Inhaltsverzeichnis

Titel
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Was bleibt? Die Höhepunkte eines Politikerlebens und ein erster Blick in die Zukunft
Links, wie geht das? Von Rente bis Asyl: die Partei und der Populismus
Was prägt? Die Familie, der Antifaschismus und die Widersprüche der DDR
Wie weiter? Der Ausstieg, die Gründe und die Folgen
Reif für den Westen? Ein bürgerlicher »Ossi« und die deutsche Einheit
Zukunft ohne Gysi? Alte Fragen, neue Gesichter und die künftige Rolle der Linkspartei
Wo bleibt die Wende? Merkel, Gauck und das Problem mit der Wechselstimmung
Ein Mann der Worte – bedeutende Reden Gregor Gysis in Auszügen
Chronologie
Anmerkungen

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Westend Verlag

Ebook Edition

Gregor Gysi

Ausstieg Links?
Eine Bilanz

Nachgefragt und aufgezeichnet von Stephan Hebel

Westend Verlag

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-604-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015

Alle Fotos im Innenteil: Andreas Schoelzel, www.schoelzel.net

Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung

Umschlagbild: © picture-alliance/dpa/schlesinger

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Vorwort

Der Rosa-Luxemburg-Platz und die Cranachstraße haben wenig gemeinsam. In Berlin-Mitte, wo die Heldin der Arbeiterbewegung sich bis heute auf den Straßenschildern gehalten hat, steht gegenüber der Volksbühne das Karl-Liebknecht-Haus, der eher unauffällige Sitz der Partei Die Linke. Im westlichen Wohnstadtteil Friedenau, in einem der gediegenen Jahrhundertwende-Bauten der Cranachstraße, ist der »Vierraumladen« untergebracht. Zwischen beiden Orten liegen gut zwanzig Autominuten, die ehemalige Mauer und für mich auch zwanzig Jahre.

Es sind die beiden Orte, an denen ich Gelegenheit hatte, Gregor Gysi zu Gesprächen zu treffen, die den Rahmen der üblichen Interviews sprengten. Vor allem aber sind es zwei Orte, die zum Werdegang dieses Politikers passen. Und damit zu diesem Buch, das seine Entwicklung vom Anwalt der Ostdeutschen zur gesamtdeutschen Politgröße in einem ersten bilanzierenden Gespräch nachzuzeichnen versucht.

Am 7. Juni 2015 verkündete Gregor Gysi auf dem Bielefelder Parteitag der Linken, was viele Beobachter ahnten und manche seiner Genossen längst wussten: Er werde im Oktober, wenn die Spitze der Bundestagsfraktion neu zu wählen sei, nicht wieder kandidieren.

Der charismatische Redner tat dies in einer Weise kund, die man inzwischen längst von ihm gewohnt ist: Er redete seiner Partei ins Gewissen, sich nicht in fundamentalistischen Positionen zu verschanzen. Er warb, bei aller heftigen Kritik am politischen System und den herrschenden Parteien, auch für die Vorzüge und Möglichkeiten, die die Menschen im Kapitalismus trotz allem genießen. Er forderte Kompromissfähigkeit, die etwas ganz anderes sei als Selbstaufgabe. Und er teilte wohl zum letzten Mal auf großer Bühne gegen diejenigen in der Linkspartei aus, die lange vor Koalitionsverhandlungen schon unüberwindbare »Haltelinien« zögen, weil sie linke Regierungsmitverantwortung gar nicht wollten.

Und doch war es diesmal anders. Denn aus Gregor Gysi sprach etwas, das er sonst fast perfekt zu beherrschen und höchstens bei Bedarf dosiert einzusetzen versteht: Gefühle. Als er sich vor den Delegierten in aller Öffentlichkeit bei Angehörigen und Freunden für ständige Abwesenheit und mangelnde Zuwendung entschuldigte, da brach ihm für einen Moment die Stimme. Und allen, die zuhörten, wurde klar: Diesmal ist es wohl wirklich ein Abschied für immer.

Diesmal wird Gysi nicht – wie vor der Bundestagswahl 2005 – zurückkehren in die erste Reihe, wo der Reiz des Ruhms so nah bei der Gefahr der Vereinsamung sitzt. Es wird zwar nicht »Rente mit 67« sein, was wir künftig von ihm erleben, auch wenn er im Januar 2015 67 Jahre alt geworden ist. Dafür hat der Mann – daran lässt er auch in diesem Buch keinen Zweifel – noch viel zu viel vor. Aber so, wie er sich in Bielefeld verabschiedet hat, und so, wie er sich im Gespräch präsentiert, ist ein Comeback praktisch ausgeschlossen.

Weil also dieser Abschied wohl endgültig ist, lag der Gedanke nahe, Gregor Gysi um ein ausführliches Gespräch zu bitten, um es rechtzeitig zu seinem Abschied vom Fraktionsvorsitz in Buchform zu dokumentieren und damit eine erste Bilanz vorlegen zu können. Keine großangelegte oder gar vollständige Biografie sollte es werden – die wird er sicher bald selbst verfassen –, aber doch ein Rückblick, der einige Ursprünge und Triebkräfte, einige Höhe- und auch Tiefpunkte dieser außergewöhnlichen Politikerkarriere erkennen lässt.

Gysi war nach kurzem Nachdenken einverstanden, aber »den Ort«, sagte er am Telefon, »bestimmen Sie«. Die Idee, das Gespräch »tief im Westen« zu führen, ist mir dann gar nicht selbst gekommen. Ich war wohl dem Reflex erlegen, den ehemaligen DDR-Juristen in die Ost-Schublade zu stecken, obwohl er seiner Anwaltstätigkeit längst im gehobenen Teil Charlottenburgs, in der Fasanenstraße, nachgeht. Dann aber erzählte mir mein sehr geschätzter Kollege Harry Nutt, er betreibe mit seiner Partnerin Barbara Brockert in Friedenau eine kleine Galerie, die auch über Tagungsräume verfügt: den »Vierraumladen«.

Es ist ein ruhig gelegener Ort, der mit seiner geschmackvollen Einrichtung und dezent platzierter moderner Kunst an den Wänden eine bürgerlich-gelassene Atmosphäre ausstrahlt. Und wer in diesem Buch liest, was Gregor Gysi über seine durchaus bürgerliche Herkunft sagt, wird verstehen: Das passt zu einem Mann, der, wenn auch von der DDR mitgeprägt, allem anderen entspricht als dem klassischen Klischee vom »Ossi«.

Zu unserer Verabredung erschien Gregor Gysi auf die Minute pünktlich. Und während ich meine drei Aufnahmegeräte in Position brachte – nicht etwa nur eins oder zwei, dafür war die Angst, das Ganze könnte an der Technik scheitern, zu groß –, erinnerte ich mich wieder an den Sommertag des Jahres 1995, als ich Gysi schon einmal zu einem ausführlichen Gespräch getroffen hatte, damals gemeinsam mit meinem Kollegen Axel Vornbäumen.

Das Interview für die Frankfurter Rundschau fand in Gysis geräumigem Arbeitszimmer im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz statt. Es dauerte natürlich nicht so viele Stunden wie unser Treffen für dieses Buch, sondern vielleicht eine. Aber was mir 2015 so auffiel wie 1995: Konzentrieren kann sich der Mann wie kaum ein Zweiter. Als sei etwas in ihm mit dem roten Aufnahmeknopf verbunden, schaltet er in den Interviewmodus und behält ihn, wenn nötig, Stunden über Stunden bei, unterbrochen nur von wenigen kurzen Pausen.

Im »Vierraumladen« gab es eine Situation, in der vor der Tür ein etwas lauteres Gespräch unter Passanten entstand. Ich schaute, leicht irritiert, immer mal wieder nach draußen, bis Gregor Gysi mitten in einem seiner Sätze die Bemerkung schob: »Sie dürfen sich nicht stören lassen.« Recht hatte er.

Vor zwanzig Jahren, im Karl-Liebknecht-Haus, war es ausschließlich um die DDR-Staatssicherheit und den Vorwurf gegangen, Gysi habe dem Spitzeldienst als »Inoffizieller Mitarbeiter« (IM) gedient. Er bestritt das, wie er es bis heute bestreitet, auch in diesem Buch. Ich neigte übrigens schon damals im Angesicht der Akten und der vorliegenden Aussagen dazu, ihm zu glauben – und ich neige dazu bis heute.

Ich denke – auch das ist Thema des in diesem Buch dokumentierten Gesprächs –, dass die Debatte über die Verstrickung ins System der SED-Diktatur sich viel zu sehr auf die Frage »IM oder nicht IM?« konzentriert, besonders im Fall Gysi. Wenn man dem damaligen Anwalt zu viel Nähe zum SED-Regime vorwerfen will, dann bietet das, was allgemein bekannt ist und von ihm auch nicht bestritten wird, dazu Anlass genug: War nicht das Zentralkomitee der Staatspartei, mit dem er immer wieder über die Dissidenten unter seinen Mandanten sprach, viel wichtiger und mächtiger als der Geheimdienst, dessen sich die Partei bediente? Damit, so meine ich, sollte sich die Debatte über die ostdeutsche Diktatur beschäftigen, und diese Frage ist es auch, auf die sich unser Gespräch in der Passage über die Stasi-Vorwürfe konzentriert.

Als wir unser Interview 1995 führten, war die Wende keine sechs Jahre vorüber. Einen großen Teil dieser Jahre hatte Gregor Gysi wie im Zeitraffer erlebt. Die Wende von 1989 hatte ihn, wie er selber sagt, mehr in die Politik gespült, als dass er diese Karriere angestrebt hätte. Er war schließlich auch keiner gewesen, der nur darauf gewartet hätte, dass die DDR oder wenigstens die SED so bald wie möglich untergehen möge.

Nein, Gregor Gysi war – auch das sagt er selbst – ein durchaus loyaler DDR-Bürger und Genosse mit SED-Parteibuch. Der Antifaschismus, der in der Selbstwahrnehmung und in der Propa­ganda der Staats- und Parteielite eine so zentrale Rolle spielte und zugleich zur Rechtfertigung für die Missachtung von Freiheitsrechten missbraucht wurde, war für ihn eben auch gelebte Familiengeschichte.

Der jüdische Teil seiner Vorfahren hatte die Verfolgung durch die Nazis am eigenen Leib erlebt, der Name von Gregor Gysis Urgroßmutter, die in Auschwitz ermordet wurde, findet sich in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Und Gysis Eltern hatten von 1940 bis zum Kriegsende im Auftrag der Kommunistischen Partei in Deutschland Untergrundarbeit gegen die Nationalsozialisten geleistet. Der antifaschistische Identitätskern, so differenziert und kritisch er ihn auch in diesem Buch beschreibt, dürfte im Hause Gysi unumstritten gewesen sein.

So etwas schafft Loyalitäten, die allerdings auch den Blick auf das Versagen und die Verbrechen der Staatsmacht trüben können. Zumal es dem Vater, der als Minister für Kultur, dann Botschafter in Rom und zuletzt Staatssekretär für Kirchenfragen knapp unter der obersten Führungsetage angesiedelt war, offenbar immer wieder gelang, die Loyalität mit einer gewissen ironischen Distanz zu verbinden. Nicht, dass Klaus Gysi je auf die Idee gekommen wäre, in Opposition zu gehen, wie etwa der später von Sohn Gregor verteidigte Robert Havemann. Dazu war der ernsthafte Glaube an das »antifaschistische Projekt« DDR dann doch zu groß. Aber es muss durch das Haus Gysi zugleich der ständige Hauch eines Sarkasmus geweht haben, der das schlechte Gewissen, falls vorhanden, wegblies und es leichter machte, dem System im Ganzen treu zu bleiben. Vielleicht auch deshalb, weil das westliche Lebensgefühl, personifiziert in einer Vielzahl von Besuchern, von Anfang an seinen Platz am Familientisch hatte.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Sohn Gregor von beidem – vom ernsthaften Glauben wie von der ironischen Distanz – etwas geerbt hat. Vom »Projekt« DDR (dessen Scheitern ihm inzwischen natürlich bewusst ist) kann er bis heute auch mit Sarkasmus reden, vor allem wenn er die Verhältnisse – auch in diesem Buch – mit teils absurden Anekdoten illustriert. Aber die Bindung an die historischen Entstehungsgründe des autoritären Staatssozialismus ist ebenfalls nicht ganz verschwunden. Auf die Frage, warum er 1989/90 die SED nicht aufgelöst habe, kommt Gysi auch heute noch – neben vielen pragmatischen Erwägungen – ein, wie er sagt, »ideeller Grund« in den Sinn: Das sei immer noch die Partei von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gewesen, und so etwas löse ein Gregor Gysi nun mal nicht auf.

Auch in der Anwaltstätigkeit des versierten Juristen spiegelte sich dieses Lavieren (ein Begriff, den er durchaus akzeptiert) zwischen Loyalität und Distanz. Gregor Gysi verteidigte Dissidenten, und er tat es auch dann, wenn seine DDR-Kollegen die Finger von den Fällen ließen. Aber für ihn war es zugleich selbstverständlich (und ist es bis heute), dass er im Gespräch mit SED-Funktionären immer mit dem Machterhalt der Partei argumentierte, um etwas für die Mandanten zu erreichen. Ein Revolutionär war Gregor Gysi nie, und er macht daraus keinen Hehl.

Das Karl-Liebknecht-Haus war 1995 der geeignete Ort, um im Abstand von wenigen Jahren auf die DDR-Diktatur und die Verstrickung des Gregor Gysi zurückzublicken – zumal die IM-Debatte gerade eine ihrer heißesten Phasen erlebte. Nun, zwanzig Jahre später, mag man darüber diskutieren, ob das Thema endgültig »ausgestanden« ist, wie Gysi sagt, oder nicht. Vor allem aber hat er in dieser Zeit eine politische Karriere hingelegt, die es in sich hat. Heute wissen wir, dass er als eine der wichtigsten Symbolfiguren der deutschen Vereinigung in die Geschichte eingehen wird.

So drehte sich das Gespräch in der Cranachstraße im August 2015 zwar auch um die DDR-Vergangenheit, ohne die diese Karriere kaum zu verstehen wäre. Es drehte sich aber vor allem auch um die Erfolge und Misserfolge, die wichtigsten Begegnungen und beeindruckendsten Erlebnisse des Gregor Gysi. Und es drehte sich um die Frage, was unter seiner entscheidenden Mitwirkung aus der gesamtdeutschen Linken geworden ist – und in nächster Zukunft noch werden könnte.

Je näher nämlich der Abschied des Fraktionsvorsitzenden aus der ersten Reihe rückte, desto mehr geriet beim Blick auf Gregor Gysi der politische Alltag in den Hintergrund. Langsam beginnt sich die historische Figur aus dem Getümmel zu lösen und in den Vordergrund des Bildes zu schieben. Und erkennbar wird einer, dessen Rolle im Einheitsprozess auch die ärgsten Gegner nicht (oder nicht mehr lange) leugnen werden. Weder seine Verdienste noch seine Fehler.

Auf der positiven Seite steht für mich ein Aspekt im Vordergrund, der manchmal allzu wenig Beachtung bekommt: Die aus der SED entstandene PDS dürfte dafür gesorgt haben, dass rechte und rechtsextreme Kräfte in der ehemaligen DDR nicht noch stärker geworden sind. Es gibt davon wahrlich mehr als genug. Aber es kann vermutet werden, dass die Lage noch viel schlimmer aussähe, hätte es nicht auch eine linke Kraft gegeben, die den Frustrierten und Irritierten Halt und den heimatlos Gewordenen Heimat bot.

Dass viele Wähler der PDS auch ganz rechts hätten landen können, mag auf den ersten Blick ein irritierender Gedanke sein. Bei allen Anflügen von DDR-Nostalgie, trotz allen Streits über mehr oder weniger radikale Systemkritik hat die PDS schließlich nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie eine Rückkehr zu autoritären, gar diktatorischen Verhältnissen ausschließt. Das verbietet jeden Vergleich mit denjenigen, die der NPD, marodierenden »Kameradschaften« oder auch »Pegida« auf den Leim gegangen sind.

Und doch ist es wahr, dass ausgerechnet die vermeintlich fundamentaloppositionelle PDS den für rechte Ideologien anfälligen Teilen der ehemaligen DDR-Bevölkerung eine im Kern demokratische Alternative bot. Ein großer Teil ihrer Anhänger und Wähler dürfte gerade in den Jahren nach der Wende jenen, so Gysi, »kleinbürgerlichen« Schichten angehört haben, die sich mit dem SED-Regime arrangiert oder es gar aktiv mitgetragen hatten und nun ein Ventil für Abstiegsängste und -erfahrungen suchten. Sie fanden in der PDS vieles wieder – Kultur, Sprache, Habitus –, womit sie aufgewachsen waren. Aber sie fanden in der Partei – und besonders in Gregor Gysi – zugleich diejenige Kraft, die zeigte, dass man ihre Interessen auch innerhalb des neuen, noch so fremden Systems artikulieren und vertreten kann.

Auch Gysi-Kritiker werden zugeben: Die Person des letzten SED- und ersten PDS-Vorsitzenden war in diesem Sinne ein historischer Glücksfall. Sein biografischer Hintergrund, diese seltene Mischung aus DDR-»Stallgeruch« und westlich-bürgerlichen Stil­elementen, machte ihn zum nahezu idealen Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Ost und West.

Wer Gregor Gysi in den Jahren nach der Wende beobachtete, erlebte – wenn er in den neuen Ländern auftrat – ein erstaunlich hohes Maß an Zuwendung für die Frustrierten und DDR-Nostalgiker. Den Osten ziemlich pauschal zum Opfer zu stilisieren, über Rentenunrecht und Stasi-Hexenjagd zu klagen, das ging dem Anführer der »Nachfolgepartei« leicht über die Lippen. Aber dabei ist es nie geblieben. Ich werde nicht vergessen, wie er im selben Atemzug geradezu flehentlich für die Vorzüge der Einheit warb. Und wenn es nur die neuen Telefonleitungen (»besser als im Westen«) oder die frisch geteerten Straßen waren.

Gysi hat in unserem Gespräch für dieses Buch deutlich gemacht, dass ihm diese Brückenfunktion durchaus klar war und dass er die Rolle bewusst spielte. Die PDS, erzählt er, habe vor der Entscheidung gestanden, entweder zu einer modernen linken Partei zu werden – oder aber die »kleinbürgerlichen« Schichten gezielt mit anzusprechen, ihre Opfergefühle aufzugreifen und zugleich bei ihnen für ein Mittun im westlichen System zu werben. Die Entscheidung ist damals eindeutig für Letzteres gefallen. Und es ist nicht übertrieben zu sagen: Das ist eine Integrationsleistung, die ohne Gysi und die PDS schwer vorstellbar gewesen wäre.

In der breiten Öffentlichkeit allerdings wurde ein anderer Aspekt noch wesentlich aufmerksamer verfolgt: die »Westausdehnung« der PDS. Sie gelang bekanntlich nur in Maßen. Bei Landtagswahlen in den alten Bundesländern scheiterte die Partei regelmäßig an der Fünf-Prozent-Hürde, und 2005, noch bevor die nächste Niederlage in Nordrhein-Westfalen besiegelt war, stellte Gregor Gysi in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel ausdrücklich das Scheitern der Westausdehnung fest.

Bei dieser Wahl, im Mai 2005, war auch die »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit« (WASG) schon angetreten. Diese westdeutsche Sammlungsbewegung gegen die neoliberale Politik des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder erreichte 2,2 Prozent der Stimmen. Die PDS, unter »Sonstige« geführt, landete bei weniger als einem Prozent.

In diesem Buch spricht Gysi rückblickend vom »Absterben«, das der PDS als ostdeutscher Heimatpartei mit zunehmendem Zeitabstand zum Ende der DDR bevorgestanden hätte. Dann aber ergab sich die Chance, eine gesamtdeutsche Linkspartei ins Leben zu rufen. Und die, sagt er, durfte nicht ungenutzt bleiben.

Im Jahre 2002 war Gysi ausgestiegen aus der Politik. Zwei Jahre später hatte er zwei Herzinfarkte erlitten. Ein Aneurysma, das eine Gehirnoperation erforderte, kam hinzu, gefolgt von einem weiteren Herzinfarkt. Kaum jemand rechnete damit, dass der 56-Jährige noch einmal in die Politik zurückkehren würde. Aber dann, so erzählt er es, kam Oskar Lafontaine mit dem Plan, die WASG mit der PDS zu vereinigen – unter der Bedingung, dass Gysi mitmacht. Und dieser konnte nach eigener Aussage nicht anders, als sich einen Traum zu erfüllen: eine Partei links der SPD, die für ihn nichts weniger bedeutet als die Herstellung »europäischer Normalität« in Deutschland.

Und bald war klar: Niemand konnte diese gesamtdeutsche Partei so angemessen repräsentieren wie der begnadete Rhetoriker, der linke »Ossi« mit westlich-bürgerlicher Aura, Gregor Gysi.

Natürlich geht es in diesem Buch auch um die Frage, ob die Linkspartei ohne ihr Aushängeschild eine Zukunft hat. Der scheidende Fraktionsvorsitzende gibt sich optimistisch. Aber wer will, mag den zurückhaltenden Ton seiner Aussagen zu diesem Thema auch als Zeichen einer gewissen Skepsis deuten. Dass es auch einem Gregor Gysi nicht vollständig gelang, die kulturell unterschiedlichen und hingebungsvoll miteinander streitenden Teile seiner Partei zu einen, das räumt er selbst unumwunden ein. Ob er, der eigentliche Anführer, das wegen mangelnder eigener Durchsetzungskraft nicht schaffte oder wegen unüberwindbarer Gräben, das muss sich zeigen, wenn die Führung sich ohne ihn neu sortiert hat. Aber auch Gysis schärfste Kritiker werden zugeben müssen: Die Integration vieler Ostdeutscher ins parlamentarische System und sein Beitrag zum Entstehen einer Partei links von der SPD sind nicht zuletzt sein Verdienst.

Wir haben im »Vierraumladen« natürlich noch über viele andere Themen gesprochen: zum Beispiel über Europa und den Euro, über die Rente und die Ehe für alle, über Sahra Wagenknecht, Angela Merkel und Joachim Gauck und über die Wünsche eines 67-Jährigen an seine berufliche Zukunft – meine Fragen und Gysis Antworten finden Sie im Folgenden dokumentiert. Alles zusammen ergibt, so hoffe ich, einen ersten Überblick über die Motive und Erfahrungen, die Triumphe und die Enttäuschungen eines umstrittenen, aber für das Nachwende-Deutschland prägenden Politikers.

Im Anschluss an das Gespräch finden Sie Auszüge aus einigen wichtigen Reden, die Gregor Gysi im Lauf dieser Karriere gehalten hat – vom Auftritt auf dem Berliner Alexanderplatz Anfang November 1989 bis zum Abschied vom Fraktionsvorsitz im Juni 2015. Sie können, wie ich meine, der Ergänzung und Vertiefung der im Gespräch enthaltenen Schilderungen dienen und den Kontext der beschriebenen Ereignisse illustrieren. Eine Chronologie am Ende des Buches gibt Gelegenheit zum schnellen Überblick über Gysis Lebensdaten.

Dieses Buch hätte in der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, ohne engagierte Mitarbeit von vielen Seiten nicht entstehen können. Für die Transkription und Erstbearbeitung, und nicht nur dafür, danke ich Tanja Kokoska, die nicht nur die Frau meines Lebens, sondern auch eine herausragende Autorin und Beherrscherin der deutschen Sprache ist. Für den »Vierraumladen« danke ich Barbara Brockert und Harry Nutt. Für reibungslose Planung, perfektes Lektorat und punktgenaue Produktion danke ich dem Westend Verlag, namentlich Rüdiger Grünhagen, Markus J. Karsten und Bernd Spamer.

Dafür, dass er all das möglich gemacht hat, danke ich Gregor Gysi. Ebenso seiner geduldigen und liebenswürdigen Büroleiterin Katja Volkmann sowie dem immer hilfsbereiten Fraktionssprecher Hendrik Thalheim.

Stephan Hebel