Eltern unter Druck
herausgegeben von
Christine Henry-Huthmacher
und Michael Borchard
Tanja Merkle und Carsten Wippermann
Eltern unter Druck
Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten
Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Sinus Sociovision GmbH im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Herausgegeben von Christine Henry-Huthmacher und Michael Borchard
Lucius & Lucius · Stuttgart · 2008
Autoren und Herausgeber:
Dr. Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung
der Konrad-Adenauer-Stiftung
Christine Henry-Huthmacher, Koordinatorin für Frauen- und Familienpolitik
der Konrad-Adenauer-Stiftung
Tanja Merkle M.A., Sinus Sociovision
Dr. Carsten Wippermann, Sinus Sociovision
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
ISBN 978-3-8282-6009-2
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2008
Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart
www.luciusverlag.com
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Inhalt
Eltern unter Druck
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie
Christine Henry-Huthmacher
Eltern unter Druck – Die Studie
Tanja Merkle/Carsten Wippermann
1. Hintergrund
2. Zentrale Befunde
2.1. Dringlichkeit der Studie
2.2. Basisbefunde
Elternschaft ist (nur noch) eine Option
Elternschaft ist komplex
Eltern sind unter Druck
Pluralität von Leitbildern
2.3. Milieuspezifische Rollenbilder einer „guten Mutter“
2.4. Konturen neuer Väterbilder
2.5. Pluralität der „Bedeutung“ des Kindes
2.6. Aus Sorge ums Kind: Soziale Distinktion und Abschottung
2.7. Frühförderung: Circulus vitiosus
2.8. Eltern mit Migrationshintergrund
Migranten-Milieus
Partnerschaft, Familie und Elternschaft in Migranten-Milieus
Religiös-verwurzeltes Milieu
Traditionelles Gastarbeitermilieu
Entwurzeltes Flüchtlingsmilieu
Statusorientiertes Milieu
Adaptives Integrationsmilieu
Intellektuell-kosmopolitisches Milieu
Multikulturelles Performermilieu
Hedonistisch-subkulturelles Milieu
Entfremdung und Verlust der eigenen Kinder
3. Perspektiven der verschiedenen Lebenswelten (Sinus-Milieus®)
Gesellschaftliche Leitmilieus
3.1. SINUS B1: „Etablierte“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Selbstbewusstes Establishment, ausgeprägte Exklusivitätsansprüche
Organisiertes Familienleben in regelmäßigen Bahnen
Beruflicher Erfolg durch hohes Engagement
Traditionelle Rollenteilung, Ich-Vertrauen in die eigene Leistung
Ambitionierte Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Keine adäquate Anerkennung der Träger der zukünftigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung: „Deutschland – quo vadis?“
Individuelle Betreuungsarrangements: gezielte Förderung des Kindes, persönliche Flexibilität
Bildung als Schlüssel zum Erfolg
3.2. SINUS B12: „Postmaterielle“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Intellektuelle und kulturelle Avantgarde, Wunsch nach Balance
Gemeinsam und bewusst erlebter Familienalltag
Berufung statt Beruf
Partnerschaftlichkeit in Ehe und Familie
Selbstkritische Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Manifestation der mangelnden Anerkennung u.a. in wenig familienfreundlicher Arbeitskultur
Krippe, Kindergarten und Hort als Orte des sozialen Miteinanders
Bildung als humanistische Tugend
3.3. SINUS C12: „Moderne Performer“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Dynamische Leistungselite mit Ehrgeiz: Chancen nutzen
Professionelles Familienmanagement
Zielstrebige Karriereplanung, Orientierung an Erfolg und Status
Retraditionalisierung der Partnerschaft durch Elternschaft
„Projekt“ Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Internationales Benchmarking offenbart Defizite – Forderung nach umsetzungsorientierten Lösungen
Private Betreuungsarrangements: Basis für hohes berufliches Engagement
Bildung als Medium zur Elitenförderung
Mainstream-Milieus
3.4. SINUS B2: „Bürgerliche Mitte“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Statusorientierter Mainstream, familiäre Geborgenheit und gesicherte, harmonische Verhältnisse
Geordnetes, intensives, kindzentriertes Familienleben
Sicherung des Status quo statt intensiver beruflicher Aufstiegsambitionen
Traditionelle Rollenteilung im „Team“: Natürliche Konsequenz und vernünftige Logik des Arbeitsmarktes
Aufopfernde Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Mangelnde Anerkennung und Unterstützung bei gleichzeitig demonstrativ selbstbewusster Außendarstellung
Eigenbetreuung bis zum Alter von drei Jahren: Selbstverständliches „Normalmodell“
Bildung als Vehikel zur Distinktion
3.5. SINUS B3: „Konsum-Materialisten“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Haben-Materialismus, Wunsch nach Zugehörigkeit
Familienleben im Spannungsfeld zwischen Alltagsmühle und mentaler Flucht
Geringe berufliche Ambitionen – Fokus: Geldverdienen
Traditionelle Rollenteilung qua Natur, Pragmatismus in der Partnerschaft
Außenorientierte Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Erlebte Diskriminierung von Mehrkindfamilien, mangelnde finanzielle Unterstützung
Eigenbetreuung: Persönliche Legitimation, auch: sich nicht „in die Karten schauen lassen“
Bildung als Basis für einen Arbeitsplatz
Hedonistische Milieus
3.6. SINUS C2: „Experimentalisten“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Lifestyle-Avantgarde auf der Suche nach dem „inneren Kern“
Abwechslungsreicher, aktiver Familienalltag
Wunsch nach kreativen Jobs als Medium zur Selbstverwirklichung
Modernes Partnerschaftsverständnis und flexibles Rollenverhalten
„Unvergrübelte“ Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Geringe soziale Sicherheit, keine Vereinbarkeit mit persönlicher Vorstellung von Erziehungsarbeit
Außerhäusliche Betreuung bei adäquaten Betreuungsangeboten: Willkommene Abwechslung für das Kind
Bildung als Medium zur persönlichen Entfaltung
3.7. SINUS BC3: „Hedonisten“
Kurzportrait
Lebenswelt: Wie geht es Eltern?
Abkehr vom Mainstream, Leben im Hier und Jetzt
Überforderung im Familienalltag
Problematische Jobverhältnisse
Partnerschaft – zwischen Emanzipation und Sicherheit
Anstrengende Erziehungsarbeit
Gesellschaftspolitischer Stellenwert von Kindern: Düstere Prognosen für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung
Außerhäusliche Betreuung: Erhalt der persönlichen Unabhängigkeit
Bildung als notwendige Voraussetzung: Minimalansprüche
4. Was brauchen Eltern?
4.1. Grundsätzlich: Keine Spaltung von Eltern
4.2. Milieuübergreifende Forderungen, Wünsche und Bedürfnisse
Soziale Wertschätzung von Elternschaft
Kinderfreundliches Klima und Akzeptanz auch kinderreicher Familien
Soziale Akzeptanz und Kinderfreundlichkeit im persönlichen Umfeld
Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, u. a. durch adäquate gesetzliche Rahmenbedingungen
Verbesserung der Betreuungssituation und Reformierung des Bildungssystems
Finanzielle Wertschätzung von Elternschaft
Berücksichtigung von Anrechnungszeiten im Renten- und Sozialversicherungssystem
Kontinuierliche pädagogische Unterstützung
4.3. Milieuspezifische Bedürfnisse und Optimierungswünsche Freizeitangebote
5. Methodensteckbrief
5.1. Methodisches Vorgehen
5.2. Stichprobe
Autorinnen und Autoren
[1]Eltern unter Druck
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Studie
Christine Henry-Huthmacher
Warum eine Studie über Eltern wichtig ist?
Die spektakulären Fälle von Kindesvernachlässigung in der letzten Zeit, aber auch die Diskussion um Schulabbrecher, Medienverwahrlosung, Fehlernährung und die zunehmenden Sprachdefizite bei Kindern und Jugendlichen haben die Frage nach dem Selbstverständnis von Eltern und ihrem Erziehungsverhalten aufgeworfen. Nicht selten fühlen sich Eltern vom Alltag mit Kindern, den Erziehungsaufgaben und den wachsenden Anforderungen an die Elternrolle überfordert. Den Eltern wird heute ein Maß an Verantwortung und Mitsprache für ihre Kinder zugewiesen, das es in früheren Elterngenerationen so nicht gab. Über die Lebenssituation von Eltern wissen wir jedoch wenig. Zwar prägen sie maßgeblich das Lebensumfeld und die Entwicklung ihrer Kinder, doch spielen sie in der familienpolitischen Diskussion nur eine marginale Rolle. Da das Hauptaugenmerk der Familienpolitik auf dem Kindeswohl liegt, geraten Eltern leicht aus dem Blickfeld.
Dabei ist es nicht minder notwendig, zu wissen, wie es den Eltern geht, da sie der Schlüssel aller Erziehungsprozesse sind. Doch Elternschaft ist auch in der familienwissenschaftlichen Forschung ein wenig beachtetes Themenfeld. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat deshalb die Lebenssituation der Eltern in den Mittelpunkt einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung gestellt. Im Vordergrund stehen die Fragen: Wie geht es Eltern? Was brauchen Eltern? Auf der Grundlage der Sinus-Milieus® (entwickelt von Sinus Sociovision) geht die Eltern-Studie differenziert auf die unterschiedlichen Lebenssituationen von Eltern ein.
[2][3]1. Einführung: Elternschaft ist heute anders …
Elternschaft war noch bis vor 30 Jahren ein klares, unhinterfragtes Lebensmodell und fest im gesellschaftlichen Mainstream verankert. Waren Kinder ehemals noch selbstverständlicher Bestandteil einer Biografie von Frauen und Männern, so hat sich dies grundlegend gewandelt. Elternschaft ist heute eine Option unter anderen Lebens- und Partnerschaftsformen geworden. Enge Bindungen und langfristiger Zusammenhalt wie in der klassischen Familie passen zunehmend weniger in Wirtschaft und Gesellschaft, die von Kurzfristigkeit und Flexibilität geprägt sind. Die moderne Arbeitswelt fordert den möglichst uneingeschränkt mobilen und verfügbaren Menschen. Idealerweise sind dies Menschen ohne familiale Bindungen, die sich schnell an veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen anpassen können. Bereits in der Schule werden heute Flexibilität und Kreativität propagiert. Die gesamte und äußerst umfangreiche Ratgeberliteratur über Management und Selbstmanagement zielt darauf ab, uns zum Unternehmer unserer selbst zu machen. Dahinter steht die Vorstellung, dass wir uns in Eigeninitiative fit machen müssen für den Wettbewerb. Eltern mit Kindern können diesem ungebundenen Leitbild aber kaum genügen. Sie müssen die Erfahrung machen, dass ein Leben mit Kindern Abhängigkeiten und Verpflichtungen schafft, die ohne Konstanz und Verlässlichkeit nicht zu bewältigen sind und die Teilnahme am Wettbewerb erschweren. Elternschaft wird daher häufig als eine einschränkende Lebensbedingung erfahren.
Veränderte Kindheit
Die Anforderungen, die heute an Eltern gestellt werden, haben sich nicht zuletzt aufgrund der Veränderung von Kindheit selbst gewandelt. Die Ära der öffentlichen „Straßenkindheit“ – wie man sie noch bis in die 1980er Jahre hinein kannte und die in der Freizeit primär draußen stattfand – ist der verhäuslichten Familienkindheit gewichen: Immer mehr Freizeit wird ins Innere, in den häuslichen Bereich verlagert. Vor dem Hintergrund geringer Geschwisterzahlen oder von Geschwisterlosigkeit sowie häufig mangelnder Spielkameraden im gleichen Wohnviertel zeigt dieser Wandel konkrete Auswirkungen auf die Eltern: Sie werden als „Familienmanager“ mit der Aufgabe, eine Verinselung ihrer Kinder durch gezielte Freizeitgestaltung zu überbrücken, vermehrt zum Begleit-, Spiel-, aber auch Hausaufgabenpartner und investieren viel Zeit, Energie und finanzielle Mittel, um die eigenen Kinder mit anderen Kindern zusammenzubringen, zu fördern und einen abwechslungsreichen und anregenden Alltag zu gewährleisten.
[4]Elternschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht grundlegend verändert. Nicht zuletzt die veränderte Einstellung gegenüber Kindern, die Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung des Kindes sowie der hohe Anspruch an eine „gelingende“ Erziehung tragen dazu bei, dass Elternschaft als zunehmend schwieriger zu bewältigende Gestaltungsaufgabe wahrgenommen wird. Hieraus und aus der Tatsache, dass auf die Belange von Eltern wenig gesellschaftliche Rücksicht genommen wird, resultieren Probleme, die Eltern alleine nicht lösen können.
Die große Bedeutung des Kindeswohls
Im Zentrum der Elternschaft steht die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind, die auf allgemeinen Regelungen und Pflichten gegenüber dem Kind basiert und zur bestmöglichen Gewährleistung des Kindeswohls beitragen soll. Die Sorge um das Kindeswohl ist als klare Aufgabe der Eltern definiert, die mit dieser Aufgabe jedoch weitgehend alleingelassen werden und sich damit zunehmend überfordert fühlen. Während die Ansprüche an eine gute und glückliche Kindheit und an eine gelingende Erziehung wachsen, fällt es Eltern immer schwerer, den an sie gestellten Erziehungsanforderungen zu entsprechen. Zum einen, weil sie beruflich zumeist stark eingespannt sind oder etwa aufgrund fehlender Beschäftigungsmöglichkeit kaum die notwendigen ökonomischen Ressourcen aufbringen können, zum anderen, weil die gesellschaftliche Neudefinition des Kindes als gleichberechtigtem Partner Elternschaft per se anspruchsvoller und voraussetzungsreicher gemacht hat.
Seit den 1980er Jahren ist eine nachhaltige Emanzipation des Kindes zu beobachten, welche das Kind hinsichtlich seiner Rechte den Eltern gleich-, aber von möglichen Pflichten weitestgehend freistellt. Im Rahmen dieser Emanzipation des Kindes lässt sich eine starke Pädagogisierung der Elternrolle mit deutlichen Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung selbst konstatieren. Die aktuelle, partnerschaftlich-egalitäre Beziehung basiert auf veränderten Erziehungszielen und -stilen. Normativ hat ein offenes, am Leben der Kinder interessiertes Erziehungsverhalten, bei dem jedoch durchaus Regeln aufgestellt werden und gelten, alte Erziehungsziele wie Gehorsam, Anpassung und Pflichtbewusstsein abgelöst. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass gerade diese Aushandlungsprozesse im Familienalltag Eltern immer mehr an die Grenzen ihres erzieherischen Handelns bringen. Zwischen den Extremen von verwöhnten Wunschkindern vs. sich selbst überlassenen, zum Teil vernachlässigten Kindern versuchen Eltern ihrer Elternrolle gerecht zu werden und das individuell richtige Maß für ihr Kind zu finden.
[5]Die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit in der Elternrolle
Elternschaft bedeutet nach wie vor für Väter etwas anderes als für Mütter: Noch immer erbringen Mütter den überwiegenden Teil der Erziehungsleistungen. Dies ist oftmals mit einem (zumindest zeitweiligen) Verzicht auf eigene Berufstätigkeit verbunden. Mit dem Übergang zur Elternschaft findet in Deutschland eine nachhaltige Retraditionalisierung der Aufgabenteilung zwischen Frauen und Männern statt. Dieser Effekt lässt sich bereits beim ersten Kind beobachten und verstärkt sich bei weiteren Kindern.
Eltern stellen heute hohe Anforderungen an ihre Mutter- und Vaterrolle; sie haben das Bedürfnis und Pflichtgefühl, in der Erziehung alles richtig machen zu wollen. Der persönliche Anspruch, diesen Vorstellungen auch in der Praxis zu genügen, setzt Eltern häufig unter großen Druck. Vor allem Väter befinden sich in einer unbestimmten Situation: Der Wandel des Rollenbilds vom Ernährer zum Erzieher kollidiert im Familienalltag mit den gestiegenen Ansprüchen im Berufsleben. Zwar sind die „neuen Väter“ heute häufig stärker in die Familienarbeit eingebunden als vor Dekaden noch ihre eigenen Väter, doch wächst gleichzeitig der Anteil derjenigen Väter, die aufgrund gestiegener Scheidungshäufigkeit und größeren beruflichen Einsatzes nur sehr wenig Zeit mit ihren Kindern verbringen.
Für Mütter, die zumeist die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder tragen, stellt sich die Situation etwas anders dar. Sie stehen häufig in einem dauerhaften und ausgeprägten Spannungsfeld zwischen einerseits der Alltagswirklichkeit und dem Bestreben von Vereinbarkeit von Familie und Beruf und andererseits der kulturell stark verankerten Norm der „guten Mutter“, welcher sie mit größter Anstrengung zu entsprechen versuchen. Auch wenn sich inzwischen ein Wandel dieser Norm dahingehend beobachten lässt, dass diese nicht mehr zwingend auf der Vorstellung beruht, die Zuwendung für das Kind müsse automatisch mit dem Verzicht auf eine eigene Berufstätigkeit einhergehen, so sind die Erwartungen an die mütterliche Zuwendungsbereitschaft keinesfalls geringer geworden.
Verantwortete Elternschaft als Leitvorstellung
Eltern sehen sich heute mit veränderten Rollenerwartungen, einem veränderten Partnerschaftsverständnis und Aufgaben konfrontiert, die an sie deutlich mehr Ansprüche und Erwartungen stellen als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Norm der verantworteten Elternschaft, d. h. die Leitvorstellung, Kinder nur dann in die Welt zu setzen, wenn man sich „gut“ um sie kümmern und ihnen eine ausreichende [6]materielle Grundlage bieten kann, ist eine neue, oftmals persönlich verinnerlichte Voraussetzung. Somit hat Elternschaft heute eine völlig andere Bedeutung als zu der Zeit, als man Kinder „sowieso“ hatte. Seitdem Kinder nicht mehr selbstverständlich sind, müssen Staat und Gesellschaft sorgfältig klären, welche Unterstützungsleistungen sie Eltern gewähren. Hierbei geht es um die Zukunft der Gesellschaft und um die gerechte Bewertung von Leistungen und Belastungen in der Gegenwart. Daraus resultieren neue Gestaltungsaufgaben für Staat und Gesellschaft.
2. Die Dringlichkeit der Studie
Einen wichtigen Befund lieferte die Studie, noch bevor die erhobenen Daten ausgewertet wurden. Dieser Befund sind die Eindrücke, die sich aus den Interviews selbst ergaben. So brachten die befragten Eltern eine große Dankbarkeit zum Ausdruck, dass sich jemand tatsächlich für sie in ihrer Rolle als Eltern in ihrem alltäglichen Leben interessierte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Die Möglichkeit, ungefiltert die persönlichen Erfahrungen und Befindlichkeiten, insbesondere den als enorm erlebten Druck – der sich in Zeit-, Organisations-, Leistungs- und Erfolgsdruck äußerte – einer neutralen und wertschätzenden Person gegenüber zu schildern, wurde von ihnen als sehr positiv erlebt.
Im Rahmen der Interviews wurde schnell deutlich, dass Eltern in Deutschland kein Ventil haben, das es ihnen erlaubt, ihre Anliegen zu thematisieren. Insofern hatten die Interviews z.T. regelrechten Therapiecharakter, indem sie die Möglichkeit boten, aufgestaute Emotionen in einem geschützten Rahmen zum Ausdruck zu bringen.
Immer wieder wurde deutlich, dass Elternschaft subjektiv als zunehmend schwieriger zu bewältigende Gestaltungsaufgabe mit hohen Erwartungen erlebt wird, was in vielen Milieus zu massiver Verunsicherung der Eltern führt. Elternschaft wird als so komplex und anspruchsvoll wahrgenommen, dass Eltern in ihrer Eigenperspektive diesen hohen Ansprüchen kaum genügen können. Ihre eigene Erziehungsqualität betrachten sie voller Selbstzweifel, verunsichert und empfinden sie als mit großen Defiziten behaftet.
Die Gespräche wurden von den Eltern sehr positiv aufgenommen, da sie sich keiner wertenden oder moralisierenden Person gegenübersahen. Vielmehr erzeugte die Vorstellung, dass sich eine objektive Instanz mit dem Thema befasst und Eltern [7]nicht mit einem bereits fertigen Programm konfrontiert werden, große Akzeptanz und ein gewisses „Aufatmen“. Insofern wurde auch die Hoffnung geäußert, dass mit einer solchen Studie nicht neue Anforderungen an Elternschaft verbunden werden. Stattdessen wünschen sich Eltern Wertschätzung und Entlastung, um ihre Vorstellung von guter Elternschaft überhaupt umsetzen zu können. Dazu gehört auch die Veränderung von Strukturen und ein familienpolitisches Sprachrohr, das nicht moralisiert und den Eltern die Möglichkeit gibt, ihre Lebenssituation realitätsnah zu thematisieren.
„Die Politiker müssten mal wirklich die Eltern an der Basis fragen, wo es brennt.“
„Politiker sollten sich umhören, was im wahren Leben wirklich passiert. Die meisten Politiker sind von den wahren Problemen viel zu weit weg.“
„Die Minister sollten mehr mit Familien am grünen Tisch sprechen – und nicht über sie.“
„Natürlich sind Kinder superwichtig, sie sind die Zukunft. Aber wenn man sich die Politik mal anschaut: Die reagieren erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.“
3. Die feinen Unterschiede der Eltern
In Abhängigkeit von der Lebenssituation der Eltern haben sich in Deutschland in den letzten Jahren vielfach parallele Kinderwelten ausgeformt. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder unterscheiden sich erheblich darin, ob sie beispielsweise im Schatten von Arbeitslosigkeit aufwachsen, keinen häuslichen Umgang mit Büchern, aber möglicherweise mit PC-Spielen haben, durch engagierte Eltern gefördert werden oder mit ungelösten Migrantenproblemen konfrontiert werden.
Die Erkenntnis, dass es in Deutschland einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Schulerfolg gibt, scheint unumstritten. In Abhängigkeit von der Lebenswelt der Eltern mit ihren jeweils milieu-und kulturspezifischen Ausprägungen existiert gleichermaßen ein unterschiedliches Verständnis von Bildung und der Notwendigkeit von Bildung, aber auch von Erziehungszielen und -stilen. Zu beobachten ist, dass sich in den jeweiligen Milieus einander fremde Sinn- und Wertehorizonte entwickeln, die unter dem Druck verstärkter Anforderungen an Bildung, Erziehung und Beruf in einer Wissensgesellschaft weiter auseinanderklaffen. [8]So beobachten wir in den letzten Jahren ein deutliches Auseinanderdriften der Milieus sowohl in räumlicher als auch in kultureller Hinsicht. Deutschland scheint auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft zu sein, wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren.
Der Zulauf zu privaten Schulen ebenso wie das Umzugsverhalten von Eltern der Bürgerlichen Mitte geben ein beredtes Zeugnis dieser Entwicklung: Spätestens bei den eigenen Kindern hört üblicherweise die Toleranz auf. So ziehen Eltern mit ihren Kindern aus Wohnvierteln weg, die keinen ausgeglichenen Anteil von Angehörigen ihres eigenen bürgerlichen Milieus haben, was zu einer erheblichen Entmischung von Stadtteilen führt. Da Eltern wissen, wie entscheidend der Einfluss des Umfeldes für die Entwicklung des Kindes in den ersten Jahren ist, ist ihre Vermeidungslogik höchst rational. Neu an dieser Entwicklung ist, dass nicht mehr nur Akademikerfamilien, sondern bereits die Eltern der breiten Mittelschicht sich massiver nach unten abgrenzen.
Die erste massive Trennungslinie sozialer Abgrenzung verläuft heute zwischen aktiven Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern, sie bewusst erziehen und intensiv fördern, gegenüber Eltern, die die Entwicklung ihrer Kinder laufen lassen. Diese Eltern sind schnell mit ihren Kindern überfordert, stellen an sie eher niedrige Anforderungen und sind oft schon zufrieden, wenn sie nicht kriminell oder schwanger werden. Der Anteil dieser Eltern liegt bei etwas mehr als einem Fünftel. Diese Trennungslinie trennt die Ober- und Mittelschicht von den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft.
In sozialpolitischer Hinsicht ist diese Entwicklung problematisch für die gesellschaftliche Solidarität. Gerade Eltern der Bürgerlichen Mitte sehen sich unter enormem Druck und solidarisieren sich gegen Milieus am unteren Rand der Gesellschaft. Kinder der Bürgerlichen Mitte haben heute kaum mehr Kontakt zu Kindern unterer Schichten. Sie sammeln somit keine gemeinsamen Erfahrungen, lernen nicht, wie man dort miteinander kommuniziert und welche Werte, Ziele und Sorgen dort bestehen. Vor diesem Hintergrund kann sich Empathie als Grundlage für Solidarität nur schwerlich entwickeln. Ein bemerkenswertes Ergebnis der Sinus-Studie ist jedoch auch die Abgrenzung der unteren Mittelschicht und der Milieus am unteren Rand der Gesellschaft gegenüber jenen, die noch tiefer stehen. TV-Sendungen wie beispielsweise „Die Super Nanny“ sehen Eltern des Konsum-Materialistischen Milieus [9]etwa nicht zuletzt deshalb gerne, um sich selbst zu beruhigen, dass es anderen Eltern noch schlechter geht.
Die zweite Trennungslinie verläuft soziokulturell und trennt die gehobenen Milieus voneinander. So kommt die Bürgerliche Mitte heute nicht nur zunehmend unter Druck, da sie versucht, sich bewusst nach unten abzugrenzen, sondern auch, da sie bestrebt ist, den Anschluss an die gehobenen Milieus zu halten. Eltern jener Milieus wahren jedoch bewusst die Distanz zu Eltern der Bürgerlichen Mitte, so dass sich kaum enge Freundschaften über die Milieus hinweg zu entwickeln scheinen. Man bleibt lieber unter sich.
Elternschaft erweist sich somit weniger als Schritt in Richtung einer Solidargemeinschaft, sondern vielmehr als Klärungsprozess, der allerdings die soziokulturelle Identifikation mit der je eigenen Lebenswelt und das damit verbundene weltanschauliche Selbstbewusstsein zu verstärken scheint.
4. Die Elternrollen: die Norm der „guten Mutter“ und die Unbestimmtheit der Vaterrolle
Elternschaft bedeutet für Väter und Mütter etwas gänzlich anderes: Mütter erbringen weiterhin den Großteil der Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen. Zwar gaben in der Sinus-Studie 53 % der befragten Eltern an, dass beide Elternteile die Verantwortung für die Erziehung der Kinder tragen. Nach der tatsächlichen Erziehungsarbeit befragt, nannten jedoch 68 % der befragten Eltern, dass die Hauptarbeit ausschließlich bei der Mutter liegt.
Während der Lebenslauf von Vätern durch Elternschaft in vielerlei Hinsicht vergleichsweise wenig berührt wird, erfahren Frauen in den meisten Fällen eine einschneidende Veränderung ihrer Lebensumstände. Diese Umgestaltung ist oftmals verbunden mit einem Verzicht auf eine größere gesellschaftliche Teilhabe, vor allem hinsichtlich der Berufstätigkeit, die für das Kind unterbrochen oder aufgegeben wird. Das Spannungsverhältnis von Elternschaft und Berufstätigkeit wird daher besonders intensiv von Frauen wahrgenommen. Mit dem Übergang zur Elternschaft findet in Deutschland eine Retraditionalisierung der partnerschaftlichen Aufgabenteilung statt. Interessanterweise erfolgt das Muster der Retraditionalisierung der partnerschaftlichen [10]Aufgabenteilung durch alle Milieus hinweg, jedoch mit durchaus unterschiedlicher Akzentuierung.
So ist die Situation von Vätern heute durch starke Ambivalenzen geprägt: Einerseits streben sie ein neues Rollenideal jenseits des männlichen Ernährermodells an und wünschen sich eine stärkere Einbindung in die Erziehung ihrer Kinder. Andererseits erleben sie tagtäglich, dass dieses Ideal mit den realen Arbeitsbedingungen – vor allem bei gut ausgebildeten Vätern – massiv konkurriert. So können die meisten Väter dem persönlichen Wunsch nach „aktiver Vaterschaft“ allenfalls am Wochenende oder am Feierabend entsprechen. Dann gestalten sie ihre Rolle milieuspezifisch unterschiedlich akzentuiert aus. In den Milieus am unteren Randder Gesellschaft stellt sich die Situation insofern oftmals anders dar, als der Anteil von Personen, die von Arbeitslosigkeit betroffen und/oder alleinerziehend sind, vergleichsweise hoch ist.
Gegenüber der Vaterrolle zeigt sich die Mutterrolle eindeutiger bestimmt. Insbesondere in den alten Bundesländern erweist sich die Norm der „guten Mutter“ als weiterhin von ungebrochener Bedeutung und prägt das Verhalten junger Mütter. Im Kern basiert diese Norm auf der Prämisse, dass die kindliche Entwicklung am besten gelingt, wenn das Kind mit der ausschließlichen Zuwendung und Versorgung durch die Mutter aufwächst. Daraus leitet sich unmittelbar die Folgerung ab, dass jede andere Betreuungskonstellation eine weniger gute Lösung für das Kind darstellt.
Junge Mütter erleben diese kulturell verfestigten, unterschwelligen Muster als äußerst ambivalent. Sie setzen sich einerseits mit Normbildern aus zwei Epochen auseinander, die stilbildend waren. So sind die Normbilder der 1950er/1960er Jahre, die ihrer Großeltern, aber auch die ihrer Eltern aus den 1970er Jahren eine starke Referenz zur Orientierung, aber gleichzeitig auch zur Abgrenzung. Gerade dadurch ist das Bild der guten Mutter außerordentlich wirkmächtig. Die Bedeutung dieser Norm für das Fremdbild, aber auch für das Selbstbild junger Mütter ist nicht zu unterschätzen und prägt ihr Verhalten. Diese Normbilder wurden nicht in ihrer Kompaktheit in die Gegenwart transportiert, wohl aber wesentliche Elemente. So ist das normative Ausmaß an Verzicht und Aufopferung, das Mütter für ihre Kinder zu erbringen haben, heute zwar wesentlich geringer als vor 30 oder 40 Jahren, dennoch sind die Erwartungen an die mütterliche Zuwendungsbereitschaft und Versorgung der Kinder nicht wesentlich geringer geworden.
Eltern wissen andererseits, dass eine gute Mutter heute anders sein muss als vor 30 oder 50 Jahren. Das Lebensumfeld, das pädagogische Alltagswissen, veränderte Rollenbilder, Partnerschaft und die Berufstätigkeit vieler Frauen haben das Bild von Elternschaft massiv verändert. Für Mütter bedeutet dies den Konflikt zwischen dem [11]Mutterbild ihrer eigenen Großelterngeneration, dem Bild der modernen Frau, die auch jenseits der Kinder ein „Stück eigenes Leben“ hat, und der Mutterrolle, die sie durch die Erwartungshaltung ihrer Kinder und der Umwelt erfahren. Diesen Rollenkonflikt gilt es für die Frauen individuell zu lösen und die Mutter- und Elternrolle dementsprechend zu gestalten.
Die eigentliche Norm der guten Mutter, die ihr Leben sehr stark auf das Leben ihrer Kinder ausrichtet, findet sich primär in zwei Milieus wieder: in der Bürgerlichen Mitte und im Postmateriellen Milieu, die zusammen knapp ein Drittel aller Mütter ausmachen. Die gut qualifizierten Mütter der Postmateriellen erleben dabei eine starke Rollendiskrepanz zwischen dem Anspruch und der Realität von partnerschaftlicher Aufgabenaufteilung bezüglich Familie und Beruf.
Aber auch die Mutter aus der Bürgerlichen Mitte befindet sich im Konflikt und sieht sich von verschiedenen, heterogenen Ansprüchen an eine gute Mutter umstellt. Sie hat im Rahmen des Selbstverständnisses „Kindererziehung als Lebensaufgabe und Berufung einer Mutter“ internalisiert, dass sie mindestens sechs Monate nach der Geburt zu Hause bleiben sollte. Mütter, die frühzeitig arbeiten gehen oder gar Vollzeit arbeiten, gelten weitgehend immer noch als Rabenmütter. Dieses Selbstverständnis konkurriert jedoch mit dem Anspruch der modernen Frau, den auch Frauen der Bürgerlichen Mitte an sich stellen: Als moderne Frau ist man nicht mehr das „Heimchen am Herd“, sondern nimmt nach einiger Zeit sein Erwerbsleben wieder auf.
Wie die Sinus-Studie verdeutlicht, kommt für Mütter der Bürgerlichen Mitte erschwerend das „Muss“ hinzu, ein zweites Einkommen dazuzuverdienen, um dem Kind entsprechende Angebote von Sport über Musik bis hin zu mehr oder weniger exklusiver Freizeitgestaltung finanzieren zu können. Statt Blockflöte sollte es auch in der Bürgerlichen Mitte heute gerne die Violine, das Saxofon oder das Klavier sein.
Eltern der Bürgerlichen Mitte investieren viel Geld und Zeit, um den Anschluss nicht zu verlieren – eine Dynamik, die durch die Ergebnisse der PISA-Studien verstärkt wird. Bildung wird für die Bürgerliche Mitte zum Vehikel der Abgrenzung gegenüber den Milieus am unteren Rand der Gesellschaft. Dies führt zu einem weiteren Konflikt zwischen konkurrierenden Ansprüchen: Einerseits kann die Mutter der Bürgerlichen Mitte in ihrem Selbstverständnis von „Kindern als Lebensaufgabe“ nicht berufstätig sein, da sie sich umfassend um die schulischen Belange ihrer Kinder kümmern muss. Denn von der Hausaufgabenbetreuung bis zum Mama-Taxi am Nachmittag ist sie in der Rolle der allzuständigen Förderin ihrer Kinder unerlässlich. Andererseits möchte sie mit den Vorgaben der gehobenen Milieus mithalten. Das hat zur Folge, dass sie aus finanziellen Gründen in den Beruf zurückkehren muss.
[12]In den gehobenen Milieus stellt sich dies etwas anders dar. Die Bildungsaspirationen der Eltern dieser Milieus für ihre Kinder sind ebenfalls hoch. Allerdings stehen neben den Kindern weitere Lebensinhalte der Mütter im Vordergrund. In den bildungsfernen Milieus hingegen ist die Mutterrolle oftmals stark auf die Versorgerrolle reduziert und nicht in selten in Konflikt mit der Rolle als Partnerin und Ehefrau. Die sozialen Verbindlichkeiten, die Dauerhaftigkeit und Abhängigkeit, die in der Eltern-Kind-Beziehung zum Ausdruck kommen, haben häufig Auswirkungen auf die Paarbeziehung. Partnerschaft und Elternschaft geraten dann in eine Konkurrenzsituation.
5. Der Bildungsdruck
Die Mehrzahl der Eltern hat wenig Vertrauen in das öffentliche Bildungssystem – so der eindeutige Befund der Sinus-Studie. Die Kritik der befragten Eltern reicht von der schlechten Ausstattung der Schulen, zu großen Schulklassen, Überforderung der als wenig engagiert und häufig als schlecht ausgebildet erlebten Fachkräfte bis hin zu starren Strukturen und wenig innovativen Konzepten.
Die Reaktion der Eltern gehobener Milieus bis in die Bürgerliche Mitte hinein besteht darin, die Förderung ihrer Kinder zu einem möglichst frühen Zeitpunkt selbst in die Hand zu nehmen. Dahinter verbirgt sich zumeist eine tiefe Verunsicherung, bei der Eltern die Zauberformel „Frühförderung“ als Rettungsanker ansehen. Selbst bei Eltern allerkleinster Kinder im Kindergartenalter zeigt sich diese Verunsicherung. Selbst sie kaufen in der Sorge, dass ihre Kinder im öffentlichen Bildungssystem nicht angemessen und wettbewerbstauglich gefördert werden, bereits in vielfältiger Form Bildung ein. Der Druck, nur keine Chance auszulassen, da sie sonst ihrer heutigen Elternpflicht, das Kind optimal zu fördern, nicht gerecht werden, scheint allgegenwärtig. Gleichzeitig haben sie das Gefühl, dass es heute unabdingbar ist, einen Vorsprung vor den anderen zu haben.
Dieser Bildungsdruck setzt sich im Grundschulalter fort: Eltern unternehmen enorme Anstrengungen und investieren viel Geld in private Anbieter, damit ihr Kind gute Noten erhält. Privat organisierte Lerngruppen, die den Wechsel auf das Gymnasium ermöglichen sollen, sind heute keine Seltenheit. Mütter verzichten deshalb sogar mitunter auf eine eigene Erwerbstätigkeit. In einigen Bundesländern ist bereits ein neuer Markt mit unterstützenden Lernmaterialien für Grundschüler der dritten und vierten Klasse entstanden.
[13]Der Bedeutungsanstieg der Schule stellt Eltern unter einen deutlich erhöhten Anforderungsdruck. Auch innerfamiliär kommt dem Bildungsabschluss mittlerweile ein überragender Stellenwert zu. In dem Maße, in dem der erreichte Schulabschluss zum Schlüsselbegriff für gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg wird, avanciert das Ideal der bestmöglichen Entwicklung aller kindlichen Fähigkeiten zum allgemeinen Leitwert. Nahezu allen Eltern ist heute die Bedeutung von Bildung und Schule als der zentralen Zuweisungsstelle von sozialen Lebenschancen präsent.
Die Relevanz des Schulerfolgs und die intensive Auseinandersetzung mit Fragen der beruflichen Lebensplanung ihrer Kinder zeigt sich anhand folgender Zahlen: 75 % der Eltern bewerten den Schulabschluss ihres Kindes als persönlich sehr wichtig. Nur 1 % hält ihn für nicht wichtig und 2 % für weniger wichtig. Damit die Kinder den Anforderungen der Schule gerecht werden können, helfen fast 40 % der Eltern häufig bis regelmäßig bei den täglichen Hausaufgaben. Dabei geht es noch nicht um eine gezielte Vorbereitung auf die Klassenarbeiten.
Das große Engagement der Eltern für die schulischen Belange ihrer Kinder ist auch als Konsequenz aus der Überantwortung von schulischen Aufgaben an die Eltern zu sehen. So werden Hausaufgaben heute nur noch selten von Lehrern korrigiert und schulisches Üben in hohem Maße den Eltern übertragen. Eltern, vor allem Mütter, kommen in die Rolle der Hilfslehrerin und geraten in den Dauerkonflikt von Ohnmacht und dem Gefühl, für das Kind nicht genug getan zu haben, damit es mithalten kann. Dieses Delegieren von Bildung der Schule an die Eltern setzt jedoch voraus, dass Eltern intellektuell und didaktisch den Schulstoff verstehen und ihrem Kind vermitteln können sowie über die notwendige Zeit verfügen.
Angesichts des großen Engagements der Eltern, insbesondere der Mütter, ist es nicht erstaunlich, dass die Belange der Schule mittlerweile zum beherrschenden Thema des Familienlebens, vor allem in der Bürgerlichen Mitte, geworden sind. Eltern wirken mit den gestiegenen Anforderungen von Schule und gesellschaftlichen Bildungserwartungen an Kinder weniger als Filter, der die Leistungsanforderungen abmildert, denn als Katalysator, der die Leistungsmotivation antreibt. Die Eltern-Kind-Beziehung verändert sich zunehmend in eine Schulbeziehung, in der Zuneigung nach Schulnoten dosiert und diese häufig in Form von Geldzuwendungen honoriert werden. Dies lässt sich vor allem in den Milieus der Etablierten und Modernen Performer beobachten, die etwas mehr als ein Viertel der Eltern ausmachen.
Bildungssensibilität und -aspirationen sind auch bei gebildeten Zuwanderungsmilieus zu finden. Vor allem von Eltern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aber auch aus der Türkei ist bekannt, dass sie ihre mit der Zuwanderung verbundenen [14]Aufstiegswünsche auf die Bildungskarrieren der Kinder projizieren. Doch werden diese Aufstiegswünsche häufig von der Realität eingeholt.
Trotz der großen Bedeutung, welche die Bildung der Kinder heute für Eltern hat, wird ein Fünftel der Kinder und Eltern durch die bildungspolitische Diskussion um die bestmögliche Förderung kaum oder gar nicht erreicht. Diese Kinder werden von ihren Eltern kaum gefördert. Zwar betonen etwa die Eltern des Konsum-Materialistischen Milieus die Wichtigkeit guter Noten und solider Allgemeinbildung, damit Kinder später Chancen auf einen Arbeitsplatz haben, doch zeigen sie in der Praxis ein nur geringes Interesse am Bildungsweg ihrer Kinder. Bildung ist in diesem Milieu weder eine verfügbare Ressource qua Herkunft, noch werden Bildungsinteressen kultiviert. Der Schulalltag des Kindes stellt sich häufig als permanenter Kampf dar. Hier häufen sich Lernschwächen, gesundheitliche Störungen oder Verhaltsauffälligkeiten, die von den Eltern gerne verdrängt werden.
Bildung als „Muss“ im Sinne von Notwendigkeit ist die Einstellung von Eltern des bildungsfernen Milieus der Hedonisten. Eltern dieses Milieus verfolgen i. d. R. kein bestimmtes Bildungsziel und haben zumeist nur geringe Anforderungen an den Schulabschluss des Kindes. Den Anforderungen der Schule sehen sie sich und ihre Kinder hilflos ausgeliefert.
6. Der Erziehungsdruck
Eltern sehen sich heute vielfältigem Druck ausgesetzt: So beherrscht nicht selten zunehmender Zeitdruck, Organisations- und Leistungsdruck den Alltag von Eltern. Viele Eltern sind verunsichert, ein Drittel fühlt sich im Erziehungsalltag oft bis fast täglich gestresst, die Hälfte immerhin gelegentlich, so ein Ergebnis der Sinus-Studie.
Wie groß die Verunsicherung der Eltern ist, zeigt die Flut an Erziehungsratgebern und Elternzeitschriften, die mit unterschiedlichen Konzepten, Erziehungsphilosophien und -rezepten die Verunsicherung der Eltern eher noch verfestigen.
Gleichzeitig ist in vielen Milieus der Trend zu beobachten, dass eine ganzheitliche Erziehungsphilosophie abgelöst wird durch die Suche nach praktischen und kurzfristig wirksamen Rezepten für kurzfristig anstehende Probleme. Auch dieses funktionale, themen- und situationsorientierte Denken ist Ausdruck von Hilfsbedürftigkeit und eben nicht von innerer Gelassenheit und Selbstsicherheit. In ihrer subjektiven Perspektive haben Eltern nur selten das Gefühl, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu [15]sein. Viele sind von Selbstzweifeln geplagt, die sie in der Öffentlichkeit kaschieren denn natürlich ist es eine Norm für Eltern, dass sie „glücklich“ zu sein haben.
Dazu kommt der – durch PISA verstärkte – (Ein-)Druck, dass der zeitliche Korridor für die Weichenstellung für ihr Kind sehr eng ist und jede Chance genutzt werden muss – „sonst ist es womöglich zu spät und der Zug ist für das Kind abgefahren“.
Wohl noch nie gab es so viele reflektierende, bewusst erziehende und in ihrer Erziehung selbstkritische Eltern, die alles darauf ausrichten, dass ihr Kind keinen Schaden nimmt, und die es gezielt fördern. Eltern treten ihrem Kind gegenüber nicht mehr als distanzierte Autoritätsperson auf. Im Erziehungsverhältnis wird das Kind als Persönlichkeit mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Rechten akzeptiert. Diese Wertschätzung der Persönlichkeit des Kindes zeigen Eltern heute in einem so genannten autoritativen Erziehungsstil. Im Gegensatz zur autoritären Erziehung wird nicht strikter Gehorsam eingefordert. Vielmehr werden Kinder als Lebens- und Gesprächspartner ernst genommen. Eltern versuchen, sich in die Perspektive des Kindes zu versetzen. Diese Erziehung „Freiheit in Grenzen“ sucht sich das Beste aus verschiedenen Erziehungsstilen heraus und fordert von den Eltern auch einen flexiblen Umgang mit den Erziehungsstilen. Damit können nicht alle Eltern gleichermaßen gut umgehen. Vor allem dann kommt es zu einem erhöhten Erziehungsdruck, wenn Eltern vom Verlust des Arbeitsplatzes betroffen sind und/oder Kinder massive Bildungsdefizite aufweisen. Angesichts des zunehmenden Konsums der Kinder, des selbstverständlich gewordenen Medienumgangs von Kindern und Jugendlichen sind Eltern in ihren Erziehungsaufgaben täglich gefordert.
Ganz anders gestaltet sich die Erziehung im „Religiös-verwurzelten Milieu“ der Migranten. Diese sehr auf Familiendisziplin und konformem Geschlechterrollenverhalten und Einhaltung der moralischen und religiösen Gebote basierende Erziehung wird mit strengen autoritären Erziehungspraktiken der Eltern durchgesetzt. Allerdings müssen diese Eltern die Erfahrung machen, dass sie häufig ihr Ziel verfehlen, da sich die Kinder dem engen familiären und religiös-moralischen Rahmen entziehen. Dagegen setzt sich das „Traditionelle Gastarbeitermilieu“ durch eine weniger strenge Erziehung, vor allem durch die Mutter, ab. Beide Migranten-Milieus vermitteln jedoch durch eine rigide Moralvorstellung, dass sich der Einzelne mit seinen Bedürfnissen der vorgegebenen Ordnung unterwerfen muss. Der Erziehungsdruck, den die Eltern empfinden, entspricht weniger den gesellschaftlichen Leistungsanforderungen als der kulturellen Norm nach einer „moralisch richtigen Erziehung“. Diese Eltern haben das Gefühl, als Eltern persönlich zu versagen, wenn ihre Kinder einen für sie inakzeptablen westlichen Lebensstil praktizieren. Gleichzeitig fehlt es [16]ihnen mit zunehmendem Alter der Kinder an Einfluss und Mitteln der Intervention. Da der Einfluss von Freunden, Cliquen und Szenen weitaus größer ist, erreichen die Eltern ihre Kinder ab dem Jugendalter immer weniger. So entsteht für viele Eltern das Gefühl der Entfremdung und des Verlustes. Die häufige Flucht in autoritäre Erziehungsmittel und härtere Strafen ist Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. Ein ähnlicher rigoroser Erziehungsstil findet sich auch bei Eltern des Entwurzelten Flüchtlingsmilieus wieder.
7. Das Vereinbarkeitsdilemma
Eltern aus nahezu allen Milieus erleben einen erhöhten Druck aufgrund der Schwierigkeit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Der Druck ist keineswegs „nur“ eine subjektive und damit relative Befindlichkeit, sondern er ist objektiv da. Unternehmen stehen im Wettbewerb unter dem Druck zu mehr Flexibilität und Mobilität, die sie auch von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verlangen (müssen).
Wie die Sinus-Studie zeigt, sind Mütter (seltener: Väter) innerhalb des Unternehmens die abhängige Variable, die flexibel auf die sich wandelnden Anforderungen im Erwerbsalltag reagieren muss. Sie sind nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit im unternehmensinternen Wettbewerb unter Beobachtung, ob sie den Anforderungen gerecht werden, ob sie wie alle anderen weiterhin ungebrochen flexibel, mobil und belastbar sind, oder ob ihre Kollegen auf sie – unverhältnismäßig und leistungsungerecht – Rücksicht nehmen müssen.
Krankheiten der Kinder, Anrufe aus dem Kindergarten oder aus der Schule, dass sie abgeholt werden müssen, bringen Eltern am Arbeitsplatz unter Rechtfertigungsdruck – und sie machen dabei, egal wie sie sich entscheiden, einen Fehler als Mutter/Vater und als Arbeitnehmerin/Arbeitnehmer. De facto führt Elternschaft am Arbeitsplatz zur Schwächung der zugeschriebenen Kompetenz, der übertragenen Verantwortlichkeiten und der Aufstiegschancen im Unternehmen.
Die Gesellschaft erwartet, dass Eltern viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, doch die Arbeitswelt vollzieht einen Totalzugriff auf die Eltern, vor allem auf die Väter.
So befinden sich Väter in einer höchst unbestimmten Situation: Die gestiegenen Anforderungen an Mobilität, Flexibilität, Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft stehen dem Wunsch nach einer größeren Beteiligung am Erziehungsalltag gegenüber. Für viele Mütter bedeuten die verlängerten Öffnungszeiten wöchentlich neu zu organisierende Arbeitszeiten, die sie mit den Kindern in Einklang bringen müssen.
[17]Ein zentraler Befund der Sinus-Studie ist, dass Frauen trotz der Dilemmata aber nicht in die traditionelle Arbeitsteilung zurück wollen und sich vom Rollenbild als Hausfrau und Mutter als Standardmodell distanzieren. Und auch die Väter wollen das nicht. Das Bedürfnis der jüngeren Generation nach Familie ist groß – aber auch ihre Erwartung, dass sie individuell entscheidet, ob und in welchem Umfang sie berufstätig ist, ohne dauerhaft in Konflikt zu geraten oder ein schlechtes Gewissen als Eltern zu bekommen.
Trotz der Wahrnehmung verbesserter Möglichkeiten und größerer Freiheiten im Vergleich zu früheren Generationen werden aktuelle familien- und arbeitsmarktpolitische Strukturen als unzureichend erachtet. Vor allem Frauen äußern massive Kritik an der Entweder-oder-Entscheidung zwischen Beruf und Kindern. Sie erleben einen starken Bruch in ihrer Berufsbiografie durch ihre Mutterrolle. Beruflicher Stillstand oder gar Zurückstufung sind Alltagserfahrung berufstätiger Mütter. Umgekehrt haben junge Väter den starken Wunsch, mehr Zeit und Kraft für sich selbst und die Familie zu haben, doch sie beobachten das Image, den Spagat und den Karriereknick von Müttern in ihrem Unternehmen – und wagen oft nicht, für mehrere Monate Elternzeit zu nehmen oder offensiv zu kommunizieren, dass sie abends pünktlich nach Hause gehen (und keine Überstunden machen), nur um bei ihrer Familie zu sein. Im Zweifel für den Beruf und gegen die Familie ist eine Eltern oft aufgezwungene Entscheidung im Erwerbsleben.