Lust auf mehr?
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ALS OB MONTAG nicht sowieso schon der schlimmste Tag der ganzen Woche wäre, hat Dörte beschlossen, dass wir ab sofort montags immer bei Martin frühstücken, damit er und ich uns besser kennenlernen können. Na toll. Mir genügt es eigentlich schon, zu wissen, dass wir ihm diesen blöden Umzug zu verdanken haben, auf den ich ungefähr so scharf war wie ein Schneemann auf einen brüllend heißen Sommertag.
»Ach, Sunny, ich wünschte, du würdest ihn mögen«, sagte Dörte neulich, als ich ihren Vorschlag mit dem gemeinsamen Montagsfrühstück zuerst ganz klar abgelehnt hatte. Natürlich bin ich wenig später eingeknickt. Sie hat es einfach drauf, mich zum Nachgeben zu bewegen.
Dörte ist übrigens meine Mutter, aber weil sie sich angeblich steinalt fühlt, wenn ich sie Mama oder Mutti nenne, rede ich sie eben mit ihrem Vornamen an. Wenn sie das glücklich macht …
Eigentlich ist Martin derjenige, der sie glücklich machen sollte, schließlich ist er ihr aktueller Lover. Und, wie gesagt, der Typ, wegen dem wir mit Sack und Pack von Frankfurt nach Köln gezogen sind. So schnell verzeihe ich ihm das nicht! Immerhin sind wir erst zwei Jahre vorher von Berlin nach Frankfurt umgesiedelt, und davor haben wir in München gewohnt.
Es ist nicht so, dass Dörte karrieremäßig auf der Überholspur wäre und wir nur deshalb ständig den Wohnort wechseln, weil sie dauernd bessere Jobs findet. Nein, wo immer wir uns niederlassen, eröffnet sie in winzigen Räumen ihre Psychotherapeutinnen-Praxis und fängt an, sich mühevoll einen neuen Patientenstamm aufzubauen. Es hat sie also kein Traumjob nach Köln gelockt, sondern ein Traummann. Beziehungsweise ein Sozialkundelehrer mit Halbglatze, den sie für einen solchen hält.
Ehrlich gesagt: Traummänner stelle ich mir etwas anders vor. Unabhängig davon, dass Martin natürlich schon über vierzig und damit uralt ist, hatten Dörte und ich, was Männer betrifft, noch nie denselben Geschmack. Deshalb tat es mir bisher nie besonders leid, wenn meine Mutter nach einer Weile entdeckte, dass ihr aktueller Lebensabschnittsgefährte untreu oder langweilig oder einfach nur ein Idiot war, und sich von ihm trennte.
Worauf ich allerdings gut verzichten könnte: dass sie sich danach meist schon sehr bald wieder in einen anderen verliebt und das ganze Theater von vorne losgeht.
Immer wenn ich mich gerade irgendwo so richtig eingelebt habe und rundum wohlfühle, machen Dörte und ihre Liebesdramen mir einen Strich durch die Rechnung. Und Dörte wäre nicht Dörte, wenn es ihr gelänge, sich einen neuen Partner zu suchen, der wenigstens in derselben Stadt wohnt wie wir. Stattdessen verknallt sie sich in einen Typen vom anderen Ende der Republik – oder immerhin aus einem anderen Bundesland – und beginnt eine Fernbeziehung mit viel Geseufze und langen Telefonaten. Spätestens, wenn sie sagt, dass ihr das Pendeln auf die Nerven geht und sie endlich »Nägel mit Köpfen« machen will, weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. Dann heißt es: Umzugskisten packen, Möbelwagen bestellen und alles auf Anfang!
Diesmal ist mir der Abschied besonders schwergefallen. In Frankfurt hatte ich einen coolen Freundeskreis, die Schule war ganz okay, und mit der Hip-Hop-AG war ich bei einem landesweiten Contest bis in die Endrunde gekommen.
Und vor allem: Ich hatte Stella. Die ultimativ beste Freundin, die man sich nur vorstellen kann. Stella ist hilfsbereit, verständnisvoll, großzügig, solidarisch, witzig, ideenreich … und vor allem: null Prozent tussihaft. Sie kann Geheimnisse für sich behalten, interessiert sich mehr für coole Musik als für die peinlichen Outfits irgendwelcher Möchtegernstars und kann unheimlich gut motivieren. Ohne ihr Zureden hätte ich damals beim Hip-Hop-Wettbewerb bestimmt keine fehlerfreie Show hingelegt. Doch jetzt ist Stella hauptsächlich eines: nämlich zweihundert Kilometer weit weg. Natürlich haben wir beschlossen, dass das unserer Freundschaft nichts anhaben kann. Schließlich gibt es Handys und das Internet, und zum Glück habe ich für beides eine Flat. Aber Stella fehlt mir trotzdem ganz furchtbar!
Irgendwie habe ich jetzt doch das Gefühl, dass die zweihundert Kilometer uns mit der Zeit auch innerlich etwas voneinander entfernt haben. Früher verstanden wir uns blind, wirklich! Ein Blick genügte, und die andere wusste sofort, was Sache war. Inzwischen fängt Stella an, meine Meinung anzuzweifeln. »Ich finde den neuen Freund deiner Mutter eigentlich voll okay. Warum gibst du ihm nicht eine faire Chance?«, meinte sie kürzlich am Telefon.
Hä?! Dabei hat sie ihn nur ein einziges Mal getroffen, damals in unserer alten Wohnung, als er Dörte besucht und Stella übers Wochenende bei mir gepennt hat.
»Ich wünschte, die beiden bekämen Stress miteinander, würden sich trennen und wir könnten zurück nach Frankfurt ziehen«, habe ich geantwortet. Aber natürlich weiß ich, dass das wohl ein Wunschtraum bleibt.
»Mach doch nicht so ein Gesicht, mein Sonnenschein«, sagt Dörte und boxt mir pseudokameradschaftlich in die Seite. Ausgerechnet auf den blauen Fleck, den ich mir gestern geholt habe, als ich einen neuen Hip-Hop-Move üben wollte und dabei hingefallen bin. Ich stöhne. Und der Schmerz ist nur teilweise der Grund dafür: Nicht genug, dass meine Mutter mir mit Sunny den wohl ungewöhnlichsten Namen verpasst hat, den es unter Nicht-Promi-Kindern meines Alters so gibt, sie muss ihn auch ständig ins Deutsche übersetzen. Davor schreckt sie übrigens nicht einmal dann zurück, wenn andere dabei sind. Das ist so peinlich! Da braucht man als Vierzehnjährige wirklich supergute Nerven, um nicht vor Scham im Boden zu versinken. Mannomann, diese Frau kann wirklich oberblamabel sein. Manchmal ist es einfach nicht zu fassen, wie schnell sie ihr komplettes Psychowissen zu vergessen scheint, sobald sie ihre Praxisräume verlassen hat.
Zum Glück bin ich Individualistin und kümmere mich nicht groß darum, was andere über mich denken. Außerdem bin ich daran gewöhnt – insofern hat Dörtes seltsame Angewohnheit mein Selbstbewusstsein eher gestärkt als geschwächt. Und weil ich nicht einmal zusammenzucke, wenn sie mich in der Öffentlichkeit Sonnenscheinchen nennt, werde ich deswegen auch fast nie ausgelacht. Vielleicht ist das sogar eine List aus ihrer Psychologinnen-Trickkiste? Wer weiß.
Meist durchschaue ich ihre Absichten, so zum Beispiel jetzt: »Du bist so viel hübscher, wenn du lächelst«, versucht Dörte mich zu motivieren, als wir über den Flur gehen.
Martin lebt nämlich im Appartement direkt neben unserem. Selbes Haus, selbe Etage, aber trotzdem separat. So wie bei The Big Bang Theory, wo Penny gegenüber von Leonard und Sheldon wohnt. Die beiden – also Dörte und Martin, nicht die zwei Nerds aus der Fernsehserie – finden, dass ihre Beziehung auf diese Weise besser »wachsen« kann. Mir soll’s recht sein. Und wenn es schiefgeht, hat man seinen Kram leichter auseinanderdividiert.
Noch scheint eine Trennung leider nicht unmittelbar bevorzustehen, schätze ich, denn Martin begrüßt uns überschwänglich: Dörte mit einem Kuss und mich mit einem misslungenen High five. Wer rechnet denn auch mit so etwas! Ich dachte, er will mir ganz förmlich die Hand schütteln, und so greifen wir beide irgendwie ins Leere.
Martin hat sogar eine Kerze auf den Küchentisch gestellt und eine CD mit romantischer Klaviermusik aufgelegt. Und das alles morgens um zehn vor sieben!
Während Dörte übertrieben eifrig lobt, was für eine Mühe er sich gegeben hat, registriere ich die mickrige Auswahl an Lebensmitteln auf dem Tisch, und mir schwant, dass uns das so ziemlich scheußlichste Frühstück aller Zeiten bevorsteht.
Ich habe mich nicht getäuscht: Das Brot ist steinhart, die Butter so gut wie leer, die Eier noch fast roh und der Kaffee ungenießbar. Nicht mal mit ganz viel Milch und Zucker bringe ich ihn runter. Ich glaube, ich mache mich heute mal früher auf den Weg in die Schule und kaufe mir dort was am Kiosk.
Um davon abzulenken, dass ich nur eine halbe Scheibe Brot knabbere, packe ich einen dicken Wälzer aus und fange an zu lesen.
»Aber Sunny, möchtest du dich denn gar nicht an unserem Gespräch beteiligen?«, säuselt Dörte vorwurfsvoll.
»Lass sie doch«, kommt unerwartete Unterstützung von Martin, »das ist ja alles nicht ganz einfach: neue Stadt, neue Leute – und dann auch noch ein neuer Mann im Leben der Mutter …«
In Situationen wie diesen fällt es mir einigermaßen schwer, Martin zu hassen. Wenn ich ehrlich bin, ist er tausendmal netter und verständnisvoller als der arrogante Peter, zu dem wir damals nach München gezogen sind, oder der egoistische Wolfgang, für den wir schon ein Jahr später nach Berlin kamen, oder der verschrobene Karsten, wegen dem wir zuletzt in Frankfurt gelandet sind. Zugegeben, Martin ist halbwegs in Ordnung. Jedenfalls für einen Sozialkundelehrer, der lieber das Weltgeschehen diskutiert, als an irgendwelche Alltäglichkeiten zu denken, wie zum Beispiel Brot mitzubringen oder beim Eierkochen auf die Uhr zu sehen.
Aber ich will ihn gar nicht allzu sehr mögen. Schließlich ist er schuld daran, dass wir jetzt hier in Köln sitzen, und das nehme ich ihm echt übel!
»Ich lese nicht, weil ich ein schweres Schicksal habe, sondern weil Die Tribute von Panem einfach spannender sind als euer verliebtes Getue«, gebe ich etwas patziger als nötig zurück. Dass ich dabei den Mund zu einer Art Lächeln verziehe, mildert das Ganze ein bisschen ab. Bevor Dörte ein empörtes »Aber Sunny!« loslassen kann, bricht Martin in dröhnendes Lachen aus.
Na gut. Dann hat er eben auch Humor. Im Moment macht mich das aber nur noch wütender. Sogar auf Stella, weil sie mit ihrer Behauptung womöglich recht hatte, dass Martin gar kein so übler Typ ist. Vor allem aber auf Dörte, weil sie mir Stella weggenommen hat. Ach, warum ist bloß alles so kompliziert?
Ich springe auf, schnappe mir Buch und Schultasche und verabschiede mich hastig – obwohl es eigentlich noch viel zu früh ist, um zur Schule zu radeln. So früh hat noch nicht einmal der Kiosk geöffnet.
Jetzt macht auch Dörte einen auf verständnisvoll und wünscht mir mit salbungsvoller Therapeutinnen-Stimme einen wunderschönen Schultag. Und weil sie schon mal am Reden ist, kann sie sich ihren Standard-Vortrag nicht verkneifen, so ein Umzug sei doch immer auch eine tolle Chance, interessante neue Leute kennenzulernen.
Bla, bla, bla.
Damit will sie mir die Neuanfänge jedes Mal schmackhaft machen. Mir kommt das alles nach drei Umzügen in vier Jahren eher wie eine Serie von gruseligen Wiederholungen vor …
»Dann vielen Dank für die super Chance!«, sage ich sarkastisch. »Das macht mich wahnsinnig glücklich.«
Eigentlich hätte ich direkt nach diesem Satz die Wohnung verlassen und die Tür hinter mir zuknallen sollen. Aber ich entscheide mich blöderweise dafür, zuerst noch mein Kapuzensweatshirt überzuziehen, statt einen souveränen Abgang hinzulegen, und gebe Dörte somit die Gelegenheit zu einer Antwort, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt: »Ich bin sicher, du findest in null Komma nix jede Menge neue Freundinnen. Weißt du denn schon, wen du zu deinem Geburtstag einladen willst?«
»Klar. Und ich kenne auch die Lottozahlen von nächster Woche«, schnaube ich. Dann endlich fällt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss.
Eine Minute später radele ich durch den kühlen Morgen. Es ist erst halb acht, noch eine halbe Stunde bis Schulbeginn. Für eine Millisekunde erwäge ich ernsthaft, in Richtung Hauptbahnhof abzubiegen und mir spontan ein Ticket nach Frankfurt zu kaufen. Einfach abhauen und den Tag mit Stella verbringen, das wär’s jetzt!
Aber ich habe sowieso nicht genug Geld dabei, und Stella würde es garantiert niemals wagen, meinetwegen die Schule zu schwänzen. Dazu ist sie viel zu korrekt. Ich muss meinen verwegenen Fluchtplan also erst mal abschreiben und fahre doch lieber zur Schule.
ICH STELLE MEIN RAD AB, schultere meinen Rucksack und schlendere in Richtung Affenfelsen. So nennt man den riesigen, verwinkelten Gesteinsbrocken, der den Mittelpunkt unseres Schulhofes bildet und allerhand Platz zum Herumlungern bietet. In der großen Pause ist er immer völlig belagert, und wenn unsere Schule wirklich ein Zoo wäre (was mir manchmal so vorkommt), dann könnte man als Besucher hier die interessantesten Studien betreiben.
Natürlich gibt es, wie in jedem Rudel, eine strenge Hackordnung. Die coolsten Schüler aus der Oberstufe thronen ganz oben. Unten, auf den billigen Plätzen, machen es sich die Zehntklässler gemütlich. Als Unterstufenschüler hat man nicht die geringste Chance auf einen Platz, und auch ich habe bisher noch nie hier gesessen, obwohl ich immerhin schon in die Neunte gehe. Aber heute bin ich als Erste da und habe den Felsen für mich allein. Ich klettere ganz nach oben, setze mich mit angewinkelten Beinen auf den kühlen Stein und umfasse meine Knie mit beiden Armen. Die Spätsommersonne taucht den Schulhof in warmes Licht und wärmt meinen Rücken. Scheint ein schöner Tag zu werden. Ein Sunny Day, wie Stella immer sagt, wenn das Wetter gut ist. Oder auch, wenn es an trüben Herbst- und Wintertagen regnet oder schneit, aber wir gemeinsam so richtig viel Spaß haben. »Freundschaft ist, als ob immer die Sonne scheint«, behauptet Stella dann.
Wenn diesmal der Sommer endgültig vorüber ist, muss ich die dunklen, kalten Tage ohne meine beste Freundin überstehen. Ich kriege schon eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Da fällt mir Stellas E-Mail von gestern Abend ein. Ich habe sie bestimmt fünf Mal gelesen. Erst ungläubig, dann ein kleines bisschen enttäuscht und schließlich beleidigt.
Du musst Dich mit der Situation abfinden, Sunny. Und deshalb brauchst Du dringend eine Freundin in Köln. Oder willst Du etwa immer alleine herumhängen?
Wie bitte? Fast könnte man glauben, sie hätte sich mit Dörte abgesprochen! Das war jedenfalls mein erster Eindruck. Doch dann kam mir ein noch viel erschreckenderer Gedanke: Mooooment: Hat sich Stella etwa schon eine neue beste Freundin gesucht? Als Ersatz für mich? Bestimmt hat sie Gewissensbisse und würde sich besser fühlen, wenn ich es ihr nachmache. Kommt gar nicht infrage!
Zugegeben, ich habe mal wieder das ganze Wochenende allein in meinem Zimmer verbracht. Aber ich fand’s cool. Ehrlich. Stundenlang habe ich gelesen und neue Tanzschritte geübt. Ganz in Ruhe. Und obwohl mir Stella sehr fehlt, habe ich in den letzten achtundvierzig Stunden wirklich niemanden vermisst. Weder zum Lesen noch zum Tanzen brauche ich eine neue Freundin.
Zumindest hätte ich genau das noch gestern Abend geschworen. Auf all meine Lieblingsbücher und sämtliche Hip-Hop-CDs in meinem Regal! Aber jetzt, auf dem Affenfelsen, kommen mir doch leise Zweifel an dieser Theorie. Brauche ich wirklich keine Freunde? Oder weiß ich bloß nicht, wie ich welche finden soll?
Okay, ich geb’s zu: Selbst wenn ich das Projekt New Best Friend in Angriff nehmen wollte, wüsste ich nicht, wie ich das anstellen soll.
Kritisch lasse ich meinen Blick in Richtung Schultor schweifen, durch das nach und nach immer mehr Jungs und Mädchen hereinströmen. Dörtes Frage von vorhin fällt mir wieder ein: »Weißt du denn schon, wen du zu deinem Geburtstag einladen möchtest?« Als ob das so leicht zu beantworten wäre. Meine Mutter hat echt keine Ahnung …
Vielleicht ist es Zufall, vielleicht liegt es auch an Köln oder an dieser Schule, aber ich kann mit den Leuten hier einfach nichts anfangen.
Dabei bin ich eigentlich ziemlich normal. Ich mag Bücher und Hip-Hop, ich bin eine mittelmäßige Schülerin, wenn man von meinen guten Noten in Deutsch absieht; meine braunen, halblangen Haare binde ich meistens zu einem Pferdeschwanz zusammen, und ich trage am liebsten Jeans, Chucks und Shirts. Darin fühle ich mich einfach am wohlsten. Außerdem bin ich, solange ich denken kann, immer wieder irgendwo die Neue.
Aber eigentlich ist es auch kein Wunder, dass ich so wenig Leute kenne. Mit einem Vater, der sich schon vor meiner Geburt aus dem Staub gemacht hat, und einer Mutter, mit der ich ständig umziehen muss, habe ich nie wirklich eine Chance, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Jedenfalls bis ich nach Frankfurt kam und Stella kennenlernte. Doch dieses Kapitel gehört ja leider der Vergangenheit an. Vielleicht war es dort auch zu schön, um wahr zu sein.
Andere hätten vielleicht einen Horror davor, aber für mich ist das Routine: Mal wieder vor einer fremden Klasse zu stehen, von fünfundzwanzig Augenpaaren gemustert zu werden und »Hallo, ich bin Sunny Baltumeit« zu sagen – eine meiner leichtesten Übungen. Auf »Huch, was ist denn das für ein seltsamer Name?« mit einem Lächeln zu reagieren, das fast gar nicht gequält wirkt – ein Kinderspiel. Mir in kürzester Zeit zu merken, wie sämtliche Mitschüler und Lehrer heißen, und mich nicht zu ärgern, wenn ich ständig mit »Sonja« angesprochen werde – nicht der Rede wert.
Aber in dieser Schule neue Freunde zu finden – das scheint mir eine Mission Impossible zu sein.
Womit ich nämlich überhaupt nichts anfangen kann: Glitzernagellack (ich bin doch keine Christbaumkugel), Schuhe mit Absätzen (Sturzgefahr!), affiges Getue, wenn Jungs in der Nähe sind (als ob die das gut fänden …) und albernes Tussigehabe. Wann immer das Gespräch auf irgendwelche Teeniestars, Castingshows, Make-up oder Modetrends kommt, schalten meine Ohren auf Durchzug. Das Problem ist: So ziemlich alle Mädchen aus meiner Klasse reden die meiste Zeit über nichts anderes. Ja, wirklich! Wenn ich mich auf dem Schulhof so umschaue, fällt mir beim besten Willen niemand auf, mit dem sich ein Gespräch lohnen würde – von einer Freundschaft ganz zu schweigen.
Oh, jetzt nähern sich Clara, Marie und Sarah dem Affenfelsen. Bestimmt unterhalten sie sich gerade über den neuesten Promi-Klatsch. Darauf stehen die drei. Oder darüber, in welcher Boutique gerade welche Markenklamotten reduziert sind.
Und da kommt auch Lisa angestöckelt, die absolute Obertussi. Ihr Vater ist Herr Sperling, unser stellvertretender Schuldirektor, und allein schon deshalb glaubt sie, etwas Besonderes zu sein. Dabei ist sie einfach nur besonders dämlich. Vor allen Dingen im Unterricht. Wenn sie ausnahmsweise einmal nicht heimlich unter der Bank mit ihrem Handy spielt, sondern sich zu Wort meldet, sagt sie meistens so unfassbar hirnverbrannte Dinge, dass ich die Selbstbeherrschung der Lehrer bewundere. Ganz ehrlich: Ich an deren Stelle bekäme regelmäßig Lachkrämpfe, wenn Lisa mal wieder einen ihrer Doofsprüche loslässt.
Neulich in Erdkunde zum Beispiel, da hat sie doch glatt behauptet, der Äquator sei die gedachte Linie zwischen Nord- und Südpol. Von dem Wort Erdachse hatte sie noch nie etwas gehört. »Ist das nicht eine Reptilienart?«, kommentierte sie nur erstaunt, bevor sie sich wieder ihrem Smartphone widmete, dessen lautloses Vibrieren gerade den Eingang einer SMS ankündigte. Unmöglich, dass unser Erdkundelehrer das übersehen hat! Ich möchte wetten, dass man Lisa nur deshalb alles durchgehen lässt, weil ihr Vater an dieser Schule für die Stundenpläne zuständig ist. Wer nicht nett zu seinem Fräulein Tochter ist, hat anscheinend Angst, das anschließend mit unangenehmen Vertretungsstunden ausbaden zu müssen.
Ja, Lisa ist schon eine Nummer für sich. Unter allen Mädchen ist sie diejenige, die am allerwenigsten als Freundin infrage kommt.
Aber die Jungs sind auch nicht viel besser. Ihr Themenspektrum ist ebenfalls extrem eingeschränkt. Wenn ich mir Ben, Alex und Timm so anschaue, fallen mir eigentlich nur drei Dinge ein, für die sie sich interessieren: Sport, Autos und Computerspiele. Gäääääähn!
Am allerschlimmsten ist es übrigens, wenn beide Lager versuchen, sich gegenseitig zu beeindrucken, sprich: Wenn das schrille Kichern der Mädchen mit wildem Gegröle der Jungs beantwortet wird: Dann ist echt Fremdschämen angesagt!
Vielleicht sind in den Parallelklassen interessantere Leute? Ich nehme mir vor, ein paar Vorstöße zu wagen und über die 9 a hinaus weitere Mädchen (und vielleicht auch Jungs) kennenzulernen. Am besten, ich besuche irgendeine der AGs. Leider wird Hip-Hop nicht angeboten, das habe ich schon gecheckt. Am ähnlichsten wäre noch Gardetanz, aber als Funkenmariechen an Karneval sehe ich mich nun wirklich nicht. Dann schon eher als Ersthelferin (obwohl ich kein Blut sehen kann) oder als Imkerin (obwohl ich auf Bienengift allergisch reagiere). Oder ich melde mich in der Schülerzeitungs-AG an, denn schreiben hat mir schon immer viel Spaß gemacht. Mal sehen.
Als es zur ersten Stunde klingelt, klettere ich vom Affenfelsen herunter und werde Teil der Masse, die in Richtung Eingang strömt. Plötzlich wird mir klar, dass ich hier, inmitten von mehreren Hundert anderen Jugendlichen, ziemlich einsam bin. Wenn ich ganz ehrlich bin, wünsche ich mir tatsächlich nichts mehr, als endlich Freundinnen zu finden. Mit denen ich lachen, blödeln, träumen, herumspinnen und Pläne schmieden kann. Ganz kurz ziehe ich in Erwägung, mir diese Woche jede Castingsendung anzuschauen, die in der Glotze läuft, nur um auch mal mitreden zu können. Aber dann sehe ich ein, dass das völliger Blödsinn wäre. Was hätte ich davon, über Zeug zu quatschen, das mich weniger interessiert als das Wetter in der Mongolei? Was ich mir tatsächlich wünsche, ist eine Freundin, die sich für meine Tanzmoves interessiert, die ähnliche Musik mag wie ich und mit der ich mich über Bücher unterhalten kann. Ist das etwa zu viel verlangt?
In den ersten beiden Stunden kann ich es mir leisten, mit den Gedanken ganz woanders zu sein und trotzdem nicht aufzufallen. In Geschichte wird gerade die Französische Revolution durchgekaspert. Mit dem Thema waren wir in Frankfurt gerade durch, bevor wir umzogen. Das ist der Vorteil eines Schulwechsels: nur einmal lernen und zum gleichen Thema zweimal eine gute Note absahnen. Aber leider kommt auch der umgekehrte Fall vor. Ausgerechnet in Mathe waren wir an der alten Schule im Stoff nicht so weit wie hier. Das darf ich jetzt alles nachholen. Danke, Dörte.
Kurz bevor es zur großen Pause klingelt, habe ich mehrere Entschlüsse gefasst:
Erstens: Ich werde ernsthaft versuchen, eine Freundin zu finden.
Zweitens: Ich werde Stella einladen! Vielleicht kann sie mich ja in den Herbstferien besuchen?
Drittens: Ich werde einen Verein oder ein Tanzstudio suchen, in dem Hip-Hop-Kurse angeboten werden. Immer nur alleine trainieren macht ja auch keinen Spaß. Und vielleicht lerne ich bei der Gelegenheit ein paar coole Leute kennen, mit denen ich mich anfreunde und die ich zu meinem Geburtstag einladen könnte? Sie müssen ja nicht unbedingt auf meine Schule gehen.
Viertens: Nein, kein viertens. Drei Vorhaben genügen vorläufig voll und ganz!
Als ich auf den Schulhof komme, ist der Affenfelsen schon wieder komplett bevölkert. Keine Chance, einen Platz darauf zu erobern. Weil es sowieso gerade anfängt zu regnen (von wegen Sunny Day), mache ich mich lieber auf den Weg zur Schulbibliothek, die montags in den Pausen geöffnet hat. Die Tribute von Panem habe ich fast ausgelesen, mal schauen, ob ich spannenden Nachschub finde.
Als ich mich gegen den Strom durch die Menge schiebe, höre ich, wie Alex und Timm von einer voll fetten Limousine schwärmen, die sie angeblich haben vorfahren sehen, während Lisa den Mädchen ganz aufgeregt von einer TV-Show erzählt, in der es um vielversprechende Nachwuchskünstler geht. Sie formuliert es allerdings etwas anders und spricht von superkrassen Tääälents. Ich verdrehe die Augen und verschwinde lieber in Richtung Bücherei.
KOMMT ES MIR NUR SO VOR, oder ist es vor Beginn der nächsten Stunde in unserem Klassenraum viel unruhiger als sonst? Ich kann mich auch täuschen, denn ich versuche gerade vergeblich, mich auf französische Vokabeln zu konzentrieren. Und das aus gutem Grund: Ich habe nämlich das dumpfe Gefühl, dass wir bald einen Test schreiben. Über faux amis – falsche Freunde. Und damit meine ich jetzt nicht meine Probleme, in der neuen Schule Anschluss zu finden, sondern das Phänomen, dass man manche Vokabeln automatisch falsch übersetzt – weil sie so ähnlich klingen wie ein deutsches Wort, aber leider etwas völlig anderes bedeuten, als man spontan vermuten würde.
Mist, und ich kann mir einfach nicht merken, dass batterie auf Deutsch »Schlagzeug« heißt und mit infusion ganz einfach ein Tee gemeint ist. Ganz zu schweigen von régal, das man mit »Festmahl« übersetzt, während das deutsche »Regal« auf Französisch étagère heißt. Die spinnen, die Franzosen, echt …