Impressum

Carlos Rasch

Daheim auf Erden

Raumlotsen Band 3

 

ISBN 978-3-95655-492-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2010 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®
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Godern
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Rekordflug im Jet-Orkan

Die Zukunft der Menschheit wird nicht im All realisiert, sondern hier auf der Erde.

Portal Spacecentre

Unterwegs zu einem neuen Job

Im Wadi ath Tharth, einem alten ausgetrockneten Flusstal in der Wüste Al Mosul im Irak unweit der Grenze zu Syrien, hatte man mit Tiefenbohrungen eines der letzten Erdöllager gefunden, an denen das Land einstmals reich gewesen war. Dort arbeitete Omar Al Hadet. Doch für ihn war der Zeitpunkt gekommen, seinen Job als Fahrer eines Wassertankers zur Versorgung der Arbeiter an den Bohrgestängen aufzugeben und das Camp aus Zelten, Baracken, Wohnwagen und Unterkunftscontainern zu verlassen. Er hatte die Schnauze voll von der Hitze, dem Staub und dem Trubel solcher Baustellen weit abseits von einem ordentlichen Leben. Noch mehr jedoch hatte er Daidas wegen dieses unsteten Hundelebens an den Nagel gehängt. Daida Es Fatha war in der Kantine des Arbeitercamps beschäftigt gewesen. Dort hatten sich Daida und Omar kennengelernt.

Sie waren heute schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen und losmarschiert, als die Kühle der Nacht ihnen das Wandern durch die Wüste noch leicht machte und die Sterne noch nadelscharf zu Tausenden unverrückbar am Himmel standen. Nur die Hurtigsterne, wie man die Raumstationen im Volksmund nannte, kreisten auf ihren Bahnen rings um den Erdball als lichte Punkte dahin. Beide trugen ihre wenigen Habseligkeiten als Bündel auf dem Rücken. Daida schritt unverdrossen neben ihm her. Omar sah sie von der Seite an und drückte sanft ihre Hand. Sie spürte seinen Blick und lächelte zurück. Ihre Wanderung durch die rosafarbene Stille des frühesten Morgen, der sie sogar frösteln ließ, führte auf den Sonnenaufgang zu. Dort in der Ferne strömte auch irgendwo der Tigris durch das Land, wie er es schon zu uralten Zeiten tat, als seine Fluten noch die Mauern von Babylon streiften. Unweit des Tigris verlief die Bahnlinie, die sie erreichen wollten. Omar Al Hadet hatte sich geschworen, nur bis zum Tage nach der Fündigkeit der Ölquelle das Trinkwasser im Lastwagen heranzuschaffen, um dann vor allem Daidas wegen dieses schwere Leben aufzugeben. Das war ein gewagter Schwur, denn es wäre möglich gewesen, dass man im Wadi ath Tharth erst sehr spät oder gar nie Erdöl gefunden hätte.

Ihre Füße wateten abseits der Truckerpiste eine Düne hinauf.

Oben angelangt, atmeten beide schwer. Sie verharrten, um den Sonnenaufgang zu erleben. Gleich würde es geschehen. Daida lehnte sich an ihn und bewunderte den silbrigen Saum einer tiefroten Wolkenbank in der Ferne. Die Stille der Wüste gebot ihnen, zu schweigen. Das Himmelsgewölbe über ihnen war nicht blau, sondern türkis. Und dann plötzlich sprang ein glockenreines, kaum hörbares Klingen über die Landschaft. Die Luft schien für einen Moment zu vibrieren. Zugleich spähten die ersten Sonnenstrahlen in großer Höhe durch das Firmament bis hin zum letzten Nachtschatten am Horizont ganz weit hinter ihrem Rücken im Westen. Dann erst schob sich der Rand der Glutscheibe im Osten in ihr Blickfeld. Der Sonnenaufgang entfaltete rasch seine volle Pracht, nun auch mit zitronengelben Schattierungen des Himmels. Sie wurden damit reich belohnt dafür, sich mit dieser Wanderung von ihrem bisherigen Leben in der Wüste zu verabschieden und durch das sonnige Tor eines neuen Tages in ein gemeinsames neues Leben hinüberzutreten.

Sie hätten sich tagsüber von einem der Lastwagen bis zur Bahnlinie mitnehmen lassen können, aber sie hatten verabredet, einen Teil der dreißig Kilometer langen Wegstrecke einfach nur Seite an Seite durch die Einsamkeit der stillen Wüste zu gehen, um so Abschied zu nehmen von der Kargheit der Landschaft, die das Arbeitslager, in dem sie sich kennengelernt hatten, weitreichend umgab. Die Gruppe der Bohrtürme war weit hinter ihnen zurückgeblieben. Um sie dehnte sich die wellige Weite des trockenen, staubigen, nur spärlich mit Gras bewachsenen Bodens. Sie fühlten, wie ihre Herzen nun schon näher füreinander schlugen; sie ahnten aber nicht, wie sehr ihre Herzen an diesem Tag in Gefahr geraten würden und wie viele Hände sich in der weiten Welt für sie und auch für eine andere kleine Anzahl von Menschen schon in wenigen Stunden regen mussten, damit ihre Herzen weiter schlugen. Insbesondere war es ein ihnen unbekannter Mann, nämlich der Altraumfahrer Ben, der die entscheidende Idee hatte, die für sie die Chance bedeutete, dass dieser eben erlebte herrliche, wunderbare Sonnenaufgang nicht der letzte ihres Lebens gewesen war.

Daida war in Arbil und Kurku, zwei Städten im Vorland des Kurdengebirges, aufgewachsen. Fabriken und Maschinen waren ihr nicht fremd. Trotzdem streiften ihre Blicke die Bohrtürme mit ihrem rasselnden Gestänge rings um das Arbeitslager immer wieder ehrfürchtig. Zwischen ihnen zogen die Staubfahnen der Lastwagen dahin. Man bohrte hier, wie man in ihrem Land schon vor fünfzig Jahren gebohrt hatte. Die neue Zeit nach der Jahrtausendwende drang nur langsam in ihr Land vor. Am ehesten machte der Fortschritt noch am Himmel von sich reden, wenn große Flugzeuge aus fernen Ländern, den Bauch voller Reisende, mit Überschallknall unsichtbar vom einen Ende der Welt zum anderen eilten oder wenn Satelliten, wer auch immer sie ins All geschleudert haben mochte, Bilder und Musik aus allen nur erdenklichen Ecken des Erdballs in das Zelt- und Barackencamp der Bohrfeldes hineinwarfen.

Sie hatten über die Stunden ihrer Wanderung hinweg nur wenig Worte gewechselt. Gelegentlich erspähte Daida mit ihren flinken Augen eine kleine Tierfährte im Sand und machte dann Omar darauf aufmerksam. Einmal bückte sie sich und zog einen kleinen Gegenstand aus dem Sand. Es mochte der Teil einer Nähmaschine sein, rätselhaft, wie wohl eine Nähmaschine in die Ödnis gelangte, verweht und wieder freigeblasen vom stetig über das Land streichenden Wind. Später, als die Sonne schon kräftig wärmte und sie die Jacken auszogen, hatten sie auf einem Hügel gerastet, etwas getrunken und gegessen und zugesehen, wie auf der Truckerpiste Staubfahnen die Lastwagen als Schleppe begleiteten.

So war auch Omar jeden Morgen mit seinem Wassertruck nach Kaiji oder Tikrit gefahren. Aber es tat ihm nicht leid, dass er das nun nicht mehr tun konnte. Kraftfahrer, so hoffte er, würden überall gebraucht, wiewohl er wusste, dass es überall in der Welt schon seit Jahrzehnten nicht genug Arbeit für all die Menschen, die auf dem Erdenrund lebten, gab. In wenigen Stunden würden sie beide die Nord-Süd-Bahn erreichen und dann auf einen Zug warten, der sie von Mosul nach Bagdad bringen sollte. Sie gedachten, ein paar Tage oder auch ein paar Wochen in der Hauptstadt zu verweilen. Dort würde es für sie viel zu sehen und zu bestaunen geben. Danach war sich Omar ziemlich sicher, beim Bau eines Aufwindkraftwerkes unweit des Sees Bahr Al Ramdi hundert Kilometer westlich von Bagdad Arbeit zu bekommen.

Sie näherten sich der Truckerpiste und gingen eine Weile neben ihr her. Mehrmals schon waren Laster an ihnen vorbeigerollt. Manche hatten auch gehalten, wenn die Männer am Steuer in den beiden einsamen Wanderern Omar als ehemaligen Kameraden erkannten, um sie mitzunehmen. Aber die beiden hatten darauf verzichtet, einzusteigen, denn aus der Zeit der Nomadenstämme hatte sich der Hochzeitsglaube erhalten, dass nur ein Paar glücklich werden konnte, das jeden Tag eine gewisse Wegstrecke Seite an Seite dahinschritt. Allmählich jedoch wurde die Sonne stechend heiß. Und als wieder einmal ein leerer Wassertanker mit dröhnendem Motor neben ihnen hielt, stiegen Omar Al Hadat und Daida Es Fatha zum Fahrerhäuschen hinauf. Nicht lange und aus dem Dunst der Ferne löste sich der Bahndamm mit den Masten für den Stromdraht der Elektrolokomotiven.

Dann, schon Stunden später, saßen Omar und Daida im Expresszug Mosul-Bagdad im letzten Waggon einander gegenüber. Jedes Mal, wenn der Zug eine Kurve durchfuhr, legte Daida die Schläfe an das Fenster, um an der Spitze die Lokomotive zu sehen. Sie betrachtete gern Züge, die sich durchs Land schlängelten. Die Schienen summten und klangen immer wieder unter der Berührung der Räder. Die Wagen pendelten in weichen Schwingungen und Schwankungen durch die Kurven. Nur wenn der Zug einen Bahnhof durchfuhr, hämmerten die Räder über die Weichen. Daida freute sich auf die Tage in Bagdad, auf die Basare, die Plätze, die Moscheen mit ihren hohen, zierlichen Türmen und auf die Paläste, in denen in alten Jahrhunderten Emire und Sultane gelebt hatten. Ihre Vorfreude galt nicht nur dem bunten und modernen Treiben in der Hauptstadt, sondern auch ihrer Heirat dort in Bagdad. Ihre und Omars Familien würden von überall aus dem Lande herbeireisen, denn einige Paläste dienten als Heiratstempel. Auch Daida und Omar hatten die Erlaubnis bekommen, in den Räumen dort mit ihren Gästen Hochzeit zu feiern.

Danach war der Kauf eines Wohnmobils geplant. Sie waren beide des Lebens in Baracken und Wohncontainern überdrüssig. Gleichwohl ließ sich auf Baustellen immer dann leicht Arbeit finden, sofern man ein Wohnmobil besaß und sich einen Standplatz dafür mietete. Im Expresszug sprachen sie wieder einmal darüber, welcher Typ und welches Fabrikat wohl am geeignetsten sein würde. Ein Wohnmobil mit seinem freundlicherem Aussehen würde für ein paar Jahre eine gute Überbrückung sein, bis sie ein Häuschen bezahlen und aufstellen konnten. So wurden zum Beispiel die Aufwindkraftwerke dazu benutzt, unter ihren quadratkilometergroßen Ansaugdächern Treibhäuser anzulegen, in denen man Arbeit bekam. Neben dem Bahndamm verlief für kurze Zeit eine viel befahrene Straße. Auch auf ihr waren immer wieder Wohnmobile und Karawans zu sehen. Omar und Daida blinzelten sich dann immer zu und machten sich gegenseitig darauf aufmerksam.

Im Zugabteil hielten die Mitreisenden Omar und Daida bereits für verheiratet. Sie erblickten in ihnen ein junges Paar, das aus dem gebirgigen Norden des Landes auf seiner Hochzeitsreise unterwegs war. Diese Vorstellung schien die Gemüter belebt und die freudige Stimmung gesteigert zu haben. Die Gespräche wurden freudiger, erwartungsvoller. Man nahm an allem Anteil, worauf sich die beiden aufmerksam machten, wenn die Wagenschlange des Express an etwas vorbeifuhr, was nicht alltäglich war oder was sie an der vorbeiziehenden Landschaft interessierte.

Der Expresszug hatte schon lange die Wüste verlassen und raste auf seiner Fahrt nach Süden bereits seit Stunden durch landwirtschaftlich genutzte Gebiete. Als zum ersten Mal der Tigris in Sicht kam und alle Anzeichen darauf hindeuteten, dass Bagdad nahe war, handelte Omar einem Reisenden in einem benachbarten Abteil einen Dattelzweig ab, dessen gefiederte Blätter mit Blüten durchsetzt war. Er überreichte ihn Daida als Willkommensgruß und als Zeichen ihres Eintritts zu zweit in einen neuen Lebensabschnitt. Daida hatte seitdem keinen Blick mehr für die Eindrücke, die draußen am Zugfenster vorbeizogen. Sie strich ab und zu mit der Hand vorsichtig über das fiedrige Blattwerk und achtete sorgfältig darauf, dass kein Tropfen Wasser aus dem mitgelieferten Frischhalteröhrchen verschüttet wurde. Daida stellte sich vor, wie ein solcher Zweig eines Tages auch in einer Vase auf dem Tisch ihres Wohnmobils stehen würde und wie sie solche Pflanzen als Angestellte einer Gärtnerei unter dem quadratkilometergroßen Ansaugdach eines Aufwindkraftwerkes heranziehen konnte.

Der Expresszug hatte schon den Vorort Käzemiya durcheilt und den Stadtrand von Bagdad erreicht, als plötzlich ein hässliches Kreischen das Abteil füllte und der Schotter des Bahndamms erschreckend nahe unter dem Fenster funkensprühend vorbeistob. Daida sah, wie eine Gestalt, wahrscheinlich Omar, heranflog, riesengroß wurde und auf sie prallte. Seine Fäuste schienen rechts und links ihres Kopfes tief in die Wand des Abteils zu stoßen. Sie selbst wurde von einem wuchtigen Stoß getroffen und wie ein Ball fortgeschleudert. Sie stürzte in eine gewaltige Dunkelheit.

Ein Wagen des Zuges war aus den Schienen gesprungen. Der Expresszug wurde auseinandergerissen. Die silbrige Elektrolokomotive raste ohne die zweite Hälfte der Wagenschlange mit einigen Waggons weiter. Der letzte Waggon durchbrach das Brückengeländer einer Straßenunterführung und stürzte auf Autos. Sein verbogenes Gerippe blieb fast senkrecht auf den Puffern stehen. Als die Rettungsfahrzeuge angerast kamen, hob man von den Verunglückten als einige der ersten Leute Daida Es Fatha und Omar Al Hadet aus den Trümmern des Waggons.

Weltweite medizinische Hilfsaktion

Im Arbeitszimmer von Doktor Abu El Khassiv herrschte tiefe Stille. Ab und zu klapperte er mit den Tasten seines Terminals. Dann erschienen Krankenberichte auf dem Monitor oder Texte verschiedenster medizinischer Probleme. Abu El Khassiv bereitete sich so auf die nächste Visite schwerer Krankheitsfälle vor. Seine Klinik war im Seitenflügel eines der über sechzig Paläste des ehemaligen Diktators eingerichtet worden. Der Arzt rückte den Ventilator zurecht, nahm kurz mal ein Diktiergerät in die Hand und sprach Anmerkungen für Konsultationen darauf. Nur mit halber Aufmerksamkeit nahm er wahr, wie unter seinem Fenster auf dem Parkplatz für die Bereitschaftswagen des Krankenhauses gleich neben der Haupteinfahrt zur Klinik Wagenschläge serienweise klappten und Motoren aufheulten, als werde eine Rallye gestartet. In entfernten Straßenzügen bahnten sich Feuerwehrfahrzeuge den Weg durch den Verkehr. Doktor Khassiv runzelte die Stirn und schloss das Fenster, denn seine schwache Seite war Lärmempfindlichkeit. Er fühlte sich als lebender Beweis dafür, dass der Mensch auf die Dauer Lärmbelastungen nicht gewachsen war. Die Psyche des Menschen war seit Hunderttausenden von Jahren nicht darauf eingerichtet, über ein bestimmtes Maß hinaus Lärm zu ertragen.

Das Telefon summte. »Ein dringendes Gespräch«, sagte seine Sekretärin, »Präfekt Rafha, Hauptquartier der Polizei.«

»Doktor Khassiv?«, fragte eine Stimme am anderen Ende, in der der Mediziner sogleich einen autoritären Tonfall spürte. Khassiv beeilte sich daher, auch den Monitor aufzuhellen, weil Autoritäten meist verärgert waren, wenn zum Ton nicht auch der gegenseitige Anblick übertragen wurde. Aber der Präfekt schien im Moment in Panik zu sein, denn er verzichtete auf jegliche Prozedur, sich zu spreizen: »Eine Eisenbahnkatastrophe, Chefarzt! Nun zeigen Sie mal, was Sie in ihrer Dissidentenzeit in Europa gelernt haben!«

›Mir wäre lieber, wenn ich nicht an den Chef der Polizei von Bagdad geraten wäre‹, dachte der Mediziner. Diese Herrschaften hielten jeden Intellektuellen, der mal eine Weile im Ausland gewesen war, gleich für einen Oppositionellen, für einen Verräter, für einen Stiefellecker von Ungläubigen. »Ich bin nicht der leitende Arzt. Der ist in Paris auf einem Kongress«, sagte Abu El Khassiv.

»Nun spielen Sie hier nicht den Kompetenzapostel!«, wies ihn der Präfekt zurecht. »Die letzten fünf Waggons des Expresszuges aus Mosul sind entgleist. Da sind viele Leute übel zugerichtet worden.«

»Ich weiß, was Frakturen, innere Quetschungen und ähnliche Dinge sind«, sagte der Arzt.

»Um so besser, Herr Chefarzt. In Kürze werden bei Ihnen die ersten Verunglückten eintreffen. Sie sind eine Nobel-Klinik mit internationalem Prestige und auch mit internationalem Spendenfonds. Das Zentralkrankenhaus dagegen hat nur miserables Personal. Ich habe deshalb angeordnet, dass man Ihnen die Schwerverletzten, vermutlich um die achtzig, bringt. Ich werde Ihnen Militär mit Lazarettzelten in den Park des Gilgamesch Palastes gleich neben der Klinik schicken.«

»Ich verzichte auf ein Feldlazarett.«

»Was heißt das? Das internationale Medienkarussell baut schon seine Sendeschüsseln am Unfallort auf. Ihre Klinik wird auch in den Fokus geraten. Wozu sonst wurde Ihre Nobel-Klinik im Nebenflügel eines Palastes untergebracht, wenn nicht für einen solchen Fall, wie jetzt eingetreten? Die Welt soll wissen, dass dem Irak auch ein Palast nicht zu schade ist, Unglückliche aufzunehmen.«

»Selbstverständlich werden wir hier in der Klinik die schweren Fälle operieren, aber doch nicht nur in meiner Palastklinik. Wenn schnell und erfolgreich geholfen werden soll, muss die Behandlung hoch gefährdeter Unfallopfer von möglichst vielen Händen bewältigt werden. Lassen Sie die Leichtverletzten auf die Arztpraxen der ganzen Stadt und die Schwerverletzten auf mehrere Krankenhäuser, auch auf die Universitätsklinik und das Zentralkrankenhaus, verteilen.«

»Sie werden die Hälfte der Schwerverletzten aufnehmen, also etwa vierzig! Keine Widerrede! Und Sie organisieren auch international eine medizinische Hilfsaktion!«

»Einverstanden. Reden wir nicht so viel. Handeln wir lieber. Wir werden transplantieren müssen, alles an Organen, was man sich nur vorstellen kann. Woher soll ich die Ersatzorgane hernehmen in solchen Mengen wie bei einer Eisenbahnkatastrophe?«

»Das müssen Sie selbst wissen. Sie sind der Fachmann.«

»In diesem Fall brauche ich Ihre Hilfe als Präfekt. Scheuen Sie sich nicht, auch den Mogul und die Imame der Moscheen mit Forderungen anzusprechen. Auf normalem Wege dauert alles zu lange und wird zu teuer. Ersatzorgane von Schweinen sind schon recht gut im klinischen Alltag erprobt.«

»Bei Allah! Was für Schweine? Sind Sie verrückt? Halten Sie den Mund! Ich weiß davon nichts!«

»Das bezweifele ich. Ich meine die ungefähr zwanzig genmanipulierten Sumpfschweine in der geheimen Aufzucht im Palast von Al Azairo, unten im Delta ganz im Süden, wo man mit Ersatzorganen für Menschen aus tierischer Herkunft handelt.«

»In keinem Palast irgendeines arabischen Landes hält man sich Schweine, nicht zur menschlichen Ernährung und erst recht nicht genmanipulierte Sumpfschweine für menschliche Ersatzorgane. Die Kaaba in Mekka würde zu Staub zerfallen, geschähe dergleichen«, empörte sich Rafha.

»Wenn es früher was zu verstecken gab vor der Öffentlichkeit, wurde es in Palästen versteckt. Der Irak hat darin Tradition. Aber ich kapiere, dass dieses der falsche Augenblick ist, die Sumpfschweine zu nutzen, obwohl es gerade diesmal Sinn machen würde, über unseren eigenen Schatten zu springen. Schade, dass Sie Ihren Einfluss auf Mullahs und Imame als Präfekt nicht einsetzen wollen«, sagte Khassiv.

»Al Azairo ist absolut tabu und indiskutabel. Schluss damit. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Machen Sie sich an Ihre Arbeit, Doktor.« Und schon erloschen Bild und Ton.

›Das war heiß‹, dachte Doktor Khassiv und lehnte sich äußerst vorsichtig in seinem Sessel zurück, als ob der explosiv wäre. Aber er hörte schon den ersten Rettungswagen mit Freifahrtsirene nahen, um Verletzte des Zugunglücks einzuliefern. Entschlossen raffte er sich auf und bediente das Terminal, um vom Hauscomputer eine Lautsprecherdurchsage in die Ordinarien schalten zu lassen. Dann erteilte er den Mitarbeitern seines Hauses Anweisungen für den Katastrophenalarm und konzentrierte alles, was er an medizinischem Personal zur Verfügung hatte, auf die drei Operationssäle seiner Spezialklinik. Sobald das geschehen war, verständigte er auch die Universitätsklinik. Und zum Schluss überlegte er, wie er am schnellsten Ersatzorgane beschaffen konnte. Sollte er über die Fernsehstationen einen Aufruf veranlassen; die Leitung eines chirurgischen Kongresses in Paris, der dort gerade stattfand, um Unterstützung ersuchen, oder nur das Gesundheitsministerium anrufen und denen dieses Problem überlassen?

»Auf das Ministerium verlassen? Nein, das kann ich vergessen, sonst bin ich verlassen«, murmelte er. »Am besten, ich überrede jemanden auf dem Zentralflughafen, einen internationalen Notruf auszustrahlen.« Abu El Khassiv war heilfroh, dass er auf Grund der Spezialisierung seiner Klinik auf Transplantationen wegen der Ankunft von Ersatzorganen ohnehin fast jede Woche einmal Kontakt zum Zentralflughafen hatte und dort deswegen schon im Flugleitzentrum nicht nur bekannt war, sondern die richtige Ziffernfolge einer solchen Verbindung vom Klinikcomputer auch schon gespeichert war. Andernfalls wäre er wohl erst über Warteschleifen bei einem der Buchungsschalter, im Frachtterminal, bei der Flugplanauskunft oder beim Zollamt aufgelaufen. Es hätte dann viel Zeit gekostet, sich Gehör bei der richtigen Stelle zu verschaffen. So aber hatte er gleich das Gesicht eines der Fluglotsen auf dem Monitor.

»Kontrollturm, Flugsicherung.«

»Hier Palastklinik«, verwendete er die volkstümliche Kurzform seiner Klinik. »Eisenbahnkatastrophe. Viele Tote, viele Verletzte. Ich handle auf Anweisung des Polizeipräfekten. Ich brauche eure dringende Unterstützung. Es würde Hilfsaktionen des Auslandes erheblich beschleunigen, wenn der Tower einen internationalen Notruf ausstrahlt. Wir brauchen in den Krankenhäusern von Bagdad dringend Ersatzorgane und Gewebekulturen.«

»Wenden Sie sich an die Post. Die ist zuständig für besondere Satellitenfrequenzen.«

›Unverschämtheit‹, dachte Khassiv. ›Dieser Mann ist offenbar ein neuer Fluglotse, der sich noch nicht traut, einer inoffiziellen Bitte nachzukommen.‹ »Das weiß ich. Aber die Post ist mir zu schwerfällig für Katastrophenaktionen. Sie als Flugplatz haben ständig mit Satellitenverbindungen zu tun, und Ihnen ist sicherlich das Notrufreglement geläufiger als der Post.«

»Tut mir leid. Wir haben einen neuen Flugplatzkommandanten. Der bezeichnet unsere Arbeit als Schlendrian. Sie müssen sich erst mal seine Erlaubnis einholen.«

»Also gut. Verbinden Sie mich mit ihm«, sagte Khassiv. ›Da bin ich nun doch noch im Gefilz einer Hierarchie gelandet‹, dachte er. Dem neuen Flugplatzkommandanten musste er erst umständlich erklären, wer er war und dass die Beschaffung von Ersatzorganen nicht ausschließlich im eigenen Lande möglich war, sondern zuweilen auch ausländischer Hilfe bedurfte.

»Das sagen Sie so. Das ist für mich keine einfache Entscheidung«, sagte der neue Kommandant.

Da platzte Khassiv der Kragen. »Wenn Sie nicht umgehend etwas unternehmen, werde ich unangenehm. Ich veranlasse dann an höherer Stelle, dass Sie ab morgen im Kurdengebirge bestenfalls einen Job als Postflieger ausüben dürfen. Sie sind im Augenblick ein Entscheidungsträger, also entscheiden Sie, und zwar ohne langes Palaver mit Dienststellen zur Rückversicherung. Oder ist es Ihnen lieber, vor ihrem Einsatz als Postflieger vielleicht an den Särgen von zehn oder zwanzig Frauen, Kindern und Männern Totenwache zu halten in den nächsten Tagen, die nur gestorben sind, weil es unserem Land nicht gelingt, genug Ersatzorgane zu beschaffen?«

»Vielleicht ist es ja auch umgekehrt, vielleicht kann unser Land eben wegen des Zugunglücks dann Ersatzorgane ins Ausland verkaufen. Wäre das nicht viel prestigeträchtiger? Ich werde mich mit dem Minister für Gesundheit in Verbindung setzen und ihn nach seiner Ansicht fragen. Was fällt Ihnen ein, in den Dienstablauf des Flugplatzes einzugreifen, ihn zu stören und eigenmächtig einen Notruf rund um den Erdball zu verlangen?«

»Sie Ungeheuer! Unsere Unfallopfer absichtlich sterben zu lassen und deren Organe dann ins Ausland zu verhökern? Der Scheitan möge Sie holen!«, schrie der Arzt. »Wenn nicht binnen kurzer Zeit Stratoliner die Ersatzorgane hier abliefern, kann ich etliche Schwerverletzte gleich zum Friedhof schaffen lassen. Aber in Paris auf dem Kongress für Transplantation wird die Nachricht aus Bagdad sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Irak wird international eine traurige Berühmtheit erlangen. Völlig unmöglich, Ihre irrsinnige Äußerung!«

»Ein medizinischer Kongress in Paris? Wenn die Dinge so stehen, sollte ich doch lieber zustimmen, einen internationalen Notrufen auszustrahlen«, lenkte der neue Kommandant des Zentralflughafens plötzlich ein. »Faxen Sie mir den Text zu.«

»Danke, vielen Dank«, murmelte Ben Khassiv verdutzt und setzte sich auf der Stelle an seinen Schreibtisch, um den Wortlaut in wenigen Sätzen zu Papier zu bringen und auch sofort zu übermitteln.

Obwohl er wusste, dass seine Ärzte die einzigen Spezialisten für Organverpflanzungen im Irak waren und auch er im Operationssaal schon dringend erwartet wurde, setzte er sich nun auch noch mit der Zentrale der Post in Verbindung. Es galt, ausreichend Möglichkeiten freizuschalten, damit seine Kollegen unter der Ärzteschaft im Zentralkrankenhaus und in der Uniklinik von Bagdad via Satellit und Internet Spezialisten aus aller Welt hinzuzuziehen konnten oder gegebenenfalls sogar Medizinroboter in Tausenden Kilometern Entfernung für Fernoperationen in Anspruch zu nehmen. Auch an das Fernsehzentrum setzte er ein Fax ab mit dem Aufruf zur Blutspende.

Kaum hatte er das erledigt, als die Polizeipräfektur erneut Kontakt aufnahm. Es war wieder Rafha: »Alle Achtung, Doktor Khassiv. Sie leisten schnelle Arbeit. Der Zentralflughafen hat soeben ein internationales Hilfeersuchen ausgestrahlt.« Und schon war sein Gesicht wieder vom Monitor verschwunden.

Die Oberschwester kam herein: »Die erste Schwerverletzte, Doktor. – Herz. – Ziemlich hoffnungslos. Der klinische Tod kann jede Minute eintreten. Die Patientin wird eben an den künstlichen Kreislauf angeschlossen. Doktor Jussuf beaufsichtigt das Team und trifft Vorbereitungen für Ihre Mithilfe beim Eingriff.«

»Ich komme.«

Schon an der Tür, holte ihn ein Signal zurück. Ein Sekretär des Gesundheitsministeriums erschien auf dem Monitor: »Wie mir berichtet wurde, haben Sie, Herr Doktor Khassiv, die Leitung der medizinischen Hilfsaktion für die Verunglückten der Eisenbahnkatastrophe im Vorort Käzemiya übernommen. Die oberste Polizeiführung hebt Ihre Umsicht und Tatkraft hervor, mit der Sie gleich in den ersten entscheidenden Minuten des Katastrophenalarms zu Werke gegangen sind. Ich möchte Ihnen schon jetzt die Anerkennung des Ministers aussprechen.«

›Spare dir das Lob. Ihr seid doch nur froh, dass ihr keinen Finger krumm zu machen brauchtet, um alles anzukurbeln‹, dachte Khassiv. Ihm brannte es inzwischen auf den Nägeln, in den Operationssaal zu gehen. »Danke«, sagte er nur knapp.

»In einem Punkt, lieber Doktor Khassiv, muss ich Ihre Tatkraft wegen Ihrer Voreiligkeit rügen: Sie haben den Kommandanten des Zentralflughafens veranlasst, einen internationalen Notruf zu erlassen. Sie hätten sich vorher mit uns in dieser Angelegenheit beraten sollen, Herr Doktor. Denken Sie nur an die Blamage, die Sie dem Irak vor den arabischen Nationen und der restlichen Weltöffentlichkeit aufgebürdet haben, und an das Unfähigkeitszeugnis, das Sie den Medizinern unseres Landes damit ausstellten. Ihre unüberlegte Entscheidung zeugt von wenig politischem Weitblick.«

›Der Kerl hat nur Bange, dass die unzureichende Arbeit des Gesundheitsministeriums offensichtlich wird‹, dachte Ben Khassiv. Laut aber sagte er: »Machen Sie sich andere Sorgen. Besorgen sie stattdessen Orden für die Fluglotsen, die bald Dutzende von Kuriermaschinen mit den Ersatzorganen abfertigen müssen. Der Staatspräsident wird nicht nur an der Unfallstelle in Erscheinung treten, wo er vermutlich schon hingeeilt ist. Auf dem Flugplatz wird auch der roten Teppich für Verpflanzungsgenetiker benötigt, die aus aller Welt noch heute hier eintreffen. Wir können unmöglich erst dann um Unterstützung durch internationale Kapazitäten bitten, nachdem uns vielleicht die Hälfte der Unfallopfer unter der Hand weggestorben ist. Vor Ort ist ein Patient den oft nur einseitigen Fähigkeiten des jeweiligen Medikus Ordinarius ausgeliefert. Oder wollen Sie das bestreiten? Beenden wir den Disput. Eine Operation wartet auf mich.«

Rückenwind für Cargoliner

Das karibische Wettertief Dorit, zum Wirbelsturm angewachsen, tobte an der Küste von Florida. Der Kubaner Antonio Branco drückte seine Stirn an das Fensterglas und beobachtete sorgenvoll dieses heulende Wetterchaos auf dem Rollfeld des Flugplatzes. Von peitschendem Regen konnte keine Rede mehr sein. Vielmehr waren es bereits turmhohe Sturzbäche, vermengt mit Sand, Steinen, Zweigwerk und grünen Blättern, die unter grauschwarzem Himmel das Gebäude umwirbelten. Solide gebaut, hielt es zwar stand, bebte aber und vibrierte, als sei es lebendig und als werde es von Entsetzen geschüttelt. Antonio bangte um die Flugzeuge in der Halle und um die hohen Antennenmasten. Zeitweise rann das Wasser fingerdick an den Scheiben herab. Die Sicht nach draußen war verschwommen. Antonio glaubte sogar, den Aufprall der Wogen am Strand zum Ende der Startbahn zu spüren. Dicke Schaumflocken stoben bis zum Hangar, in dem die Spezialflugzeuge des Seewetteramtes standen. Sie wurden zur Erkundung in großen Höhen eingesetzt, wo Orkanschläuche den Erdball umspannten.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Antonio Branco, dass es Zeit war, einen der täglichen drei Rapporte über solche Strahlstürme an die Koordinierungsstelle, die zur Auswertung der Daten über die Jet-Streams, wie sie international bezeichnet wurden, in Kanada eingerichtet worden war. Der Rapport fiel in diesem Fall kurz aus: »Heute keine Messungen über Jet-Stream möglich. Starts durch Hurrikan Dorit verhindert. Station Daytona Beach.«

In Kanada war man schon an solche Fehlmeldungen aus Florida gewöhnt. Daytona Beach fiel in den Sommermonaten des Öfteren aus. Hurrikane machten von Jahr zu Jahr immer häufiger Messungen direkt in den Jet-Streams – ergänzend zu den Aufzeichnungen der Satelliten – unmöglich, denn die Klimaänderung hatte seit der Jahrtausendwende weiter an Intensität zugenommen, so dass mittlerweile der Golfstrom wärmer, El Nino kräftiger, die Sahelzone über das Mittelmeer nordwärts nach Europa übergesprungen war und man in Südschweden schon daran denken konnte, Palmen anzupflanzen. Meerwasser verdunstete in deutlich höheren Mengen als früher mit entsprechend mehr Niederschlägen überall in der Welt, begleitet von Stürmen aus drastisch angewachsenen Windgeschwindigkeiten. Dachstühle üblicher Art reichten nicht mehr aus, den erhöhten Winddrücken standzuhalten. Neubauten unterlagen Vorschriften, die fast schon an Burg- und Bunkerbauten erinnerten.

Antonio Branco war allein im flachen Stationsgebäude zurückgeblieben. Wer von den Wissenschaftlern und dem Personal trotz Dorit die Fahrt aus ihren Quartieren in Palatka oder Sarfort nach Daytona Beach gemacht hatte, stand jetzt drüben im Hangar und pumpte mit Ventilatoren Ballonhüllen als Airbags um die Flugzeuge auf für den Fall, dass die Hallen Sturmschäden bekamen und Dachziegel oder Mauerbrocken herabstürzten.

Der Hurrikan-Charta von Miami zufolge, unterzeichnet von den Anliegerstaaten des karibischen Raumes mit entsprechender Kostenaufteilung, stiegen große Joditbomber auf, sobald sich Wirbelstürme weit draußen auf dem Atlantik noch jenseits der Sargassosee entwickelten, um sie mit Joditstreuungen zu bekämpfen und möglichst schon im Keim zu ersticken, ehe sie Küsten erreichten. Hatten die Hurrikan-Piloten diesmal zu lange gewartet? Es war Frühsommer und noch nicht die Zeit der Wirbelstürme. Trotzdem wurden sie schon eingesetzt. Der Hurrikan Anita war noch erfolgreich abgefangen und in seiner Entwicklung durch die Joditbomber gestört worden. Betsy ermattete glücklicherweise gegen jede Erwartung von allein über der See vor der Küste von Yucatán. Mexiko war somit noch mal heil davon gekommen. Cleopatra aber konnte ungehindert über die Karibischen Inseln hinwegfegen. Man hatte ihr nicht schon auf dem Atlantik den Garaus machen können. Die Hurrikan-Piloten hatten abdrehen müssen, ehe sie das Auge dieses Zyklons erreichten. Ihre pulvrige Ladung hatten sie nicht entleeren können. Obwohl die Wettersatelliten »Zenit 4« und »Tiros 48« eine sich anbahnende Zyklonsituation schon vor mehreren Tagen registrierten, fehlten womöglich gerade mal wieder die Geldmittel für eine solche Aktion. Natürlich war es trotz genauer Kenntnis über das atlantische Wettergeschehen in punkto Wirbelstürme immer noch Glückssache, so einen Hurrikan am richtigen Zipfel und auch noch früh genug zu erwischen, um ihn zu schwächen oder auf den Atlantik zurückzuschicken.

Antonio wettete eins zu tausend, dass Wirbelstürme die Orkanbänder in der Hochatmosphäre sozusagen nährten beziehungsweise anzapften und beschleunigten. Bisher war diese Theorie noch strittig. Antonio schätzte, dass Dorit die Windgeschwindigkeit des schlauchartigen Jet-Orkans aller bisher ermittelten Höchststärken übertraf und mindestens vierhundertfünfzig Kilometer pro Stunde erreichte, so dass ein solcher Orkanschlauch weit über den Wolken, der sich gegenwärtig bogenförmig von Florida nach Kuba wand und dann wieder nordostwärts zum Bermudadreieck schwang, mit diesen hohen Windströmungen noch bis jenseits des Atlantiks für jeden Stratoliner und seine Passagiere unangenehm zu spüren sein würde, sobald man ihn kreuzte.

›Man müsste heute mit einem der kleinen Flugzeuge bis zur Tropopause aufsteigen, um Messprogramme zu absolvieren‹, dachte Antonio Branco. Er selbst würde das nicht wagen. Dafür kam nur einer in Frage: Sein Freund Fernando Tortuga aus Orlando. Fernando hätte Pilot einer Mondfähre werden oder eine Aufgabe in der erdnahen Raumfahrt erfüllen können. Aber sein Grundsatz war, dass nicht die Sterne das Ziel der Menschheit waren, sondern ihre Zukunft davon abhing, wie man auf Erden verstand, umsichtig zu handeln. So war er jahrelang Hurrikan-Pilot gewesen. Aber dann quittierte er den Dienst, weil er einer faszinierenden Idee nachging. Er wollte Lastensegler im weltweiten zivilen Luftfrachtverkehr einsetzen. Das würde die Kosten solcher Transporte spürbar verbilligen. Millionen Tonnen von Gütern wurden jährlich auf dem Luftwege an ihre Bestimmungsorte geflogen. Fernando sah für Lastensegler eine Chance, wenn sie in großer Höhe die Orkanbänder über einen Teil ihrer Flugstrecke hinweg als Rückenwind benutzten. Er wurde belächelt, denn wie konnte man so verrückt sein, im Zeitalter der überschallschnellen Stratosphärenliner Lastensegler steuern zu wollen, die wie Segelschiffe in mittelalterlichen Zeiten den Wind benutzten? Aber wenn schon Schiffe Drachensegel einsetzten, warum dann nicht auch Rückenwind für Cargoliner?

Wie auch immer. Jedenfalls hatte Antonios Freund Fernando eines Tages Knall und Fall einen Job auf einem großen Airport angenommen, weil ihn die Arbeit als Wetterflieger nicht mehr zufrieden stellte. Jetzt war er Pilot einer Frachtmaschine, die zwischen Amerika und Europa hin- und herflog. Vermutlich, so dachte Antonio, wollte Fernando sich damit das Geld für den Prototyp eines Lastensegler zusammensparen, gefördert auch von der Stiftung des Europa-Neuwelt-Instituts ENI, um der Öffentlichkeit praktisch vorzuführen, dass solche Frachttransporte in Himmelshöhen keine absurde Idee darstellten. Fernando plante, dieses Vorhaben in privater Initiative aus handelsüblichen Bauteilen verschiedener internationaler Flugzeugbauer zu realisieren. Bei Banken jedenfalls bekam Fernando keinen Kredit, um ein solches Unternehmen für Frachtensegler zu gründen. Denen waren die Erfolgsaussichten dafür zu fragwürdig. Das Projekt ähnelte damit den inzwischen schon alltäglich gewordenen Drachseglern im Seeschiffverkehr, wo computergesteuerte Ballonsegel gesetzt wurden, um die Maschinenkraft des Schraubenantriebes von großen Containerschiffen treibstoffsparend mit Windschub zu ergänzen.

Antonio Branco wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als im Nachbarraum das Visiocom schrillte. Er verließ seinen Platz an der wasserüberströmten Fensterscheibe und ging hinüber. Ein unbekanntes Gesicht erschien auf dem Monitor, dessen Worte im Prasseln des Sandes auf dem Dach und im Heulen des Windes kaum zu verstehen waren: »Hier Tower Airport Atlanta! Schalten Sie auf Empfang. Es geht um ein internationales Hilfeersuchen. Sie werden dringend von einem Piloten über dem Atlantik verlangt. Es ist die S-IN-12. Ich wiederhole die Kennung und buchstabiere: SENIORA, IDA, NORDPOL EINS ZWO. Hallo, Jetcenter! Verstanden?«

»Hier Seewetteramt in Daytona Beach. Habe verstanden.«

»Sie sollen als Fachmann den Piloten an Bord der Frachtmaschine SEÑORA IDA NORDPOL EINS ZWO beraten. Die S-IN-12 ist vor zwei Stunden von Atlanta aus gestartet und fliegt jetzt mit Kurs Paris über der Sargassosee, will aber den Kurs ändern. Neues Ziel ist Bagdad. Gehen Sie sofort auf Empfang.«

Antonio Branco bestätigen eilig. Das Stichwort »Internationales Hilfeersuchen« hatte ihn von seinem Sitzplatz hochschnellen lassen. Er stellte das vom Tower des Airports Atlanta genannte Frequenzband ein und meldete sich: »Hallo S-IN-12. Hier ist die Flugstaffel von Daytona Beach. Hier Antonio Branco. Kommen!«

Zu seiner Verblüffung meldete sich eine ihm bekannte Stimme, nämlich die von Fernando. Was, in drei Teufels Namen, hatte der mit einer internationalen Hilfsaktion zu tun?

»Hallo, Antonio, du alter Schrumpfkopf«, ertönte es in der alten gewohnten derben Freundlichkeit, mit der ihn Fernando immer behandelt hatte. »Du könntest mir einen Gefallen tun und mir mit Dorit unter die Flügel greifen. Ist das immer noch deine Theorie, dass Wirbelstürme die Jetstreams so richtig aufmischen? Ich brauche jetzt nämlich besonders starken Rückenwind.«

»Bist du etwa mit einem Lastensegler über dem Atlantik unterwegs?«, sagte Antonio Branco verwirrt.

»Nein, leider kein Lastensegler. Ich muss rauf noch höher in ein Sturmband, habe die Koordinaten des südlichen Abzweiges nicht mehr so genau im Kopf. Hier sind berühmte Leute an Bord, nämlich der legendäre Altraumfahrer Ben und auch ein bekannten Professor, ein Chirurg. Und die liegen mir in den Ohren, einen Ritt im Orkanschlauch zu machen. Sage mir mal ein paar Koordinaten dafür. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich dreitausend Meter über mir ein solches Band. Es wäre nett, von dir in den nächsten Stunden auf seiner Bahn über den großen Teich gelotst zu werden. Ich verstehe deinen Dialekt besser als den anderer Leute«, sagte Fernando Tortuga.

»Heilige Madonna«, rief Antonio Branco aufgeregt. »Wenn du hinterlistige Sandotter so krampfhaft betonst, dass du jetzt die Ruhe in Person wärst und so tust, als ob wir nur einen kleinen Kaffeeplausch machen, dann steckst du arg in der Klemme?«

»Vielleicht, oder auch nicht. Im Orient muss was Schreckliches passiert sein. Und da ich zusammen mit dem Professor eine Ladung Ersatzorgane, also Herzen im Dutzend und andere menschliche Innenteile …«

»Transplantative!«

»... richtig, Transplantative an Bord habe, muss ich mindestens drei Flugstunden an Zeit gutmachen. Unangenehm ist in diesem Fall, dass ich nur einen alten russischen TU-62-M-Transporter und nicht wirklich einen piekfeinen Doppelstockflieger unter dem Hintern habe. Dieses alte russische Blech ist zwar sehr robust, im Vergleich zu einem Ferienflieger aber ausgesprochen flügellahm, reicht gerade man so für Unterschall. – Wie steht’s? Kann ich rauf in das Jetband und mir per Rückenwind sozusagen ein Überschalltempo ertricksen?«

Sie machten sich sofort daran, Daten über Koordinaten und Höhen auszutauschen. Die Windstöße des Orkantiefs Dorit umheulten dabei weiter heftig das Gebäude. »Der Himmelhund Tortuga hat den richtigen Riecher gehabt«, murmelte Antonio Branco bewundernd, als die Koordinaten für die nächsten tausend Kilometer Luftraum übermittelt waren. »Er ist tatsächlich nicht weit entfernt vom südlichen Abzweig eines Jet-Orkans.« ›Wenn dieser Wettflug mit einer alten Unterschallkiste im Überschalltempo Furore macht, kann das Europa-Neuwelt-Institut seine Förderung für Fernandos Lastensegler anderweitig einsetzen, weil sich die Banken dann darum reißen werden, ihm großzügige Kredite zu geben‹, dachte Antonio.

Umleitung von Ersatzorganen

Professor Benito Cavalljo stand an einem der Kabinenfenster und sah auf den Atlantik tief unter sich. Es gab dort nichts zu sehen, noch nicht einmal ein Schiff. Jedenfalls war dergleichen vermutlich aus dieser Flughöhe mit bloßem Auge auch nur schwer zu erkennen. Doch allein die Schattierungen von Schwarz über Blau bis zum Grün der Tangfelder wirkten nach tagelangem Trubel für ihn beruhigend. Man konnte dabei das Mühlrad der Gedanken abschalten. Benito Cavalljo genoss diesen Ausblick aus der Höhe von Federwolken. In ein paar Stunden, in Paris auf dem Kongress der Internationalen Transplantierenden Chirurgenvereinigung ITC, der er angehörte, würde er sich während der nächsten Tage wieder anstrengen und konzentrieren müssen.

Dann fiel dem Betrachter dort unten auf der weiten, blanken Wasserfläche des Atlantiks doch ein Schiff auf. In Anbetracht der beachtlichen Flughöhe musste es wohl ein recht großes Gebilde sein. Deutlich war die lange rechteckige Form des Oberdecks zu erkennen. Es erinnerte an einen Flugzeugträger. Richtig, man befand sich über der Sargassosee, jenem Teil zwischen Karibik und Atlantik, der dieses riesige Reservoir von Mammuttangen und Riesenalgen besaß. Natürlich war das dort unten kein Flugzeugträger, aber im Verlaufe der Abrüstung waren zuletzt auch sie überflüssig geworden. Man hatte sie aber nicht verschrottet, sondern zu Tangfarmen umgerüstet. Flugzeugträger waren auch brauchbarer Mittelpunkt in einem Kranz aus Wohnanlagen auf hoher See, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuten und die daher auch Landeplätze auf hoher See brauchten. Solche Flugzeugträger in zivilen Diensten enthielten in ihren Tiefdecks oft auch Zellulosefabriken, die all das Seekraut in Papier umwandelten.

›Also auch dort gab es viel Wandel in den letzten Jahren ähnlich wie auf meinem eigenen Fachgebiet, der Beschaffung und Verwendung von Ersatzorganen‹, dachte Benito Cavalljo. Er wandte den Blick vom Fenster ab zu den wenigen Passagieren dieses Fluges, allesamt Globotramps und Rucksacktouristen. Unter ihnen gab es in seinem Alter nur noch einen anderen Mann, der ebenfalls aus einem Fenster zur Meeresoberfläche hinabspähte. Benito Cavalljo überlegte, warum ihm dieses Gesicht irgendwie bekannt vorkam. Dann fiel es ihm ein: Es war der legendäre Altraumfahrer Ben Brigsen! Obwohl er sich dessen bewusst war, dass man fremde Leute nicht einfach ansprach, lag auf dem Gesicht des alten Raumlotsen ein Ausdruck von Seeligkeit, den Benito Cavalljo sympathisch fand. Deshalb stand er auf und setzte sich neben den Altlotsen. »Wagen wir einen gemeinsamen Lunch, vielleicht mit leckeren Labsalen, gemacht aus Meeresfrüchten der Sargassosee?«, fragte der Chirurg.

»Gute Idee«, sagte Ben. »Ein paar Laminarien, garniert mit Schotentang, könnten für den Gaumen wundervoll sein. Hat denn die Bordküche dergleichen überhaupt im Angebot?«

»Nein. Aber ich habe so etwas als Konserve in meinem Gepäck.« Sie machten einander bekannt und nannten auch ihre Berufe.

»Also Chirurg«, sagte der Altraumfahrer. »Habe ich doch schon immer diesen Standpunkt vertreten, das es hier unten auf Erden doch noch Leute gibt, die was Nützliches tun und nicht nur zum Vergnügen von einem Ende der Welt zum anderen reisen.«

Der Flugkapitän erschien, durchquerte den Passagierraum und setzte sich zu Ben. Tortuga verließ wie jeder Flugkapitän ab und zu mal das Cockpit, um sich um seine Fluggäste zu kümmern oder sich ihnen wenigstens einmal zu zeigen, damit man einige freundliche Worte wechseln konnte. Tortuga interessierte es immer, was für Frachtbegleiter mit welcher kostbaren Fluglast in Himmelshöhen unterwegs waren von einem Ende der Welt zum anderen. Nur hatte er diesmal diese Begehung hinausgezögert, weil er um die Ersatzorgane wusste und befürchtete, dass Professor Cavalljo denken könne, er müsse dem Piloten Erläuterungen zum medizinischen Hintergrund dieses Transportes geben. Dabei war zu befürchten – so stellte es sich Tortuga zumindest bildlich vor –, dass der ihm pulsierende Herzen und andere Organe in einem Spezialbad zeigen würde. Darauf aber legten weder er noch Kopilot James besonderen Wert.

»In der Öffentlichkeit bekannte Personen fliegen grundsätzlich in überschallschnellen Stratolinern. Aber was macht meinen alten russischen Tupoljew-62-M-Transporter so begehrenswert, dass bei diesem Flug gleich zwei bemerkenswerte Passagiere an Bord sind?«, fragte Fernando Tortuga so unverfänglich wie möglich. Er hatte erkannt, dass er den Zeitpunkt des Rundganges gut gewählt hatte, denn die Gegenwart des Altraumfahrers in der Gesellschaft des Mediziners bot eine kleine Chance, die Besichtigung zuckender Herzen zu vermeiden.

»Für mich ist es die Gemächlichkeit dieses Fluges. Das ist wohltuender, als sich durch den Luftozean zu katapultieren«, sagte Ben mit einem kurzen Seitenblick, um gewiss zu sein, dass der Flugkapitän das nicht als eine Herabwürdigung des gealterten Zustandes seines Tupoljewtyps verstand. »Als Raumfahrer schätzt man es, sozusagen auch mal hautnah über unsere Welt zu gleiten.«

»Hohe Federwolken als hautnah zur Erde zu bezeichnen, ist cool«, schmunzelte der Pilot. »Bei Professor Cavalljo kenne ich den Grund. Er begleitet demonstrativ einen Flug mit Ersatzorganen zum Kongress nach Paris. Aber bei Ihnen als Raumfahrer ist mir rätselhaft, warum Sie sich kein Ticket für einen Zeppelin besorgt haben. Für die ist Gemächlichkeit sprichwörtlich.«

»Vielleicht bin ich bei dieser Demonstration jener, der die Ersatzorgane bekommen soll«, sagte Ben ironisch.

Der Flugkapitän wehrte erschrocken ab. »Das ist mir zu makaber. Ich dachte immer, nur Mediziner neigen zu schwarzem Humor. Nun scheint mir, dass auch Raumfahrer so sein können.«

»Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die erdnahe Raumfahrt hat zur Zeit eine Zwangspause eingelegt wegen des alle Jahre zur gleichen Zeit auftretenden Meteoritenhagels der Perseiden, der hier unten auf Erden für interessierte Beobachter nur als Sternenschnuppen wahrzunehmen ist. Die Raumstationen im Erdumlauf wurden vorübergehend geschlossen, denn vor den Perseiden haben wir Raumfahrer alle einen gehörigen Respekt. Und so habe ich Zeit, einige Tage als Globetramp unterwegs zu sein«, gab Ben bereitwillig Auskunft. – Eine Flugbegleiterin hatte inzwischen den Meereslunch aus den Konserven des Chirurgen gewärmt und servierte ihn. – »Die Eindrücke von der Erde sind mir einfach zu wertvoll, als dass ich mich durch Raserei betrügen möchte«, erläuterte Ben. »Die Raumlotsen brauchen mich im Moment nicht. Und da dachte ich mir, ich besuche mal die Meeresfarmen. Eine gute Bekannte von mir ist an einem Experiment mit Robotern für Tangfarmen beteiligt, die sozusagen als Gummikraken probeweise im Einsatz sind. Diesen Besuch auf einer Meeresfarm habe ich also hinter mir. Da war mir dieser Unterschallflug gerade recht, die Wirtschaftszone des Meeres auch noch mal in aller Ruhe von oben anzusehen. – Jetzt sind Sie an der Reihe, Professor. Es interessiert mich, was es mit der Demonstration eines Transportes von Ersatzorganen im Langsamflug auf sich hat. Ich bin richtig neugierig geworden.«

›Heilige Madonna‹, dachte Tortuga und rang insgeheim seine Hände. ›Jetzt passiert, was ich vermeiden wollte: Ich bekomme die zuckenden Herzen vorgeführt. So ein Altraumfahrer schreckt aber auch vor nichts zurück.‹

»Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen meine Organbank«, sagte da auch schon Professor Cavalljo.