Norbert Wickbold

*

Die Wiederkehr der

Morgenlandfahrer

Norbert Wickbold

Die Wiederkehr der

Morgenlandfahrer

Roman

Dank an Irene

und all die Freunde,

die mir geholfen haben

und an die vielen, stillen

Morgenlandfahrer

und an H.H.*

* »Geschichte der Morgenlandfahrt, aufgezeichnet durch H.H.«

siehe: Hermann Hesse, Die Morgenlandfahrt, S. Fischer Verlag, 1932, S. 85

»Nicht die Sonne über uns,

die Sonne in uns, ist es,

die uns regiert.«

*

»Wer steht noch ein?

Wer noch bewahrt?

Das Leid der Erde ist Lächeln

jenem

der um das Urleid,

der um das Ursprüngliche ahnt.

Dies aber trägt der Mensch,

ihm ist gegeben

zu tragen,

was Sterne nicht trugen

noch Engel.

Aber mancher versagt.

Viele.«

Jean Gebser

Inhalt

Bevor es begann

Die Entdeckung

Der Aufbruch

Die große Morgenlandfahrt

Die Wiederkehr der Morgenlandfahrer

Ankunft

BEVOR ES BEGANN

Wenn eine Zeit, eine Ära, eine politische oder kulturelle Epoche zu Ende gegangen ist, so ist es rückblickend schwer zu sagen, wer denn eigentlich mit Fug und Recht von sich behaupten kann, Zeitzeuge gewesen zu sein. Ja selbst die Akteure lassen sich im Nachhinein nur schwer feststellen. Natürlich hat es Namen gegeben, die in aller Munde waren. Nur, wer waren diejenigen, die all die Dinge selbst getan und ermöglicht haben? Wer von denen, die zu dieser Zeit lebten, hat die Zeit wirklich miterlebt und nicht nur sein eigenes, kleines Leben, was zufälligerweise zur gleichen Zeit stattfand. Und heute? Wie viele Dinge geschehen, ohne irgendein eigenes, bewusstes Zutun und werden als vollendete Tatsachen hingenommen. Und wenn wir dadurch in unserem eigenen Leben gestört werden, sagen wir nur, wir tragen keine Verantwortung für das, was geschehen ist und wir hätten gar nichts anderes tun können, als das, was wir eben gerade taten oder ließen.

Dieser Bericht handelt von den neuen Morgenlandfahrern, die für die Menschen ihrer Zeit sehr große Veränderungen bewirkten und dennoch für ihre Zeitgenossen weitgehend unbekannt blieben. Die neuen Morgenlandfahrer sahen sich in einer langen Tradition von Menschen, die es wagten einzig auf ihre Träume zu vertrauen und ihnen zu folgen. Von den meisten Menschen wurden sie nicht verstanden, und so trafen sie sich meist an abgelegenen Orten. Wer zu ihnen wollte, musste sie in oft beschwerlicher Suche ausfindig machen. Immer wieder gab es Zeiten, in denen sie als verschollen galten. Seit dem letzten verzweifelten Suchen der Morgenlandfahrer durch H.H. waren mehr als 80 Jahre vergangen. Und den wenigen, die H.H.s Bericht kannten, galt er als verklärtes Bild eines romantischen Träumers, der sich vor der rauhen Wirklichkeit des modernen Lebens am liebsten in vergangene Zeiten geflüchtet hätte. Lange schon war über die abendländische Welt eine gigantische Flut von Dutzendwaren eingestürmt, wie sie sich H.H. niemals hätte vorstellen können.

Kaum jemand betete noch zu Gott, stattdessen wurden die Stars des Fernsehens angebetet. So waren die Andachtsecken zu Fernsehzimmern geworden. Statt der Kirchen und Kathedralen baute man immer größere Einkaufsparadiese. Jeder konnte zwar durch die Türme von Waren lustwandeln, doch es gab immer mehr Menschen, die sich immer weniger davon leisten konnten. So sehnten sie sich danach, viel Geld zu haben, um alles kaufen zu können, was ihnen das Einkaufsparadies zum Seligmachen versprach. Überall gab es Lotterien, denn an jeder Ecke konnte das große Los auf einen warten. Und es gab jede Menge Ratespiele, bei denen die Gewinner mit großen Geldsummen nach Hause gingen. Hier wurde man befragt nach belanglosen Dingen. Man sprach dem Unbedeutenden große Bedeutung zu und bemühte sich, selbst keine Fragen mehr zu stellen. Die Frage, von wem der Ausspruch stamme: ”Ich bin der Weg und das Leben!”, wurde in keinem Quiz gestellt. Doch überall versprachen die Banken, mit ihrem Geld jeden Weg frei zu machen. Der Glaube an das Geld war so groß, dass er zur Religion erhoben wurde. Alle Glaubensbrüder und Glaubensschwestern trugen das gleiche Geld in ihren Taschen. Das Geld sollte die ganze (abendländische) Welt vereinigen. Wie sich die Menschen durch das gleiche Geld kennzeichneten, so markierten sie alles, was man kaufen konnte mit einem Zeichen. Alle Waren wurden mit verschiedenen Strichen markiert. Doch drei dieser Striche waren immer gleich. Sie symbolisierten die Zahlenfolge: 666. Dieses Zeichen wurde benötigt für das große Netzwerk, das innerhalb kurzer Zeit die ganze Erde umspannte.

Wenn auch vieles von dem im Folgenden Beschriebenen der heutigen Wirklichkeit zu entsprechen scheint, so handelt es sich bei diesem Bericht lediglich um einen Roman. Alles ist reine Erfindung. Denn die Wirklichkeit besteht aus einer Vielzahl von Romanen, die von vielen Menschen erfunden werden – allesamt mit ungewissem Ausgang. Und wenn viele Menschen einen Roman für wahr halten, dann schaffen sie auf diese Weise eine neue Wirklichkeit.

Einen Roman zu schreiben ist mindestens genauso spannend, wie einen Roman zu lesen. Als Leser muss ich weiterlesen, um zu erfahren, was auf den nächsten Seiten passiert. Als Schreiber muss ich selbst weiterschreiben, weil ich schließlich als Erster erfahren will, wie die Geschichte weitergeht. So entstand im Laufe der Zeit dieser Roman.

Er entstand in eben der Zeit, die es dauerte, dem Schreiber die neuen Seiten zufliegen zu lassen. Oft habe ich erst im Schreiben gemerkt, was als nächstes kommt, welchen Lauf die Geschichte nimmt. Das ist durchaus sehr spannend. Vor allem auch deshalb, weil wir – Sie als Leser und ich als Schreiber – auf diese Art erfahren können, wie wichtig und entscheidend es ist, selbst Verantwortung zu tragen für die Geschehnisse, in denen wir schließlich nicht unverschuldet verwickelt sind. Aber zurück zu der Frage nach den Zeitzeugen. In diesen Aufzeichnungen ist der Schreiber selbst Zeitzeuge – und mit ihm – sind Sie, bist du es, lieber Leser. In welcher Zeit spielt nun die Geschichte? Es ist eine Nacherzählung von Geschehnissen, von denen man annehmen könnte, dass sie vielleicht erst in der Zukunft stattfinden könnten. Dies zu schließen, wäre eine große Selbsttäuschung. Könnte der Leser sich dadurch in dem Glauben wiegen, bei der Vision, die hier zum Ausdruck kommt, handele es sich lediglich um eine Hypothese oder Fiktion für eine mögliche oder unmögliche Zukunft. Auf jeden Fall hat die Gegenwart, in der wir leben das Potenzial für eine derartige Zukunft. Es gibt im ganzen Roman keinerlei Angaben zu Zeit, Ort oder zu Personen. Die Handlung ist somit jederzeit möglich und auch an jedem Ort und mit jeder Person. Sie findet jetzt statt. Im Lesen und im Leben. Zunächst im Verborgenen. Sie ist Gegenwart, keine mögliche Wirklichkeit sondern eine reale. Keine nur zukünftige Chance, sondern eine durchaus gegenwärtige. Keine fremden Heroen, die gegen Fratzen kämpfen, sondern jetzt lebende Menschen, die die Zeit, in der sie leben, nicht nur beobachten und bezeugen, sondern ihr selbst ein Gesicht zu geben wagen.

So sind wir mitten im Leben und mitten in unserem Roman. Während eine kleine Minderheit für ihre großen Taten als Helden gefeiert wurde und sich dafür selbst als die »Geehrtesten« bezeichnete, gab es die vielen, als unbedeutend angesehenen Kleinen, die in endlos mühevollen kleinen Schritten eben jene großen Taten vollführten, wofür die Großen eine Menge Ruhm und Reichtum einsammelten. Magnus gehörte zu den Kleinen. Magnus hatte lange Zeit nur seine gering geschätzte Arbeit getan. Viele Jahre hatte er alles um sich herum nur beobachtet. Er hatte durchaus gemerkt, wie sich die Welt um ihn herum veränderte. Und es war ihm durchaus klar, dass all die vielen Veränderungen nicht einfach irgendwie geschehen und dabei über die

Menschen gekommen waren, wie etwa ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter oder ein glücklich verbrachter Sonnentag. Während andere die Dinge und die Ereignisse offenbar für ganz selbstverständlich hielten und das Leben lebten, dass man ihnen bot, entzog er sich dem allzu großen Trubel. Er suchte nach Wahrheiten jenseits der kurzlebigen Trends. Er wollte vieles verändern und wusste doch nicht wie, denn er fühlte sich gefangen in seiner eigenen Vergangenheit. Dadurch wurde er allmählich zu einem Sonderling. Die Jahre vergingen und mit jedem Tag versank er tiefer in die sinnentleerte Monotonie des Alltags. Magnus merkte immer deutlicher, dass er sich mehr und mehr ins Abseits manövriert hatte. Innerlich machte er zwar nicht mit, aber äußerlich funktionierte er brav. Doch nur solange, bis das Leben ihn ein zweites Mal herausforderte. Und so begann der Roman seines Lebens.

DIE ENTDECKUNG

agnus trat auf die Bremse. ”Nicht bremsen!”, sagte er sich. Zum Glück hatte er den Wagen unter Kontrolle behalten. Bei dem Schnee war es gefährlich, so abrupt zu bremsen.

Solch ein Schneegestöber hatte er noch nie erlebt. Er hatte etwas Seltsames gesehen. Gleich war es wieder im Schneetreiben untergetaucht. Dicke Schneeflocken fielen langsam herunter. Im nächsten Augenblick wirbelte alles wild durch die Luft, sodass Magnus kaum ein paar Meter weit sehen konnte. Ein eiskalter Wind peitschte heulend den Schnee in Böen über die Straße und vor die Windschutzscheibe. Dann war es wieder für eine kurze Zeit fast klar und Magnus versuchte sich schnell zu orientieren, wie weit er gekommen war. In einem klaren Moment hatte er etwas gesehen. Nur kurz. Etwas, was er nicht verstand. Beim nächsten Mal, wenn er wieder weiter sehen könnte, wollte er versuchen, genauer hinzusehen, um zu erkennen, was es war. Gespannt blickte er in den wirbelnden Schnee. Er musste aufpassen, dass ihm nicht schwindlig würde. Immer wieder musste er seine angestrengten Augen ausruhen, indem er auf das Armaturenbrett oder auf den Tacho schaute. 22km/h, 18km/h, 25km/h, 16km/h. Nein, schnell konnte er nicht fahren. Und um zu sehen, was das eben gewesen war, fuhr er noch langsamer als nötig. Jetzt! Da war es wieder… Verdammt! Schon wieder weg. Er suchte weiter und war bestimmt schon 20 Minuten gefahren, doch nicht die Spur von diesem – was immer es auch sei – tauchte wieder auf.

Wahrscheinlich, dachte Magnus, habe ich mir in diesem unheimlichen Schneesturm das ganze nur eingebildet. Da kann ja jeder Baum zum Gespenst werden. Magnus war ganz allein unterwegs. Schon seit einer halben Stunde kein anderes Auto. Niemand, dem er hätte ausweichen müssen, keiner, der hinter ihm drängelte. Natürlich wollte er endlich nach Hause kommen, und so gab er wieder mehr Gas. Es ging jetzt durch ein kleines Waldstück. Nur von den Bäumen rieselte es. Da kam er gut voran. Dann, seitlich ein Hügel, völlig baumlos, kein Haus, kein Mast – nichts. Doch! Da war es wieder! Was heißt es – sie! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, a… nein sieben. Sieben! Sieben Gestalten. Warum waren sie so hoch? Waren sie Reiter? Nein das waren keine Pferde. Einen derartig schaukelnden Gang hatten Pferde nicht. Jetzt hörte er ein unheimliches Brüllen. Das kam von den Tieren. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien und die Sicht wurde besser. Magnus hatte angehalten und sah die sieben schwankenden Gestalten näher kommen. Jetzt konnte er auch erkennen, auf welchen Tieren die Sieben saßen: Es waren Kamele.

Ja, sie ritten auf Kamelen durch den Schnee! Jedes Kamel war schwer bepackt mit bunten Sachen, und die Reiter trugen farbenfrohe Gewänder. Es sah aus, wie in einer Wüste: Eine Karawane zog vorbei! Nur, der sanfte Hügel über den diese Karawane zog war kein gelber, heißer Wüstensand, sondern weißer, kalter Schnee. Bis jetzt glaubte Magnus, diese seltsamen Gesellen würden einfach weiter ziehen und ihn gar nicht beachten. Er wollte weiterfahren und sehen, dass er nach Hause käme. Jetzt hatte er ja gesehen, was es war. Ein paar Verrückte, die auf Kamelen durch den Schnee stapften. Am Besten er erzählte niemanden etwas davon. Sonst hielten die ihn auch noch für verrückt. Aber er konnte nicht weiterfahren. Die Gruppe hatte angehalten. Und zwar genau da, wo die Straße sein musste. Vorbeifahren war bei dem Schnee unmöglich. Sollte er einfach warten, bis sie weiter ziehen würden? Ein anderes Auto könnte kommen und die Gruppe durch lautes Hupen aufscheuchen. Aber es kam keines. Sollte er selbst hupen?

Er hupte nicht. Hätte er gehupt, wäre er wahrscheinlich selbst am meisten über das laute Geräusch erschrocken. Es kam ihm vor, als befände er sich inmitten eines Traumes, aus dem er nicht vorzeitig durch irgendeinen Krach herausgerissen werden wollte. Er wollte sehen, wie die Geschichte weiterginge. So wurde es möglich, dass diese Geschichte zu seiner Geschichte wurde. Er beschloss zu warten und die Männer zu beobachten. Die Leute von der Karawane waren von ihren Kamelen abgestiegen und schienen nun zu beratschlagen, wie ihre Reise weiter gehen sollte. Sie redeten laut, ja es kam ihm vor, als würden sie sich anschreien. Waren sie im Streit? Das Getöse der Lüftung übertönte alles, dadurch konnte Magnus nicht ein einziges Wort verstehen. Wenn er überhaupt etwas verstehen könnte. Wer konnte wissen, in welcher Sprache die redeten? Magnus stellte die Lüftung ab und horchte auf die Stimmen. Welche Sprache war das? Nein Arabisch sprachen sie nicht. Magnus lauschte weiter. ”Italienisch”, rief er zu sich selbst. ”Ja, das könnte Italienisch sein. Ja. Italienisch!” Der, der antwortete, sprach aber nicht Italienisch. Das klang wie – kein Zweifel – wie Holländisch! Also ein Italiener und ein Holländer. Und die anderen? Eine neue Stimme erklang. Wieder eine andere Sprache. Spanisch? Nein. Portugiesisch. Dann redeten alle durcheinander. Magnus dachte an die Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel. Und was jetzt kam, kannte er nicht. Vielleicht war es Dänisch? Es gab auch einen Franzosen und ein Spanier war auch dabei. Sechs Sprachen hatte Magnus herausgehört. Dann wurde es wieder still. Keine Stimmen, nichts. Nur ein seltsames Knirschen. Es kam näher! Es klopfte an seiner Scheibe. Magnus erschrak. ”Nur keine Angst anmerken lassen”. Der siebte Reiter stand jetzt unmittelbar neben seinem Wagen und klopfte gegen die Scheibe. Magnus kurbelte das Seitenfenster herunter und blickte den Fremden fragend an.

„Where is the sun?“,war die Frage, die ihm in gutem Englisch gestellt wurde. Unwillkürlich schaute Magnus hinaus auf die Straße und in die Landschaft. Natürlich. Überall lag Schnee. Der Himmel war kaum zu erkennen, geschweige denn die Sonne. Das sind doch seltsame Kerle, dachte Magnus. Noch während er nach Worten für seine Antwort in englischer Sprache suchte, unterbrach ihn der Fremde und sagte langsam und mit einer freundlichen Stimme:

„You can answer in german, I will understand!“

„Hab’ schon seit zwölf Tagen keine Sonne mehr gesehen! Bei dem ewigen Schnee und Nebel lässt sich die Sonne hier nicht blicken“, gab Magnus zur Antwort.

„Sorry, I mean the sun in your heart. Where is YOUR sun?“

Diese Frage verblüffte Magnus vollständig. Schlagartig wurde ihm wieder bewusst, wie leer und mutlos er sich seit langem fühlte. Und indem dieses Gefühl in ihm aufstieg, wurde ihm immer deutlicher, wie lange es schon Macht über ihn ergriffen hatte. Die Sonne in mir, ja – wo ist sie geblieben?

„When has disappeared your sun?“,

fragte der Fremde mit einer energischen Stimme.

„Wann verlorst du deine Sonne, dein inneres Licht?“klang es ihm in den Ohren. Magnus konnte nicht besonders gut Englisch, doch nun war es ihm, als würde der Mann an seinem Wagen wie ein guter Freund deutsch mit ihm sprechen, und dennoch hörte er deutlich die englischen Worte.

„Ja, meine Sonne, …hab’ ich denn überhaupt je eine Sonne gehabt, hab’ ich denn jemals anderen leuchten können? Ich bin nur ein Licht, das nichts erhellt und das mein eigenes Inneres nur verdunkelt. Bin ein Geist, der Großes will, doch nichts von dem tut, leb’ mein Leben seit langem schon ohne Mut. So geht die Zeit vorbei – ach, es ist doch einerlei!“ Erschrocken und in Wut geraten fuhr er patzig hoch:

„Was fragen Sie mich hier eigentlich aus? Wer sind sie überhaupt? Sind Sie vom Narrenverein und proben ihre Narrenstreiche? Und ich muss Ihnen gerade über den Weg laufen!“

„Es kommt darauf an, wie Sie es sehen, wenn Sie so wollen sind wir ein Narrenverein. Wie Sie, haben auch wir irgendwann gemerkt, dass der Sinn aus unserem Leben abhanden gekommen war. Wir wollten uns nicht damit abfinden und so haben wir uns auf den Weg gemacht: Auf die Suche nach unserer Morgensonne. Auf die Suche nach der Sonne, die einst den Morgen unseres Lebens beschienen hatte und hier im Abendland für uns, wie für so viele Menschen, untergegangen war. Im Allgemeinen hält man uns für Narren, weil wir immer noch an die Sonne in unserem Herzen glauben. Für viele Menschen ist sie längst untergegangen. Sie halten sich für vernünftig, weil sie die Träume ihrer Kindheit und ihrer Jugend, ihre Ideale mit denen sie ihr Leben so voller Energie angetreten hatten, zu Grabe getragen haben.“

Magnus ergänzte: „Ja, all die großen Ideale haben sie begraben! Wir waren auf die Straßen gegangen, hatten demonstriert für mehr Menschlichkeit und mehr Demokratie, hatten gekämpft für Abrüstung, für den Schutz der Tiere, der Bäume und der ganzen Natur. Wir wollten unsere Kinder zu aufrechten Menschen erziehen, wollten eintreten für eine Gesellschaft, in der auch Minderheiten in Frieden und Freiheit leben können. Wir hatten uns geschworen, aufzustehen, wenn irgendwo Unrecht geschieht. Und jetzt? – Wo sind sie alle geblieben? Wo? – Wo sind sie? – Im bequemen Fernsehsessel! Jetzt schauen sie zu. Ja sie schauen zu, wenn ihr Nachbar zusammengeschlagen wird, weil er Ausländer ist. Sie schauen zu, wenn den Ärmsten die Unterstützung gekürzt wird, damit den Geehrtesten ein noch größerer Luxus gesichert werden kann. Oder wenn in aller Welt Krieg und Hunger gefördert und bei uns die erschöpften Flüchtlinge, die nicht schon im Meer ertranken, abgeschoben und so dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Sie schauen zu, wenn die, die sich so sehr um den Schutz des ungeborenen Lebens sorgen, Abtreibungen erzwingen, weil das Ungeborene behindert sein könnte. Selbst wenn die Geehrtesten ganz offen zu Angriffskriegen gegen die Länder, die sich ihrem rücksichtslosen Machtstreben widersetzen aufrufen, schauen sie zu. All diese himmelschreiende Ungerechtigkeit ruft heute niemanden mehr aus seinem weich gepolsterten Fernsehsessel hoch! Und wenn wirklich mal jemand die Courage aufbringt, für Ideale der Menschlichkeit einzustehen, wird er ganz schnell abserviert, und – alle schauen zu!“

Magnus erschrak, weil er sich so sehr ereifert hatte. Was musste dieser Mann da draußen von ihm denken? Der stand immer noch an seiner Wagentür und blickte ihn freundlich an. Wie sehr fühlte er sich mit diesem Unbekannten verbunden, der mit seinem Kamel durch den Schnee zu ihm gekommen war, dessen Englisch er besser verstand als das Deutsch mancher Freunde. Auf seinen Wutausbruch eben hatte er gelassen reagiert. Keine Spur von Verbitterung oder Mutlosigkeit war im Gesicht des Fremden zu sehen. Ja, es ging sogar, obwohl er im tiefen Schnee stand, eine angenehme Wärme von ihm aus. Eigentlich, dachte Magnus, ist es doch unhöflich, diesen Mann da draußen in der Kälte stehen zu lassen.

„Ich muss gestehen,“ richtete er das Wort wieder an den Unbekannten, „dass Sie mir aus der Seele gesprochen haben. Ich würde mich gerne weiter mit Ihnen unterhalten. Es gibt hier ein gemütliches Lokal, da sitzt man gut und es ist wärmer als hier. Was halten Sie davon?“

„Es ist freundlich von ihnen, aber ich kann meine Freunde, die Sie sicher schon gesehen haben, nicht alleine lassen. Wir werden bald weiter ziehen, um ein geeignetes Nachtquartier zu finden. Es macht mir nichts aus hier zu stehen.“

„Wollen Sie nicht wenigstens einsteigen?“

„Sie brauchen sich wirklich nicht um mich zu bemühen. Im Übrigen sollten Sie sich nicht so sehr um andere sorgen. Schließlich muss doch jeder für sich selbst entscheiden, was für ihn gut und recht ist.“

„Ich wollte es Ihnen ja nur etwas angenehmer machen, als da draußen in der Kälte…“

„Ja genau das meine ich. Wissen Sie, was Ihre Freunde an Ihrer Stelle jetzt zu mir gesagt hätten?“

„Das Gleiche.“

„Und Ihre alten Freunde von damals…?“

„Wahrscheinlich auch das Gleiche!“

„Interessant! – Finden Sie nicht?“

„Warum?“

„Wenn Ihre alten Freunde genauso handeln, wie Sie, warum beschweren Sie sich dann über sie?“

„Das ist doch etwas ganz anderes!“

„Ihre alten Freunde schauen also nicht nur zu?“

„Herrje, ich weiß doch gar nicht, was meine früheren Freunde heute überhaupt machen.“

„Merken Sie jetzt, was ich meine? Sie haben gerade so großzügig entschieden, dass es für mich das Beste wäre, mit Ihnen in Ihr Lieblingslokal zu gehen…“

„Nun ja, mein Lieblingslokal ist das nicht unbedingt…“

„Und Ihre alten Freunde sollen für die hohen Ideale einstehen, an die Sie selbst längst nicht mehr glauben? Was andere tun sollten wissen Sie ganz genau. Übrigens habe ich die schon kennen gelernt – Ihre alten Freunde. Und ich kann Ihnen sagen, Sie haben bei weitem mehr Freunde, als Sie denken. Die sind allesamt genauso enttäuscht wie Sie. Niemand versteht es, warum die anderen die alten Ideale nicht mehr kennen. Und ich sehe, auch Sie haben ihre alten Ziele längst aus den Augen verloren. Waren Sie nicht Bundesbrüder, Bundesgenossen?“

Magnus vernahm ein Geräusch wie ein Nebelhorn. Es wurde lauter und durchdringender. Jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass er sich in seinem Auto und damit auf einer Straße befand. Aber es war keine Autohupe. Der Fremde wurde nun unruhig und richtete wieder das Wort an Magnus:

„Das ist das Zeichen zum Aufbruch! Wir ziehen weiter, ich muss nun gehen. Ich hab’ mich gerne mit Ihnen unterhalten. See you later…“

Der Fremde wandte sich um und stapfte zu seinen Freunden. Magnus schaute eine Weile entgeistert dem sich schnell entfernenden Mann nach. Wie aus einem Traum erwacht, rief er ihm hinterher:

„Hey, Sie, ich wollte doch noch weiter mit Ihnen reden. Wir waren doch noch gar nicht fertig. Halt, wohin gehen Sie denn?“

„Das weiß ich doch selbst noch nicht, aber wenn Sie mich suchen, werden Sie mich schon finden!“

„Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen. Wie heißen Sie denn eigentlich, …hey, wie heißen Sie… warten Sie doch!“

Der Unbekannte war auf sein Kamel gestiegen und ritt mit den anderen in den dunklen Wald. Der Erste hatte eine Lampe, die ein flackerndes Licht warf. Magnus überlegte, ob er ihnen folgen sollte. Doch mit dem Auto konnte er nicht in den Wald fahren, und zu Fuß würde er nicht schnell genug hinterher kommen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem schnell schwächer werdenden Licht nachzuschauen. Ein letztes Flackern – weg. Jetzt war es stockdunkel. Magnus hatte nicht bemerkt, wie die Sonne untergegangen war, während er mit dem seltsamen Fremden gesprochen hatte. Nun war er wieder ganz allein in diesem Waldstück. Magnus schaltete das Licht seines Autos ein. Der Mann war als Unbekannter erschienen, und als Unbekannter war er nun wieder verschwunden. Eine Weile saß Magnus noch da und hing in Gedanken dieser Begegnung nach. Dann wurde ihm kalt. Er schaltete die Heizung ein, startete den Motor und fuhr los. Auch jetzt kam er nicht schneller vorwärts und so dauerte es noch einige Zeit, bis er die Hauptstraße erreichte. Hier war der Schnee inzwischen geräumt worden und der Verkehr floss fast so wie immer. Jetzt war es nicht mehr weit, bis er zuhause ankommen würde. Aber Magnus fuhr auch hier noch langsamer als sonst. Einige Autos überholten ihn, manchmal hupte ein Ungeduldiger. Das nahm er kaum wahr.

Da ist die Tankstelle, jetzt kommt die Wäschefabrik. Vorbei an dem langen, dunklen Werksgelände, dann kommt die alte Villa mit der zerbröckelten Fassade, die Magnus immer an ein verwunschenes Schloss erinnerte. Auf dem Dach war ein überdimensionierter Stern angebracht. Dann kam der kleine Park mit dem Kriegerdenkmal. Jetzt noch die Reihenhäuser und dann die nächste rechts ab. Beinahe hätte er es laut gesagt:

„Die nächste rechts!“, als würde er in einem Taxi fahren.

„So, jetzt noch die Straße bis fast ans Ende und das vorletzte Haus auf der linken Seite, da wohne ich.“ Magnus führte in Gedanken das Gespräch mit dem Fremden weiter, als erklärte er ihm seinen Heimweg. Bei der Einfahrt in die Tiefgarage überlegte er sich, wo das Kamel die Nacht verbringen könnte. „Verrückt, dass ich mir solche Gedanken mache.“ Fast schlafwandlerisch stieg er aus dem Wagen, tappte durch die Tiefgarage zur Ausgangstür, die laut krachend zuschlug und stieg die Treppe hinauf zu seiner Wohnung.

„Es ist ganz oben unterm Dach. Ich liebe Dachwohnungen, da hat man niemanden über sich,“ sagte er während er die Wohnung aufschloss. Endlich war er angekommen.

„Fühlen Sie sich ganz wie zuhause. Da ist die Küche, Sie können sich ruhig bedienen. Nur keine falsche Bescheidenheit. Sie werden Hunger haben.“

Magnus aß nichts. Er ging noch kurz ins Bad, zog sich aus und fiel erschöpft in sein Bett. Zum Glück hatte er am nächsten Tag frei. Er schlief bald entspannt ein.

Mitten in der Nacht hörte er das Gebrüll der Kamele. Sofort wachte er auf und lief hinaus, konnte aber nichts sehen. Keine Kamele, keine fremden Männer. Dann stand er plötzlich am Meer und sah die Wogen heranrollen. Jetzt war er ganz selbstverständlich ein kleiner Junge und schaute fasziniert auf das weite Wasser und dann hinauf zum Sternenhimmel. Da war ein Stern, der alle anderen überstrahlte. Der schien sogar größer zu werden. Auf einmal bekam er fünf Arme wie ein Weihnachtsstern. Und noch einen Arm und noch einen. Ah – Magnus erschrak, denn der Stern fiel vom Himmel! „Da, er fällt ins Meer!“, rief der Junge voller Aufregung. Hastig rannte er zu der Stelle, an der er den Stern hat niederstürzen sehen. Das Meer war hier ganz flach und ruhig. Der Stern sank ganz langsam auf den Grund. Sein Licht schimmerte bis an die Wasseroberfläche. Dann begann er die Arme zu bewegen und schwamm an die Oberfläche, er war zu einem Seestern geworden. Gleich kam eine Woge, die den Seestern dem kleinen Jungen direkt vor die Füße spülte. Der Junge setzte sich in den Sand und baute ein Schloss. Und in die Turmspitze steckte er den Seestern damit er das Schloss erleuchte. Aber der Stern bewegte sich. Das Meer rauschte heran und riss das Schloss ein. Schnell ergriff der Junge den Stern und rannte so schnell er konnte nach Hause…

m nächsten Tag fuhr Magnus wieder die gleiche kleine Straße entlang. Es schneite nicht und der viele Schnee vom Tag zuvor war schon fast wieder verschwunden. Es ging jetzt bedeutend schneller vorwärts. Doch dann, kurz hinter der ersten Kurve musste er stoppen. Ein großer Baum war genau in der Mitte durchgebrochen und die eine Hälfte blockierte nun die Fahrbahn. Offenbar war er gestern unter der Last des Schnees zerborsten. Es gibt doch seltsame Zufälle, dachte Magnus. Dieser Baum musste kurz nachdem er daran vorbei gefahren war herunter gekracht sein. Nachfolgende Autofahrer hatten umkehren und einen anderen Weg nehmen müssen. Vielleicht war die Straße sogar noch abgesperrt worden, während Magnus den sieben Männern mit ihren Kamelen begegnet war. So war die Sache ein Geheimnis geblieben und hatte sich nur ihm offenbart. Das stimmte ihn fröhlich und er schaltete das Radio ein. „Where is the sun?“, lautete der Refrain des Liedes, das ihm entgegenschallte.

„Waren Sie nicht auch Bundesbrüder?“, hatte ihn der Fremde gefragt, bevor er verschwunden war. Bundesbrüder, ja das waren sie einmal, oder sie hatten es jedenfalls geglaubt. Ja, der Glaube, das sie gemeinsam die Welt menschlicher machen könnten, hatte sie verbunden. Der „Bundt“ hatte er geheißen, extra mit „dt“, weil die Bundesgenossen stolz auf die bunte Mischung waren. Ganz gleich, ob jung oder alt, ob schwarz oder weiß, Christ oder Moslem, Mann oder Frau, Arbeiter oder Unternehmer – alle waren sie im Bundt. Der Bundt war eine Bewegung. Man trug stolz die Plakette mit der leuchtenden Sonne. Jeder konnte Mitglied werden. Jedoch musste man nicht Mitglied werden, um mitmachen zu können. Man kaufte sich einfach eine Plakette und ging zu den Veranstaltungen vom Bundt und schon war man dabei. Immer mehr Menschen wollten dabei sein. Zuerst waren wir begeistert darüber, dass unsere Bewegung so viel Zulauf hatte. Viel zu spät merkten wir, dass sich das Ganze verselbständigt hatte. Wer stand denn wirklich noch hinter unseren Zielen und Idealen? Die Veranstaltungen vom Bundt wurden zu Partys und Jahrmärkten. Immer häufiger kam es zu Zwischenfällen oder Prügeleien. Es wurden Fenster eingeschlagen, Autos angezündet und sogar Geschäfte geplündert. So dauerte es nicht lange, bis die ganze Bewegung verboten wurde. Einige Gründungsmitglieder wurden sogar verhaftet. Man klagte sie an und verurteilt sie schließlich wegen Anstiftung zu Gewalt, Sachbeschädigung und Aufwiegelung gegen die Staatsgewalt. Magnus selbst war bis zur letzten Veranstaltung vom Bundt dabei gewesen. Längst kämpfte man nicht mehr für eine gute Sache, sondern gegen Organisationen oder öffentliche Personen, die man als Feinde ansah. So kam es zur letzten Demonstration. Man versammelte sich vor dem Werksgelände eines großen Konzerns, dessen Firmenpolitik für Hunger und Unterdrückung in den armen Ländern verantwortlich gemacht wurde. Zuerst lief alles ruhig. Dann holten ein paar Teilnehmer eine Fahne mit dem Firmenemblem herunter und steckten sie an. Das wurde von Mitarbeitern des Konzerns bemerkt, die dann versuchten, sie daran zu hindern. Als die Fahne dann doch in Flammen aufging, kam es zum Handgemenge. Mitarbeiter der Werkspolizei griffen ein und plötzlich fiel ein Schuss! Der getroffene Mitarbeiter war sofort tot. Das war das Ende vom Bundt. Erschüttert lief Magnus davon. Seitdem hatte er keinen seiner einstigen „Bundesgenossen“ wieder gesehen. Sie waren alle verschwunden – genau wie er selbst.

Wie lange war das jetzt her, waren es zwanzig Jahre? Und inzwischen war es sogar wieder in Mode gekommen Bundt-Partys zu veranstalten, wie damals zu feiern und die alten Musiker und deren Hits zu hören und sich genauso zu kleiden. Nur die alten Ideale und Ziele, die kamen nicht wieder in Mode, die waren längst vergessen. Sprach jemand tatsächlich davon, dann nur um sich lustig darüber zu machen, wie verrückt und naiv ein paar von diesen Bundt-Mitgliedern gewesen sind. Für Magnus war damals das Erlebnis mit dem Toten ein tiefer Schock gewesen. Er hatte sich zurückgezogen und alle Kontakte abgebrochen. Nur wenn es unbedingt notwendig war ging er unter Menschen. Bald hatte er keine Freunde mehr. Er wollte nichts mehr wissen, von Idealen, vom kämpfen für Menschenrechte, für Frieden oder für soziale Einrichtungen und hatte sich von alledem verabschiedet. Und somit vermisste ihn keiner und niemand wartete auf ihn.

Magnus stieg aus und betrachtete den zerbrochenen Baum. „Die Bäume“, sagte er sich, „tragen ihr Schicksal mit Würde.“ An ihrem Platz, an den sie durch die Natur gestellt wurden, harren sie aus. Wind und Regen, Kälte und Schnee, Hitze und Trockenheit formen die Bäume zwar, aber sie halten alle dem zum Trotz stand. Sie halten stand, bis die Naturgewalten stärker sind als sie. Wie bei diesem Baum, der niedergestreckt vor ihm auf der Straße lag. Aber selbst dann bringen sie noch mit letzter Kraft im Frühjahr neue Triebe hervor. Vielleicht wird der Baum nur zur Seite geräumt, wie das ja inzwischen oft geschieht. Wie einem Freund versprach Magnus ihm im Frühling wiederzukommen und nachzuschauen, ob er dann Blätter treibt.

Und er selbst? Magnus, der Kämpfer für die Menschlichkeit, war vor dem ersten großen Sturm gewichen. Seit Jahren hatte er sich in seinen ”Turm” zurückgezogen und seinen Jugendträumen den Rücken gekehrt. Die Dachwohnung war eine eigene Welt. Eine Welt aus Bildern und Skulpturen. Wann immer es ihm seine Berufstätigkeit zuließ, arbeitete er an seinen Bildern oder Skulpturen. In all den Jahren waren viele davon entstanden. Jedes einzelne Kunstwerk dieses eigensinnigen Grüblers symbolisierte eine bestimmte Phase seines Lebens. Doch außer ihm hatte noch keine Menschenseele etwas von diesen Bildern und Skulpturen zu Gesicht bekommen. Seine ersten Schöpfungen hatte er noch den gelegentlich vorbeikommenden gezeigt. Aber jetzt kommt schon lang niemand mehr. Das störte ihn nicht. Er war sogar froh darüber, dass er ganz für sich allein sein konnte.

Doch irgendwie fühlte Magnus sich schon seit einiger Zeit nicht mehr wohl in seiner Einsamkeit. Ja, er hatte in seinen Gedanken schon Besuch bei sich empfangen. Er hatte sogar schon angefangen, sich für einen Gast einzurichten und gewöhnte sich daran, mehr zum Essen einzukaufen. Manchmal, wenn er sich sehr einsam fühlte, deckte er den Tisch für zwei Personen und dann führte er, wie gestern nachdem er den Fremden getroffen hatte, Gespräche mit seinem Gast. So müsste doch endlich wieder jemand zu ihm in den Turm kommen. Der Fremde aus dem Wald, der hatte ihn doch verstanden, der hatte gewusst, was ihn bewegte. Aber warum war er so plötzlich verschwunden?

„Wenn Sie mich suchen, werden Sie mich schon finden“, klang es Magnus noch in den Ohren. Nur, wie sollte er ihn suchen? Wo sollte er anfangen? Der Schnee war fast geschmolzen und so gab es keine Spuren mehr. Sollte er denn jetzt losgehen und jeden fragen: „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht sieben Männer mit Kamelen gesehen?“ Und den Namen des Fremden wusste er ja auch nicht. Magnus streifte noch eine Weile durch den Wald. Dabei kam ihm eine Idee. Wenn er die Kamele brüllen hören würde, dann könnte er sie bestimmt erkennen. Dieses Geräusch hatte sich unvergesslich in ihn festgesetzt. In ein Hotel konnten sie sicher nicht gegangen sein oder sie hatten ihre Kamele irgendwo anders untergestellt. Selbst wenn Magnus also die Kamele aufspüren würde, hätte er damit noch keine Gewissheit, dort auch die fremden Reiter wieder zu treffen. Aber er hätte wenigstens einen Fingerzeig um von dort weiter suchen zu können.

Dann verließ Magnus den Wald und sah vor sich einen Feldweg liegen. Er konnte weit über die kahlen Felder sehen. Hier und da gab es eine Bebauung oder ein paar Bäume. Große, schwarze Krähen kamen von irgendwoher angeflogen. Sie sammelten sich in einem einsam auf dem Feld stehenden, kahlen Baum. Unentwegt flogen einige von ihnen auf und setzten sich dann mit viel Geschrei auf einen anderen Ast. Das klagende Kra-Kra der Krähen klang durch die kahle Weite. War es eine Weile still, so stob im nächsten Augenblick erneut eine Gruppe auf und das Spektakel wiederholte sich um so lauter. Diese schwarzen Vögel, die oft als Todssymbole angesehen worden waren, hier bildeten sie das Leben in einer winterlich, toten Landschaft.

Von weit her trug ihm der Wind ein anderes Geräusch zu. Es war ein… ja, es war ein Brüllen! Doch das was Magnus hörte waren keine Kamele, es kam von dem Bauernhof dort drüben auf dem kleinen Hügel. Sicher waren es die Kühe im Stall, die darauf warteten gemolken zu werden. Er ging zu dem Bauernhof und wollte beim Melken zusehen. Tatsächlich wurden die Kühe gerade gemolken. Das große Tor stand weit auf und so hatte der Bauer sein Kommen nicht bemerkt. Magnus stand nur da und schaute. Die Kühe kamen der Reihe nach an die Melkmaschine. Hier war es richtig laut. Das Summen und Brummen der Melkmaschine, das Brüllen und Schnaufen der Kühe, das Klappern der Saugvorrichtungen an den Eutern und das Klirren der Ketten, mit denen die Kühe an ihren Plätzen fixiert waren. Dann knarrte das Tor im Wind und im nächsten Augenblick wurde es beinahe zugeworfen. Magnus versuchte es aufzuhalten. Der Bauer schaute zum Tor und erblickte Magnus, der sich fühlte, wie ein Dieb, der soeben auf frischer Tat ertappt worden war. Vor Verlegenheit konnte er erst gar nichts herausbringen, merkte aber, dass er jetzt etwas sagen musste. Noch nach Worten suchend brachte er etwas hervor:

„Äh,… Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung, ich wollte…“

„Was ist los? Ich versteh’ nichts! Sie müssen schon lauter sprechen. Also was wollen Sie?“

„Ich wollte… nur mal… ich wollte nur mal fragen, ob ich… ich meine ob Sie… ob Sie mir … etwas von der frischen Milch, die Sie gerade gemolken haben verkaufen können?“

„Nee, das kann ich leider nicht. Wir dürfen nur an die West-Welt-Wirtschaft verkaufen!“

„Können Sie nicht eine kleine Ausnahme machen? Ein Liter fällt doch sicher nicht auf.“

„Auch nicht einen Liter darf ich abzapfen! Die BWW kontrolliert peinlich genau was wir produzieren. Und alles, was die BWW nicht abnimmt, das muss vernichtet werden. Auch das wird exakt protokolliert. Da hat man keine Chance für Schummeleien. Wenn die Unstimmigkeiten feststellen, dann kann man einpacken. Verstehen Sie? Dann kann ich meinen Betrieb dicht machen! Wir müssen unser Saatgut, den Dünger und alles was wir für die Landwirtschaft brauchen von der BWW kaufen und unsere gesamten Erzeugnisse an die BWW abliefern. Was wir kaufen und was wir verkaufen, es trägt alles das Siegel der BWW. Alles. Restlos. Es gibt heute überhaupt keine Waren, die nicht das BWW-Zeichen tragen. Das wäre strafbar. Aber hören Sie, wo kommen Sie eigentlich her, wenn Sie dass nicht wissen?“

„Ja ja, ich weiß es schon, ich wollte Sie wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen. Manchmal bin ich wirklich ein Kamel… so richtig mit zwei Höckern. Und gestern hatte ich sogar geglaubt ich hätte eins gesehen. Hier ganz in der Nähe…“

„Soso, ein Kamel. Sie sind ein Kamel und suchen hier nach Artgenossen. Sie sehen doch hier gibt es nur Rindviecher und mich. Und hören Sie, zu welcher Gattung rechnen Sie dann mich?“

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie wirklich nicht verärgern. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe und Sie nicht länger bei der Arbeit störe!“

Magnus wartete noch etwas, ehe er sich von dem Bauern verabschiedete, ging dann zum Auto zurück und fuhr heim. Schade, er hätte gerne mal frische Milch getrunken. Die Milch, die es bei der BWW zu kaufen gab, schmeckte überall gleich. Wer kannte denn noch den Geschmack frisch gemolkener Milch? Man hatte uns gesagt, es sei gefährlich, frische Milch zu trinken, wegen der vielen Krankheitserreger und schädlichen Keime. Ob der Bauer wohl selbst die frische Milch probiert hatte? Vielleicht war ihm irgendwann das Interesse daran abhanden gekommen, weil er jeden Tag soviel mit Milch zu tun hatte. Im Übrigen hatte Magnus ihm nicht geglaubt, dass die von der BWW es merken würden, wenn er mal einen Liter für sich abzapfen würde. Wohl eher, dass er befürchtete, Magnus könne auf den Geschmack kommen und fortan regelmäßig bei ihm aufkreuzen und frische Milch holen wollen. Und wenn erst einer auf den Geschmack kam, würden andere folgen, dann ließe sich das wirklich nicht mehr vor der BWW verbergen.

So war das mit allen Sachen gekommen. Lange zuvor hatte es Zeiten gegeben, da wurden die Dinge in Handarbeit gefertigt und mit Naturmaterialien, denn man kannte keine künstlich hergestellten Stoffe und Materialien. Man lebte von der Natur und mit der Natur. Ganz allmählich wurden Maschinen und Kunststoffe entwickelt. Die Handarbeit wurde durch Maschinenarbeit, die Naturstoffe durch Kunststoffe ersetzt. Alles ließ sich viel schneller, viel billiger und in viel größeren Mengen herstellen. Und jeder konnte viel mehr kaufen als in früheren Zeiten. So glaubte man an den ständig wachsenden Wohlstand. Aber die Dinge, die man aus den Kaufhäusern nach Hause trug, waren nichts wert, sie hielten nur kurze Zeit, dann musste man wieder etwas neues kaufen.

Inzwischen waren diejenigen, die traditionell herstellten zur Aufgabe oder zum Umstellen gezwungen. Immer größere Konzerne hatten durch niedrigere Preise die kleineren Betriebe in den Konkurs getrieben. Über die Jahrhunderte hatten die alten Kulturen in allen Lebensbereichen eine große Vielfalt hervorgebracht. Jeder Handwerker wusste, dass seine Produkte etwas einmaliges waren und sich deutlich von denen der anderen unterschieden. In dem dann einsetzenden Wettkampf ging es nur noch darum, so billig und gewinnbringend wie möglich zu produzieren. Schließlich kam es zum Kampf der Giganten. Die Welt war inzwischen aufgeteilt in die Einflussgebiete der West-Welt-Wirtschaft, der Nord-Markt AG, der Ost-Waren-Wirtschaft und der Süd-Kauf AG. Diese führten auf allen Ebenen regelrecht Krieg gegeneinander: Durch günstigere Preise, durch niedrigere Löhne, durch Kontrolle von strategisch wichtigen Weltmärkten wie Öl, Waffen, Drogen und natürlich Weizen und Wasser. Die West-Welt-Wirtschaft hatte in diesem Kampf gesiegt und nannte sich seitdem Best-Welt-Wirtschaft, also abgekürzt durch die Buchstaben BWW oder als Strichcode mit der Zahlenfolge 666.

n einem kleinen, hohen Zimmer lag ein alter Mann bei Morgengrauen wach in seinem Bett und lauschte. Er glaubte eine Stimme zu hören.

Da war sie wieder. Sie rief. Sie rief ihn! Und wieder:

„Herr Siebert, … Herr Siebert! Guten Morgen Herr Siebert, es ist Zeit zum Aufstehen. Bitte stehen Sie jetzt auf und gehen Sie ins Bad!“

Der alte Mann versuchte herauszufinden woher die Stimme kam. Er stieg aus dem Bett und richtete sich davor auf. Die Jalousie war automatisch hochgefahren und das Licht war angegangen noch bevor die Stimme zu hören war. Woher kam das? Wer sprach denn da mit ihm? Niemand war zu sehen. Vielleicht war er hinterm Schrank? Der alte Mann ging von seinem Bett zum Schrank. Vorsichtig schaute er dahinter. Nein, da war es auch nicht.

„Doch nicht da, Sie müssen ins Bad gehen!“,

ertönte die Stimme wieder. Verunsichert stand der alte Mann am Kleiderschrank. Jetzt öffnete er die Schranktür.

„Nein, nicht in den Schrank, Sie sollen ins Bad gehen, … ins Bad, Herr Siebert, … ins Bad!“

Am liebsten hätte er sich wieder unter der Bettdecke verkrochen. Doch die Bettdecke war gerade in der Wand verschwunden. Plötzlich kam die Decke zusammengefaltet aus der Wand und legte sich ordentlich an das Fußende seines Bettes.

„Herr Siebert, nun gehen Sie doch endlich ins Bad. Sie müssen einfach nur geradeaus gehen. Herr Siebert, geradeaus, …gehen Sie geradeaus!“

Der Alte ging automatisch in die befohlene Richtung.

„Ja, endlich… mein Gott hat das wieder gedauert. So, nun gehen Sie links herum. Nicht rechts, links! In die andere Richtung! Nein, noch weiter, – da ist doch die Wand. Ja jetzt – endlich – So, jetzt gehen Sie ins Bad. Gut. Als erstes gehen Sie bitte zur Toilette. Ziehen Sie dazu ihr Nachthemd aus. Es ist nass, Sie müssen es ausziehen. Also fangen Sie an! Oben aufknöpfen. Das reicht. So, jetzt können Sie es ausziehen. Ja, einfach über den Kopf ziehen. Und jetzt noch die Arme herausziehen. Erst links, dann rechts. Dann werfen Sie es in den Wäschesack. Da neben Ihnen ist das Klo… da setzten Sie sich jetzt erst einmal drauf. Gut. Bleiben Sie solange sitzen, bis Sie ihr Geschäft erledigt haben. Ich helfe Ihnen dann weiter beim Waschen. Also bis dahin schön sitzen bleiben.“

Der Alte hörte auf die Stimme und wartete, ob sie noch etwas sagen würde. Was er nun hörte war ein Zischen, Knacken, Husten, Knallen, Stühlerücken und dann erklang die Stimme wieder:

„Guten Morgen Frau Robel. Sie müssen aufstehen!

Hallo Fr…– – –“.

Es knackte ein paar Mal und dann war es wieder still. Er hörte nur noch wie es unter ihm plätscherte.

Ganz allein saß Magnus in einem Raum. Er redete unentwegt. Er sprach dabei ins Mikrofon. Gleichzeitig beobachtete er das Geschehen auf den vielen Bildschirmen, die vor ihm angeordnet waren. Die ganze Wand war zugebaut mit Monitoren, die alle das gleiche Bild zeigten. Nein, einen kleinen Unterschied gab es doch. Auf jedem Bildschirm erschien das Innere eines Zimmers. Das war immer gleich: Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank und daneben ein Bad mit WC, Waschbecken und einer Dusche. Alles war in einer Reihe angeordnet. In jedem Zimmer gleich. Die Bilder auf den Bildschirmen unterschieden sich nur in einem: Irgendwo in jedem dieser Zimmer saß, stand oder lag ein alter Mann oder eine alte Frau. An diese richtete Magnus durch das Mikrofon die Stimme. Jetzt war Frau Rubel in Monitor sieben an der Reihe. Magnus führte auch sie mit Hilfe seiner Anweisungen zur Toilette. Danach musste er schnell zu Monitor acht wechseln. Und dann noch neun und zehn. Immer fünf Monitore gehörten zu einem Block. Dies war der zweite von fünf Blöcken. Er musste also insgesamt 25 Bildschirme überwachen, das war genau eine Riege. Seine Riege war die Nummer vier. Dafür war er verantwortlich, das hieß er musste darauf achten, dass die Versorgung in den 25 Monitoren problemlos ablief. Hatte er alle fünf in einem Block zur Toilette geführt, so ging er wieder zum Ersten. Dann war Duschen dran.

„Herr Siebert, jetzt können Sie wieder aufstehen. Gehen Sie bitte nach links in die Dusche. Noch einen Schritt weiter nach links. Halt! Stopp! So ist es gut. Nun halten Sie sich an den Griffen links und rechts fest. So stehen bleiben! Gleich kommt die Dusche.“

Magnus betätigte den Schalter für die Duschautomatik. Zum Abtrocknen schaltete er anschließend das Heißluftgebläse an. Mit dem Duschen wurde Magnus immer schnell fertig. Aber dann kam das Ankleiden. Und das dauerte jedes Mal am längsten. Die BWW hatte extra für diesen Zweck einen Overall im Angebot, der sich in einem Schritt anziehen ließ. Aber die Alten hatten sich geweigert, den anzuziehen, sie bestanden darauf, weiterhin ihre altmodische Kleidung zu benutzten.

Um schneller durchzukommen hatte Magnus einen Trick entwickelt. Die in neun und zehn hießen beide Meier. Bei denen schaltete er dann das Mikrofon auf beide Monitore. So konnte er dann beide gleichzeitig anleiten. Und wenn es ganz knapp wurde, dann schaltete er die restlichen Monitore zusammen und sprach alle gleich an, ohne Namen, ohne Frau oder Herr, nur noch „Sie“ oder er gab Anweisungen wie:

„Bitte nach links, … oben festhalten, …da stehen bleiben.“

Dazu musste Magnus immer alle Monitore überblicken. Denn er konnte schließlich erst weiter machen, wenn alle gleich weit waren. Noch schwieriger war es, wenn jemand schneller war und selber weiter gemacht hatte. Dann musste Magnus den Lautsprecher dort solange ausschalten, wie er den anderen die Anweisungen gab.

War der erste Block fertig mit Ankleiden, dann gab es dort Frühstück und Magnus konnte mit dem zweiten Block beginnen. Wenn die dann soweit waren kam der dritte Block usw. Erst wenn er seine ganze Riege bis zum Frühstück fertig hatte konnte auch er frühstücken. Nach der Pause mussten alle der Reihe nach zur Toilette geführt werden. Saßen alle wieder am Tisch so begann das Mittagessen. Im nächsten Durchgang wurden alle zur Mittagsruhe ins Bett gebracht. Dann wechselte die Schicht und Magnus hatte Dienstschluss.

Das war der Arbeitstag von Magnus. So machte er es schon seit vielen Jahren. Früher hatte er noch selbst die Alten gewaschen und mit ihnen geredet. Da kannte er all ihre Eigenarten, ihre Sorgen und ihre Wünsche. Doch irgendwann wurden die Duschanlagen eingebaut. Später kamen die Heißluftgebläse dazu. Für schwierige Personen installierte man dann eine Monitorüberwachung. Erst nur eine, versuchsweise, hatte es geheißen. Dann sagten sie, das hätte sich gut bewährt, und so kamen nach und nach immer mehr Monitore dazu. Und eines Tages musste Magnus seine Arbeit in diesem Raum beginnen. Seitdem ist er nie wieder bei den Alten gewesen. Und die Alten selbst, sie waren nie mehr aus ihren Zimmern herausgekommen. Es gab welche, die waren hierher gekommen und nach einiger Zeit gestorben. Die hatte Magnus nie anders als über den Monitor gesehen. Aber er hatte sie gesehen, er sah sie alle. Nur sie, die Alten, bekamen ihn nie zu sehen. Sie kannten nur seine Stimme. Und die seiner Kollegen. Die Stimmen der Alten kannte Magnus nicht. Die kannte niemand. Mag sein, dass sie ihm antworteten, ihm Fragen stellten, um Hilfe riefen: Er hörte all dies nicht. Selbst wenn er es hören würde, er könnte doch nichts anderes machen, als das, was er jeden Tag tat.