Umschlag

Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf in den Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg in Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau wieder am Thunersee.
Im Emons Verlag erschienen «Weissenau» und «Hohle Gasse».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Das Titelbild zeigt die Kander am Ausgang des Gasterntals oberhalb von Kandersteg. Von der Quelle im Blüemlisalpgebiet bis zur Mündung im Thunersee ist der Fluss wildromantisch und gefährlich. Viele Menschen sind schon in seinen Fluten umgekommen.
Im Anhang findet sich ein Glossar.
 
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Altas, Bern.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/United Archives
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-255-5
Originalausgabe

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Gewidmet den Opfern der militärischen Menschenversuche
in der McCarthy-Ära

Gwattegg

Der 6. November 1950 war ein ruhiger Tag. Wachtmeister Miggu Bärtschi wollte gerade Feierabend machen. Er schaute zum Fenster hinaus und freute sich. Am Schloss oben hing die Berner Fahne schon vier Tage lang. Ein gutes Zeichen, seit vier Tagen sass niemand im Gefängnis ein. Thun schien kein guter Platz für Kriminelle zu sein. Und wenn es bisweilen solche dorthin verschlug, kamen sie von weit her. Von Bern, Zürich oder aus dem Ausland. Das glaubte man jedenfalls in der Stadt.

Bärtschi war gerade im Begriff, das Büro zu verlassen, als sein Telefon schrillte. Alle Telefone auf dem Posten, es gab deren drei, schrillten ausserordentlich laut. Das war auch der Grund, weshalb Bärtschi an den Schreibtisch zurückkehrte und den Hörer abhob, denn ein Kollege arbeitete noch im Nebenzimmer.

«Bärtschi, Kantonspolizei. Wo brennt’s so spät noch?»

«Schlunegger. Salü, Miggu. Du, ich habe in meinem Wald eine Tote gefunden. Weitgehend nackt. Ein junges Ding. Sieht schrecklich aus. Der Fuchs hat bereits ihre Beine angefressen. Überall Bisse, auch im Gesicht. Soll ich sie dir bringen – mit dem Traktor?»

Bärtschi verschlug es einige Sekunden die Sprache. «Um Himmels willen, Fredu. Rühr sie nicht an, ja nicht! Ich komme gleich.»

Als er den Hörer auf die Gabel knallte, begann er fürchterlich zu fluchen, so sehr, dass die Wände zitterten. Warum findet dieser Fredu die Tote nicht erst morgen? Heute habe ich Geburtstag, und Anni hat für mich einen feinen Zwetschgenkuchen gebacken, mit einer tüchtigen Portion Nidle darauf, ein Festessen zusammen mit dampfendem Kaffee.

Er rief Anni an und teilte ihr mit, dass es leider heute länger dauern werde, möglicherweise viel länger.

Fredu Schlunegger war wie Bärtschi an der Schwelle des Sechzigsten. Sie hatten vor vielen Jahren zusammen auf der Schulbank gesessen und trafen sich seither hin und wieder.

Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Bärtschi, klein, untersetzt, mit einem leicht vorstehenden Bauch, war ein leutseliger Mensch. Einfach, korrekt und bescheiden in der Lebensweise, aber impulsiv, ausgesprochen geistreich und humorvoll. Schlunegger, über einen Meter neunzig gross, hager, war dagegen eine zwiespältige Person. Wortkarg und irgendwie begriffsstutzig. Sprach man ihn an, entstand der Eindruck, er höre einem gar nicht zu oder verstehe nicht, was man ihm mitteilen möchte. Zwei Gaben, die ihm allerdings wenig nützten, zeichneten ihn aus. Er war ungemein gut im Kopfrechnen und hatte ein phänomenales Gedächtnis. Er konnte den Fahrplan der Bahnen und Postautos des Berner Oberlandes auswendig hersagen. Hatte er einmal eine Telefonnummer gelesen, blieb sie in seinem Gehirn haften. Immerhin waren diese Fähigkeiten ein Grund, ihn in der normalen Schule zu behalten. Andernfalls wäre er in die Klasse für Schwachsinnige versetzt worden.

Bärtschi war der Einzige, der mit Schlunegger zurechtgekommen war und ihn auch immer vor den Hänseleien seiner Klassenkameraden in Schutz genommen hatte. Das vergass Schlunegger ihm nie – er blieb sein Freund bis ins Alter.

Trotz seiner Behinderung schlug sich Schlunegger gut durchs Leben. Weil sein Hof einer der grösseren in der Gegend war, kam er ohne Probleme zu einer Frau, einer ansehnlichen und tüchtigen sogar. Er wurde Vater von fünf prächtigen Kindern, die weder seine Begabung noch sein Handicap erbten, sie schlugen alle der Mutter nach. Es war eine harmonische Familie.

Kaum eine Viertelstunde hatte es gedauert, bis Bärtschi mit seiner alten BMW R4, Jahrgang 1933, die Gwattegg hinaufdonnerte. Immer wenn er dort hinauffuhr, tat es der Wachtmeister mit einem Hauch von Ehrfurcht. Dieser steile, schmale Weg war bis Ende des 18. Jahrhunderts die Hauptstrasse von Thun ins Waadtländer Oberland, damals noch Untertanengebiet des alten Bern. Kurz vor der Anhöhe kam ihm ein Zweispänner in flottem Tempo entgegen, sodass er scharf bremsen musste. Als er stillstand, würgte er die Maschine ab. Pferde mochten den lauten Motor seines Töffs gar nicht. Einmal schon war er in einer ähnlichen Situation im Strassengraben gelandet.

Bärtschi blieb keine Zeit mehr abzusteigen. Es hatte gerade noch gereicht – die Nabe des linken Vorderrads des Fuhrwerks streifte bloss unsanft sein linkes Knie. Der Motor sprang nicht wieder an, auch wenn er wie wild das Anlasserpedal betätigte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu wenden und seine BMW ein Stück weit hinabrollen zu lassen. Dadurch brachte er die Maschine wieder zum Laufen.

Hörte man damals das Dröhnen eines Motorfahrzeugs, öffneten sich in den wenigen Häusern des Weilers Fenster und Türen. Und wenn Bärtschi, den man dort oben immer noch den «Landjäger» nannte, auf seinem schweren Motorrad anrückte, wussten alle, etwas Ausserordentliches war geschehen.

Bärtschi drehte es schier den Magen um, als er die Leiche erblickte. Sie lag in einem Tümpel, Rücken oben, Kopf im Wasser. «Die muss schon eine längere Zeit da liegen. Hast du vor ein paar Tagen etwas Besonderes beobachtet? Ein Fahrzeug zum Beispiel, das an deinem Haus vorbeifuhr?»

«Ja, habe ich. Einen Jeep der Armee. Er fuhr vor fünf Tagen am frühen Morgen vorbei.»

«Ist dir dabei etwas aufgefallen? Das Kennzeichen?»

«Er hatte die Nummer M 32 561, und der Fahrer war ein Offizier. Ein Hauptmann.»

Bärtschi sah Schlunegger fragend an. «War er allein im Jeep?»

«Ja, aber auf den hinteren Sitzen lag etwas. Ein grosser Segeltuchsack.»

«War das alles?»

«Mehr habe ich nicht erkennen können.»

Militärfahrzeuge auf der Gwattegg waren nichts Aussergewöhnliches. Thun beherbergte schon seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einen grossen Waffenplatz mit einer in ganz Europa bekannten Militärschule. Bärtschi versprach sich deshalb nicht allzu viel von dieser Information. Er erkundigte sich bei den übrigen Bewohnern der Gwattegg, ob sie in der fraglichen Zeit Auffälliges beobachtet hätten. Niemand wollte etwas gesehen haben. Bärtschi glaubte nicht so recht, dass ihm alle die Wahrheit gesagt hatten. Man stand dort oben zum Staat, war ordentlich autoritätsgläubig. Polizisten aber, die mochte man nicht besonders.

Die Leiche der jungen Frau wurde noch am selben Abend in das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Bern überführt. Die Abklärungen würden in diesem Fall einige Tage dauern. Er werde sein Bestes tun, sagte der Pathologe, ein ehrwürdiger weisshaariger Professor. Bei diesem bereits in Verwesung begriffenen Körper könne er ihm wenig Hoffnung machen. Bärtschi nahm das gelassen zur Kenntnis.

Es war bereits zehn Uhr abends, als der Wachtmeister seine Wohnungstür behutsam öffnete. Anni, eine kleine, mollige Frau, stets mit einem netten Lächeln auf dem Gesicht, hatte auf ihn gewartet. Das tat sie eigentlich immer, wenn er ihr mitteilte, dass er spät nach Hause komme.

Sie nahm ihn in die Arme und versprach, den Kuchen nochmals aufzuwärmen und die Nidle neu zu schlagen. Bärtschi genoss das verspätete Nachtmahl – trotz des schrecklichen Ereignisses auf der Gwattegg. Er war kein abgebrühter, gefühlskalter Mensch. Aber er hatte gelernt, Beruf und Privatleben zu trennen.

Das Kennzeichen

Theodor von Vrisching, Direktor der Buntmetallwerke Bodmer und Co, tauchte am 7. November, kurz vor zwölf Uhr dreissig, seinen Löffel in den Suppenteller. Plötzlich hielt er inne und lauschte der Stimme, die deutlich aus dem Lautsprecher des Radios zu vernehmen war.

Landessender Beromünster. Es folgen die Mittagsnachrichten der schweizerischen Depeschenagentur.

Die Kantonspolizei Bern teilt mit: In der Umgebung von Thun wurde gestern Abend die nackte, entstellte Leiche einer jungen Prostituierten gefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus. Von der Täterschaft fehlt zurzeit jede Spur. Das Polizeikommando des Kantons Bern bittet die Bevölkerung, sachdienliche Beobachtungen unverzüglich an den nächsten Polizeiposten zu melden.

«Warum hörst du denn auf mit Essen?», erkundigte sich Frau von Vrisching.

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Esssalon. Eleonore, die Gattin von Vrisching, verstummte augenblicklich. Mimi, die Hausangestellte, brachte auf einem Plateau den Hauptgang des Mittagessens.

«Zuerst anklopfen, Mimi! Wie lange wird es noch dauern, bis sie das endlich begreift. Noch einmal, dann stelle ich sie auf die Strasse», sagte Frau von Vrisching von oben herab.

«Nicht doch, Eleonore. Heute lassen sich die Hausangestellten nicht mehr alles bieten. Die wissen genau, dass sie ohne Probleme anderswo eine Stelle finden können.» Er mochte es nicht, wenn seine Frau die Angestellten in der dritten Person ansprach, und noch weniger, wenn sie sie duzte.

«Diese Schlampe wird kaum jemand anderes nehmen!»

Herr von Vrisching seufzte tief. «Nehmen Sie es nicht tragisch, Mimi. Meine Gemahlin meint es nicht so.»

Frau von Vrisching wollte protestieren, doch der Gatte machte ihr ein unmissverständliches Zeichen, sich zurückzuhalten.

Mimi war sich das gewohnt. Sie blieb wegen des Herrn Direktor bei den von Vrischings, ein bisschen auch wegen der schönen Villa direkt am See und vielleicht mehr noch wegen des grosszügigen Lohns.

Theodor von Vrisching tat ihr leid. Sie empfand ihn als feinen und gebildeten Mann: ein hohes Tier, der auch zu einfachen Leuten nett war. Im Gegensatz zu seiner Gemahlin, die sich mit den Titeln ihres Manns schmückte, obwohl sie ausser ihrer schwerreichen Herkunft nichts zu bieten hatte.

«Mimi. Du kannst ab vierzehn Uhr frei verfügen. Ich möchte bis achtzehn Uhr nicht gestört werden. Ich hab dir einen Zweifränkler in die Manteltasche gesteckt. Gehe hin, wo du willst, und sei pünktlich wieder zurück.»

Theodor von Vrisching verzog ganz kurz sein Gesicht.

* * *

Am frühen Nachmittag läutete das Telefon von Bärtschi.

«Militärjustiz, Hauptmann Schmocker Max am Apparat. Wachtmeister Bärtschi? Sind Sie der Mann, der beim Mord an Irma Rothenbühler ermittelt?»

«Ja, der bin ich. Danke, dass Sie so rasch zurückrufen.»

«Bei den Informationen, die wir von Ihnen erhalten haben, gibt es einige Ungereimtheiten. Ein Fahrzeug mit der Nummer M 32 561 existiert tatsächlich. Aber es handelt sich dabei nicht um einen Jeep, sondern um einen alten Saurer/Berna Lastwagen, Jahrgang 1942. Sie kommen heute kaum noch in den Einsatz. Ein Saurer/Berna sieht allerdings nicht gerade wie ein Jeep aus. Könnte es sein, dass sich Ihr Informant eher dürftig auskennt bei Militärfahrzeugen?»

Bärtschi atmete lautstark ein. «Nein, der kennt alle Fahrzeugtypen der Armee sehr genau.»

Schmocker schien von dieser Reaktion überrascht. Er wartete einen Moment lang, bis er das Gespräch fortsetzte. «Dann staune ich, dass er in der Lage ist, sich unter solchen Umständen eine Autonummer zu merken. Ich bin jetzt ein wenig überfordert.»

«Herr Hauptmann. Dieser Mann ist ein glaubwürdiger Zeuge. Dessen bin ich mir ganz sicher.»

Bärtschi klärte den Justizoffizier über Schlunegger auf und der begriff sofort: «Aaahh … ein Autist mit einer Inselbegabung. Ich verstehe, da müssen wir davon ausgehen, dass etwas an der Sache dran ist. Wenn die Angelegenheit nicht so schrecklich wäre, müsste ich mich nun freuen. Endlich wieder ein interessanter Fall im langweiligen Alltag.»

Bärtschis lautes Schmunzeln musste noch am andern Ende der Leitung vernehmbar sein. «Sie haben wohl noch wenig Jahre auf dem Buckel. Ich wünschte mir in meinem Alter ein ruhigeres, langweiligeres Leben am Arbeitsplatz.»

Schmocker lachte schallend zurück. «Meine Tätigkeit besteht vor allem in der Vernehmung von betrunkenen Soldaten, die irgendwo in der Stadt aufgegriffen werden. Bisweilen auch von Bagatelldiebstählen in den Kasernen.»

«Noch eine Bemerkung hätte ich, Herr Hauptmann: Autismus? Da wissen Sie mehr als ich. Ich habe schon von dieser Krankheit gehört, aber sie nie mit meinem Freund Schlunegger in Verbindung gebracht.»

«Darüber wissen wahrscheinlich die wenigsten bei der Polizei und in der Justiz Bescheid. Mein Vater ist Psychiater, einer der wenigen in unserem Land, der sich mit Autismus intensiv auseinandersetzt. Es gibt unter den davon Betroffenen viele Genies. Allzu oft werden sie in einer Heil- und Pflegeanstalt versenkt.»

Bärtschi war erleichtert. «Ich schätze mich glücklich, gerade auf Sie gestossen zu sein. Ich habe bislang nicht gerade die besten Erfahrungen mit den militärischen Untersuchungsbehörden gemacht.»

«Wem sagen Sie das?» Die Stimme des Hauptmanns verriet, dass er Verständnis für den Wachtmeister hatte. «Ich schlage vor, wir suchen zusammen noch heute den Armee-Motorfahrzeugpark des Waffenplatzes Thun auf.»

Der Wachtmeister war damit einverstanden.

Eine halbe Stunde später klopfte Bärtschi an die Bürotür mit dem Schild «Hptm. Schmocker Max, Militärjustiz».

Schmocker überragte Bärtschi im Minimum um anderthalb Köpfe. Über den Daumen gepeilt brachten die beiden je ungefähr gleich viele Pfunde auf die Waage. Der Hauptmann war also so etwas zwischen schlank und mager. Er führte den Wachtmeister in eine riesige Halle mit vielen Armeefahrzeugen, vom Laster über den Jeep bis zum Personenwagen.

«Die grossen Lastwagen können wir vergessen. Mit einem solchen wagt sich wohl kaum einer auf die Gwattegg. Ganz sicher nicht, wenn er damit eine Leiche verschwinden lassen will», sagte der Wachtmeister im Brustton der Überzeugung.

«Ich habe dem nichts entgegenzusetzen», meinte Schmocker nickend. «Wir beschränken uns auf die Jeeps und die alten Saurer/Berna Lastwagen. In Frage kämen noch die Volkswagen. Sie werden vor allem Unter- und Subalternoffizieren zugeteilt … Da ist der Saurer/Berna Typ 1U mit der Nummer M 32 561

«Der kann es wohl kaum gewesen sein. Den hätte Schlunegger sicher nicht mit einem Jeep verwechselt. Aber vielleicht hat der Mörder die Nummern davon abgeschraubt und sie an einen Jeep montiert.»

«Aha … Danke für den Hinweis, das wollen wir jetzt gleich überprüfen.»

Der Hauptmann entschuldigte sich für einen Moment. Er kam mit einer Lupe zurück, hielt diese über die Schrauben, an denen das Nummernschild befestigt war. «Sehen Sie da genau hin, Wachtmeister. Jemand hat hier mit einem zu kleinen Schraubenzieher gebastelt. In unserem Betrieb würde kein Mechaniker so etwas tun. Wir dürfen davon ausgehen, dass Schlunegger richtig beobachtet hatte. Jetzt gilt es, den Jeep zu finden, an den die Nummernschilder des Saurer/Berna angeschraubt wurden.»

Bärtschi schaute sich in der riesigen Halle um. Da standen mindestens hundert Jeeps. «Diese Aufgabe wird wohl einige Zeit in Anspruch nehmen.»

«Klar. Aber mit dieser Suche möchte ich Sie verschonen. Ich werde Sie benachrichtigen, sobald wir mehr wissen.»

Der Wachtmeister fühlte sich in seinem ersten Eindruck über Schmocker bestätigt. Er war sicher nicht der Betonkopf, den man üblicherweise bei den Offizieren in den Kasernen um Thun antraf. «Das dürfte sich zu einem verzwickten Fall entwickeln. Ich gehe davon aus, dass wir uns noch einige Male sehen werden.»

«Wachtmeister, das will ich doch hoffen. Sie können auch nicht wissen, weshalb ich diese Angelegenheit so wichtig nehme.»

Bärtschi sah verwundert auf.

«Vor etwa fünf Jahren wurden in Zürich innerhalb von einigen Wochen zwei Prostituierte ermordet. Es gab mehrere Hinweise, dass dabei auch Militärfahrzeuge benutzt wurden. Die Morde konnten nie aufgeklärt werden.»

Bärtschi griff in die spärlichen Borsten auf seinem grossen, kugligen Schädel: «Und wie klappte die Zusammenarbeit zwischen der zivilen und der militärischen Justiz und der Polizei?»

«Gar nicht! Die Angelegenheit geriet schon auf der Ebene der polizeilichen Ermittlungen ins Stocken. Mich beschleicht in dieser Sache immer noch ein mulmiges Gefühl: Jemand mit erheblichem Einfluss auf Militär und Politik musste alles versucht haben, den Fall versanden zu lassen. Das darf diesmal nicht geschehen.»

Der junge Hauptmann und der alte Polizeiwachtmeister drückten einander kräftig die Hände und schauten sich in die Augen. Sie schienen sich zu verstehen.

Alte Schlyffi

Der Wachtmeister zog eine alte goldene Taschenuhr hervor, das Hochzeitsgeschenk seiner Frau Anni.

Es war zehn vor zehn. Für exakt zehn Uhr erwartete er den Besuch von Hauptmann Schmocker. Die paar Minuten sollten reichen, den Obduktionsbericht von Professor Muggli durchzulesen. Nicht immer ging es auf dem Posten hektisch zu, aber pünktlich, sozusagen auf die Sekunde genau, das war man jederzeit.

Der Zeitpunkt des Todes lässt sich nicht genau ermitteln. Nach unseren Schätzungen dürfte er zwischen dem 30. Oktober und dem 2. November 1950 eingetreten sein. Die Todesursache ist zweifelsfrei eine Schussverletzung. Was für eine Waffe dabei zum Einsatz kam, konnte nicht genau eruiert werden. Die Kugel war am Hinterkopf ein- und an der Stirn wieder ausgetreten, sie stand bei unserer Untersuchung nicht zur Verfügung. Nach der Grösse des Einschussloches zu schliessen, dürfte es sich um eine Pistole handeln, wir vermuten, mit Kaliber 9 x 19 und 30 Luger; ein Karabiner oder ein Jagdgewehr kann ausgeschlossen werden. Es gibt keine Indizien dafür, dass vor dem Tod am Opfer Geschlechtsverkehr vollzogen wurde. Rumpf, Gesicht, Arme und Beine wiesen Gebisswunden auf, offensichtlich von Hunden oder Füchsen stammend, die sich an der Leiche gütlich taten. Aus dem Mageninhalt von Fräulein Rothenbühler konnte geschlossen werden, dass sie kurz vor ihrem Ableben Sauerkohl und Speck zu sich genommen hatte. Das Gebiss der Toten war von mittelschwerer Karies befallen. Der rechte Eckzahn und der linke vordere Schaufelzahn fehlten. Die Brüste waren gut entwickelt und überdurchschnittlich gross, ebenso das Gesäss.

 

Professor Dr. med. Johannes Muggli, Direktor des Instituts für Gerichtsmedizin

 

sig. J. Muggli

Bärtschi konsultierte nochmals seine Uhr, da klopfte es schon an seiner Tür. Schmocker knallte eine Beige Papier auf den Arbeitstisch von Bärtschi.

«Sie müssen entschuldigen, Wachtmeister. Eine Menge Geschreibsel, aber nicht viel Brauchbares. Leider, leider.»

«Muss ich das alles trotzdem lesen, Herr Hauptmann?»

«Da bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig. Aber ich kann Ihnen das Wesentliche in wenigen Worten zusammenfassen:

Der Jeep wurde gefunden. Marke Willys MB, Jahrgang 1943. Das Militärdepartement kaufte 1945 und 1946 gegen fünfhundert Fahrzeuge dieses Typs aus überzähligen Beständen der amerikanischen Armee im besetzten Deutschland. Nicht fabrikneu, aber in gutem Zustand. Wir haben zurzeit eher zu viele davon. Das ist auch der Grund, weshalb bei einigen die Kontrollschilder entfernt wurden.»

Bärtschi war ein bisschen irritiert. «Eigenartig. Wie bringt man ein Fahrzeug so ohne Weiteres in Gang, wenn es zuvor monatelang unbenutzt herumsteht?»

«Da kennen Sie die Mentalität der Leute in unserem Motorfahrzeugpark nicht. Alle Jeeps werden regelmässig gewartet, sodass sie jederzeit einsatzbereit sind. Jedes Fahrzeug hat immer so viel Treibstoff im Tank, dass es mindestens fünfzig Kilometer fahren kann.»

Bärtschi wollte es genau wissen: «Dann hat man also am Tankstand festgestellt, dass mit dem Jeep gefahren wurde?»

«Am Tankstand nicht, aber am Kilometerzähler. Das Fahrzeug hatte am 1. November achtundzwanzig Kilometer und fünfhundert Meter zurückgelegt. Derjenige, der es benutzt hatte, goss nach Gebrauch etwa drei Liter Benzin aus dem Reservekanister nach. Das ist Vorschrift. Er unterliess es aber, den Reservekanister nachzufüllen. Stattdessen tauschte er den Kanister mit dem aus dem danebenstehenden Fahrzeug aus. Auch das haben wir festgestellt. Übrigens: Diese Schlaumeiereien geschehen hin und wieder.»

«Etwas begreife ich immer noch nicht. Wie kommt jemand dazu, einfach so mit dem Jeep in der Landschaft herumzufahren?»

«Gute Frage, Wachtmeister. Die meisten Milizoffiziere aus der Gegend von Thun haben sozusagen freien Zugang zum Motorfahrzeugpark. Viele von ihnen leisteten während des Krieges jahrelang Militärdienst – mit einem mickrigen Sold. Der freie Zugriff auf wenig gebrauchte Militärfahrzeuge ist gewissermassen ein nachträgliches Entgelt für diesen Dienst am Vaterland.»

Bärtschi konnte sich damit noch nicht abfinden. Er hakte nach. «Gilt das auch für einfache Soldaten oder Unteroffiziere?»

«Eher nicht, ausser man kennt die richtigen Leute. Wenn Sie mich fragen, was ich davon halte, bekommen Sie eine klare Antwort: eine verdammte Schweinerei. Auch die unteren Dienstgrade sind jahrelang an der Grenze gestanden, zu einem noch spärlicheren Sold.»

Die Gesichtszüge des Wachtmeisters verrieten unverhohlen Resignation. «Aus Ihren Ausführungen entnehme ich, dass es ziemlich schwierig werden dürfte, herauszufinden, wer den Jeep gefahren hat.»

«Das sehe ich auch so. Hätte sich der Benutzer vorschriftsgemäss eingetragen, wüssten wir jetzt mehr.»

Schmocker knallte beide Hände auf den Tisch. «Und jetzt kommt es noch dicker. Ich habe beim Platzkommandanten, einem Oberst Güllen, das Begehren gestellt, wenigstens Kontrollen für diese Fahrzeugverleihe einzuführen. ‹Kommt nicht in Frage›, hat er mir umgehend geantwortet. ‹Wegen einer toten Hure können wir doch nicht sämtliche Offiziere des Oberlandes vor den Kopf stossen.› Im Übrigen dürfe man ja etwas gar nicht kontrollieren, das im Grunde illegal sei. Als er dies sagte, zwinkerte der Oberst scheinheilig mit dem rechten Auge.»

«Fast könnte man da zynisch werden.» Bärtschi schüttelte ungläubig den Kopf. «Wir dürfen ja nicht ausschliessen, dass es sich um einen Wiederholungstäter handelt und er sich auch das nächste Mal im Fahrzeugpark bedient.»

Hauptmann Schmocker lachte bitter: «Mir scheint, Sie können Gedanken lesen. Das Problem hier ist leider, dass ich nur beschränkt auf die Leute, die im Motorfahrzeugpark arbeiten, Einfluss habe. Aber ich werde mein Möglichstes tun.»

Der skeptische Blick des Wachtmeisters bewog den Hauptmann, präziser zu werden. «Immerhin haben wir den Jeep genau untersucht. Wir haben eine grosse Anzahl Fasern von Kleidungsstücken auf den Vordersitzen gefunden. Doch keine Fingerabdrücke auf dem Lenkrad und an den Türgriffen. Wir müssen davon ausgehen, dass der Mörder seine Spuren minutiös verwischt hat.»

Nun kam ein Anruf herein.

«Sagen Sie das noch mal.» Dann stellte Bärtschi seinen Apparat so ein, dass die Stimme des Anrufenden über einen Lautsprecher umgeleitet wurde, sodass es auch Hauptmann Schmocker hören konnte.

«Gygax, Alte Schlyffi, Zwieselberg. Etwa fünfzig Meter vor meinem Haus liegt eine nackte Tote im Glütschbach.»

Der Bach fliesst direkt unter der Alten Schlyffi durch und treibt dort ein Wasserrad an.

«Herr Gygax, danke für Ihren Anruf, wir sind in etwa zwanzig Minuten bei Ihnen.»

«Ich habe von einem Nachbarn aus telefoniert. Wir besitzen selbst keinen Anschluss. Es dauert mindestens eine halbe Stunde, bis ich wieder zu Hause bin.»

Bärtschi musterte seinen Gast mit einem vielsagenden Lächeln, dann sprach er weiter. «Kein Problem, Herr Gygax, wir werden auf jeden Fall auf Sie warten.»

«Nun ist das eingetreten, was ich befürchtet habe», sagte Schmocker grimmig.

«Herr Hauptmann, ich schlage vor, dass Sie mich ins Glütschbachtal begleiten.»

«Ich hätte jetzt gerade darum gebeten.»

Als Bärtschi und Schmocker bei der historischen Schlyffi eintrafen, stand Gygax, ein betagter, gebeugter Mann, bereits vor dem Haus.

Er führte die beiden Herren zur Stelle, wo die Tote lag. «Da sind Spuren, die direkt zum Bach führen. Sie können nur von einem Jeep stammen. Ein anderes Fahrzeug wäre auf diesem sumpfigen Boden stecken geblieben», stellte der Hauptmann fest.

«Ich würde es begrüssen, wenn Sie sich direkt in die Ermittlungen einschalten könnten», meinte Bärtschi.

«Von mir aus sofort. Aber ich fürchte, Sie handeln sich dabei Schwierigkeiten mit Ihrem Vorgesetzten und dem zivilen Untersuchungsrichter ein.»

«Schon möglich, aber ich glaube, wir sind ohne Mithilfe der Militärjustiz nicht in der Lage, diese Sache in den Griff zu bekommen.»

«Wo ist das nächste Telefon hier in der Gegend?», fragte Schmocker an Gygax gewandt.

«Bei Brüggers, etwa einen halben Kilometer talaufwärts. Ich will aber mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Ich habe vom Heimet weiter oben angerufen. Vor Jahren hatten wir einen wüsten Streit miteinander.» Dann spuckte Gygax auf den Boden und sah Schmocker mit zusammengekniffenen Augen an: «Ich werde Sie trotzdem zum Hof führen.»

Schmocker forderte eine Gruppe der Heerespolizei zur Spurensicherung an. Bärtschi liess von den Posten Thun und Gwatt alle verfügbaren Männer kommen. Seiner Bitte, auch den Gerichtsarzt aufzubieten, wurde ohne Widerstand entsprochen. Es ging darum, die Leiche fachmännisch zu bergen und sie behelfsmässig auf Verletzungen zu untersuchen.

Noch bevor alle Polizeileute bei der Alten Schlyffi eingetroffen waren, hörte er von der Gwattegg her das Heulen eines Automobils. Es konnte sich dabei nur um den Wagen des Untersuchungsrichters Schlotterbeck handeln, eine Citroën-Limousine der Marke «Traction Avant Légère». Der Richter hatte bereits Mühe, wenn er damit die Strasse zum Schlossberg, seinem Arbeitsplatz, hinauffuhr. Der enge und steile Fahrweg über die Gwattegg war umso mehr ein Martyrium für das Fahrzeug. Bei einem solchen Fahrer jedenfalls.

«Der hat mir gerade noch gefehlt.» Es folgten einige unanständige Flüche, die von den Hängen des Tales mehrmals zurückgeworfen wurden. «Nun hat dieser Halunke Wind von der Sache bekommen. Von wem wohl, frage ich mich? Wenn ich diesen Schwätzer zu fassen kriege, drehe ich ihm den Hals um», sagte Bärtschi so laut, dass es niemandem in der näheren Umgebung entgehen konnte.

«Was fällt Ihnen ein, Bärtschi, hier so eigenmächtig zu handeln? Dann fordern Sie noch die Militärjustiz an. Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen?» Der bereits rote und aufgedunsene Kopf des Untersuchungsrichters wurde noch röter und schien dem Zerplatzen nahe.

Bärtschi winkte lässig ab und sagte zu seinen Leuten:

«Arbeitet ruhig weiter, ich bin euer Vorgesetzter, der Richter Schlotterbeck hat hier nichts zu befehlen, gar nichts.»

«Das hat ein Nachspiel, Bärtschi.»

Der Wachtmeister konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. «So, so … schon möglich. Ich bin mir das gewohnt, Herr Doktor.»

Der alte Bauer Gygax fühlte sich unbehaglich. Er drehte sich auf dem Absatz um und wollte sich diskret entfernen.

«Herr Gygax, wir möchten noch mit Ihnen reden. Wir verstehen aber, dass Sie viel zu tun haben. Dürfen wir etwa in einer halben Stunde bei Ihnen anklopfen?», fragte Bärtschi ausgesucht freundlich.

Gygax murrte etwas, das man als Zustimmung auffassen konnte.

Sie trafen Gygax im Stall an, wo er für zwei frisch geborene Ziegenkitze einen Verschlag zimmerte.

«Sehen Sie sich doch diese Tierlein an. Sie werden einander nie umbringen, wie das die Menschen tun. Mir wäre es lieber, wenn Sie mich aus dieser Sache heraushalten könnten.»

Aber Bärtschi liess sich nicht einfach so abwimmeln. Ihn überkam das dumpfe Gefühl, dass Gygax mehr wusste, als er bislang preisgegeben hatte.

«Ich weiss, Herr Gygax, dass Ihnen das unangenehm ist. Wir haben auch keine Freude, wenn so etwas passiert.»

Gygax musterte Bärtschi mit einem Blick, so zwischen Spott und Häme: «Weshalb sind Sie denn Polizist geworden und nicht zur Heilsarmee gegangen?»

Bärtschi überging diese Frage und bohrte weiter: «Hatten Sie etwas Aussergewöhnliches beobachtet, bevor Sie die Leiche gefunden haben?»

Gygax schaute den Wachtmeister mit einem durchtriebenen Lächeln an und schwieg einige Augenblicke.

«Etwas Aussergewöhnliches? Schon möglich. Gestern Abend kurz vor dem Einnachten kam ein Militärjeep vom Hani her. Einige Meter vor der Brücke drehte er rechts ab. Das ist nicht üblich.»

Bärtschi war sich gewohnt, dass Leute wie der alte Bauer nur auf das antworteten, was man sie fragte. Kein Wort mehr. «Können Sie denjenigen beschreiben, der ihn fuhr?»

Gygax’ Äuglein wurden noch ein wenig kleiner. Für Bärtschi ein Hinweis, dass er mit sich kämpfte. Schweigen oder reden? Schliesslich entschied er sich für das Letztere. «Es war eine Militärperson. Und die sehen alle etwa gleich aus.»

«Was hatte er für eine Mütze auf?»

«Eine mit drei Spaghetti.»

«Spaghetti oder Nudeln?»

«Spaghetti – es war der Hut eines Hauptmanns, nicht derjenige eines Obersten. Das kann ich trotz meiner vielen Jahre auf dem Buckel noch auseinanderhalten. Ich machte schliesslich auch Militärdienst, musste nach der Mobilmachung 1939 einrücken und sogar noch für zwei Monate als Soldat an der Grenze stehen. Mein Kompaniekommandant war übrigens ein Nazisympathisant, der hätte nach einem Angriff der Deutschen mit Sicherheit die Seite gewechselt.»

«Wie alt war der Hauptmann etwa?»

«Wenn Sie so direkt fragen, ja, da hätte ich schon einen Hinweis … Der Mann stolperte, nachdem er das Fahrzeug verlassen hatte, fiel hin und verlor dabei seine Mütze. Seine Haare waren ziemlich grau, schon fast weiss. Ein älterer Herr, eher gross.»

«Würden Sie ihn wiedererkennen?»

«Wohl kaum, ich sah sein Gesicht nur sehr flüchtig und – wie ich schon sagte – war es nicht mehr taghell.»

«Ist er einfach ausgestiegen und zum Bach gegangen?»

«Zuerst schon, er ging dorthin und pinkelte ins Wasser. Ich dachte schon, typisch Offizier, zu faul, um einige Schritte zu gehen.»

«War er korpulent?»

«Nein, das nicht gerade. Kräftig gebaut schon.»

«Was tat er dann?»

«Er ging zum Jeep zurück, schulterte einen Sack, aus Segeltuch, schätze ich, schritt erneut Richtung Bach. Was dann vor sich ging, konnte ich nicht mehr erkennen. Es standen zu viele Bäume und Büsche dazwischen.» Gygax zeigte auf die Stelle, wo der Offizier am Bach gestanden hatte. «Einige Momente später hörte ich etwas plumpsen. Ich glaubte schon, der Mann sei in den Bach gefallen. Kein Unglück. Ersoffen wäre er dabei sicher nicht, das Gewässer ist an dieser Stelle höchstens fünfzig Zentimeter tief. Dann aber hörte ich einige Minuten später, dass der Motor des Jeeps gestartet wurde.»

«In welche Richtung ist er dann gefahren?»

«Zurück, Richtung Hani.»

«Sehr interessant, Herr Gygax. Ich bin sicher, Sie haben uns wertvolle Informationen gegeben», sagte Schmocker anerkennend.

«Dann habe ich diese leidige Sache zum Glück hinter mir?»

Da musste ihn Bärtschi enttäuschen: «Nicht ganz. Es könnte sein, dass Sie später mal bei Gericht als Zeuge aussagen müssen. Vorausgesetzt, wir finden diesen Kerl.»

«So – dann ist wieder ein Tag hin. Wenn möglich noch zur Erntezeit, wenn ich alle Hände voll zu tun habe.»

«Sie werden entschädigt dafür. Zeugen erhalten ein Entgelt, und die Reisespesen werden vergütet.»

Gygax sah zu Schmocker hinauf, dann musterte er durch die Augenwinkel Bärtschi. Wühlte in seiner rechten Hosentasche und fand schliesslich, was er suchte. Seine Tabakspfeife. Er griff in den rechten Hosensack, zog einen Lederbeutel heraus, nahm eine Prise Tabak daraus und stopfte damit die Pfeife. Dieses Prozedere dauerte mindestens zwei Minuten.

Der Wachtmeister und der Hauptmann schauten, in Erwartung dessen, was Gygax als Nächstes tun würde, geduldig zu.

Er schob die Pfeife in den zahnlosen Mund, kaute eine Weile daran, entzündete umständlich ein Zündhölzchen. Augenblicke später nebelte eine Rauchwolke die Köpfe von Bärtschi und Schmocker ein.

Kichernd sagte Gygax: «Wenn Sie mich vorladen, dann lasse ich ein Taxi kommen.»

Bärtschi pfiff leise durch die Zähne. «Nein, das kann sich der Staat Bern nicht leisten. Aber sollte es dazu kommen, werde ich veranlassen, dass Sie jemand von uns abholt und wieder zurückbringt.»

Als Bärtschi und Schmocker wieder zu ihren Fahrzeugen zurückkehrten, übereichte einer der Männer des Spurensicherungsteams Bärtschi einen Handzettel.

Beim Opfer handelt es sich um Rosemarie Hachen. Todesursache ist ein Schuss in den Hinterkopf. Sie wurde in den letzten Wochen auf dem Thuner Strassenstrich von Polizisten mehrmals beobachtet und angehalten.

Heute Nachmittag um sechzehn Uhr findet im Hotel «Freienhof» eine Pressekonferenz statt. Bitte um fünfzehn Uhr null null sich zwecks Vorbereitung dort einfinden.

Leutnant Amstutz im Auftrag von Untersuchungsrichter Schlotterbeck

Wortlos überreichte Bärtschi den Zettel Schmocker.

«Ach – die Herren fühlen sich wohl übergangen und möchten den Fall wieder an sich ziehen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir diese Angelegenheit unter vier Augen gründlich besprechen. Wo ist das nächste Gasthaus? Ich lade Sie zum Mittagessen ein.»

«Ich sage nicht Nein», stieg Bärtschi darauf ein. «Versuchen wir es mal in der ‹Glütsch›, am Anfang der Steigung zum Zwieselberg. Eine richtige Landbeiz. Genügend zu beissen gibt es dort allemal. Ab und zu mundet es sogar.»

In der «Glütsch»

Als Bärtschi und Schmocker die Gaststube in der Wirtschaft «Glütsch» betraten, fingen sie neugierige Blicke ein. Dass im Grien, so nannte man diesen Abschnitt des Glütschbachtales, etwas Aufregendes passiert war, hatte sich bereits in der Gegend herumgesprochen.

Die Handvoll Gäste am Nebentisch, sie hatten sich gerade zum Gehen bereit gemacht, bestellten plötzlich alle noch ein Bier und spitzten die Ohren.

Bärtschi, dessen Gehör merkbar nachliess, musste den leise sprechenden Schmocker immer wieder bitten, das Gesagte nochmals zu wiederholen.

Endlich kam die Serviertochter. An ihrem Verhalten realisierten Bärtschi und Schmocker sogleich, dass sie vom Wirt über die illustren Gäste aufgeklärt worden war. Die beiden merkten es daran, wie sie sprach. «Herr Hauptmann und Wachtmeister, es gibt heute Berner Platte mit Bratkartoffeln und Nüsslisalat … mit Meh… Zuppa di farina, tre franchi, drei Franken.»

«Wir nehmen das», sagte Bärtschi, denn er wollte nicht riskieren, dass Schmocker etwas anderes vorschlug. Das hätte dann sehr lange gedauert.

«Wie kommt die Italienerin wohl zurecht, mit diesen Dumpfbacken da oben?», fragte Schmocker augenzwinkernd den Wachtmeister.

«Die Sprache dürfte noch das kleinste Problem sein. Der Wortschatz in diesen ländlichen Gebieten ist so spärlich, dass eine durchschnittliche Intelligenz ausreicht, die Leute in zwei, drei Wochen gut zu verstehen.»

Bärtschi sagte das etwas zu laut und zog bitterböse Blicke auf sich. Daraufhin redeten die beiden über belangloses Zeug, was die lästigen Lauscher zur Kapitulation zwang. Einer nach dem andern verliess grusslos die Gaststube. Nach wenigen Minuten waren der Hauptmann und der Wachtmeister die Einzigen in der Wirtschaft.

«Mir ist vollkommen klar, dass meine Anwesenheit an der Pressekonferenz nicht erwünscht ist», murmelte Schmocker ein wenig beleidigt, «aber ich hätte einige wichtige Bemerkungen, die ich Ihnen gerne noch mitgeben möchte.»

«Das nehme ich selbstverständlich auf. Mir scheint aber, dass wir besprechen müssten, was wir für uns behalten sollten. Einige Informationen dürfen wir der Öffentlichkeit noch nicht verraten.»

«Diese Ansicht teile ich hundertprozentig mit Ihnen. Zum Beispiel das mit den grauen Haaren und dem Hut mit den drei Spaghetti. Wir wissen nun, dass der Täter die Uniform eines Hauptmanns trug.»

Bärtschi nickte: «Erfährt das die Presse, ist der Täter vorgewarnt. Er würde das nächste Mal in einer anderen Bekleidung zuschlagen.»

«Daraus schliesse ich, dass wir zunächst die Armee gar nicht ins Spiel bringen.» Schmocker hatte das eher als Frage gemeint.

«Schön, wäre das noch möglich. Heute können wir einige Informationen vielleicht noch zurückhalten, morgen mit Sicherheit nicht mehr. Auch beim Mord auf der Gwattegg wurde ein Militärfahrzeug benutzt. Ich glaube zwar, dass Schlunegger das für sich behalten wollte. Aber ganz sicher nicht seine Angehörigen, und die sind, im Gegensatz zu ihm, leutselige, mitteilsame Zeitgenossen.» Bärtschi überlegte einen Moment und fuhr gleich weiter: «Dann der Wirbel heute Morgen bei der Alten Schlyffi. Ich müsste mich schwer täuschen, wenn nicht der eine oder andere Journalist bereits davon erfahren hat. Ich muss auf entsprechende Fragen vorbereitet sein. Was würden Sie preisgeben?»

Schmocker schob die Unterlippe nach vorn. «Nur so viel: Es soll Hinweise geben, dass Militärpersonen in die Verbrechen verwickelt sein könnten. Aber das sind lediglich vage Vermutungen. Wir verfügen zurzeit noch über keine Fakten, die einen solchen Verdacht stützen würden.»

Bärtschi gab sich damit noch nicht zufrieden. «Natürlich wird da nachgehakt. Etwa: Warum waren bei der Spurensicherung von heute Morgen so viele Militärpolizisten anwesend?»

«Die Antwort darauf würde mir leichtfallen: In unserer Armee kommen sehr wenige Verbrechen vor. Damit es so bleibt, reagiert man eben schon auf den kleinsten Hinweis. Sie können beruhigt sein, die Militärjustiz arbeitet sehr eng mit den zivilen Behörden zusammen.»

Der Wachtmeister kam anerkennend zum Schluss: «So unverschämt zu lügen, und das noch ohne rot zu werden, können die wenigsten. Zum Glück gehöre ich auch zu diesen Ausnahmen. Für einen Fahnder übrigens ein Muss.»

Die Mehlsuppe wurde geschöpft. Als die Serviertochter noch einige dicke Scheiben Brot brachte, wusste Bärtschi, dass er die Gaststube satt verlassen würde.

Plötzlich tauchte der Wirt auf und schüttelte zuerst Schmocker, dann dem Wachtmeister die Hand.

«Schmeckt es?»

«Sicher doch», sagte Bärtschi überzeugt. Auch der hagere Schmocker nickte, wohl wissend, dass er bereits satt und kurz vor dem Aufgeben war.

Offensichtlich erfreut über des Wachtmeisters Kompliment, zog der Wirt voller Stolz ein maschinengeschriebenes Blatt mit dem Rezept aus der Hosentasche. «Berner Platte nach alter Tradition seit der Schlacht von Neuenegg 1798.»

«Wer hat dabei gewonnen?», erkundigte sich Schmocker spitzbübisch.

«Das hat mich noch niemand gefragt. Aber ich rate jetzt: Es waren die Eidgenossen.»

Schmocker gelang es nur mit Mühe, ein boshaftes Schmunzeln zu unterdrücken. Als der Wirt sich wieder in die Küche zurückzog, bemerkte er hämisch: «Hoffentlich erleben wir mit unserem Fall nicht auch ein Neuenegg. ‹Die Schlacht gewonnen, den Krieg verloren.› Da glaubten die Berner Kämpfer tatsächlich, sie hätten die Franzosen vernichtend geschlagen, dabei war es lediglich eine unbedeutende Vorhut, währenddessen Napoleons Soldaten bereits die Trikolore auf dem Berner Münster hissten.»

«Seitdem sind mehr als einhundertfünfzig Jahre verstrichen», bemerkte Bärtschi mit einem Hauch von Resignation. «Ja, 1798, das war der Untergang des Alten Bern. Aus den Rathäusern liessen sich die gnädigen Herren vertreiben, aber längst nicht aus den Köpfen ihrer Untertanen.»

Wahrscheinlich ist es genau so, wie der Wachtmeister sagt. Das jedenfalls bestätigen auch meine eigenen Erfahrungen, dachte sich Schmocker. Aber ging der Polizist aus Thun so vor, wie er sich das vorstellte? Da hatte er noch seine Zweifel. Ein Fall, wie er nun anstand, war ganz und gar nicht üblich für die kleine Garnisonsstadt. Um darüber Gewissheit zu haben, musste er Bärtschi noch ein wenig aus der Reserve locken.

«Schustern wir uns nach dieser Schlachtplatte einen Schlachtplan zusammen. Doch das ist nur möglich, wenn wir systematisch vorgehen.»

«Schon gut, Herr Hauptmann, aber Systematik allein bringt es nicht. Dazu kommt noch Intuition. Ich überlasse Ihnen die Systematik und richte mich danach. Sie akzeptieren meinen Spürsinn. Hand aufs Herz, hätten Sie so viel wie ich aus dem Gygax herausgeholt? Mein sechster Sinn sagte mir, der Mann weiss mehr, als er zunächst preisgegeben hat.»

Das war nicht zu bestreiten. Schmocker nickte verhalten. Er öffnete seine Brieftasche und zog daraus ein kleinformatiges Heft mit schwarzem Wachstucheinband hervor. «Ich habe mir zwischendurch einige Notizen gemacht.» Er überreichte Bärtschi das Notizbüchlein.

Die beiden Opfer waren Dirnen und weitgehend entkleidet.

Der Täter ist ein älterer, körperlich durchtrainierter Mann, vermutlich ein Milizoffizier mit guten Ortskenntnissen.

Den Dienstgrad des Täters kennen wir nicht. Vom Oberleutnant zum Oberst ist alles möglich.

Die Uniform, die er trug, kann er sich geborgt haben. Er hat Zugang zum Armeefahrzeugpark und kann mit Jeeps umgehen, zumindest was das Fahren betrifft.

Er ist offensichtlich nicht damit vertraut, Nummernschilder zu wechseln. Damit können wir ausschliessen, dass er ein Unteroffizier oder ein einfacher Soldat ist …»

Bärtschi las den Text einmal und noch einmal. «Darf ich noch etwas ergänzen?», fragte er und fuhr gleich weiter: «Ferner haben wir eine solide Vorstellung von der Tatwaffe: Eine Ordonnanzpistole. Ich tippe auf die vor einem Jahr bei der Schweizer Armee eingeführte M/49 oder eventuell die Vorgängerversion vom gleichen Kaliber.»

Schmocker streckte den Daumen in die Höhe: «Fazit: Wir müssen herausfinden, wer von den Offizieren im Umfeld des Waffenplatzes Thun freien Zugang zum Armee-Motorfahrzeugpark hat. Von den noch aktiven Offizieren und den bereits ausgemusterten. Das wird eine verdammt mühselige Arbeit. Das ist mein Job. Ich habe bereits damit begonnen.»

«Der nächste Zug geht wieder an mich», fügte Bärtschi an, «über die Opfer und ihr Beziehungsnetz wissen wir noch so gut wie nichts. In diese Richtung kann und soll die Militärjustiz nicht ermitteln. Das ist meine Aufgabe. Ich werde sie nun in Angriff nehmen.»

«Und, wie wollen Sie vorgehen? Warum haben Sie nicht schon damit begonnen?»

«Ich musste zunächst mal den Obduktionsbericht abwarten. Und dieser ist schliesslich erst heute Morgen eingetroffen.»

Schmocker realisierte, wie eine leichte Zornesröte Bärtschis Gesicht überzog. «Tun Sie nicht so beleidigt, mein Freund. Und mit Freund meine ich es ernst. Ich schlage vor, obwohl das zwischen einem Armeeoffizier und einem Polizeiwachtmeister nicht üblich ist: Duzen wir uns. Wir sind gleichwertige Partner. Dazu passt es schlecht, wenn der eine mit Wachtmeister und der andere mit Herr Hauptmann angeredet wird.»

Der Wachtmeister war für einige Sekunden sprachlos. Das war neu für ihn. Noch nie hatte ihm ein Offizier das Du angetragen. Warum nicht, dachte er sich und streckte Schmocker seine Rechte entgegen.

«Freut mich, Max, ich heisse Miggu, geschrieben Michael. Du hast mich überzeugt, ich vertraue dir.»

* * *

Die Pressekonferenz fand wie angekündigt statt. Das Interesse war beträchtlich; die Journalisten der grossen Zeitungen aus sämtlichen Landesteilen waren anwesend.

Bärtschi machte seine Aufgabe raffiniert. Sogar Untersuchungsrichter Schlotterbeck fand lobende Worte für ihn.

«Ich ändere meine Meinung über Sie. Dass Sie die Armee so geschickt aus dieser Sache herausgehalten haben, rechne ich Ihnen hoch an. Wir sind ja alles Patrioten, ob Sozis oder Bürgerliche, das spielt gar keine Rolle.»

Die meisten Zeitungen fanden die Aussagen des Thuner Polizeiwachtmeisters bemerkenswert. Ein fähiger Mann, schrieb man hüben und drüben. Lediglich die Berner «Tagwacht», das Zürcher «Volksrecht» und die anderen Blätter der Linken hinterfragten in ihren Beiträgen die Rolle der Armee kritisch.

Zu Besuch

Tags darauf kurvte Bärtschi mit seinem Motorrad durch die engen Gassen des Thuner Quartiers Dürrenast. Die Strassenschilder waren schlecht lesbar, die Hausnummern gar nicht. Schon seit Jahren ärgerte er sich darüber.

Es war bereits neun Uhr, als er das fand, wonach er suchte. Haus Nummer 35 am Lerchenweg. Baufällig, vier Dreizimmerwohnungen, eine unter dem Dach, mit abgeschrägten Räumen. Vier Briefkästen, drei angeschrieben und auf einem bloss zwei rote Papierherzchen aufgeklebt. Dieser musste zur Wohnung der verstorbenen Irma Rothenbühler gehören.

Als Bärtschi die Tür zum Hauseingang öffnete, verschlug es ihm ob der modrigen Luft beinahe den Atem. Es roch nach Urin, abgestandenem Bier und Sauerkraut. Im Stiegenhaus war es dunkel. Erst nach längerem Suchen fand er den Lichtschalter. Die Treppenstufen knarrten unter seinem schweren Körper bedenklich. Im Dachstock fand er die Wohnungstür mit den zwei Herzchen. Er drückte auf den Klingelknopf, aber der war verklemmt, so musste er an die Tür klopfen. Er tat es fünfmal in Abständen von einer Minute. Nichts regte sich. Mit einem tiefen Seufzer machte er kehrt. Doch als er etwa zehn Stufen hinabgestiegen war, hörte er plötzlich von oben eine heisere Stimme:

«Schatzi, schon so früh, es ist ja erst neun Uhr … dann komm halt, mir soll’s recht sein.»

Bärtschi blieb stehen und drehte sich langsam um. «Kantonspolizei, ich werde Sie nicht anrühren, aber reden muss ich mit Ihnen», rief er ruhig, aber bestimmt.

«Schon wieder?», hörte er die heisere Stimme von oben. Er erreichte in der Zwischenzeit den Wohnungseingang und sah eine verschlafene Frauengestalt mit verstrubbelten Haaren und einem Schlafrock, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren. Der Wachtmeister vermied es, die hängenden Brüste anzustarren, sondern schaute betreten auf den Boden.

«Fräulein, ich bitte Sie, Ihre Kleidung auch oben zuzuknöpfen.»

Die junge Frau kicherte, tat jedoch, was Bärtschi verlangte. «Kommen Sie bitte herein. Ich mache mir einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?»

«Da sage ich nicht Nein. Danke.»

Sie war auf eine barsche Absage gefasst gewesen. «Ich finde es sehr nett, dass Sie von mir ein solches Angebot annehmen. Das bin ich mir von der Polizei gar nicht gewohnt.» Sie lächelte und fand den alten Polizisten plötzlich sympathisch. «Ich heisse übrigens Katrin … Katrin Lustenberger.»

Bärtschi lächelte zurück und fragte sehr freundlich: «Etwas interessiert mich jetzt ganz besonders. Wer von der Polizei hat sie zuletzt besucht, wann war das?»

«Es war vor zwei Wochen. Er hat seinen Namen nicht gesagt. Gefragt hat er das Übliche: wann ich das letzte Mal beim Doktor gewesen sei. Ich musste ihm den Schein, der mir bei jedem Arztbesuch ausgehändigt wird, vorlegen.»

Bärtschi war beruhigt. Er fürchtete bereits, die Stadtpolizei von Thun habe sich in den Mordfall eingemischt, Ähnliches war schon mehrmals geschehen.

«Sie teilten vom April 1949 an diese Wohnung mit der nun verstorbenen Irma Rothenbühler. Seit wann kennen Sie diese Frau?»

«Im Januar 1949 zügelte ich nach Thun und mietete im Gwatt eine Mansarde. Als der Hausbesitzer realisierte, dass ich ab und zu Männerbesuche empfing, zeigte er mich an und warf mich kurzerhand auf die Strasse.»

Bärtschi machte ein ernstes Gesicht, so zwischen bedauernd und belehrend: «Prostitution ist bei uns im Kanton Bern nur geduldet, wir drücken ein Auge zu, solange wir nicht darauf aufmerksam gemacht werden. Unterbinden können wir das ja nicht … Es ist schliesslich das älteste Gewerbe der Menschheit. Aber wir müssen uns an die Gesetze halten. Und immer noch gilt das Konkubinatsverbot.»

Fräulein Lustenberger lachte auf, was Bärtschi nicht daran hinderte weiterzusprechen. «Sie sind nicht verheiratet. Wenn Sie mit einem Mann im Bett erwischt werden, kommt es zu einer Anklage. Da spielt es gar keine Rolle, ob es Ihr Geliebter oder Ihr Freier ist.»

Katrin Lustenberger verzog den Mund: «Machen Sie mir nichts vor, Herr Polizist. Dieses Gesetz gilt für uns leichte Mädchen von Fall zu Fall. Nicht, wenn wir einen feinen Herrn als Freier haben.» Dann schaute sie den Wachtmeister an, ihm fiel auf, dass sie feuchte Augen bekam. «Wenn Sie mich fragen, ob mir diese Tätigkeit gefällt, dann ist die Antwort eindeutig: Sie ekelt mich an, gerne würde ich etwas anderes tun, aber welcher Arbeitgeber stellt schon eine Hure ein? Auch meine Mutter, die gestorben ist, war im horizontalen Gewerbe tätig.»

Bärtschi tat die junge Frau plötzlich leid. Er wusste natürlich sehr wohl Bescheid über das Rotlichtmilieu in Thun und Umgebung.

Der Wachtmeister fühlte sich nicht gut. Es gelang ihm nur unter Schwierigkeiten, seine Gefühle, seinen Zorn und auch seine Scham zu verbergen. Schliesslich war er ein loyaler Diener der Gesellschaft und hatte die Aufgabe, diese vor unmoralischen Personen, wie Katrin Lustenberger zweifellos eine war, zu beschützen.

«Wann haben Sie Fräulein Rothenbühler letztmals gesehen?»

«Am 31. Oktober, etwa um sechzehn Uhr. Wir genehmigten uns noch einen heissen Tee und feine Nussgipfel von der Bäckerei Egli. Irma war guter Dinge.»