Wie haben wir
gelacht
ANSICHTEN ZWEIER CLOWNS
ISBN 978-3-8412-0582-7
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Oktober 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2013 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, Hamburg
unter Verwendung eines Fotos von Milena Schlösser
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de
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Dieses Buch basiert auf Gesprächen, die Dieter Hildebrandt und Peter Ensikat im August 2012 führten. Auch nachdem Peter Ensikat im Herbst desselben Jahres schwer erkrankte, arbeitete er weiter an dem Text, starb jedoch kurz vor dessen Fertigstellung am 18. März 2013. Sein Sohn David Ensikat beendete zusammen mit Dieter Hildebrandt die Arbeit an diesem Buch auf der Grundlage der transkribierten Gesprächsmitschnitte.
Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
Das Lächeln der anderen
Wo wir herkamen, war immer vorn
Wie kommt man zum Kabarett?
Meinungsforscher überall
Zwischen den Stühlen ist viel Platz
Requiem für ein Schlitzohr
Aus dem Leben eines Reisekaders
Mauer her, Mauer hin
Schöne Einheit
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Was ist ein Publikum?
Mit dem Zensor auf du und du
Die lieben Kollegen
Wir kalten Krieger
Markt und Märchen
Die Gretchenfrage
Herr und Hund
Personenregister
Informationen zum Buch
Informationen zu den Autoren
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
HILDEBRANDT: Manchmal wird von dir verlangt, dein Leben zu ändern, nur weil du es schon so oft erzählt hast. Dann kriegst du zu hören: Willst du das jetzt wieder erzählen? Okay, sag ich dann, wenn ihr wollt, erzähle ich eben ein anderes Leben. Zum Beispiel mein Leben als Kulturattaché in – na, sagen wir Nicaragua oder als Säufer in einer Kohlegrube in Oberschlesien, wo ich im Bier, das in den Stollen drang, fast ersoffen wäre.
ENSIKAT: Was soll man denn machen, wenn man nicht langweilen will? Aber auch wenn man sich vornimmt, bei der Wahrheit zu bleiben, steht doch von einem gewissen Alter an fest: Je schlechter das Gedächtnis, desto schöner die Erinnerungen.
HILDEBRANDT: Das ist ein sehr schöner Satz. Ist der von dir?
ENSIKAT: Ist von mir.
HILDEBRANDT: Den würde ich gern mal zitieren.
ENSIKAT: Gerne. Der stammt aus meinem Buch »Das schönste am Gedächtnis sind die Lücken«. Das Problem ist ja, man hat nur die eigenen Erinnerungen.
HILDEBRANDT: Du hast dieses eine Leben nur.
ENSIKAT: Aber da will ich mich doch nicht unbedingt nur an all das Schreckliche erinnern, was ja auch passiert ist, oder an das Unangenehme, wo ich mich eben nicht so verhalten habe, wie ich mich im Nachhinein gern verhalten hätte. Aber das ist natürlich ein rein ostdeutsches Problem.
HILDEBRANDT: Du lächelst so überlegen. Das musst du mir mal erklären. Zugegeben, ich komme aus Bayern, und mehr Wessi als ein Bayer kann man nicht sein. Aber eigentlich komme ich ja aus einem viel tieferen Osten als du – aus Schlesien. Weißt du, wie die im Westen damals über uns geredet haben in den dreißiger Jahren? Die wussten nicht, dass wir schon elektrisches Licht hatten. Dabei hatten wir sogar WC!
ENSIKAT: 1990 haben uns die im Westen nicht zugetraut, dass wir mit Messer und Gabel essen können.
HILDEBRANDT: Könnt ihr’s denn?
ENSIKAT: Verachtung geht eigentlich fast immer von Westen nach Osten.
HILDEBRANDT: Das ist richtig. Ich wollte dich trotzdem mal fragen, woher dieses nachsichtige Lächeln kommt, wenn ich als Wessi in eine Ossigesellschaft komme und da anfange, was über die DDR zu sagen, oder auch nur eine Geschichte erzähle, die sich im Osten abgespielt haben könnte … Die Mienen der Ostkollegen sagen mir dann sofort, dass ich von etwas rede, wovon ich keine Ahnung habe. Aber man sieht mir das ja großmütig lächelnd nach. Da könnte ich treten!
ENSIKAT: Erkennst du mein nachsichtiges Lächeln? Ihr könnt doch nicht wissen, was ihr alles nicht wisst.
HILDEBRANDT: Darf ich zurücklächeln? Wovon glaubt ihr denn zu wissen? Ihr habt doch gar keine Ahnung. Nicht mal richtig fernsehen konntet ihr!
ENSIKAT: Natürlich konnten wir fernsehen, sogar Ost und West. Ihr hättet das Ostfernsehen ja auch sehen können, habt es aber nie eingeschaltet.
HILDEBRANDT: Habt ihr’s denn eingeschaltet?
ENSIKAT: Ab und zu. Von Dienstag bis Sonntag haben wir Westen geguckt. Aber montags haben wir aufs Ostfernsehen umgeschaltet, weil da alte Ufa-Filme liefen.
HILDEBRANDT: Und trotzdem hattet ihr keine Ahnung vom Westen. Oder meinst du, dass im Fernsehen auch nur irgendein Lebenszeichen von uns in echt rübergekommen ist?
ENSIKAT: Doch, doch. Hier und da schon.
HILDEBRANDT: Keine Spur. Ihr habt doch nur ans Werbefernsehen geglaubt. Ihr wolltet unbedingt die Banane, weil ihr sie aus dem Fernsehen kanntet.
ENSIKAT: Ich ziehe mein überlegenes Lächeln zurück. Wir haben das Werbefernsehen …
HILDEBRANDT: … ernst genommen.
ENSIKAT: Schlimmer. Wir haben es für die westliche Wirklichkeit gehalten. Und deshalb wollten wir den Westen zu uns rüberholen. Aber als er dann da war, wollte ihn kaum noch einer gewollt haben.
HILDEBRANDT: Das war das Missverständnis. Und nun werde ich, wenn ich zu euch komme, belächelt, weil ich keine Ahnung habe.
ENSIKAT: Das Lächeln beruht auf Gegenseitigkeit.
HILDEBRANDT: Ihr habt uns doch völlig missverstanden. Ihr habt gar nicht begriffen, woher wir kommen. Ihr haltet uns noch für die alten Goten …
ENSIKAT: Wir im Kabarett haben ja eigentlich auch von den gegenseitigen Missverständnissen gelebt. Ich gebe zu, schon zu tiefen DDR-Zeiten gemeinsam mit meinem Freund und Kollegen Wolfgang Schaller gelächelt zu haben, wenn du über die DDR gesprochen hast.
HILDEBRANDT: Warum eigentlich?
ENSIKAT: Weil das, was du uns da erzählt hast, der Wahrheit meist nur nahe kam.
HILDEBRANDT: Erzählst du mir, wieso es der Wahrheit nur nahe kam?
ENSIKAT: Kann ich nicht. Hast du mir schon damals nicht geglaubt. Wir fragten dich dann oft, wo hast du das her, was du uns erzählst. Und da sagtest du dann meist: »Das weiß ich von meiner Cousine aus Thüringen.«
HILDEBRANDT: Da muss ich jetzt einschreiten. Erstens hatte ich nicht nur die eine Cousine in Thüringen, und ich will die auch nachträglich gar nicht belasten. Die ganze DDR war voller Verwandter von mir. In mehreren Brandenburger LPGs hatte ich Verwandte, die da Kartoffeln gelegt und Säue gemästet haben. Meine Cousine in Thüringen …
ENSIKAT: Die hast du jedenfalls immer als Hauptzeugin genannt. Vor etwa fünf Jahren, es war bei Renates Geburtstag, saß ich zufällig …
HILDEBRANDT: Neben meiner Frau Renate?
ENSIKAT: Nein, neben deiner Cousine aus Thüringen.
HILDEBRANDT: Die heißt Margarete.
ENSIKAT: Jedenfalls hab ich sie gefragt: »Sagen Sie mal, was haben Sie dem Dieter denn damals über die DDR erzählt?«
HILDEBRANDT: Da hatte sie auch dieses Lächeln …
ENSIKAT: Nein, sie hat abgewinkt. »Hören Sie auf! Dem konnte man erzählen, was man wollte. Sein DDR-Bild stand fest.«
HILDEBRANDT: Das kann sie nicht erzählt haben. Sie war ja eine kluge Frau.
ENSIKAT: Vielleicht gerade, weil sie das war.
HILDEBRANDT: Ich erinnere mich an ganz andere Gespräche. Aber so ist das. Wenn einer dich etwas Wichtiges fragt, sag ihm nie die ganze Wahrheit – sie könnte auf dich zurückfallen.
ENSIKAT: Das Problem ist vielleicht, dass wir meinen, dieselbe Sprache zu sprechen, weil wir dieselben Wörter benutzen, und deshalb meinen, übereinander Bescheid zu wissen. Ich hatte zu DDR-Zeiten sehr gute Freunde, Journalisten vom Stockholmer Rundfunk, von denen ich viel über diese DDR erfahren habe, was nur sie mit ihrem Blick von außen gesehen haben. Sie fragten gewöhnlich aber: »Ist das so?« Von euch kam immer nur: »So ist das nämlich!«
HILDEBRANDT: Weißt du, Peter, ich vermute da ein kleines Missverständnis bei dir. Du glaubst, du stammst aus dem Volk dieser DDR, dieses Arbeiter-und-Bauern-Staates. Du warst aber immer ein Intellektueller. Meine Cousine stammte wirklich aus dem Volk. Die wusste mehr als du.
ENSIKAT: Genau das Argument kenne ich von der SED. Das Volk weiß die Wahrheit, während wir Intellektuellen …
HILDEBRANDT: So ist es aber. Ihr wart doch ein Klüngel. Ihr habt doch immer weiter die Wahrheit über die DDR verkündet, auch als es sie gar nicht mehr gab. Ich erinnere mich, wie du mich in diese Kneipe im Prenzlauer Berg geführt hast. Es war Mitte oder Ende der neunziger Jahre. Du kanntest sie alle, die da saßen.
ENSIKAT: Als ich da zum ersten Mal hinkam, haben die mich genauso angesehen wie dich dann. Die hatten mich für einen Westler gehalten.
HILDEBRANDT: Das waren Leute, alles verhinderte Genies, aber nicht wegen der Mauer, die sind durch den Fall der Mauer zu verhinderten Genies geworden.
ENSIKAT: Das kann ich nicht bestreiten, auch wenn es nicht für alle stimmt, die du da gesehen hast.
HILDEBRANDT: Die begrüßten mich aber alle mit diesem Lächeln, als ich da reinkam.
ENSIKAT: In der DDR musste man nichts beweisen, um ein verhindertes Genie zu sein. Es gab da diesen ziemlich typischen Witz über den Stotterer, der sich als Nachrichtensprecher bewirbt, aber nicht genommen wird, »w-w-weil ich n-n-nicht in d-d-der P-p-partei bin«.
HILDEBRANDT: Den gab es 1945 auch in München. »D-d-die haben mich beim Bayrischen R-r-rundfunk nicht genommen, bloß weil ich Nananazi war.«
ENSIKAT: Die Dinge wiederholen sich.
HILDEBRANDT: Wahrscheinlich gab’s den schon zu Zeiten der Französischen Revolution als Jakobiner-Witz.
ENSIKAT: Das ist der Vorteil einer Diktatur. Da kannst du immer sagen: »Ich würde, ich könnte, aber ich darf ja nicht.« Wenn du dann in die Freiheit kommst, und man sagt dir: »Nun mach doch!«, dann musst du erst mal feststellen, was du alles nicht kannst.
HILDEBRANDT: Das setzt sich auch in funktionierenden, halbwegs funktionierenden Demokratien fort. Überall, wo es Hierarchien gibt. Ich habe mit einem mir sehr gewogenen Programmdirektor des damaligen SFB gesprochen, dem ich auch gewogen war. Der erzählte: »Meine Redakteure sagen immer, sie würden ja gern, aber man lasse sie nicht. Wenn ich dann zu ihnen gehe und sage: ›Machen Sie doch!‹, dann fällt ihnen selten etwas ein, weil ja bestimmt wieder jemand was dagegen haben könnte.«
ENSIKAT: Vieles von dem, was wir für DDR-typisch gehalten haben, ist ja nicht nur einfach typisch deutsch, es ist überall so, wo Hierarchien entstehen.
HILDEBRANDT: Genau so ist das.
ENSIKAT: Die Herrschaft des Mittelmaßes haben wir in der DDR immer beklagt. Die Spitze bei uns war rund. Das Mittelmaß regierte. Kaum treten wir der Bundesrepublik bei, was schickt ihr uns zuerst? Euer geballtes Mittelmaß. Und das hat bei uns dann die Führung übernommen. Die westlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten haben sich ihrer Altlasten entledigt. Die kamen dann zum Beispiel beim MDR unter.
HILDEBRANDT: Solche Aufnahmelager muss es immer geben. Jetzt schicken wir diese Leute nach Brüssel.
ENSIKAT: Aber diese Nullen-Verschickung nach Brüssel machen wir jetzt gemeinsam.
HILDEBRANDT: Genau. Alles, was wir nicht brauchen, kommt dahin. Das fing mit Verheugen an. Jetzt stellte sich übrigens auch heraus, warum er so dafür war, dass die Türkei in die EU darf. Er hatte da wirtschaftliche Interessen, hat in einem Konzern im Aufsichtsrat gesessen und hat den Türken versprochen, dass sie reinkommen. Dann war er aber auch schon wieder draußen.
ENSIKAT: Dieses herrschende Mittelmaß war es, was mich am meisten enttäuscht hat. Ich meinte ja, die Bundesrepublik zu kennen, hatte da auch gearbeitet. Aber ich war halt immer nur Gast.
HILDEBRANDT: Wenn du sagtest, dass du die Bundesrepublik kennst, habe ich dann dieses Lächeln aufgesetzt?
ENSIKAT: Doch, ich kann mich erinnern.
HILDEBRANDT: NEIN!
ENSIKAT: Du hast vielleicht nicht so geradeheraus gelächelt.
HILDEBRANDT: Nein, mir war nicht danach. Wenn du was über die Bundesrepublik gesagt hast, habe ich immer angenommen, du sprichst über das, was du weißt.
ENSIKAT: Das tut ihr Westler ja auch, wenn ihr über die DDR redet. Aber was wisst ihr? Ich finde, solange wir übereinander noch lächeln können …
HILDEBRANDT: Stimmt, es gibt Schlimmeres.
ENSIKAT: Ich habe mir meine Herkunft – wie du ja auch – nicht ausgesucht. Ich wurde als Einziger in der ganzen Familie in Finsterwalde geboren. Mein Großvater hat es meiner Mutter übelgenommen, dass sie nicht nach Berlin kam, um mich dort zur Welt zu bringen. Zu mir sagte er damals voller Mitleid: »Finsterwalde, das steht dein Leben lang im Personalausweis.«
HILDEBRANDT: Kannste nix machen.
ENSIKAT: Kannste nix machen. Ich hab damals wirklich geglaubt, dass das ein Makel sei. Weißt du, was Kleinstadt ist?
HILDEBRANDT: Also entschuldige mal, ich bin in Bunzlau geboren, nicht in einer Klinik, ich wurde zu Hause von Hand geboren von einer Hebamme in einem Zimmer, das ich neulich wieder besichtigt habe. In Bunzlau bin ich aufgewachsen, bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr. Du weißt ja auch, in den ersten fünfzehn Jahren erlebt man das meiste. Was nachher kommt, wiegt weniger …
ENSIKAT: Ich hab sogar achtzehn Jahre in Finsterwalde gelebt. Ich erinnere mich, wie sehnsüchtig ich immer an der Eisenbahnunterführung stand. Das war die Strecke Cottbus – Leipzig. Da träumte ich, aus Finsterwalde wegzukommen.
HILDEBRANDT: Wir wohnten unter so einer riesigen Eisenbahnbrücke. Aber wir waren gebildeter, wir nannten das Viadukt. Klingt auch besser.
ENSIKAT: So, wie du gern mal nach Bunzlau zurückfährst, fahre ich inzwischen auch gern nach Finsterwalde zurück, gehe die alten Wege wieder ab. Die sind natürlich alle viel kürzer, als ich sie in Erinnerung habe.
HILDEBRANDT: Jetzt wohnst du in Berlin. Und du wusstest als Zehnjähriger in Finsterwalde, dass du diesen Ort mal verlassen würdest.
ENSIKAT: Das habe ich immer gehofft.
HILDEBRANDT: Du wusstest, dass du es tun würdest. Ich wusste von mir auch immer, dass ich Bunzlau mal verlassen würde. Das habe ich dann später auch dem Vertriebenenverband mitgeteilt, nämlich dass ich nie die Absicht gehabt hätte, in Bunzlau zu bleiben. Der Bund der Vertriebenen war ja politisch sehr stark, und diese Leute da wollten Schlesien wiedererobern. Sie hatten nur noch keine Armee dafür. Dem Chef von ihnen, dem Hupka, habe ich mal gesagt: »Sie wollen, dass ich mich zu meiner Heimat bekenne? Das tue ich. Ich bin da geboren. Aber was meinen Sie, was ich mit achtzehn, nach dem Abitur, gemacht hätte, wenn ich es in Bunzlau noch hätte machen können? Sofort wäre ich raus aus diesem kleinen Städtchen. Aber mit Sicherheit! Und was meinen Sie, wo ich hingegangen wäre? Erst mal zu einem kleinen Theater in der Nähe von Dresden und von da aus vielleicht nach Berlin. Wenn das nicht geklappt hätte, wäre ich vielleicht nach München gegangen. Und wo sitze ich heute? In München.« Von wegen vertrieben! Stell dir mal vor, ich müsste jetzt wieder nach Bunzlau zurück! Natürlich prägt einen die Herkunft. Die Tatsache, dass ich Schlesier bin, trage ich mein Leben lang mit mir herum. Und nutze sie auch schön aus.
ENSIKAT: Dass ich Brandenburger bin, finde ich auch in Ordnung, mit Finsterwalde bin ich inzwischen einverstanden. Damals wollte ich eigentlich immer nur woanders sein. Woanders vermutete ich das richtige Leben. Ich erinnere mich, dass ich mit acht oder neun zum ersten Mal mit der Eisenbahn fuhr. Zehn Kilometer von Finsterwalde nach Doberlug-Kirchhain. Ich war unterernährt und sollte dort in einem Heim etwas aufgepäppelt werden. Mit der Eisenbahn fahren, dachte ich, das ist der Aufbruch in die große Welt. Dann komme ich da in Doberlug-Kirchhain an, und da ist alles noch kleiner als in Finsterwalde.
HILDEBRANDT: Und wann bist du dann wirklich rausgekommen?
ENSIKAT: Als ich nach Leipzig kam, an die Theaterhochschule. Da konnte man jeden Tag ins Theater gehen, zu jeder Zeit ins Kino. Aber Theater hatte ich in Finsterwalde auch gesehen. Mit meiner Mutter war ich schon als Zehnjähriger im Theater. Meine gesetzestreue Mutter hat den Feuerwehrmann, der mich Minderjährigen nicht reinlassen wollte, belogen: Ich sei schon zwölf. Dabei war ich zehn und sah aus wie sieben. Gespielt wurde »Der Vetter aus Dingsda«. Auf dem Heimweg hab ich dann mit meiner Mutter gesungen »Ich bin nur ein armer Wandergesell, gute Nacht, liebes Mädel, gut’ Nacht.« Das Senftenberger Theater hatte es mir besonders angetan. Die machten dort für die Zeit ganz modernes, zeitkritisches Theater. Ganz anderes als den »Vetter aus Dingsda«. Eher Sternheim und Brecht. Diese Gastspiele in Finsterwalde fanden im »Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft« statt, direkt neben der Eisenbahnunterführung.
HILDEBRANDT: Da im Theater warst du doch der Welt schon näher.
ENSIKAT: Und in den Büchern. Kästner hab ich schon als Kind verschlungen. Jetzt kam Brecht dazu, Arnold Zweig, Anna Seghers. Das waren übrigens für mich Argumente, die für die DDR sprachen. Wenn diese Leute in den Osten gekommen waren, musste das doch Gründe haben.
HILDEBRANDT: Solche Gedanken hätten uns schon damals zusammengeführt. Diese Autoren habe ich doch auch alle gelesen, das war für mich Vergangenheitsbewältigung. Da waren wir doch eigentlich schon richtig zusammen.
ENSIKAT: Natürlich. Wenn die Mauer zwanzig Jahre früher gefallen wäre, hätten wir viele Probleme, die wir jetzt noch mit uns rumschleppen, überhaupt nicht.
HILDEBRANDT: Weißt du, dass meine väterlichen Verwandten alle aus Brandenburg stammen, dass meine Mutter im sächsischen Grimma geboren wurde? Kannst du jetzt, in Kenntnis meiner Herkunft, verstehen, dass ich euer herablassendes Ossi-Lächeln nicht verdient habe?
ENSIKAT: Ich werde meine Gesichtszüge im Zaum zu halten versuchen. Du bist ja wirklich ein Mischling.
HILDEBRANDT: Ersten Grades, durch und durch sozusagen. Meine Großmutter kam aus der Tschechoslowakei.
ENSIKAT: Kein Ossi hat das Recht, dich weiter auszulächeln. Um noch mal auf Finsterwalde zurückzukommen. Ich hatte dort in der Nachkriegszeit richtig gute Lehrer. Das war der Vorteil der Kleinstadt. Diese Lehrer, fast alle verkappte Sozialdemokraten, hatten die Nazizeit dort überstanden. Einige hatten damals Arbeitsplatzbindung, durften also nicht weg. Meine Klassenlehrerin an der Oberschule wurde so etwas wie meine zweite Mutter. Von der habe ich denken gelernt.
HILDEBRANDT: Du bist privilegiert. Ich hatte keinen zum Denkenlernen. Du bist aber auch ein anderer Jahrgang.
ENSIKAT: Ja, 1941. Aber wäre ich dieser Frau nicht begegnet, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Sie war übrigens sehr unbeliebt in Finsterwalde. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie wollte immer weg von dort, war 1932 als Referendarin in die Kleinstadt gekommen und träumte davon, nach der Referendarzeit entweder nach Dresden oder München zu gehen. Sie war ja auch Kleinstädterin, kam aus Frankfurt/ Oder, und nun war sie wegen der Nazis in Finsterwalde klebengeblieben. In den fünfziger Jahren traf sie sich dann mit ihrer jüdischen Freundin, der es rechtzeitig gelungen war, in die USA zu emigrieren, regelmäßig einmal im Jahr entweder in Dresden oder in München. Das ging ja bis zum Mauerbau. Sie hatte – das muss man wirklich so sagen – das Glück, den Mauerbau nicht mehr zu erleben. Diese Treffen mit ihrer Freundin in diesen beiden Städten, das war es, was sie am Leben erhielt. Das hat sie mir mehrmals gesagt.
HILDEBRANDT: Wie alt ist sie geworden?
ENSIKAT: Nur einundsechzig Jahre. Für mich war ihr Tod ein gewaltiger Verlust. Ich sitze heute noch an ihrem Schreibtisch, ich habe ihre ganze Bibliothek geerbt. Das ist etwas ganz Berührendes, wenn du so ein Buch aufschlägst und findest ihre Notizen drin. Sie war Französisch-, Englisch- und Deutschlehrerin, eine hochgebildete Frau. Den Brandt übrigens hat sie verehrt, nicht mal so sehr wegen seiner Politik, sondern wegen seines Englisch. »Hör dir das Englisch von dem Mann an!«, hat sie gesagt. Den Carlo Schmid mochte sie, weil er so gut Französisch sprach. Sie war ja nicht die einzige Lehrerin, bei der ich denken gelernt habe. Mein Deutschlehrer sagte oft: »Ihr müsst nicht alles wissen. Ihr müsst nur wissen, wo ihr alles findet.« Der hat uns praktisch verboten, den »Faust« zu lesen: »Ich sag euch, was ihr in der Prüfung dazu wissen müsst. Aber verderbt euch den Genuss nicht. Lest den ›Faust‹, wenn ihr ihn vielleicht auch versteht.«
HILDEBRANDT: Das finde ich sehr, sehr weise. Du hast ja praktisch Lehrer gehabt, wie man sie aus dem Film »Der Club der toten Dichter« kennt.
ENSIKAT: Ja, mit diesen Lehrern hatte ich wirklich Glück. Das waren ja auch noch Unikate. Mein Erdkundelehrer, der auch etwas militärisch angehauchten Sportunterricht gab, wollte immer »Käpt’n« genannt werden. Er fuhr Fahrrad und hatte auf dem Gepäckträger gewöhnlich einen großen Rucksack, und in dem Rucksack war ein Globus. Den holte er im Unterricht immer wieder raus, um anschaulich zu machen, dass die Erde eine Kugel ist.
HILDEBRANDT: Mein Sportlehrer hatte ein Holzbein. Ja, wirklich. Aus dem Ersten Weltkrieg. Wir bekamen noch die Lehrer, die eigentlich schon in Pension waren, weil die jungen Lehrer in den Krieg mussten. Daran kannst du sehen, dass du viel jünger bist als ich. Da kriegten wir die Verletzten aus dem Ersten Weltkrieg vorgesetzt, und die waren zum Teil wirklich schwerverletzt gewesen. Der mit dem Holzbein war noch der Agilste.
ENSIKAT: Unser »Käpt’n« hat auch Sportunterricht gegeben. Der war schon ganz schön alt, für uns damals jedenfalls. Fünfzig vielleicht. Wenn der am Reck hing, das sah ziemlich jämmerlich aus. Er wollte uns damit aber nur beweisen, wie jämmerlich wir dranhingen und wie kraftvoll er noch war. Der ist dann nach dem Westen gegangen. Das war ja damals, in den fünfziger Jahren, ganz alltäglich. Bei manchen nannte man dieses »Rübergehen« auch nur »Wohnungsbeschaffungsmaßnahme«. Wenn man keine anständige Wohnung bekam oder nicht die Arbeitsstelle, die man wollte, ging man mal kurz rüber und gab dann vom Westen aus zu verstehen, dass man zurückkäme, wenn man die Wohnung oder die Arbeitsstelle bekäme. Bis zum Mauerbau war so ein Hin und Her gar nicht so selten. In Finsterwalde jedenfalls kannte ich ein paar Leute, die es so versucht hatten.
HILDEBRANDT: Im Ganzen war doch aber die Einwohnerzahl der DDR damals schon erheblich gesunken. Oder war das in Finsterwalde anders?
ENSIKAT: Natürlich nicht. Aber dein nachsichtiges Lächeln hättest du dir ruhig sparen können.
HILDEBRANDT: Entschuldige, das ist mir jetzt so rausoder reingerutscht. Um auf die Lehrer zurückzukommen – ich hatte ja außer diesem Sportlehrer mit dem Holzbein auch noch einen Mathematiklehrer, der mir die Mathematik vergrault hat, und einen Lateinlehrer, der mich überzeugte, dass Latein nichts für mich sei. Den Sportunterricht habe ich geschwänzt, weil mir der Lehrer nicht gefiel. In Mathematik war ich auf einem glatten Sechser gelandet. Zu der Zeit kam ein junger Lehrer, Dr. Pinkwart, an unsere Schule. Er war zweiunddreißig und gab dann bei uns zwei Fächer, nämlich Turnen und Mathematik. Eines Nachmittags kam der auf den Sportplatz, wo wir Fußball spielten, und sagte: »Jungs, das Elfmeterschießen macht ihr falsch.« Dann zog er sich die Schuhe aus, war barfuß und zeigte uns, wie man das richtig macht.
ENSIKAT: Barfuß?
HILDEBRANDT: Ja, barfuß. Ein richtiger Fußballer kann auch barfuß spielen. Er zeigte uns, wie man sich den Ball zurechtlegt, wie man den Torwart täuscht, dass er in die rechte Ecke fliegt, den Ball aber in die linke Ecke schießt. Das machte uns so viel Spaß, dass sich auch unsere Mathematikergebnisse verbesserten. Ich kam in einem Jahr von einem Sechser auf einen Zweier. Ich fand Spaß am Sportunterricht, war ganz glücklich. Dann wurde der Lehrer eingezogen, und acht Tage später war er gefallen. Das gehörte zu meinen größten Eindrücken damals. Das meiste in der Schule war ja nicht so beeindruckend … Ach doch, da war noch was. Wir waren so fünfzehn oder sechzehn, da kamen wir kleinen Bunzlauer zu den Luftwaffenhelfern nach Berlin. Die holten also uns schlesische Jungs an die Geschütze in Berlin, um uns zu Luftwaffenhelfern auszubilden. Unseren Eltern wurde mitgeteilt: »Um die Bildung und Erziehung Ihrer Kinder müssen Sie sich keine Sorgen machen, die Lehrer kommen mit nach Berlin.«
ENSIKAT: Die Lehrer aus Bunzlau?
HILDEBRANDT: Ja. Sie kämen zu uns in die Flakstellung, hieß es. Ein Vierteljahr passierte gar nichts. Wir hörten nichts von irgendwelchen Lehrern. Mein Vater hatte das gleich vorausgesagt, übrigens auch mit diesem überlegenen Lächeln – das hatte er damals schon drauf.
ENSIKAT: Überlegenheit ist immer ein schönes Gefühl. Egal, worum es geht.
HILDEBRANDT: Aber eines Tages kam doch ein Lehrer. Ausgerechnet der von uns gar nicht geliebte Lateinlehrer. Er kam, um Unterricht zu machen. Wie wir jetzt so vor ihm standen, in Uniform und nicht mehr in Bunzlau, sondern in Hennigsdorf bei Berlin, kam uns das sehr komisch vor. Das war ja keine Schulklasse mehr, wir waren beim Militär. Der Feldwebel, ein alter Flak-Mann, der Feldwebel Wutze aus Köpenick, stand da neben dem Lehrer aus Bunzlau, und der fing an mit seinem Latein. Er kam sich selber wohl auch sehr komisch vor. Aber dann rettete ihn ein Fliegeralarm. Wir mussten raus an die Geschütze. Und er fragte uns ganz hilflos: »Was soll ich denn jetzt machen?« Da hab ich gesagt: »Herr Studienrat, mitkommen, kommen Sie einfach mit.« Und dann haben wir uns gerächt für die vielen Lateinstunden, indem wir ihm sagten: »Herr Studienrat, am sichersten sind Sie dort unten in diesem Kasten. Da kann Ihnen nichts passieren.« Und da lag er dann in dem Kasten für die Geschützrohre. Der war so trottelig, der hat sich da wirklich reingelegt. Wir hatten einen Riesenspaß. Dann fielen wirklich zwei Bomben, aber nur in einen nahe gelegenen Kanal, und es zischte zweimal kurz. Der Studienrat fragte uns Schüler: »Ist es vorbei?« Und dann machte er seinen Lateinunterricht weiter.
ENSIKAT: