Meinen beiden Lehrern Viktor Gorgé und Georg Janoska
Popularisierung von Expertenwissen – dieses altehrwürdige aufklärerische Anliegen hat sich unter den aktuellen wirtschaftlichen, medialen und kulturellen Bedingungen grundlegend gewandelt. Auf der einen Seite machen die (Natur-)Wissenschaften, beflügelt von ihren Erfolgen, der Religion deren traditionelles Hoheitsgebiet von Welterklärung und Sinnstiftung streitig, auf der anderen Seite siedeln sie sich aber auch immer mehr im Bereich der Unterhaltungsindustrie an und werden zusehends zu einer Art «Pop Science». Wissen allein genügt heute nicht mehr, man muss damit vor allem Aufsehen erregen, es publikumswirksam in Szene setzen. Aufmerksamkeit ist das kapitale Gut, die gefragte Ware, die universelle Währung. Im alltäglichen Kampf um Aufmerksamkeit kann auch die Forschung nicht darauf verzichten, ihre Ansprüche vermehrt mediengerecht hochzuschrauben.
Die hier versammelten Texte lassen sich durchaus selbst als Stücke der Pop Science lesen, insofern auch sie sich auf der Spielwiese zwischen Wissenschaft und Alltag tummeln. Aber sie sind gleichsam Pop Science mit Spaßverderbercharakter. Sie kühlen die Exaltationen des gegenwärtigen Wissenschafts- und Technikbetriebes auf Normaltemperatur, das heißt auf ein menschliches Maß, ab. Es geht in den vorliegenden Essays also wörtlich um Versuche, dieses Maß in all den menschenflüchtigen Horizonten aufzuspüren, die sich heute in Technik, Wissenschaft, Medizin und Wirtschaft aufspannen.
Eduard Kaeser, geboren 1948 in Bern, ist Physiker und promovierter Philosoph. Er unterrichtet Physik und Mathematik an der Kantonsschule Olten. Daneben ist er als freier Publizist, unter anderem für den Tages-Anzeiger, die Neue Zürcher Zeitung und den Berner Bund, sowie als Jazzmusiker tätig. Für «Vom Prinzip Arbeit zum Prinzip Muße» erhielt er 2006 beim Essaywettbewerb «Ich arbeite, also bin ich» den ersten Preis. 2008 erschien im Wiener Passagen Verlag die Essaysammlung Der Körper im Zeitalter seiner Entbehrlichkeit. Thematisch dreht sich seine Schreibarbeit um zwei Gravitationszentren: die Möglichkeit einer Anthropologie in einer Welt der Geräte und die Möglichkeit eines lebbaren Universalismus in einer multikulturellen Welt.
Prolog: Little Science, Big Science, Pop Science
Ecce robot
AIBO oder Vor die elektronischen Hunde gehen?
Der Expertenbasar
Cogitus interruptus oder Vom Leiden im Webzeitalter
Vom Prinzip Arbeit zum Prinzip Muße
No Logo, no Ego
Sport als Technologiefortsatz
Das schuldige Gehirn
Die Ingenieure der Erlösung
Wissenschaft und Wunderglaube
Die Angst des Arztes vor Placebos
Der neueste Kreuzzug gegen Darwin
Evolution spielen mit Chimären
Der Gral der Physik
Epilog: Macht, Bullshit, Wahrheit
Nachweise
Impressum
Hinweise auf weitere Titel
Quizmaster: «Warum sind die Tage im Sommer länger als im Winter?»
Kandidat: «Hitze dehnt aus, Kälte zieht zusammen.»
Der amerikanische Atomphysiker Alvin Weinberg prägte 1961 den Begriff der Big Science, der Großforschung.1 Er wies damit auf eine neue, industrialisierte Form der Wissensproduktion hin, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – seit der Entwicklung der Atombombe im Manhattan-Projekt – Bahn gebrochen hat. Das Wort weckt Assoziationen mit Großkonzernen – Big Business –, und in der Tat kann man in ihm eine durchaus treffende Charakterisierung des heutigen wissenschaftlichen Unternehmertums sehen, das alles bisherige Forschen in den Schatten eines gewandelten Selbstbildes des Wissenschaftlers stellt. Die schieren Zahlenverhältnisse sprechen für sich. Der Großforschungscharakter zeigt sich allein schon an der Massierung der Wissenschaftler in der Gegenwart. Wie der Historiker Derek John de Solla Price 1963 in seinem schmalen, aber einflussreichen Bändchen mit dem Titel Little Science, Big Science schrieb, «leben 80–90% aller Wissenschaftler, die je gelebt haben, heute […]. Jeder junge Wissenschaftler, der heute beginnt und am Ende seiner Laufbahn auf eine normale Lebensphase zurückblicken kann, wird sehen, dass von allen bis dahin geleisteten Arbeiten 80–95% vor seinen eigenen Augen durchgeführt wurden.»2
Little Science – das war die Ära der in Gelehrtenstuben, Werkstätten oder Kellergewölben laborierenden faustischen Einzelgänger. Ein dunkel-romantischer Hauch umgibt sie bis heute, auch wenn die Big Science längst dem rationalen Regime des Forschungsmanagements, der Organisationsstrukturen, der international vernetzten Projekte und betriebsökonomischen Kalküle zu gehorchen begonnen hat.
Der moderne Großkomplex Forschung ist nun seinerseits seit einiger Zeit in eine andere Ära eingetreten und hat darin Züge angenommen, die meiner Meinung nach ein neues Epitheton rechtfertigen. Ich nenne sie die Ära der Pop Science.3
Pop Science ist nicht Populärwissenschaft, obwohl sie natürlich deren Tradition entstammt. Und man kann in ihr durchaus Elemente finden, die die populärwissenschaftliche Literatur immer schon ausgezeichnet haben: Belehrung, Bildung, Unterhaltung. Bereits Galileis in der «Vulgärsprache» Italienisch geschriebenen Dialoge sind eine Mischung aus diesen Bestandteilen. Bernard de Fontenelle publizierte 1686 mit den Entretiens sur la pluralité des mondes den ersten Bestseller des neuen Wissens. Im 18. Jahrhundert popularisierte der «Damenphilosoph» Francesco Algarotti Newtons Mechanik und Optik, ebenfalls in Form von Dialogen. Il Newtonianismo per le dame hieß sein Buch, das den Salons der europäischen Damenwelt die Geheimnisse der neuen Naturphilosophie nahezubringen suchte. Es wurde berühmt und vielfach übersetzt. Populärwissenschaft hat in den westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung mit ihrer Idee der Selbstbestimmung des Menschen, der Emanzipation des Bürgertums und der Demokratisierung des Wissens ihre hohe zivilisatorische Stellung als Bildungswert erhalten und auch behalten. Das Genre der populärwissenschaftlichen Literatur entwickelte sich im 19. Jahrhundert, angefangen etwa mit Alexander von Humboldts Kosmos-Bänden, berühmt geworden durch Jules Vernes Romane, den europäischen Markt geradezu explosionsartig erobernd seit der Londoner Weltausstellung 1851 mit ihrem «Fest des Fortschritts».
Pop Science ist eine Mixtur aus solch «volkspädagogischer» Tradition und moderner Popkultur, wie wir sie von Kunst und Musik her kennen. Von «Edutainment» oder gar «Sciencetainment» ist jetzt die Rede. Und in solchen Wortschöpfungen deutet sich auch schon das an, was ich als zeittypisch an der Pop Science betrachte: eine Gewichtsverschiebung von der Aufklärung zur Unterhaltung. Nicht dass die beiden sich notwendig ausschlössen. Im Gegenteil: Lernen und Lachen sind eine wunderbare Kombination! Wer erinnert sich nicht an das fröhliche Gelächter über diesen oder jenen gelungenen Witz oder misslungenen Versuch des Chemielehrers. Oder man denke an die legendären Vorlesungen Richard Feynmans, dieses genialen Physikkaspers, bei dem sich Didaktik stets mit Komik paarte. Ohnehin wird vornehmlich im angelsächsischen Sprachraum ein «Ethos der Verständlichkeit» gepflegt, das keine Berührungsängste mit Showelementen kennt. Es nimmt den Wissenschaftler geradezu in die Stilpflicht, die eigene Arbeit klar und unterhaltend einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Ein Organ wie Scientific American legt ein hervorragendes Zeugnis diese Kunst ab.
Das eigentlich Neuartige sind die gewandelten kulturell-ökonomisch-technischen Bedingungen, die die herkömmlichen Elemente der Popularisierung auf die Spitze treiben. Die Forschung eilt voraus ins Unbekannte, und wir Laien können – selbst wenn wir uns bemühen – kaum Schritt halten. «Wir sind auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft», sagte Reinhard Breuer, Chefredaktor von Spektrum der Wissenschaft, schon vor einiger Zeit in einem Interview, «und wir haben nicht die Mittel, dieses Wissen in die Gesellschaft zu integrieren. Daher entwickeln sich Alltags- und Wissenschaftswelt zunehmend auseinander. Es entsteht eine wachsende Kommunikationskluft, die nur mit allergrößter Mühe zu überbrücken sein wird.»
Aber auch wenn sie nicht zu überbrücken ist, so nistet sich in dieser Kluft heute ein Markt ein, der mit dem Anschein einer beliebigen Herstellbarkeit von Verständnis Handel treibt. Zwischen Alltagswelt und Wissenschaftswelt entstehen Umschlagplätze von Science in Pop, wo wir so tun, als ob wir Wissenschaft verstünden. Und wie es bekanntlich die Extreme sind, die am deutlichsten gewisse Entwicklungen zum Vorschein bringen können, markiert auch die Pop Science sozusagen die Extremform des wissenschaftlichen Werks im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit. Vier Aspekte möchte ich hier kurz beleuchten: den Wissensbasar, die Personalisierung, die Überspanntheit der Ansprüche und die Eventkultur.
Pop Science bezeichnet zunächst ein Phänomen, das erst in den marktbestimmten Lebensformen von heute so richtig ins Kraut schießt. Der österreichische Ökonom und Architekt Georg Franck nennt es die «Ökonomie der Aufmerksamkeit» im «mentalen Kapitalismus».4 Wissen allein genügt nicht mehr. Man muss mit Wissen Aufsehen erregen. Aufmerksamkeit ist das kapitale Gut, die gefragte Ware, die universelle Währung.
Science sells – populärwissenschaftliche Literatur füllt regalmeterweise Bibliotheken und Buchläden. Keine Qualitätszeitung ohne Wissenschaftsseite, auf der aus allen Bereichen der Forschung berichtet wird. Kein Fernsehsender ohne Wissenschaftsmagazin oder Wissenschaftsquiz. Das Medium Fernsehen betont vor allem die Gaudi des Wissens: «Wissenschaftscomedy» nennt sich zum Beispiel eine Sendung. Meist zeigt ein aufgedreht-lustiger Moderator allerlei Spektakuläres und Effektvolles aus dem Reich der Natur und der Technik: Farbspraydosen, die einen Mikrowellenofen zum Explodieren bringen; heißes Wasser, das, im kalten sibirischen Winter hochgeworfen, augenblicklich als Eisregen niederfällt; einen Haarschopf, der ein Auto trägt. Mitunter erklärt uns auch ein Fernsehwissenschaftler diese Phänomene, obwohl seine erhellenden Kommentare in der Regel kaum mehr als einen schwachen Schein von Plausibilität zu erzeugen vermögen.
Realistischerweise akzeptieren wir den Gemischtwarenladen des Wissens als die schlichte Tatsache, dass das Fernsehen ein Medium ist, das alles, was darin vorkommt, in ein eigenes telegenes Format transformiert. Auch Wissenschaft. Umso mehr aber wird dann – zumindest für den, der eine gewisse Sensibilität bewahrt hat – der Kontrast zum eigentlichen Verstehen deutlich, zu dem also, was jeder Naturwissenschaftslehrer weiß: Verstehen heißt, dass der Schüler das Elementare an den Phänomenen und Effekten erkennt, damit er sich dann selbst einen Reim auf ähnliche Erscheinungen machen kann. Sich das Wissen zu eigen machen, es in sich sedimentieren lassen, ist das A und O aller Didaktik. Ein solcher Wahrnehmungstransfer setzt aber eine recht widersprüchliche Mischung voraus: Muße und Mühe. Beides gibt es unter dem Diktat von Sendezeit und Leichtbekömmlichkeit nicht. Deshalb entsteht das Paradox, dass wir heute zwar dank alter und neuer Medien wie nie zuvor mühelosen Zugang zum Wissen haben, dass aber gerade diese Leichtigkeit im Grunde das Verstehen hintertreibt. Der Wissensbasar ist nichts als ein Ausdruck für den Mythos der Wissensgesellschaft, Wissen ließe sich in Magazinbeständen auslagern und beliebig herbeigoogeln.
Im Einstein-Jahr 2005 war noch in der hintersten Provinzzeitung vom «Popstar» der Physik die Rede. Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der Pop Science: die Ikonisierung. Einstein war schon zu Lebzeiten in den USA die Ikone des Wissenschaftlers, und er wusste dies auch geschickt und medienwirksam auszunutzen. Das Jahr 2005 machte ihn nachgerade zum Brand «Einstein», zur Marke «kauziges Genie». Und dergestalt verlangt heute die Vermarktung des wissenschaftlichen Geistes vom Wissenschaftler vor allem eins: Be your own brand.
Personalisierung und Ikonisierung in den Wissenschaften – primär in den Naturwissenschaften – sind historisch durchaus verständlich. Lange Zeit – und wahrscheinlich auch weitgehend heute noch – prägte ein dominantes Bild die öffentliche Wahrnehmung des Forschers, nämlich jenes des objektiven, emotions- und humorlosen, rationalen Faktenhubers und Erbsenzählers, dem Sinclair Lewis in seinem Roman Dr. med. Arrowsmith ein nicht gerade schmeichelhaftes literarisches Denkmal gesetzt hat:
«Er hatte nie bei einer Herzogin gespeist, nie einen Preis erhalten, war nie interviewt worden, hatte nie etwas produziert, was das Publikum verstehen konnte, und hatte, seit den Liebesaffären seiner Schulzeit, nie etwas erlebt, was man in besseren Kreisen als romantisch zu bezeichnen pflegt. Er war, im wahrsten Sinn des Wortes, ein echter – ein rechter Wissenschaftler.»
Die Pop Science bemüht sich nach Kräften, von dieser Karikatur des unpersönlichen Wissenschaftlers loszukommen. Pionierarbeit hatte etwa der Molekularbiologe James Watson mit seinem Buch über die Doppelhelix geleistet, in der er uns die menschlich, allzumenschlichen Seiten der Forschung weidlich schilderte. Watson selbst lebt diese Personalisierung heute auf seine Art vor. Neuerdings sorgt er nicht so sehr durch Forschungsergebnisse für Schlagzeilen – er hat das als Nobelpreisträger auch nicht mehr nötig –, sondern vielmehr durch politisch unkorrekte Bemerkungen über Polygamie und Rassenintelligenz. Ich vermute, Watson inszeniert solche Kapriolen absichtlich. Er hat ganz einfach begriffen, dass er sich auf dem Markt positionieren muss und setzt auf die Marke «verrücktes Genie». Wie Peter Kemper schreibt, ist Pop «das schnell wirkende Gegengift zur Langeweile. Denn wenn der Markt eines nicht erträgt, dann ist das Langeweile.»5 Diese Lektion hat Watson schnell gelernt. «Avoid boring people», rät er dem wissenschaftlichen Nachwuchs in seinem neuesten populären Buch: «Meide Langweiler.»
Ein anderes typisches Beispiel ist Stephen Hawking, der ja gerne als neuer Einstein gehandelt wird. Seine Theorien über Quanteneffekte und die Thermodynamik schwarzer Löcher gehören zum Anspruchsvollsten, was die Physik hervorgebracht hat. Selbst für einen nichtspezialisierten Physiker sind sie nur mit einigem Aufwand nachvollziehbar. Umso überraschender mutet auf Anhieb die breite Aufmerksamkeit an, die Hawking genießt. Das liegt sicher auch an seiner Popularisierungsfähigkeit. Aber viel stärker ins Gewicht fällt meines Erachtens die Pop-Attitüde, die einen anderen alten Topos ausschlachtet, nämlich jenen des kranken Genies. Die Leute interessieren sich im Grunde nicht für Hawkings Theorien, sondern für die irgendwie freakige Erscheinung, für die «Ikone Hawking». Und dazu tragen nicht nur der missgebildete Körper im Elektrorollstuhl bei, der Sprachcomputer, über den er mit dem Publikum kommuniziert, sondern auch – man möchte fast sagen – der Sexappeal schwerverständlicher Theorien, die der Geist in einem solchen Körper auszubrüten vermag.
Zur intensiven Bewirtschaftung der Aufmerksamkeit gehört auch die Überspanntheit des Interpretationsanspruchs, der natürlich die Aufbereitung in den Massenmedien sehr entgegenkommt. Pop Science heißt: mit Wissenschaft Wind machen, dass es rauscht im Blätterwald des Feuilletons. Was zählt, ist das flotte Statement, die knackige These. Auch hier liefert die Werbebranche das beste Stichwort: Make a difference. Es genügt nicht, einen interaktiven Roboter zu bauen, man muss auch noch verkünden, Mensch und Maschine würden sich binnen Kurzem nicht mehr voneinander unterscheiden lassen, wie das etwa Rodney Brooks, der Direktor des Robotiklabors am Massachusetts Institute of Technology (MIT), oder Ray Kurzweil, der Synthesizerbauer, tun. Es genügt nicht, dass die Hirnforschung für alles, was wir tun und lassen, spezifische Areale im Gehirn entdeckt, sie will uns auch gleich unsere naive Vorstellung austreiben, wir hätten einen freien Willen. Jedenfalls wissen sich die deutschen Neurologen Gerhard Roth und Wolf Singer mit dieser These zurzeit unüberhörbar zu machen.
Auch diese Taktik ist nicht neu. Übertreibungen sind normal, weil Wissenschaft ihrem Wesen nach dialektisch verfährt: Eine Übertreibung weckt den Widerspruchsgeist. In Fachkreisen kann das zu fruchtbaren Kontroversen führen, in der Öffentlichkeit zu Bestsellertiteln wie Der Gotteswahn. Er stammt vom Zoologen Richard Dawkins und bietet ein schönes Anschauungsbeispiel für den Übergang von der Popularisierung zum Pop. Bekannt wurde Dawkins in den 1970er Jahren mit dem Buch Das egoistische Gen, in der er sich höchst kompetent und populärwissenschaftlich für ein neues Paradigma einsetzte: die Verhaltenstheorie der Gene.
War schon in diesem Buch ein streitbarer reduktionistischer Wille vernehmbar, so entwickelte sich Dawkins während der letzten drei Jahrzehnte zu einem histrionischen Missionar des Darwinismus, in dessen Namen er heute einen Kreuzzug des atheistischen Fundamentalismus gegen die Religion führt. In ihr hat er den Sündenbock für alles Übel in der Welt geortet. Man mag dies als Reaktion auf den weltweit erstarkenden religiösen Fundamentalismus deuten, aber ich vermute, dass Dawkins durchaus bewusst mit dem Pop-Science-Charakter seiner Mission operiert. Wenn ein intelligenter Autor sich nicht entblödet, gläubige Menschen als von einem Gottesvirus Befallene und Religion als «eine Form mentalen Kindesmissbrauchs» zu beleidigen, scheint mir das ein deutlicher Hinweis darauf zu sein, dass er das Metier der Pop Science beherrscht: In aller Munde kommt man nicht so sehr dadurch, dass man sich einen wissenschaftlichen Namen macht, sondern dadurch, dass man im Namen der Wissenschaft Dreistigkeiten in die Welt setzt.
Auch in den altehrwürdigen Stätten des freien und kritischen Geis- tes wie etwa den Universitäten hält die Pop Science Einzug. Das zeigt schon das oftmals geradezu marktschreierisch vorangetriebene Ranking und Rating. Es geht nicht nur um Wissensproduktion, sondern vermehrt um Wissensmarketing. Eine Hochschule, die etwas auf sich hält, lanciert Exzellenzinitiativen, verwandelt sich vom Elfenbein- in einen Leuchtturm konformer Bildung oder verleiht Popstars die Ehrendoktorwürde.
Hinzu gesellt sich, was neuerdings «Eventisierung» von Wissenschaft genannt wird. Die Sprache bringt es ans Licht: Eine Universität hat ihren «Tag der offenen Tür» in «Eventkultur pur» umbenannt. Ein andere führt eine «lange Nacht der Wissenschaften» durch. Im Trend liegen auch Anleihen beim Sportdiskurs, die Beschwörung des Athletismus im Forschungsbereich. Die damalige deutsche Bildungsministerin inaugurierte 2004 die «positive Leistungsspirale» des Wettbewerbs «Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten!». Fehlt nur noch ein Austragungsmodus im Stil der Champions League.
Hinter solchen Aktionen steckt, neben dem durchaus berechtigten Gedanken der Öffentlichkeitspflicht universitärer Eliten, ein Gesinnungswandel unter neuen Zeitbedingungen. Zielgruppe des Eventmarketings sind nicht nur Laien, sondern immer mehr die Wissenschaftler selbst. Wie es scheint, passen sich die Schon- und Freiräume des Geistes zunehmend der freien Wildbahn des Wettbewerbs an. Dabei ist eigentlich gute Forschung immer ein Ereignis in dem Sinne, dass sie von der Kraft des menschlichen Pionier- und Experimentiergeistes zeugt. Zum «Event» aufgeblasen, wird sie nicht besser, sondern besser vermarktbar. In einem kürzlich erschienenen Artikel redet der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp Fraktur:
«Die Eventisierung gehört zu einer Strategie der ‹Neuerfindung› der Universitäten unter den Vorzeichen einer vollständigen Ausrichtung des neuen Systems an neoliberalen Ordnungsvorstellungen. Ein Staatssekretär aus dem bayerischen Wissenschaftsministerium hat Ende der 90er Jahre die Notwendigkeit einer Veränderung der Universität damit begründet, dass sie ‹fit› für das neue Jahrtausend gemacht werden müsste. Allein mit dieser Wortwahl hat er schon verraten, worum es gehen soll: nicht um kritische Wissenschaft oder Autonomiespielräume der Universität, sondern um einen Anpassungsprozess (‹to fit in› heißt ja genau das) an die Imperative einer ökonomisch gesteuerten globalen Welt.»6
Es besteht die Neigung, die medialen Inszenierungen von Wissenschaft als Public-Relations-Zauber abzuqualifizieren, der mit «eigentlicher» Forschung nichts zu tun hat. Dabei zehrt man aber meist von einem veralteten Ideal reinen wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens. Gerade die Pop Science fordert dieses Ideal heraus, indem sie auf eine gängige Doppelrede und Doppelmoral aufmerksam macht (wie sie den Sport schon längst infiziert hat). Man beruft sich zwar auf ein inneres Ethos – etwa objektive Erkenntnissuche –, das nach wie vor eine hohe gesellschaftliche und kulturelle Ausstrahlungskraft hat (und haben sollte). Gleichzeitig aber wird dieses Ethos unterspült und unterhöhlt durch Strömungen in Gesellschaft und Wirtschaft, dem Bedürfnis, an diesem in Laboratorien und Seminarien produzierten Wissen teilzuhaben, davon zu profitieren. Naheliegenderweise bedienen die Medien ein solches Bedürfnis bestens. Und sie stehen unter dem Diktat eines immer entfesselteren Marktes.
Dass wissenschaftliche Resultate durchaus einen Nachrichten(markt)wert haben können und haben sollen, ist nicht das Problem. Und es liegt auch nicht bei den Medien allein. Die Wissenschaft selbst scheint sich unter den neuen Bedingungen umzustrukturieren. Manche Forscherinnen und Forscher fühlen sich dem Druck einer erhöhten Spannung, um nicht zu sagen: einer Zerreißprobe zwischen wissensproduzierenden und wissensvermittelnden Ansprüchen ausgesetzt. Gerade in den USA, wo es nachgerade zum Comment des Wissenschaftlers gehört, sich verständlich auszudrücken, sind skeptische Töne zu vernehmen, und zwar aus der obersten Liga. Physikerinnen wie Lisa Randall, Psychologen wie Steven Pinker oder Zoologen wie Marc Hauser, fachlich hochqualifizierte Autorinnen und Autoren von exzellenter Populärliteratur, demonstrieren sozusagen in persona den prekären Spagat zwischen professioneller und populärer Wissenschaft. Lisa Randalls Pensum als populärwissenschaftliche Autorin ließ ihr, wie sie sagt, kaum mehr Zeit für einschlägige physikalische Forschung. Das führt dazu, dass hervorragende Köpfe sich über kurz oder lang mit der Option zu befassen haben, entweder Forschung zu betreiben oder populäre Bücher zu schreiben. Steven Pinker bemerkt, dass er in der Zeit vor seiner erfolgreichen Populärschriftstellerei ein kognitionswissenschaftliches Labor mit einem halben Dutzend Doktoranden führen konnte, dass ihm das jetzt aber nur mit höchstens zwei Studenten möglich sei. Steht in diesem Sinn ein Braindrain vom Labor zu den Medien bevor?
Ich möchte nicht dramatisieren. Selbstverständlich gibt es nach wie vor gute Wissenschaft, und gute Wissenschaft kommt nicht aus ohne ein gewisses Maß an disziplinärer Esoterik und Öffentlichkeitsresistenz. Gute Wissenschaftler pflegen auch nach wie vor ein Ethos, das zwischen Verständlichkeit und medialer Anbiederung unterscheidet. Gerade deshalb sollten wir die gesellschaftliche Unterströmung, auf der die Pop Science treibt, nicht aus den Augen verlieren. Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann hat jüngst in seiner Streitschrift mit dem Titel Theorie der Unbildung auf Tendenzen einer Gesellschaft hingewiesen, die zwar Wissen als ihr Wesensmerkmal propagiert, dieses Wissen aber zunehmend nach seiner technischen, ökonomischen, politischen und eben auch medialen Nutzung beurteilt. Auf diese Weise findet eine heimliche Entwertung des Wissens im Zeichen seiner allseitigen Verwertbarkeit statt.7
Ich wage zum Schluss eine Diagnose: Im Hintergrund von Pop Science haben wir es mit einem Problem der Wissenslegitimierung zu tun: Was soll all der Aufwand an Forschung, wenn er sich nicht in deutlich sichtbarer – technisch-ökonomisch-politisch-medialer – Dividende auszahlt? Eine solche Frage erstickt die ungebundene Neugier über kurz oder lang. Vielleicht wäre es daher an der Zeit, sich auf den Kern zurückzubesinnen, der in der Populärwissenschaft steckt: Aufklärung mittels Wissenschaft; Bildung zu einem offenen, kritischen Menschen, der Illusionen und Mythen misstraut. Was die Pop Science dagegen liefert, ist über weite Strecken eine neue Mythenbildung mittels Wissenschaft, also Gegenaufklärung. Sagen wir es unmissverständlich: Die Pop Science markiert Tendenzen einer Gesellschaft, die nicht wissen will, sondern nur zuschauen und lachen und klatschen.
Die hier versammelten Texte lassen sich durchaus selbst als Stücke der Pop Science lesen, insofern auch sie sich auf der Spielwiese zwischen Wissenschaft und Alltag tummeln. Aber sie sind gleichsam Pop Science mit Spaßverderbercharakter. Sie kühlen die Exaltationen des gegenwärtigen Wissenschafts- und Technikbetriebes auf Normaltemperatur, das heißt auf ein menschliches Maß, ab. Es geht in den vorliegenden Essays also wörtlich um Versuche, dieses Maß in all den menschenflüchtigen Horizonten aufzuspüren, die sich heute in Technik, Wissenschaft, Medizin und Wirtschaft aufspannen.
So soll sich schließlich auch ein lautmalerischer Aspekt von Pop Science geltend machen, der ihre Ambivalenz hörbar zum Ausdruck bringt: Stark Aufgeblasenes kann platzen: Pop!
1 Weinberg, Alvin M.: «Impact of large-scale science on the United States», in: Science 134 (1961); deutsch: Probleme der Großforschung. Wissenschaftspolitik und Organisationsformen der Forschung. Die Forschungspolitik der BRD, Ffm 1970.
2 Solla Price, Derek J. de: Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Ffm 1974.
3 Meines Wissens verwendete der Historiker George Basalla diesen Terminus zum ersten Mal. Vgl. Basalla, George: Pop Science. The Depiction of Science in Popular Culture, in: Holton, G./Blanpied, W. (Hrsg.): Science and its Public. The Changing Relationship, Dordrecht, Boston 1976, S. 261–278. Mein Gebrauch des Begriffs weicht allerdings von dem Basallas ab.
4 Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München, Wien 1998. Franck hat übrigens in diesem sehr lesenswerten Buch das Bild des Wissenschaftlers als Homo oeconomicus aufgebracht und auch gleich kritisiert (S. 189ff.). Vgl. auch sein neueres Buch: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, München, Wien 2005, insbesondere Kapitel 3: «Die Wissensindustrie».
5 Kemper, Peter: «Nur Kult läßt keinen kalt», in: ders. (Hrsg.): Der Trend zum Event, Ffm 2001, S. 190.
6 Keupp, Heiner: «Unternehmen Universität. Vom Elfenbeinturm zum Eventmarketing», in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2007), S. 1198.
7 Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006.