfft.

Der Wet­ter küm­mer­te sich nicht wei­ter um das zer­trüm­mer­te Auto. Mit we­ni­gen Wor­ten klär­te er den Po­li­zis­ten auf und führ­te ihn zu der Stel­le, wo der Tote im Gra­se lag.

»Auf der Stra­ße un­ten sind Wa­gen­spu­ren«, sag­te er. »Aber wenn wir kein Flug­zeug ha­ben, zweifle ich stark dar­an, daß wir die Tä­ter fas­sen kön­nen.«

Um fünf Uhr abends kam er nach Scot­land Yard und be­rich­te­te Co­lo­nel Macfar­la­ne, der ihm mit düs­te­rem Ge­sichts­aus­druck zu­hör­te.

»Die gan­ze Sa­che ist ein­fach un­er­klär­lich, ich möch­te fast sa­gen, un­mög­lich. Shel­ton ist doch um acht Uhr ge­hängt wor­den, und es be­steht nicht der ge­rings­te Zwei­fel, daß er tot ist. Hat­ten Sie denn nicht die Mög­lich­keit, den Mo­tor­fah­rer oder das Auto zu ver­fol­gen?«

»Nein. Las­sen Sie mir ein bis zwei Wo­chen Zeit. Wir ha­ben es hier mit der Ban­de des Schre­ckens zu tun!«

Macfar­la­ne run­zel­te die Stir­ne.

»Ich ver­ste­he Sie nicht ganz. Shel­ton ar­bei­te­te doch voll­kom­men auf ei­ge­ne Faust. Er hat­te kei­ne Ban­de, die ihm half, und auch kei­ne Freun­de. So­weit wir es be­ur­tei­len kön­nen, gibt es kei­nen Men­schen auf der Welt, der sich dar­um küm­mert, ob er le­ben­dig oder tot ist.«

Der Wet­ter biß sich auf die Lip­pe.

»Das stimmt al­les, und den­noch glau­be ich nicht an die Gal­gen­hand. Es gibt einen har­ten Kampf, denn die Ban­de des Schre­ckens wird uns kei­ne Ruhe las­sen. Den Ula­nen-Har­ry ha­ben sie in ihre Diens­te ge­nom­men, denn sie wuß­ten, daß er ein gu­ter Schüt­ze war. Er soll­te mich auf mei­nem Rück­weg von Chelms­ford er­le­di­gen. Und es war ja leicht, ihn dazu zu über­re­den, denn er haß­te mich im Grund sei­ner See­le. Als sie aber sa­hen, daß er sein Ziel ver­fehl­te, ha­ben sie ihn rück­sichts­los über den Hau­fen ge­schos­sen. Und hät­te er mich tat­säch­lich ge­trof­fen, dann hät­ten sie ihn erst recht kalt ge­macht. Er un­ter­schrieb sein To­des­ur­teil in dem Au­gen­blick, in dem er den Auf­trag an­nahm.«

*

In den nächs­ten Mo­na­ten fand Long neu­es In­ter­es­se am Le­ben und war eif­rig an der Ar­beit. Das Be­wußt­sein, stän­dig in Ge­fahr zu schwe­ben, ver­lieh ihm neue Spann­kraft und Ener­gie. Er war da­von über­zeugt, daß hin­ter Shel­ton eine Ban­de stand, die schreck­li­cher war als jede bis­her be­kann­te Ver­bre­cher­or­ga­ni­sa­ti­on, und es reiz­te ihn, sei­ne Kraft und Klug­heit mit dem Kön­nen die­ser Leu­te zu mes­sen.

Er hat­te Ula­nen-Har­rys Spur bis zu dem Au­gen­blick zu­rück­ver­fol­gen las­sen, in dem der Mann das Ge­fäng­nis in Dart­moor ver­las­sen hat­te, und er hat­te alle Leu­te ver­hört, mit de­nen der Sträf­ling in Berüh­rung ge­kom­men war. Aber nie­mand konn­te ihm auch nur die lei­ses­te An­ga­be ma­chen, die zur Ent­de­ckung sei­ner Auf­trag­ge­ber ge­führt hät­te.

Das nächs­te Jahr brach­te eine Ka­ta­stro­phe nach der an­de­ren, denn die Ban­de des Schre­ckens plan­te Mord auf Mord und führ­te ihre Un­ta­ten auch aus.

Kapitel 6

Ob­wohl Miß Re­vel­sto­ke schon in vor­ge­schrit­te­nem Al­ter stand, ge­hör­te sie nicht zu den schrul­len­haf­ten Frau­en, die sich lang­haa­ri­ge, teu­re Schoß­hun­de hiel­ten oder an­de­re Ex­tra­va­gan­zen lieb­ten. Sie war groß und statt­lich und klei­de­te sich mo­dern. In ih­rem et­was blas­sen Ge­sicht glüh­ten ein Paar dunkle, tie­fe Au­gen, die ih­ren Zü­gen einen ei­gen­tüm­li­chen Reiz ver­lie­hen.

Ihr Haus in Col­ville Gar­dens war in je­der Be­zie­hung neu­zeit­lich und ge­schmack­voll aus­ge­stat­tet, und Nora San­ders, die Se­kre­tä­rin, fühl­te sich in ih­rem künst­le­risch ein­ge­rich­te­ten Zim­mer sehr wohl.

An ei­nem schö­nen Som­mer­tag saß Miß Re­vel­sto­ke an ih­rem Schreib­tisch und schrieb eine Adres­se auf ein läng­li­ches Pa­ket.

»Sie wer­den in Mr. Monk­ford einen sehr in­ter­essan­ten Herrn ken­nen­ler­nen«, sag­­­­­­­­­­­­