Sebastian Fitzek

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Thriller

Für Sandra

 

 

 

 

 

Zur Geburt Jesu Christi lebten dreihundert Millionen Menschen auf unserem Planeten.

 

Heute sind es sieben Milliarden.

 

In jeder Minute kommen 156 weitere Menschen hinzu.

Stufe I

Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab an seine eigene.

Heraklit

1. Kapitel

Alicia wurde von der Stille geweckt. Sonst waren es die Schreie, die sie in unregelmäßigen Abständen aus dem Schlaf hochschrecken ließen, doch heute Nacht war es anders. Heute Nacht blieb es stumm an ihrer Brust.

»Noel?«, flüsterte sie und tastete nach dem Köpfchen ihres Sohnes. Es war kurz vor ein Uhr morgens, also gab es vermutlich keinen Strom in Lupang Pangako, der »Endstation«, wie Quezon Citys größter Slum im Großraum Manila von den Bewohnern genannt wurde. Doch selbst wenn sie Licht hätte machen können, hätte Alicia sich dagegen entschieden.

Jay schlief, und das war ein Segen. Sie wollte ihren Siebenjährigen nicht wecken, sonst würde er sich wieder daran erinnern, dass es gestern nichts zu essen gegeben hatte.

»Gleich, mein Schatz«, hatte sie spätabends auf seine ungeduldigen Fragen reagiert und dabei das köchelnde Wasser umgerührt. »Du hattest einen anstrengenden Tag in Payatas. Ruh dich aus, ich weck dich, sobald die Suppe fertig ist.« Er hatte genickt, mit der ernsten Miene seines Vaters Christopher, die Augen gerötet vom vielen Reiben, aber gegen die Dämpfe auf der größten philippinischen Müllkippe war man einfach machtlos. Zehntausend »Scavangers« arbeiteten dort, Aasgeier, wie sie sich selbst bezeichneten – die Hälfte von ihnen Kinder wie Jay, immer mit dem Schlachtruf »Einhundert« auf den Lippen, sobald ein neuer Müllwagen aus der 12-Millionen-Metropole eintraf. »Einhundert« stand für »Einhundert Pesos«, der Preis für ein Kilo Kupferdraht. Mit Metall konnte man sehr viel mehr als mit Plastik verdienen, weswegen Jay zehn Stunden des Tages damit verbrachte, Autoreifen und Elektrokabel zu verbrennen, um das billige Gummi von dem wertvollen Rohstoff zu lösen.

Zum Glück war er ein folgsamer Junge und hatte sich gestern in seine Ecke auf den mit Sand ausgestopften Reissack gelegt, ohne zuvor in den Topf auf der Feuerstelle zu blicken. Sonst hätte Alicia ihm erklären müssen, weshalb sich nichts als Wasser und Kiesel darin befanden.

Mein Kind hungert, und ich koche Steine.

Alicia wunderte sich, dass sie überhaupt noch die Kraft zum Weinen fand. Zum Stillen fehlte sie ihr anscheinend.

»Noel?«

Sie versuchte vergeblich, ihren kleinen Finger zwischen die Lippen des Neugeborenen zu stecken. Sechs Tage war er jetzt alt, und anfangs hatte er noch mit Inbrunst an allem genuckelt, was sein Mund berührte. Heute ballte er nicht einmal mehr die Fäustchen.

Seit sie vor zwei Jahren zum ersten Mal den Fuß in diese Schattenwelt gesetzt hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, in einem umgekippten Bienenstock zu leben. Zehntausende Seelen, zusammengepfercht am Rande der Müllkippe, verschmolzen in Lupang Pangako zu einem lebenden Organismus. Eine sich windende und wachsende Wellblechschlange, gespeist von einem niemals abreißenden Nachschub an menschlichem Strandgut, eingehüllt in eine Wolke ätzend säuerlichen Gestanks nach Abfall und Exkrementen.

Hin und wieder häutete sich die Schlange, Wirbelstürme und Regenfälle rissen ganze Wohnstreifen ab und trieben sie mitsamt ihrem kläglichen Inhalt wie Plastiktüten vor sich her. Viele schon hatten versucht, die Schlange zu töten. Gedungene Helfer legten Feuer, Planierraupen überrollten »versehentlich« schlafende Familien. Oder die Schlange vergiftete sich selbst, indem sie ihre Kinder in dem grünbräunlichen Fluss badete, in dem wegen der eingeleiteten Industriebrühe schon lange keine Fische mehr schwammen.

Doch Alicia wusste, sie hätte es noch schlechter treffen können. Ihre Hütte im Herzen des Slums war groß, ganze vier Quadratmeter für nur sechs Personen, und ihre Wände bestanden aus festen Kartonbrettern, nicht aus einer losen Plane wie die der Nachbarbehausung. Seit einem halben Jahr, seitdem ihr Mann Christopher nicht mehr lebte und ihre zwei Brüder in der Stadt auf einer Baustelle übernachten durften, hatten sie genügend Platz gehabt, und Jay musste nicht im Sitzen schlafen, so wie sie selbst es tat. Angelehnt an den Sperrholzverschlag für die Notdurft, das Baby an die ausgedörrte Brust gepresst, hatte sie versucht, die Augen zu schließen, und war tatsächlich für einige Stunden in einen Traum von einem besseren Leben gesunken, das sie aus dem Fernsehen kannte. Auch sie hätte sich hinlegen, die Beine ausstrecken können, Platz war genug, aber sie hatte Angst vor den Ratten. Letzte Woche erst hatten sie dem Säugling ihrer besten Freundin in den großen Zeh gebissen. Das Fieber hatte das zehn Wochen alte Mädchen nicht überlebt.

Und wird Gott dich auch zu sich nehmen, Noel? Ist das sein Plan?

Noch war ihr Baby nicht gestorben, wie sie erleichtert feststellte. Noch hörte sie seinen rasselnden Atem, zitternd wie der eines alten Mannes. Sie spürte Noels Bauch hart und unnachgiebig mit jedem Atemzug gegen ihre Hand drücken. Und in dem fahlen Mondlicht, das durch die Lücke im Wellblech fiel, sah sie seine großen Augen. Dunkel glänzend wie Klavierlack.

Silvania, eine katholische Ordensschwester, die hin und wieder nach ihnen sah, dachte, es wäre die Armut, die das Gesicht einer Zweiundzwanzigjährigen in das einer alten Frau verwandelt hatte. Aber sie irrte sich. Es war die Scham.

Alicia schämte sich, Steine zu kochen, weil die zweihundert Pesos, die Jay in den letzten zwei Tagen zusammengeschuftet hatte, gerade einmal für Señor Ramos reichten, einen Händler aus Makati, der einen Schlauch durch das Elendsviertel gelegt hatte, um hier das Wasser mit einem satten Aufschlag zu verkaufen; er nahm viel mehr Geld, als die Reichen zahlen mussten, die nur wenige Kilometer entfernt in ihren klimatisierten Villen hinter meterhohen, stacheldrahtbewehrten Zäunen in ihren Swimmingpools badeten.

Alicia schämte sich, ihren Sohn am nächsten Morgen wieder auf die Deponie schicken zu müssen, damit er barfuß, nur mit einer dreckigen Unterhose bekleidet, in dem Müll herumstocherte, in einer Wolke von Fliegen stehend, glücklich, wenn er einen halbvollen Joghurtbecher fand, denn den konnte man noch an Ort und Stelle auskratzen.

Und sie schämte sich dafür, dass sie keine richtige Frau war. Dass sie keine Milch geben konnte und ihre Brüste versiegt waren, ausgetrocknet wie der karge Acker ihres Vaters im Nordosten des Landes.

»Er braucht einen Arzt.«

Die Stimme ihres Sohnes riss sie aus der Lethargie, in die sie verfiel, wenn sie zu viel grübelte.

»Du bist wach, Jay«, sagte sie leise.

Ihr Sohn setzte sich in der Dunkelheit auf. »Ich hab dich weinen hören, Mama.«

»Das tut mir leid.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Bring lieber meinen Bruder hier raus.«

Gerade erst sieben, und Jay sprach mit dem bestimmten Tonfall seines Vaters. Es gab vieles, das Christopher ihm vererbt hatte: die traurigen Augen, der ernste Blick, die großen Hände, der Sinn für Zahlen (Jay liebte Mathematik und war ein Ass im Kopfrechnen) und natürlich das Schicksal, in Armut zu leben.

»Einen Doktor können wir uns nicht leisten«, sagte Alicia matt. Jay streckte sich und stand auf. »Ich kenne einen, der behandelt umsonst.«

»Nichts im Leben ist umsonst.«

»Er ist Arzt und kommt auf die Müllkippe, um nach ihnen zu sehen.«

Nach ihnen.

Alicia zündete eine Kerze an, wobei sie sich fragte, ob sie Bedauern in Jays Stimme hörte. Sehnte er sich danach, zu ihnen zu gehören? Zu den etwa dreihundert Kindern, die nicht wie sie nur am Rand, sondern permanent auf der Deponie lebten? Sie träumten davon, Sportler zu werden, Pilot oder – wie Jay – Mathematiklehrer, und sie erzählten einander von ihren Plänen, während sie nach der Arbeit Rugby schnüffelten. Brauchte er diese nach Klebstoff süchtige Gemeinschaft mehr als seine Mutter?

Alicias größte Angst war, dass ihr Sohn eines Tages nicht mehr nach Hause kommen, sondern sein Lager gleich dort im Abfall aufschlagen würde.

»Heinz ist ein netter Mann.«

»Was ist das denn für ein Name?«

»Ein Deutscher. Er ist gut zu uns.«

»Hmm.«

Längst hatte sie den Glauben an das Gute im Menschen verloren – nicht erst, seitdem Christopher bei einer Polizeikontrolle erschossen worden war und der Polizist ihr seine letzten Habseligkeiten nur unter der Bedingung hatte aushändigen wollen, dass Alicia mit ihm schlief.

»Alicia! Jay!«

Die Flamme der Kerze erlosch, als der Duschvorhang, der als Tür der Hütte herhalten musste, ruckartig zur Seite gezogen wurde. Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, da er ihr mit einer Taschenlampe direkt in die Augen leuchtete, aber an der heiseren Stimme hatte Alicia ihren Cousin sofort erkannt.

»Marlon? Was willst du hier?«

»Beeilt euch«, keuchte der junge Filipino. »Los. Wir müssen weg.«

Marlon arbeitete nicht in den Müllbergen. Er war Kurier, der Schnellste unter den jungen Männern, die für Edwin, den Slumlord des Viertels, Drogen und andere Ware auslieferten.

»Wieso? Was ist los?« Instinktiv presste sich Alicia ihr Baby noch fester an die Brust.

»Hörst du das denn nicht?« Marlon leuchtete mit der Taschenlampe zur Decke.

»Ja und?«

Hubschrauber näherten sich. Nichts Besonderes. Die Lichtfinger ihrer Suchscheinwerfer tasteten jede Nacht die Dächer der Slums ab. Ihr Wummern gehörte zum nächtlichen Puls der Schlange.

»Sie riegeln uns ab.«

»Was?«, fragten Alicia und Jay wie aus einem Mund.

»Die Straßen. Jetzt.«

»Was redest du da?«

»Alle Zufahrten werden gesperrt, die Brücken blockiert. Die gesamte Deponie wird abgeschottet. In einer halben Stunde kommt hier keiner mehr raus«, warnte Marlon. Der sorgenvolle Unterton in der Stimme war untypisch für einen Mann, dem drei Striche in die Unterlippe eintätowiert waren. Einen für jeden Auftragsmord, der auf das Konto des Sechzehnjährigen ging.

»Was sollen wir tun?«, fragte Jay. Der Junge bewunderte Marlon, ahmte seine Körperhaltung nach, seinen Gang und jetzt auch seinen mühsam beherrschten Tonfall.

»Lasst alles stehen und liegen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Halt, nein.« Alicia hielt Jay am Handgelenk zurück, der sich bereits an ihr vorbeischieben wollte. »Wir gehen nirgendwohin, bevor du uns nicht sagst, was hier vor sich geht.«

Marlon atmete schwer aus und fuhr sich erschöpft über den kahlrasierten Schädel.

»Ich weiß nichts Genaues, aber die Armee rückt an. Im Auftrag der Gesundheitsbehörde.«

»Die Armee? Was haben die vor?«

»Sie sagen, es ist wegen der neuen Krankheit, du hast es im Radio gehört, oder? Sie haben Angst, die Seuche ginge von uns aus.«

Alicia nickte. Sie hatte eine Unterhaltung am Brunnen aufgeschnappt. Wenn wir dieses Brackwasser hier trinken können, werden wir auch die Manila-Grippe überleben, hatte sie sich gedacht und den Gerüchten keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Drogen, Gewalt, Krankheiten, Hunger. Es gab Millionen Möglichkeiten, an denen man hier verrecken konnte, wieso sollte sie sich um eine weitere sorgen?

»Du meinst, die wollen uns in Quarantäne stecken?«, fragte sie. »Das gesamte Quartier?«

»Nein.« Marlon schüttelte den Kopf.

Das Wummern der Hubschrauber über ihren Köpfen wurde lauter.

»Ich glaube, sie wollen uns töten.«

2. Kapitel

Zur gleichen Zeit, 9876 Kilometer Luftlinie entfernt

»Ich muss ihr helfen!«

Für einen Mann, der sich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern konnte, war er sich in diesem einen Punkt erstaunlich sicher: Er musste das Mädchen davor bewahren, zu dem Kerl ins Auto zu steigen; falls er es nicht tat, würde etwas Schreckliches geschehen.

Weshalb er sich dessen so gewiss war, war ihm nicht klar, und so bald würde er es wohl auch nicht herausfinden, denn im Augenblick hatte er große Mühe, sich zu konzentrieren, da der Mann neben ihm in der Reihe nicht aufhörte, in einem fort auf ihn einzureden.

»Ich weiß ja, dass du keine Labertasche bist, mein Großer, aber ich sag’s dir trotzdem noch mal: Sprich mit niemandem, hörst du? Zu keinem ein Wort. Lass mich für dich antworten, wenn du gefragt wirst. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, wenn es überhaupt nicht anders geht, dann sag, du bist Noah aus Holland und hier nur auf der Durchreise. Das erklärt deinen komischen Akzent, okay?«

Noah nickte stumm.

Während er in den letzten Wochen mehr Zeit mit Nachdenken als mit Reden verbracht hatte, quasselte Oscar mal wieder, als gelte es einen Schnellsprechwettbewerb zu gewinnen. Seine Worte schlugen dicke Atemwolken in der kalten Luft.

Es war Februar in Berlin, und der Winter tat das, was er am besten konnte: Er hatte sein Windmesser aufgeklappt und schnitt sich durch alles, was sich ihm in den Weg stellte: Kleider, Haut, Seelen. Dabei machte er keine Standesunterschiede. Es war ihm gleichgültig, ob er an dem Pelzkragen einer Grunewalder Witwe rüttelte, einem Postboten in Lichtenberg den Schneeregen ins Gesicht klatschte oder – wie in diesem Moment – eine viel zu lange Schlange vor dem Obdachlosenasyl in der Franklinstraße dazu brachte, noch enger zusammenzurücken.

»In zehn Minuten geht’s los.« Oscar gestikulierte beim Sprechen wild mit den ebenso kurzen wie dicken Armen und deutete zum Eingang des grauen Betonhauses, vor dem sich die Traube der Wartenden staute.

»Wir dürfen nicht auffallen, das wär nicht gut. Wenn du kontrolliert wirst, vermeide jeden Blickkontakt. Pluster dich nicht so auf, es wirkt einschüchternd, wenn alle sehen, wie kräftig du bist, und lass mich zuerst vortreten, ja? In der Auffangstation sind Alkohol, Drogen, Zigaretten und Waffen tabu. Du trägst doch keine Waffe bei dir, oder?«

Oscar schenkte ihm einen argwöhnischen Blick, als befürchtete er tatsächlich, Noah habe heute früh beim Stöbern nach Pfandflaschen eine Pistole im Müll gefunden. Dabei stellte er sich auf Zehenspitzen, um den Größenunterschied zwischen ihnen ein wenig auszugleichen. Selbst so reichte er Noah gerade einmal bis zur Brust.

»Schön, ich habe nämlich keine Lust, dass du aussortiert wirst. Heute ist der vierzehnte Februar, vierzehn und zwei macht sechzehn, die Quersumme davon ist sieben. Sieben! Wir können also heute nicht in unser Versteck zurück, verstehst du?«

Nein. Ganz und gar nicht.

Noah verstand das meiste nicht von dem, wovon sein merkwürdiger Weggefährte den ganzen Tag über redete. Streng genommen verstand er sein gesamtes Leben nicht mehr, wobei Leben vermutlich der falsche Begriff für das Dasein war, das er fristete, seitdem er vor gut vier Wochen zum ersten Mal wieder zu Bewusstsein gekommen war; tief unter der Erde, in dem stickigen Verschlag neben dem stillgelegten U-Bahn-Schacht, den Oscar sein »Versteck« nannte.

»Sie führen Spannungsmessungen durch, davon habe ich dir doch erzählt.« Oscar rollte mit den Augen, als habe er es mit einem begriffsstutzigen Idioten zu tun. Mit seiner orangefarbenen Pudelmütze, dem Mormonenbart im kreisrunden Gesicht und einem enormen Kegelbauch wirkte er wie ein Schlumpf, wobei Noah sich wunderte, dass er wusste, wie ein Schlumpf aussah, wo er doch nicht einmal sein eigenes Gesicht in dem Spiegel der Bahnhofstoilette wiedererkannt hatte.

Vielleicht würde es seine Erinnerung beflügeln, wenn er sich die dunklen Haare schnitt und den Bart stutzte, doch er bezweifelte es. Für ihn war der Mann mit den traurigen Augen, der schiefen Nase und dem kantigen Gesicht ein Fremder, in dessen vernarbtem Körper er gefangen gehalten wurde.

»Unser Versteck befindet sich direkt unter dem Ostflügel der Gedächtniskirche.« Oscar flüsterte jetzt, damit die Obdachlosen vor und hinter ihnen nichts von seinen paranoiden Ausführungen aufschnappen konnten. »Geographisch betrachtet liegt das im Bezirk Wilmersdorf, und der hat dort die Postleitzahl 10789. Dreimal darfst du raten, was die Quersumme davon ist. Fünfundzwanzig. Und die von fünfundzwanzig ist? Richtig, sieben.« Oscar blinzelte nervös. »Hast du etwa gedacht, die haben 1993 die neuen Postleitzahlen eingeführt, nur damit die Briefe schneller ankommen? Jaha, das sollen wir alle denken. In Wahrheit ist das ein Code. Der Einsatzplan, nach dem sie ihre Überwachungsroutine koordinieren. An Tagen, deren Quersumme der der Postleitzahl entspricht, müssen wir untertauchen. Begreifst du jetzt, weshalb es so wichtig ist, dass wir da heute reinkommen?«

Nein. Ich begreife kein Wort. Alles, was ich weiß, ist, dass du vermutlich ebenso verrückt bist wie ich.

Noah drehte sich wieder zu dem Mädchen um, das zwei Meter weiter hinten in der Schlange stand. Die Kleine war ihm zuerst ihrer Haare wegen aufgefallen; genauer gesagt wegen der Büschel, die ihr fehlten. Ihr Kopf zeigte mehr Haut als Strähnen, so als leide sie unter den Nebenwirkungen irgendeines grässlichen Medikaments. Noah schätzte sie auf höchstens siebzehn, aber angesichts der schlechten Haut und des fehlenden Schneidezahns war das schwer zu sagen; erst recht für einen Mann, der schon Schwierigkeiten damit hatte, sein eigenes Alter zu bestimmen, das vermutlich irgendwo in den Dreißigern lag.

Seitdem er die Kleine entdeckt hatte, hatte er sie mehr oder minder unauffällig beobachtet, und jetzt, anderthalb Stunden später, meinte er das Mädchen fast besser zu kennen als sich selbst.

Während er nicht wusste, wo er herkam, konnte es keinen Zweifel daran geben, dass sie schon lange auf der Straße lebte. Ihre Augen hatten den Opiumblick, wie Oscar sagen würde, vernebelt und gleichzeitig leer wie bei so vielen, die hier draußen in der Kälte darauf warteten, dass das Obdachlosenasyl endlich seine Tore öffnete.

»Kennst du sie?«, unterbrach Noah seinen Begleiter, der gerade über Spähtrupps und Geokoordinaten schwadroniert hatte.

»Sie?«

Oscar blinzelte, offensichtlich perplex darüber, dass Noah die Sprache wiedergefunden hatte.

»Das Mädchen da.«

Er zeigte an einer Schwangeren vorbei, die mit einem Zigarettenstummel im Mund direkt hinter ihnen stand.

In einiger Entfernung fing ein Kind an zu weinen, und mehrere Männer brüllten sich an, vermutlich stritten sie sich um den letzten Schluck aus einer gemeinsam erbettelten Flasche.

»Wen meinst du?«

»Schräg rechts, die mit den seltsamen Haaren. Sie umklammert einen Rucksack vor der Brust.«

Als wäre ihr Leben drin.

»Die mit dem Vierauge redet?«

»Ja.«

Neben ihr stand ein junger, drahtiger Mann mit schulterlangen Haaren und einer John-Lennon-Brille auf der Nase. Noah hatte ihn dabei beobachtet, wie er vor wenigen Minuten aus einem silbernen Kleinbus mit der Aufschrift »Kältemobil« gestiegen war. Zuerst hatte er gedacht, der Bus würde weiteren Nachschub für das Heim bringen; einen neuen Schwung verlorener Seelen, die jeden Abend vor den Toren der Caritas strandeten. Aber der Fahrer war alleine ausgestiegen und hatte sich suchend umgeschaut, während er zögernd die Schlange abgeschritten war, bis er schließlich das Mädchen entdeckte.

»Das ist Pattrix«, klärte Oscar ihn auf.

Noah nickte. Es hätte ihn auch gewundert, wenn Oscar sie nicht erkannt hätte. Er lebte seit über vier Jahren »auf Platte«. Eine lange Zeit, in der es Oscar erstaunlich gut gelungen war, dem Tauschhandel zu widerstehen, den die meisten seiner Schicksalsgenossen eingegangen waren: Intelligenz gegen Promille.

Mit clownartig großen Stiefeln, mehrlagigen dreckstarren Hosen, einem sich im Zustand der Auflösung befindlichen Norwegerpulli und einer speckigen Fliegerjacke, die sich beim besten Willen nicht über seinem Bauch schließen wollte, war Oscar ähnlich erbärmlich gekleidet wie all die anderen hier, die das Kettenkarussell des Lebens aus der Bahn geschleudert hatte. Was Klamotten anging, hatte Noah mal einen besseren Geschmack gehabt, zumindest, wenn er die Sachen, die er am Leib trug, selbst ausgesucht hatte. Als Oscar ihn fand, halbtot neben den Gleisen, hatte Noah in teurer und warmer Kleidung gesteckt, die ihm heute gute Dienste erwiesen: gefütterte Stiefel mit Gummikappe, schwarze Jeans mit Cargo-Taschen an den Seiten, eine matt glänzende, tiefschwarze Schneejacke mit Kapuze, die sich in der Hüfte zusammenschnüren ließ. Insgesamt schleppte er anderthalb Kilo an Kleidungsgewicht mit sich herum, die lange Unterhose und dicke Thermosocken nicht mitgerechnet.

»Pattrix?«, fragte Noah.

»Ihr Spitzname. Eine Mischung aus Patricia und Pattex.«

Oscar formte mit beiden Händen eine Tüte und tat so, als inhaliere er Klebstoff. »Weshalb glaubst du wohl, sieht die so stumpf aus? Ihr Foto auf einer Zigarettenpackung, und niemand würde mehr rauchen.«

Noah stimmte ihm zu. Womöglich war das Mädchen gerade im Rausch, das würde ihren trüben Blick erklären und auch, weshalb ihr die arktischen Windböen nichts auszumachen schienen. Sie wirkte völlig abwesend, wie in eine andere Welt entrückt. Noah ging jede Wette ein, dass sie nicht einmal wahrgenommen hatte, dass sich ihre Blase vor einer Viertelstunde entleert hatte, wovon ein dunkler Fleck zwischen ihren Beinen zeugte.

Ebenso unwahrscheinlich war es, dass auch nur ein einziges Wort des bebrillten Mannes zu ihr durchdrang, der gerade auf sie einredete. Noah konnte nicht verstehen, was er zu ihr sagte, aber es war offensichtlich, dass er die zugedröhnte Teenagerin dazu bewegen wollte, mit zum Wagen zu kommen.

Zum Kältemobil.

Und das musste er um jeden Preis verhindern, auch wenn Noah in diesem Moment niemandem hätte erklären können, weshalb.

»Hey, bist du verrückt geworden?«

Oscar zog am Ärmel seiner Jacke, um ihn daran zu hindern, aus der Reihe zu treten.

»Wenn du jetzt deinen Platz aufgibst, können sie dich morgen mit einem Eiskratzer von der Straße spachteln.«

Oscar deutete auf die gewaltige Menge vor und hinter ihnen. Von den elftausend Obdachlosen, die die Hauptstadt nach beschönigten Schätzungen zählte, schien die Mehrheit heute Abend den Weg in die Franklinstraße gefunden zu haben. Kein Wunder, wurde doch die kälteste Nacht des Jahres erwartet.

»Ich muss ihr helfen«, erklärte Noah.

»Helfen?«, zischte Oscar erregt und warf einen nervösen Blick über seine Schulter. »Welchen Teil zwischen ›Sag kein Wort‹ und ›Bloß nicht auffallen‹ hast du eben nicht verstanden?« Er tippte sich an die Stirn. »Das lässt du mal schön bleiben, Großer. Außerdem kümmert sich doch schon jemand um die.«

Ja. Aber das ist der Falsche.

Eigentlich hätte Noah erleichtert sein müssen. An Tagen, an denen die Minusgrade in den zweistelligen Bereich sanken, waren die dreiundsiebzig Betten des Nachtheims schneller weg als Schnee auf einer heißen Herdplatte. Das Straßenmädchen musste dringend ins Warme, bevor die Jogginghose an ihren Schenkeln gefror, da kam der Sozialarbeiter wie gerufen. Und dennoch stimmte etwas nicht an dem Bild.

Ein Ruck ging durch die Schlange.

»Okay, es geht los«, sagte Oscar. »Lass dich bloß nicht abdrängen, Noah.«

Noah.

Noch immer hatte er sich nicht an diesen Namen gewöhnt, aber irgendwie musste er ja genannt werden, und Noah lag im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand. Immerhin waren die vier Buchstaben dieses Namens in seinen rechten Handballen tätowiert; ungelenk und mit grober Feder gestochen.

Von wem auch immer.

Der Name war ihm fremd, so wie der Rest der Hölle, in der er aufgewacht war; ohne Papiere, ohne Geld, das Gedächtnis in einem Meer aus Schmerzen ertränkt.

Als er das erste Mal zu sich kam, Oscars gutmütiges Gesicht über sich schwebend, hatte er einen kalten Stofffetzen auf seinem dumpf glühenden Kopf gespürt und ein unerträgliches Brennen in der Schulter, als hätte jemand versucht, ihm einen Nagel durch die Knochen zu treiben.

»Du hättest es schlechter treffen können«, hatte sein Lebensretter drei Wochen später beim letzten Verbandswechsel befunden.

Die Kugel war einmal glatt durch die linke Schulter gegangen. Es war ein Wunder, dass keine wichtigen Sehnen und Nerven verletzt waren, und dieses Wunder wurde nur noch von der Tatsache getoppt, dass Noah nicht an einer Infektion zugrunde gegangen war.

»Dir ist Schreckliches widerfahren«, hatte Oscar zu ihm gesagt. »Aber es hat dir nicht das Leben geraubt. Nur dein Gedächtnis.«

Nur.

Wahrscheinlich müsste er Oscar ewig dankbar dafür sein, dass er ihn gesund gepflegt hatte, dort unten in dem Verschlag, nur eine Mauer von den U-Bahn-Gleisen getrennt, doch angesichts der Umstände, in denen er sich wiedergefunden hatte, wollte ihm das nicht so recht gelingen. Was war ein Leben schon wert, wenn man nicht wusste, woher man kam, was für Wurzeln man hatte und wieso diese von der Axt des Schicksals offenbar mit einem gewaltigen Hieb gekappt worden waren? Ein Leben ohne Erinnerungen, das nur noch von Instinkten gesteuert war, die Noah sagten, dass er weder in diese Stadt noch in dieses Land gehörte. Dass er sich mit Oscar nicht in seiner Muttersprache unterhielt. Und dass der Mann, der Pattrix mittlerweile zu seinem Wagen schob, kein Sozialarbeiter war.

»Bin gleich wieder da«, murmelte Noah und schüttelte Oscars Arm ab, der wütend protestierte, es aber nicht wagte, ebenfalls aus der nach vorne aufrückenden Reihe auszuscheren.

»Komm sofort zurück!«, zischte er ihm hinterher.

Doch er dachte nicht daran, Oscars Rufen Folge zu leisten.

3. Kapitel

»Hey. Hey, Sie da.«

Er war schon nach wenigen Metern erschöpft und spürte die Wunde in seiner Schulter mit jedem Schritt. Noah musste mehrfach rufen, bevor der Mann, der Pattrix wie eine Blinde an der Hand über den Bürgersteig zum Wagen führte, sich endlich zu ihm drehte.

»Meinst du mich?«

»Ja. Stehen bleiben!«

»Wie bitte?«

Der hagere Kerl mit den schulterlangen Haaren zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Das Mädchen neben ihm blickte teilnahmslos ins Leere wie eine abgestellte Schaufensterpuppe, die Hände schützend vor ihrem nach vorne gedrehten Rucksack verkrampft.

»Was haben Sie mit ihr vor?«, wollte Noah wissen.

Ein arrogantes Lächeln wanderte über die Lippen des Mannes. »Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht, aber ich bringe sie in ein Jugendheim, wo sie weit besser aufgehoben ist als in einem Erwachsenenasyl.« Er strich dem Mädchen sanft über den Kopf, was diese mit einem Zucken der Mundwinkel quittierte. Hinter sich hörte Noah, wie Oscar erneut versuchte, ihn zur Rückkehr zu bewegen, aber auch diesen Ruf ignorierte er.

»Sie arbeiten fürs Jugendamt?«, fragte er stattdessen.

»So ist es.«

»Haben Sie einen Ausweis?«,

»Hör mal, Jesus, was ich nicht habe, ist Zeit. Also lass mich bitte meine Arbeit machen. Du siehst doch, das Mädchen muss schleunigst aus der Kälte gebracht werden.«

»Mit einem Mietwagen?«

Der Mann hatte sich wieder zur Straße drehen wollen, doch Noahs Frage ließ ihn in der Bewegung erstarren.

»Wie war das?«

Verdammt, wieso habe ich das gesagt?

Die Worte waren aus Noahs Mund gesprudelt, bevor er gewusst hatte, dass er sie hatte formulieren wollen. Mit den nächsten Sätzen erging es ihm nicht anders. Er hatte das eigenartige Gefühl, sich selbst beim Sprechen zuzuhören.

»Ihr Kleinbus ist frisch gewaschen. Er hat ein Kölner Kennzeichen, was an sich schon ungewöhnlich ist für ein Berliner Behördenfahrzeug. Die nachfolgende Ziffernkombination TX ist für Taxis oder Mietwagen reserviert. Außerdem haben Sie ein großes D als Aufkleber am Heck, so wie es zum Beispiel bei Europcar üblich ist. Einzeln wären die Auffälligkeiten vielleicht zu erklären, in Summe aber zeigen sie mir, dass Sie nicht der sind, für den Sie sich ausgeben.«

Der Mann öffnete den Mund, blieb aber stumm. Noah war kaum weniger erstaunt.

Woher weiß ich das alles?

Sein Kopf war voll mit faktischem Wissen, das hatte er schon herausgefunden: Er kannte die Hauptstadt von Guinea, wusste, dass der Körper die meiste Wärme über den Kopf abgab (weswegen er für die Kapuze seiner Jacke sehr dankbar war) und dass der Mensch bis zu zwei Liter Blut verlieren konnte, wie er selbst erfolgreich unter Beweis gestellt hatte. Aber während er sich offenbar mit fremden Autokennzeichen auskannte, wusste er noch nicht einmal, wie die erste Ziffer seiner Telefonnummer lautete – wenn er denn überhaupt eine hatte.

Er hätte wohl gute Chancen, bei einer dieser Quizshows zu gewinnen, die sich Oscar hin und wieder auf dem kleinen Schwarzweißfernseher ansah, wenn der Empfang im Versteck mitspielte – solange ihm nur keine Fragen über seine eigene Identität gestellt würden.

»Kommen wir zur 500-Euro-Frage: Wer hat auf Sie geschossen?«

»Keine Ahnung. Darf ich das Publikum fragen?«

»Wie viel zahlt man Ihnen für das Mädchen?«, fragte Noah, wieder hätte er nicht zu sagen vermocht, wie er zu dieser Mutmaßung gelangt war. Sein Gehirn arbeitete wie der Autopilot eines Flugzeugs. Er saß zwar im Cockpit, aber der Steuerknüppel bewegte sich von ganz alleine.

»Wie bitte?«

»Ihre Auftraggeber. Geschäftsleute, nehme ich an. Manager, reiche Säcke, die sich einen Kick davon versprechen, wenn sie den Abschaum von der Straße auflesen, um ihn noch mehr zu quälen. Werden Sie von denen pro Opfer oder pro Nacht bezahlt?«

»Du bist doch vollkommen durchgeknallt«, protestierte der Mann, ließ aber die Hand des Mädchens los, als habe sie plötzlich Feuer gefangen. »So eine Scheiße muss ich mir nicht anhören.« Er setzte einen Schritt zurück, ohne Noah aus den Augen zu lassen. »Schon gar nicht von einem Penner wie dir.«

Der angebliche Mitarbeiter vom Jugendamt versuchte, seinen Worten einen überheblichen Klang zu verleihen, aber das Zittern in der Stimme entlarvte ihn.

Noah überlegte, ob der Mann eine Waffe ziehen würde, als er in seine Fellkragenjacke griff, ahnte aber im nächsten Moment, dass es nicht zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kommen würde. Falsch. Er ahnte es nicht nur, er wusste es.

In den vergangenen dreißig Sekunden hatte Noah mehr über sich selbst herausgefunden als in den letzten Wochen, und seine Entdeckungen machten ihm Angst.

Ich bin ein Mensch, der schon sehr oft in die tiefsten Abgründe der Seele geblickt hat.

So oft, dass er das Böse erkannte, sobald es ihm begegnete. Und was noch viel schlimmer war: Das Böse erkannte ihn. Und manchmal wich es zurück, wenn ihre Wege sich kreuzten. So wie in diesem Moment.

Der Mann hatte seinen Zündschlüssel aus der Jacke gezogen und entfernte sich hastig, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.

»Patricia?«, fragte Noah vorsichtig. Keine Reaktion. Die Kleine hatte von den Geschehnissen um sie herum nicht das Geringste mitbekommen. »Kannst du mich hören?«

Er schnipste mit den Fingern vor ihren halb geschlossenen Augen. Sie blinzelte nicht einmal.

»Hey, Noah. Wir sind dran«, rief Oscar aus einiger Entfernung. Noah drehte sich um und entdeckte seinen Begleiter am Eingang des Obdachlosenasyls. Er stand bereits in der Tür und wedelte mit den Armen.

»Komm endlich!«

Vorsichtig griff Noah nach der Hand des Mädchens, das sich widerstandslos von ihm führen ließ. Sie bewegte sich mit kleinen Schritten wie in Trance, und daher dauerte es eine geraume Weile, bis er sie zu dem Haus der Caritas geleitet hatte.

»Was zum Teufel ist nur in dich gefahren?«, begrüßte ihn Oscar, der sich sehr beherrschen musste, nicht laut loszubrüllen, nachdem es Noah nur unter großem Protest gelungen war, sich mit Pattrix im Schlepptau an dem Kopfende der Schlange vorbeizudrängeln.

Eine Mitarbeiterin des Hauses, eine junge Frau in Jeans und Lederjacke mit streng zurückgebundenen Haaren und Rollkragenpulli, schloss wortlos hinter dem Dreiergespann die hölzerne Eingangstür, sehr zur Entrüstung der Wartenden, die draußen zurückbleiben mussten.

Sie standen nun in einem großen Vorraum, ähnlich dem Eingangsbereich eines Mietshauses, von dem eine weitere Treppe nach oben führte.

Die plötzliche Wärme, die sie umschloss, trieb Noah das Wasser in die Augen, und seine Schusswunde begann unangenehm unter dem Verband zu jucken.

»Um ein Haar hättest du es vermasselt«, zischte Oscar. »Die haben nur noch drei Betten.«

Passt doch, dachte Noah, während die Mitarbeiterin sie die Treppe nach oben zu einer Art Empfangstheke begleitete, über der ein von Neonröhren beleuchtetes Schild mit der Aufschrift »Aufnahme« hing. Dahinter erwartete sie eine groß gewachsene Frau. Sie trug einen weißen Arztkittel, einen Mundschutz, und ihre Hände steckten in Latexhandschuhen, als wollte sie jeden Moment anfangen zu operieren.

»Hallo, Oscar«, sagte die Dame; sie klang erschöpft, aber nicht unfreundlich. Ihr graues Haar war kürzer geschnitten als ein Dreitagebart, was sie auf den ersten Blick ein wenig brutal wirken ließ, doch das Lächeln in ihren Augen korrigierte diesen Eindruck sofort wieder. »Lange nicht mehr gesehen. Wen hast du uns denn mitgebracht?«

»Pattrix, ich meine Patricia, kennen Sie ja, Frau Simone. Und Noah habe ich auf dem Avus-Rastplatz kennengelernt. Er ist per Anhalter aus Holland zu uns gekommen.«

Oscar klopfte Noah auf die gesunde Schulter, wozu er sich etwas strecken musste. »Ist etwas wortkarg, spricht kaum unsere Sprache.«

»Verstehe.« Die Frau, die offenbar Simone hieß, entweder mit Vor- oder Nachnamen, zeigte mit dem Daumen hinter sich zu einem Flur, der an der Theke entlang in die anderen Teile des Gebäudes führte. Von dort drang geschäftiger Lärm zu ihnen. Türen schlugen, Geschirr klapperte, Menschen riefen durcheinander, jemand hämmerte dumpf gegen eine Wand.

»Also dann, du weißt ja, wie es bei uns läuft, Oscar. Ich bringe euch als Erstes zur ärztlichen Untersuchung. Die wird wegen der Manila-Grippe etwas intensiver ausfallen. Ich persönlich glaube ja, dass die wieder mal ein Mordsbohei um die Ansteckungsgefahr machen, und am Ende stellt sich raus, dass die Regierung Millionen für unnütze Impfchargen vergeudet hat. Aber bis dahin bin ich verpflichtet, diesen Maulkorb zu tragen, nehmt’s mir also bitte nicht übel.«

Oscar zuckte mit den Achseln, und Noah nickte – mehr zu sich selbst als zu Simone, weil er sich an die Nachrichtensendung von gestern erinnerte. Eine Pandemie breitete sich aus, eine Krankheit, die mit grippeartigen Symptomen begann und unbehandelt zum Tode führen konnte. Experten des Robert-Koch-Instituts rechneten mit Zehntausenden von Opfern in den nächsten Wochen und rieten den Menschen, bei Fieber sofort den Arzt zu verständigen.

»Nach der Vorsorge könnt ihr duschen und frische Kleidung aussuchen, wir haben heute neue Spenden reinbekommen, auch warme Schuhe darunter, und es gibt Spaghetti. Aber ich fürchte, nur für euch Männer. Patricia kommt nicht rein.«

»Was?«, hörte sich Noah fragen.

Er war so entsetzt, dass er Oscars Ermahnung, kein Wort zu sagen, vollkommen vergessen hatte.

»Sie wollen die Kleine wieder in die Kälte schicken?«

Falls Simone erstaunt über Noahs doch vorhandene Deutschkenntnisse war, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Nur fürs Protokoll: Ich schicke niemanden weg, wenn ich noch Betten habe. Aber sie wird nicht bleiben wollen

»Nur fürs Protokoll«, erwiderte Noah und spürte, wie er sich vor Wut anspannte, als er auf Patricia zeigte, »aber haben Sie sich das Mädchen einmal genauer angesehen? Die ist doch gar nicht mehr in der Lage, eine eigene Entscheidung zu treffen.«

»Ach ja?«

Simone trat hinter der Theke hervor. Erst jetzt erkannte Noah, dass sie wie Oscar einige Pfunde zu viel auf der Hüfte trug, was sie nicht daran hinderte, mit erstaunlich schnellen Schritten zu Patricia zu gehen und nach ihrem Rucksack zu greifen.

Schlagartig war es mit der Teilnahmslosigkeit des Mädchens vorbei.

»Sehen Sie?«, fragte Simone und hatte Schwierigkeiten, das wimmernde Kreischen zu übertönen, in das Patricia verfallen war, kaum dass sie versucht hatte, den Reißverschluss der Tasche zu öffnen.

Großer Gott, was bewahrt sie nur darin auf?

Noah erfuhr die Antwort, bevor er seine Frage stellen konnte.

»Tiere sind nicht erlaubt.«

Simone nickte in Richtung Hausordnung, die unter Klarsichtfolie an einer Betonsäule im Empfangsbereich hing, direkt unter einem Hinweis zur Hygiene beim Händewaschen, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern.

Mittlerweile war es ihr gelungen, Patricias Finger so weit von dem Rucksack zu lösen, dass sie ihn öffnen konnte. Die Drogen hatten dem Mädchen jede weitere Kraft zum Widerstand geraubt.

Ungläubig starrte Noah auf das kleine, sandfarbene Fellknäuel in der Tasche. Der Kopf des Hundewelpen war nicht sehr viel größer als ein Pfirsich.

»Darf ich vorstellen: Das ist Toto. Sie hatte ihn gestern schon hereinschmuggeln wollen, da war sie allerdings nicht so high wie heute.«

»So viel zum Thema ›nicht auffallen‹«, raunte Oscar, dessen Worte in dem anhaltenden Gewimmer von Patricia untergingen, das allerdings etwas leiser geworden war, seitdem Simone den Rucksack wieder bis auf einen Luftschlitz für Toto verschlossen hatte.

»Okay, ich verstehe das mit den Tieren. Sie wollen keine Krankheiten einschleppen …«

»Ganz genau«, unterbrach ihn Simone, wieder auf ihrem Rückweg hinter die Theke. In der Zwischenzeit hatten sich mehrere Mitarbeiter der Caritas, zwei Männer und eine junge Praktikantin, im Flur genähert, angelockt von dem Tumult, den sie vom Empfang her hörten.

»Aber können Sie keine Ausnahme machen?«

»Leider nein. Erst recht nicht an Tagen wie heute, wo das Gesundheitsamt uns wegen der Pandemie doppelt und dreifach kontrolliert.«

»Tja, das ist tragisch, aber da können wir nichts tun«, sagte Oscar und klatschte in die Hände. Er machte Anstalten, an der Theke vorbeizuwatscheln, in Richtung der Arztzimmer, wie Noah vermutete. Diesmal war er es, der ihn an seiner Jacke zurückhielt.

»Oh doch, wir können etwas tun.«

Er drehte sich zu Patricia, deren Unterlippe bebte. Das Mädchen atmete schwer und hatte die Arme wieder vor dem Rucksack verschränkt.

Ihr Blick jedoch war nicht mehr so leer wie zuvor. Die Angst, das Einzige zu verlieren, was ihr im Leben noch etwas bedeutete, hatte ihn geklärt.

»Was hast du vor?«, fragte Oscar sorgenvoll, als Noah sich zu dem Mädchen hinunterbeugte und versuchte, ihr tief in die Augen zu sehen.

Drei Minuten später lag Patricia in warme Decken gehüllt auf der Liege der Krankenstation des Obdachlosenasyls, während eine Ärztin ihr behutsam einen Katheter legte, um sie mit einer Elektrolytinfusion zu versorgen.

Und Noah stand mit Oscar wieder draußen in der Kälte.