Über dieses Buch:
Hamburg 1672: Endlich läuft der »Witte Falcke« wieder aus dem Hafen aus und bricht zum Walfang nach Grönland auf. Viel Zeit bleibt den Seeleuten nicht, denn die Wale müssen erlegt sein, bevor sich das Eis wieder schließt. Was als Abenteuer beginnt, wird bald zum Kampf gegen die unbarmherzige Natur. Denn in diesem Jahr erwarten Kapitän Rickmers und seine Männer ganz neue Herausforderungen, von denen heftige Unwetter die geringsten sind.
Ein Roman voller rauer Seeabenteuer, die man sich heute kaum noch vorstellen kann!
Über die Autorin:
Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, Tierärztin und Wikingerexpertin, hat einen Großteil ihrer Jugend im schwedischen Uppsala, dem Zentrum der nordischen Kultur, verbracht. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Nordfriesland.
Kari Köster-Lösche veröffentlicht bei dotbooks bereits die historischen Romane »Die Erbin der Gaukler«, »Die Wagenlenkerin«, »Die Hexe von Tondern«, »Die Reeder«, »Die Heilerin von Alexandria« und das Kinderbuch »Stille Nacht, eisige Nacht« sowie zwei historische Romanserien:
DIE WIKINGER-SAGA:
»Der Thorshammer – Band 1«
»Das Drachenboot – Band 2«
»Die Bronzefibel – Band 3«
DIE SACHSEN-SAGA:
»Das Blutgericht – Erster Roman«
»Donars Rache – Zweiter Roman«
»Mit Kreuz und Schwert – Dritter Roman«
Beide Romanserien sind jeweils auch als Sammelbände erhältlich.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2015
Dieses Buch erschien bereits 1988 unter dem Titel »Das Herz der Wale« im Cobra Verlag
Copyright © der Originalausgabe 1988 by Cobra Verlag Husum/Nordsee 225o Husum
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Elisanth
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-342-2
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Kari Köster-Lösche
Jagd im Eis
Roman
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»Verdammt noch mal!« murmelte der Schiffer der kleinen Schmack, die abfahrbereit in der geschützten Wyck an der Südostküste von Föhr lag. Er schlug die Flaggleine energisch mehrmals nach außen, aber sie hatte sich irgendwo weit oben verhakt. »Auch wenn du nicht willst, du mußt doch«, knurrte er und zerrte wütend am Tau. Es riß, und die blaue Flagge, die die abfahrwilligen Grönlandfahrer an Bord gerufen hatte, flatterte an Deck, wo sie zum Glück noch eben eingefangen werden konnte, bevor sie über Bord ging.
»Na, na«, mahnte Namen Rickmers unwillkürlich, Commandeur eines Walfangbootes, auf der Schmack aber Passagier, und musterte mit berufsmäßiger Neugier das Ablegemanöver des Schmackschiffers. »Du sollst nicht fluchen oder unnütze Worte im Munde führen.« Er warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Seemann, den dieser aber gelassen zur Kenntnis nahm.
»Bei uns ist das anders als bei euch«, antwortete er gleichmütig. »Wir reden, wie's uns ums Herz ist.«
»Er hat recht, dein Vater«, meinte Oluf Paulsen, langjähriger Steuermann bei Commandeur Rickmers, kniff ein Auge zu und grinste den kleinen Tam an, der bei ihnen stand. »Fluchen bringt Unglück!«
Tam lächelte unsicher zurück, war er doch das erste Mal auf großer Grönlandfahrt. Der Elfjährige wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge und winkte dann entschlossen zum Ufer hinüber, an dem seine Mutter und zwei kleinere Geschwister standen.
Nicht nur die Familie des Kapitäns war dort versammelt, sondern ein großer Teil der Bevölkerung der Insel Föhr. Denn außer der nach Hamburg bestimmten Schmack von Jacob Braren sollten noch weitere fünf Schiffe ablegen, vier nach Holland und eines nach Glückstadt, alle besetzt mit den Grönlandfahrern dieses Jahres 1672, die einen großen Teil der männlichen Bevölkerung der Insel ausmachten.
Tam fror ein wenig, teils wegen der Aufregung, teils wegen der Kälte. In diesem Jahr hatten glückliche Umstände gefügt, daß das Eis einige Tage vor dem Petritag, dem 22. Februar, aufgebrochen war; die Kälte nahm jetzt gegen Abend wieder zu; und Tam senkte die Fäuste tief in die Taschen seiner wollenen Jacke.
»Na, mein Sohn, wie fühlst du dich?« fragte Namen Rickmers, der strenge und ernste Commandeur, und sah seinen Sohn forschend an. Nicht jeder Junge von zehn, elf oder zwölf Jahren ging freudig zur See, und bei der ersten großen Fahrt war manchem etwas beklommen zumute. Er legte die Hand um den Nacken von Tam und zog ihn an sich. Tam blickte seinen Vater überrascht an, war dies doch das Äußerste an Zärtlichkeit, das der Vater jemals aufgebracht hatte.
»Gut«, sagte er zögernd. Dann klemmte er sich zwischen den Wanten fest, um im auffrischenden Wind, der das Boot auf die Seite legen wollte, einen guten Stand zu haben, und starrte auf die Insel zurück.
Vor ein paar Tagen hatten noch überall die Biikenfeuer gebrannt, aber jetzt erinnerte nicht einmal ein letzter Rauch daran.
Namen Rickmers seufzte leise und fuhr seinem Sohn nochmals über das Haar. Tam aber löste seine Blicke vom Land. Nun war er Walfischfänger; der kleine Junge mit dem blonden, strubbeligen Haar, den Sommersprossen und der aufsässigen Himmelfahrtsnase richtete sich stolz auf.
Im Hintergrund wurden die beiden vom achtzehnjährigen David Detlefs beobachtet. Der junge Mann stammte aus ärmlichen Verhältnissen, und so sah auch seine Kleidung aus. Erst der Vorschuß würde es ihm ermöglichen, sich ausreichend warme Kleidung zu kaufen, im Moment aber fror er entsetzlich. Er warf einen neidischen Blick auf Tam, der einen Commandeur zum Vater hatte, und wandte sich dann ab. Gerne ging er nicht auf Fischfang, er fürchtete sich vor dem Wasser; immerhin war sein eigener Vater auf See geblieben. Aber nie würde jemand von seiner Angst erfahren, denn er hatte schon seit langem gelernt, seine Gefühle zu verbergen.
***
Mit frischem Nordostwind machten sie gute Fahrt. Da es bald dunkel wurde, richteten sich die Passagiere für die Nacht ein. Sie waren etwa sechzig Leute, die nach Hamburg wollten, und der Platz in der kleinen Schmack war nicht üppig bemessen.
Als die Luken verschalkt wurden, legte Tam sich hin. Obwohl die Wellen bei dieser Windrichtung nicht hoch auflaufen konnten, spürte er doch den ungewohnten Seegang im Magen und fing an zu schwitzen.
»Tam, denk an die Wale und wie du sie eigenhändig fangen wirst«, riet Oluf, der Steuermann, der gut wußte, wie dem Jungen zumute sein mußte.
Der überraschte Blick von Tam suchte im Halbdunkel sein Gesicht. »Meinst du?« fragte er. »Glaubst du, daß ich schon die Harpune werfen darf?« Der Junge wurde ganz aufgeregt und vergaß beinahe das Unbehagen, das ihn gepackt hatte.
Oluf grinste nachsichtig. Warum sollte er Tam die Vorfreude nehmen? Die Harpune war natürlich ausgeschlossen für einen Jungen, der noch nicht konfirmiert war.
»Tja, dann stellt euch schon mal die Stiefel zurecht«, spottete David Detlefs, der schadenfroh die beiden mitfahrenden Jungen beobachtete und auch aus eigener Erfahrung wußte, was los war.
Tam schluckte und versuchte, an den Harpunenschmied zu denken, der auf der Insel arbeitete. Mit seiner Fassung aber war es vorbei, als der andere Erstfahrer hastig den Schuh an sich riß und die Geräusche des Spuckens und Würgens nicht mehr zu überhören waren.
»So ist es uns allen gegangen«, tröstete Oluf Paulsen, der den Platz neben Tam belegt hatte.
Tams Vater verzog keine Miene. Der Junge mußte da durch. Mitleid war nicht angebracht.
Als am Morgen die Luken und Luftlöcher wieder geöffnet wurden, die frische, kalte Meeresluft hereinströmte und die Passagiere an Deck klettern konnten, vergaßen auch die Jungen die Qualen der Nacht. Von den Hollandfahrern und dem nach Glückstadt bestimmten Bojert war nichts zu sehen. Um sie herum nur die See: nichts außer den grauen Wellen, die hinter ihnen herrollten, sie hoben und senkten und unaufhörlich dem Ziel entgegentrugen. Nun waren sie wirklich unterwegs, das, wovon manche schon seit zwei, drei Jahren träumten, hatte begonnen. Die Jungen fieberten der großen Stadt Hamburg entgegen, die Älteren aber blieben gleichmütig.
Am dritten Tage kamen sie ohne Zwischenfälle an.
***
»So, da wären wir erst einmal«, stellte Commandeur Namen Rickmers fest, als er in Hamburg als erster auf den Kai sprang. Mit Mühe war es dem Schiffer der Schmack gelungen, einen Platz im überfüllten Binnenhafen zu ergattern. Es wimmelte von ein und auslaufenden gestakten, geruderten und gesegelten Booten, und das Manövrieren ging unter Geschrei und manchmal bösem Gebrülle vor sich. Die Führer von kleinen und kleinsten Booten und Jollen hangelten sich an den Bordwänden der größeren entlang, um ungeniert in eine Lücke zu schlüpfen, die eben die aufatmenden Schiffer der größeren anlaufen wollten.
Kapitän Rickmers besah sich zweifelnd die vielen Spieren, die gegen den hellen Himmel wie kahle Tannen abstachen. Und dahinter leuchteten die Fenster des Baumhauses auf, in dessen bedachter Galerie die reichen Hamburger saßen und Bier und Kaffee tranken. Er schnaubte leise. Kaffee, und dann auch noch auf der Straße rauchen! Das waren Exzesse der großen Stadt, die nichts Gutes für die Zukunft verhießen. Er war fest entschlossen, seinen Sohn nicht in diese Lasterhöhle zu lassen.
Commandeur Rickmers hatte sich für den Besuch bei seinem Reeder präsentabel gemacht, seinen langen Mantel glattgestrichen und den Gürtel wieder festgehakt. Groß und schlank, mit hellbraunen Augen und dunkelblondem Haar, sah er gut aus, und auch jetzt noch konnte er die Augen der Bürgersfrauen und Mägde auf sich ziehen, die einen verstohlen, die anderen in aller Offenheit; aber der Commandeur hätte nie hingeblickt, denn er war glücklich verheiratet. Mit Schwung setzte er den hohen Hut auf den Kopf und machte sich dann auf, um dem Reeder Carl Been seine Ankunft zu melden und mit ihm die Modalitäten der diesjährigen Grönlandfahrt abzumachen.
Die Seeleute, die er mitnehmen wollte, blieben vorerst an Bord der Schmack und auch viele der anderen, die sich erst eine Heuerstelle suchen mußten.
Tam wartete, bis sein Vater außer Sicht und Oluf Paulsen mit den anderen Männern am Schwatzen war, dann turnten er und sein gleichaltriger Kamerad ungesehen über das Seitenschwert an Land und machten sich auf, die große Stadt zu besichtigen. Tam hatte vor, alles zu sehen, was es zu sehen gab. Ihm sollte es nicht so gehen wie dem Kochsmaat, den er im vorigen Jahr über seine Erlebnisse befragt hatte.
»Warst du in Amsterdam?« hatte er neugierig wissen wollen.
»Ja«, hatte der andere gesagt.
»Wie war denn Amsterdam? Los, erzähle mal! War es schön?«
»Weiß nicht.«
»Du warst doch aber da?« hatte Tam sich nochmals vergewissert.
»Ja.«
»Und?« drängte Tam.
»Weiß nicht. Hab's nicht gesehen. Bin gleich auf den Walfänger.«
»Wie sahen denn die Wale aus?« hatte Tam sich hoffnungsvoll erkundigt.
»Weiß nicht. Hab' keine gesehen. Nur Speck.«
Da war Tam empört aufgestanden und gegangen. »Ein Walfänger willst du wohl nie werden«, hatte er verächtlich geknurrt.
Namen Rickmers betrachtete mit Staunen das Gewimmel in der Stadt. Man konnte meinen, sie würde mit jedem Jahr voller: mehr Leute, mehr Karren, mehr Kutschen, mehr Geschrei ... Mühsam bahnte er sich seinen Weg vom Hafen in die Altstadt. Man bereitete sich auf den Frühling vor, das war zu spüren, nicht nur die Walfänger wurden ausgerüstet, auch die Handelsschiffe. Unaufhörlich schaukelten die beladenen Karren zum Binnenhafen und ließen Fußgängern kaum Platz zum Durchkommen.
»Bester Herr«, jammerte eine Person, und als er erschrocken hinunterblickte, sah er eine in Lumpen gehüllte Gestalt zu seinen Füßen liegen.
Peinlich berührt, wollte er sich davonstehlen, aber die Bettlerin packte seinen Fuß mit männlich hartem Griff und hielt ihn am Boden fest. Dazu paßte gar nicht die unterwürfige Stimme, mit der sie bettelte.
Der Commandeur griff trotz allem mitleidig in die Tasche, und die Frau hob siegessicher ihr Gesicht zu ihm hoch. Es war über und über von Narben bedeckt, und der Kapitän erschrak zutiefst. Pocken! Er warf ihr eine Münze hin, riß sich los und floh ...
Als die Entstellte ihn schon längst aus den Augen verloren haben mußte, hörte er noch ihr hämisches Lachen – schadenfroh über den Dummen vom Lande, verzweifelt wegen des eigenen Schicksals? Er wußte es nicht, aber er konnte die ausgemergelte, kranke Frau lange nicht aus seinen Gedanken verbannen. Um so weniger, als er einige Straßenzüge weiter mehrere Lastwagen erblickte, die stumme Männer, heulende Weiber und sich festklammernde Kinder gewaltsam wegfuhren. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er den Karren nach. Nie war ihm bewußter geworden, wie grausam die Stadt zu ihren Einwohnern sein konnte.
»Die werden zum Pesthof am Heiligengeistfeld gekarrt«, drängte ihm ein Passant die Information auf, um die er gar nicht gebeten hatte. »Die haben wieder eine Razzia gemacht!« Der gesprächige Hamburger blies die Auskunft hinaus, als ob er froh sei, daß die kranken Bettler endlich aus seinem Gesichtsfeld verschwänden.
Der Commandeur hatte nichts weniger im Sinn, als sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen; er dankte flüchtig und eilte weiter durch die überfüllten, von Abfall übersäten Straßen, in die der Gestank aus den Fleeten hochwallte wie eine Nebeldecke. Dreistöckige Häuser, vierstöckige Häuser, über den Fleeten an die Häuser angeklammerte Bretterverschläge, die ein weiteres Stockwerk ergaben, aufgehängte Wäsche und dürre Kinder. Gegen dieses Elend war Nordfriesland ein Paradies.
Endlich schien ihm, als ob die Zahl derjenigen, die die Stadt ausgespuckt hatte, weniger würden. Statt der Bettler, der Krüppel und Siechen, sowie der Betrunkenen wurden die Menschen in anständiger Kleidung zahlreicher, geschäftige Knechte und eilige Mägde überholten ihn, der es ganz so eilig nicht hatte; er hörte Ausrufer und stand plötzlich auf einem Markt, dem Hopfenmarkt. Er wäre wohl sonst nicht über den Markt geschlendert, aber nach dem Erlebnis mit der Bettlerin brauchte er etwas, das ihn auf andere Gedanken bringen konnte. Ein Krug kam mitten am Tage nicht in Frage!
Und so ließ er sich schieben, schob selber, drängte sich dicht an die Stände mit dem leckersten Ochsen, Kalb und Schaffleisch, das man sich nur denken konnte.
Wer weiß, die Schafe kamen vielleicht von den Deichen zu Hause. Sinnend betrachtete er die blaßroten Schlachtkörper, deren aufgebogene Rippen einen Blick in das leergeräumte Innere gaben, und aus deren abgeschnittenen Hälsen von Zeit zu Zeit dunkelrote, zähe Blutstropfen auf das Marktpflaster kleckerten. Der zarte Salzgeschmack der Schafe war ein Leckerbissen für die verwöhnten Hamburger. Auch die ersten Milchlämmer des Jahres mit ihren weichen Schenkelchen und den runden Köpfen wurden bereits feilgeboten. Die fetten Ochsen aber, gelblich schimmernd, wo die Haut ihnen abgezogen worden war, konnten noch nicht diejenigen sein, die im Frühjahr den langen Ochsenweg von Jütland herunterwanderten. Die kamen erst später.
Auch Enten, Gänse, Hühner, Tauben und Schnepfen hingen an langen Balken, bereits gerupft und ausgenommen. Herrn Rickmers Blick wanderte langsam von den schlaksigen, langen Gänsehälsen zu der kleinen, quirligen Marktfrau, deren Kropf sich wie eine dicke Beule aus dem Umhang herauswölbte. Schon hielt sie ihm geschäftstüchtig ein Bündel Täubchen unter die Nase, aber er lehnte kopfschüttelnd ab.
Ein leckerer Duft durchzog die Stände, und der Kapitän wurde bis an den Ursprung des Geruches gezogen: Da standen die Kastanienrösterinnen, warfen mit einer Hand die Kastanien in Kupferpfannen und rührten mit der anderen.
»Kastanien, Röstkastanien, Rrrröstkastanien !« schrien sie gellend.
Plötzlich schmiegte sich eine Frau dicht an ihn und blickte ihm mit harten, berechnenden Augen aufmerksam ins Gesicht. »Du gefällst mir«, flüsterte sie. »Möchtest du mich?«
Er schüttelte stumm den Kopf. Sie schlängelte sich widerspruchslos und eilig in die Menge und war im Augenblick verschwunden. Der Kapitän sah ihr mit Abscheu nach. »Hübschlerinnen« ohne Lizenz waren noch unmoralischer als die mit den Hauben. Aber Gott sei Dank war man sie schnell wieder los, weil sie Angst hatten, zu lange an einem Ort zu bleiben.
Als er endlich in der Großen Reichenstraße ankam, war es viel später, als er gedacht hatte; erschrocken stellte er fest, daß er beinahe zwei Stunden vertan hatte.
***
Mit Verwunderung blickte der Commandeur dem unscheinbaren Buchhalter des Ratsherrn, Kaufmanns und Reeders Carl Been nach, der durch die nächst erreichbare Tür schlüpfte, kaum, daß er den Kapitän in der Diele des großen Patrizierhauses erblickt hatte.
»Was ist denn mit dir los?« dachte er und schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nicht mein eigener Geist!«
Danach mußte der Commandeur mehr als eine halbe Stunde auf die Unterredung warten, obwohl der Reeder im Haus war. Namen Rickmers zuckte mit den Schultern.
»Guten Morgen«, begrüßte ihn dann endlich Herr Been. Er trug den gefältelten Kragen und den hohen Hut seines Standes, und sein Gehabe war seinem Amt als Ratsherr durchaus angemessen. Dennoch wirkte er heute noch abweisender als sonst, fand der Commandeur im stillen. Der Ratsherr ließ sich ein Glas Wein bringen, prüfte per Augenschein und mit der Zunge und schien endlich bereit, sich zu äußern. Namen Rickmers mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzubrausen. Aber seinem Reeder gegenüber zeigt man keinen Unwillen.
»Ist der Witte Falcke fertig ausgerüstet?« fragte der Commandeur endlich und wußte mit einem Schlage, daß etwas nicht stimmte.
Herr Been ließ die gespreizten Finger aufeinander vibrieren, räusperte sich und suchte augenscheinlich nach den rechten Worten. »Tja«, sagte er gedehnt, »Ihr seid ja von Anfang an für mich gefahren, aber Eure Fahrten für uns haben nunmehr ihr natürliches Ende gefunden. Das letzte Jahr war das letzte Mal.« Er seufzte und fuhr dann kurz angebunden fort: »Das Schiff ist verkauft.«
»Das Schiff ist verkauft?« wiederholte der Commandeur fassungslos. »Und Ihr habt es nicht für nötig gehalten, mir das mitzuteilen?«
»Es kam ganz überraschend, auch für mich.«
Namen Rickmers schwieg. In der Stille waren Kirchenglocken zu hören, wohl von Sankt Nicolai oder der Domkirche, und das Rumpeln von Karrenrädern auf der Straße. »Na, dann ...« Der Commandeur stand auf, und auch der Reeder erhob sich, erleichtert, wie es schien. »Dann habt Ihr Euch wohl aus dem Walfanggeschäft zurückgezogen«, sagte Namen Rickmers leise, nur weil er irgend etwas sagen mußte, um seine Enttäuschung zu verbergen.
»Eigentlich nicht«, erwiderte der Reeder, »es ist so, ich habe mir ein neues, größeres Schiff bauen lassen.«
»Wer führt es denn?« fragte der Commandeur überrascht und unterdrückte die Bemerkung, daß ein Schiffsneubau einem Reeder ja wohl nicht ganz so überraschend ins Haus stand, wie dieser es darzustellen versuchte.
»Ja nun, ein Hamburger, Ihr kennt ihn nicht.«
Hellhörig, wie Rickmers nun war, merkte er, daß der andere am liebsten nicht darüber gesprochen hätte. »Woher wißt Ihr das?« begehrte er auf. »Ich kenne alle Commandeure, die von Hamburg aus fahren, und noch etliche andere dazu.«
»Er ist noch nicht als Commandeur gefahren«, wand sich der Reeder.
»Und da wollt Ihr ihm gleich ein großes Schiff anvertrauen?« fragte der Commandeur entsetzt. »Wieviele Lasten hat es denn?«
Dem Reeder war die Angelegenheit so peinlich, daß er, ohne sich zu besinnen, » 150 Lasten, 7 Schaluppen«, murmelte.
»Euch brauche ich doch nicht zu erzählen, wie gefährlich die Fahrten sind«, fuhr der Commandeur vorwurfsvoll fort.
»Macht Euch keine Sorgen«, erwiderte der Reeder knapp und hatte sich endlich gefaßt. »Ich habe vollstes Vertrauen zu Peter Burmester.«
Rickmers wurde aufmerksam. »Ach, so ist das«, sagte er langsam. »Ist er nicht ebenfalls Ratsherr?«
»Nein, sein Vater ist der Ratsherr, und der junge Mann ist mein zukünftiger Schwiegersohn.« Der Ratsherr zog eine silberne Taschenuhr hervor, und der Commandeur verstand, daß die Unterredung beendet war. Aber er war so erbittert, daß er das Signal ignorierte.
»Aber der Sohn eines Kaufmanns führt doch keinen Walfänger«, wandte er ein.
»Doch, in diesem besonderen Fall schon«, erklärte der Ratsherr mit schmalen Lippen. »Er kann schließlich keine Weisungen von einem Angestellten entgegennehmen, wenn er schon an Bord ist. Aber jetzt muß ich Euch bitten zu gehen«, sagte er dann unverblümt und schritt entschlossen zur Tür. »Mich rufen Amtsgeschäfte zum Ness.«
Als der Commandeur schon im Hinausgehen war, fiel ihm noch etwas ein. »Wer hat den Witten Falcken gekauft?« wollte er wissen.
»Ein Jacob Jenckel«, erklärte der Reeder in verächtlichem Ton.
Namen Rickmers nickte zum Dank für die Auskunft und verließ ohne ein weiteres Wort das Haus.
Draußen marschierte er blindwütig los, bis er sich plötzlich neben der Börse vor der Alster wiederfand. Auch hier spiegelte das geschäftige Treiben die rege Handelstätigkeit der Stadt wider.
Innerhalb der Einfriedung der Börse standen die Kaufleute in Gruppen herum, diskutierten heftig mit erhobenen Händen oder flüsterten einander leise entscheidende Dinge ins Ohr, und auch außerhalb des Geländes promenierten die Männer in ihren pelzbesetzten Mänteln und den Spitzbärten, die einen Einschnitt in die Halskrausen drückten; vermutlich diejenigen, die noch ungestörter Heimlichkeiten austauschen wollten. Ihre Hüte mit den schmalen Krempen unterschieden sie deutlich von den vorübereilenden Handwerksburschen, deren Hüte breitere Krempen hatten, und bei denen dafür die Kragen schmaler waren.
»Kaufleute«, dachte Namen Rickmers erbittert. Hier galten die Kaufleute viel und die Menschen wenig. Ja, dies war eine Stadt des Geldes, ohne Zweifel.
Hier an der Börse merkte man übrigens nichts von der unruhigen Stimmung unter den Bürgern, aber möglicherweise waren einige von diesen Leuten auch darin verwickelt. Zumindest aber hatten sie alle ihre Probleme; und damit war der Commandeur wieder bei seinen eigenen angelangt.
Die Entwicklung der Dinge auf diese Weise war ein Schlag ins Gesicht. Und er hatte nicht nur seinen Posten eingebüßt, sondern weitere zwölf. Denn für zwölf Mann und seinen Sohn stand fest, daß sie in den nächsten Tagen mit ihm auf den Witten Falcken gehen würden; schließlich fuhren die meisten einige Jahre mit ihm.
Nach einer Anstellung auf dem neuen Schiff des Reeders zu fragen, war völlig aussichtslos: Der neue Commandeur würde nach dem Brauch das Schiff mit Leuten bemannen, die er selber für gut befand. Und in den meisten Fällen waren dies Verwandte und Bekannte. Die Mannschaft ging immer mit dem Kapitän, nicht mit dem Schiff.
Namen Rickmers gab sich nicht geschlagen. Wenn auch sein alter Reeder ihn ausgebootet hatte, so suchte vielleicht der neue noch nach einem Kapitän. Er fragte sich nach dem Haus des jetzigen Reeders vom Witten Falcken durch.
»Reeder Jenckel?« entgegnete der Gefragte verblüfft und schüttelte dann den Kopf. »Kenn' ich nicht, nur den Höker und Eisenkrämer Jenckel gibt es. Aber was der jetzt macht, weiß ich nicht so recht. Der verändert sich geschäftlich; ist wohl zu Geld gekommen.«
Zu des Commandeurs Erstaunen war es ein altes, ungepflegtes Gebäude, an dem er schließlich ankam. Es war keineswegs den Kaufmanns und Ratsherrnhäusern in der Reichenstraße ähnlich. Keine Rede konnte hier von backsteinerner Fassade, von Sandsteinportalen und geschwungenen Giebeln sein, weder Löwen noch Wappen zeugten von Geld und vornehmer Abkunft.
Das Haus, vor dem er stand, war ein mehrstöckiger Fachwerkbau mit einem Haupt und einem Nebeneingang. Der Commandeur nahm den Nebeneingang verwundert zur Kenntnis: Herr Jenckel hatte also Mieter, viele Mieter, wenn man in Betracht zog, daß in den vier Geschossen die Leute dicht bei dicht lebten ...
Genausowenig wie sein Haus entsprach Herr Jenckel dem Schema eines reichen Patriziers. Ja, Commandeur Rickmers begriff gleich, daß der Mann vor ihm überhaupt nicht zum Kaufmannsstand gehören konnte. Bartlos und mit strähnigem, langem Haar, ohne Kragen, stattdessen mit einem Halstuch, saß er vor ihm in einem hölzernen Sessel, den er knapp ausfüllte. Die Augenlider verdeckten fast die Augäpfel, aber er war nicht annähernd so schläfrig, wie er aussah. Er lächelte schwach, als er des Commandeurs forschenden Blick bemerkte.
»Ich mag keine Flöhe«, bemerkte er leichthin. »Hab sie noch nie leiden können, auch nicht, als ich's mir noch nicht leisten konnte, ohne Perücke zu gehen.«
Der Commandeur nickte verblüfft. »Genau wie ich kein Ungeziefer an Bord meiner Schiffe mag«, erklärte er dann.
»Aha, Ihr sucht ein Schiff«, stellte der Reeder, von dem Herr Rickmers immer noch nicht wußte, ob er wirklich einer war, sofort fest.
»Ich suche mein Schiff«, korrigierte ihn der Nordfriese.
»Es ist Euch also abhanden gekommen?« fragte der Reeder spöttisch.
»So kann man es auch nennen«, erwiderte der Kapitän. »Ich bin anscheinend das Opfer einer geschäftlichen Transaktion geworden.«
»De Witte Falck«, folgerte Herr Jenckel sofort und musterte den Commandeur neugierig.
»Ja.«
Beide Männer schwiegen. Schließlich nahm der Commandeur, für den eine Menge von diesem Gespräch abhing, den Faden wieder auf. »Habt Ihr bereits einen Mann Eures Vertrauens verpflichtet?« fragte er zögernd.
»Ja, natürlich.«
»Nun, dann wünsche ich Euch viel Glück«, sagte der Commandeur mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge und stand auf. »Es ist ein gutes Schiff ..., hoffentlich wird es immer gut geführt.«
»Meint Ihr, daß der Erfolg eines Walfängers von der guten Führung abhängt?« fragte Herr Jenckel, als sei es ihm plötzlich eingefallen. »Ihr werdet vermutlich schon aus meiner Kleidung geschlossen haben, daß ich weder zu den Herren vom ersten Stand gehöre, noch überhaupt zu den ›geborenen‹ Reedern«, erklärte er dann freimütig und keineswegs verlegen. »Es wird Euch also nicht erstaunen, wenn ich von den Erfahrungen eines anderen profitieren möchte.«
»Sicher«, antwortete Namen Rickmers unbewegt. »Wale gibt es genug. Entscheidend sind das Können und die Erfahrung des Kapitäns und außerdem die Disziplin an Bord. Dazu braucht man noch einige gute Spezialisten: besonders Harpuniere und Speckschneider. Aber das wißt Ihr wohl selber. Was Ihr vielleicht nicht wißt«, fuhr er provozierend fort, »auch der Koch muß gut sein.«
»Der Koch?« fragte Herr Jenckel, als traue er seinen Ohren nicht, und widersprach dann mit hochgezogenen Augenbrauen: »Da übertreibt Ihr doch wohl etwas. Diesen Fraß, den es auf Schiffen immer gibt, kann ja jeder zusammenrühren.«
»Nein, Fraß darf es eben nicht sein. Gekocht muß werden, und den Leuten muß schmecken, was gekocht wird.«
»Ich glaube nicht, daß das von Belang ist«, widersprach Reeder Jenckel, jedoch bereits etwas nachdenklich.
Der Commandeur verzog unwillig das Gesicht, sagte aber nichts mehr dazu.
Herr Jenckel saß da und fingerte an einem dicken Journal herum, das vor ihm lag. Seine schlanken Finger fuhren unschlüssig über den Ledereinband. »Ich habe gesehen, daß wenig Krankheiten im Logbuch eingetragen sind«, bemerkte er, und Namen Rickmers erkannte, daß es sich bei dem Buch um das Journal des Witten Falcken handelte.
»Und doch wünschte ich, es wären weniger gewesen«, entgegnete er. »Wir hatten einige Verletzungen und konnten sie nicht behandeln. Einen Mann verlor ich sogar am Brand.«
»Ja«, murmelte der Reeder nachdenklich. »Es ist vermutlich günstiger, einen gesondert bezahlten Arzt mitzunehmen, wenn dafür andere arbeitsfähig erhalten werden können. Ganz abgesehen davon, daß auch Arbeitskraft und Nahrungsmittel verschwendet sind, wenn Kranke gepflegt und verköstigt werden müssen.«
Kapitän Rickmers zog die Augenbrauen hoch, dann zuckte er mit den Schultern. Aus der Sicht eines Interessenten und Geldgebers war die Rentabilität der eingesetzten Mittel das Wichtigste. Trotzdem war er nicht einverstanden. »Ihr seid zynisch. Muß man das sein, um Reeder zu werden?«
»Ich denke, ja«, antwortete der Herr Jenckel und lachte höhnisch auf. »Aber nicht nur, um Reeder zu werden. Was glaubt Ihr, welche Methoden die sogenannten guten Familien von Hamburg angewandt haben, um nach oben zu kommen? Auch keine anderen, das kann ich Euch versichern. Nur jetzt, nachdem ihre rauhbeinigen Vorfahren längst vergessen sind, spielen sie sich als eingesetzt von Gottes Gnaden auf, und die Bürgerschaft soll kuschen! Die ehrenwerten Ratsherren! Daß ich nicht lache!« knurrte Herr Jenckel, und der Commandeur hatte das peinliche Gefühl, daß er einem Selbstgespräch zuhörte, das gar nicht für ihn gedacht war. »Da setzen sie Söhne und Schwiegersöhne in die Ämter ein, und schließlich sitzen die Verwandten reihenweise nebeneinander im Ratssaal. Und die Oberalten, die uns, die Bürgerschaft, vertreten sollen, machen am Ende mit denen noch gemeinsame Sache!« Herr Jenckel wurde zum Schluß fast laut, und er ballte erbittert die Fäuste. Schließlich aber faßte er sich wieder und lächelte den Commandeur entschuldigend an. »Nun, das ist nichts, was Euch interessiert. Auf jeden Fall hinterläßt auch unsereins, wenn er versucht, Zustände zu verbessern, die zum Himmel schreien, auf seinem Weg Verletzte und Tote. Und wenn man glaubt, man sei am Ziel, ist man noch lange nicht angekommen. Tja, so ist das. Des einen Vorteil ist des anderen Nachteil ...«
Herr Jenckel hing offenbar einem Gedanken nach, den er nicht aussprach, aber der Commandeur hatte plötzlich die Lust auf eine Unterhaltung verloren.
»Dann bin ich aber froh, daß ich auf Eurem Schiff nicht angeheuert habe«, sagte er unverblümt und verließ das Büro des Reeders. Noch auf der Treppe hörte er dessen Lachen, das zu seiner Verwunderung weder böse noch zynisch klang, sondern eher amüsiert.
***
Zwei Tage suchte der Commandeur vergeblich nach einem Walfänger für sich und seine Leute. Es war wie verhext: Wohin auch immer er kam, war das Schiff bereits an einen Hamburger vergeben. Für nordfriesische Commandeure schien es in diesem Jahr keinen Platz zu geben. Und es wimmelte in der Stadt von Seeleuten.
Endlich fand er einen, der ihm den Grund dafür erklären konnte: »Krieg zwischen England und Holland«, sagte der Mann lakonisch. »Die Holländer lassen keine Walfänger ausfahren. Die Seeleute suchen an der ganzen Küste von Bremen bis Kopenhagen nach einer Heuer.«
Namen Rickmers nickte schweigend und suchte verbissen weiter. Am dritten Tag bekam er von einem unscheinbaren, mürrischen Mann Besuch in einem der seltenen Augenblicke, in denen er sich auf der Schmack aufhielt. Der Bote mußte stundenlang auf ihn gewartet und ihn abgepaßt haben. Der Commandeur öffnete das an ihn gerichtete Schreiben. Er wurde gebeten, dem Boten zu folgen, aber zum Ende des Briefes hin wurde die Schrift immer unleserlicher, und die Unterschrift konnte er nicht enträtseln. Der Bote blieb stumm, und sie machten sich auf den Weg. Zu seinem Erstaunen standen sie schließlich vor dem Haus des Reeders Jenckel.
Der kleine Mann sah aus, als wäre er in den vergangenen Tagen nicht aus seinem Sessel gekommen. Auf seinem Schreibtisch häuften sich Akten und Papiere. Namen Rickmers nahm schweigend Platz. Was wollte denn der absonderliche Reeder von ihm? Weitere Ratschläge zur Führung seines Schiffes?
»Ich möchte Euch den Posten des Commandeurs auf dem Witten Falcken anbieten.«
Der Nordfriese starrte den kleinen Mann erstaunt an. »Warum heute und vor drei Tagen nicht?«
»Euer gutes Recht, das zu fragen«, stellte Herr Jenckel fest. »Und mein gutes Recht, die Frage nicht zu beantworten. Am Rande: Der Koch gab den Ausschlag. Aber, wie dem auch sei: Ich stelle eine Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Ein Mann muß sich ohne ›wenn‹ und ›aber‹ entscheiden können. Entweder Ihr sagt zu, oder Ihr laßt es bleiben. Die Bedingung hört Ihr hinterher.«
Da war nicht viel zu überlegen. Das Schiff war gut, das wußte der Kapitän, hatte er es doch im Herbst in einwandfreiem Zustand abgeliefert. Schließlich war es üblich, daß die Reeder ihre Schiffsführer in manchen Dingen vor vollendete Tatsachen stellten. Er nickte wortlos.
»Ich wußte es. Die Bedingung sind zwei Männer, die Ihr mitnehmen müßt: einen Medicus und Barbier, den ich selbst ausgesucht habe. Er fährt natürlich nicht als Matrose und geht auch keine Wachen.« Er musterte den Kapitän, aber dieser hatte dagegen nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Selbst wenn der Mann nicht als Matrose arbeitete, würde er sein Geld wert sein. Dann fuhr der Reeder fort, und Namen Rickmers spitzte die Ohren. Der Haken würde wahrscheinlich der zweite Mann sein.
»Der andere ist ein Mann namens Claus Hennings. Er ist weder Matrose noch Leichtmatrose, fährt aber im Rang eines Partfahrers.«
Kapitän Rickmers runzelte die Augenbrauen. Daß er einen unerfahrenen Mann als Matrosen, noch dazu mit der Löhnung eines Offiziers, einstellen sollte, wurmte ihn. Das konnte leicht Neid verursachen.
»Wer ist Hennings?« brummelte er unzufrieden. »Und warum kann er nicht als Leichtmatrose oder Kochsmaat fahren?«
»Das geht Euch nichts an«, entgegnete der Reeder kalt. »Ich habe Grund, ihn auf See zu schicken, und eher verzichte ich auf Euch als auf ihn.«
Commandeur Rickmers musterte den kleinen entschlossenen Mann mit schmalen Lippen. »Wenn er nichts taugt, übergebe ich ihn unterwegs einem anderen Schiff und schicke ihn nach Hause«, drohte er. »Der Sicherheit des Schiffes hat sich alles andere unterzuordnen, auch das Privatvergnügen des Reeders.«
Das war eine klare Sprache, und Herr Jenckel war wütend. Trotzdem beherrschte er sich. »Seht zu, daß die Größe des Fangs der Größe Eurer Worte entspricht«, sagte er säuerlich. »Maulhelden kann ich nicht brauchen.«
»Von mir hat noch nie einer behauptet, ich sei ein Maulheld«, antwortete der Commandeur, aufs äußerste gereizt.
»Um so besser.« Der Ton des Reeders war wieder freundlich und zuvorkommend, als hätte es die Mißstimmung nicht gegeben. »Wißt Ihr, wo der Witte Falcke liegt?«
Namen Rickmers nickte. Er war so verblüfft über die verschiedenen Gesichter des Herrn Jenckel, daß er wie ein gezähmter Bulle aus dem Sessel hochkam und wortlos zur Tür marschierte. Idiotischer war er sich noch nie vorgekommen. Dieser Reeder war nicht nur anders als alle anderen, die er kannte, er schien auch völlig unberechenbar.