MARICA BODROŽIĆ wurde 1973 in Svib/Dalmatien, dem heutigen Kroatien geboren. Sie lebt seit 1983 in Deutschland und schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis für Literatur von der Akademie der Künste in Berlin und den Kulturpreis Deutsche Sprache und 2013 den Preis der LiteraTour Nord. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.
Im Dorf sprach man seit Tagen über nichts anderes mehr. Der Fernseher lief heiß, und Großvater begriff nicht, weshalb ein Mensch, der doch soeben gestorben war und den man bereits unter die Erde gelegt hatte, auf dem Bildschirm hin- und herlaufen konnte. Was in Großvaters Kopf vorging, ob er diese Erscheinung Titos in die Welt der Magie, der Engel und der Teufel verbannte oder ob er sie als ein Mysterium der modernen Welt wahrnahm, werde ich nie erfahren.
Ich weiß nur, daß ihn die flimmernden Bilder irritierten. Insbesondere jene berühmten Liebesszenen in amerikanischen Filmen, die ihn wie ein pythischer Wasserfall überrollten. Eine Kußszene auf dem Bildschirm fand für ihn tatsächlich statt, und er schimpfte über die Unverfrorenheit der Frauen, die sich nicht darum scherten, daß er ihnen beim Küssen zusah. Diese verteufelten Lippen, die sich nicht mehr voneinander zu lösen schienen, kamen in seinen Augen einer Entweihung gleich.
Mein anfängliches Glucksen über Großvaters Unwissenheit verstummte bald. Auf seine Frage, was denn die Bilder anderes als die Wahrheit selbst seien, fiel mir nichts ein. Konnte diese Kußszene denn etwas anderes bedeuten? Gab sie wirklich nur vor, echt zu sein, und hielt sie denn das Versprechen nicht?
An diesem Tag waren die amerikanischen Kußszenen vom Bildschirm verschwunden. Man ersetzte sie durch rote Nelken, durch Generäle und schwarz gekleidete Nachrichtensprecher, durch Kinder, die Gedichte für den Herrn Josip auswendig lernten und ihre niedlichen Köpfe vor Tausenden von Kameras reckten. Die stolzen Mütter weinten und putzten sich synchron die Nasen, die von der ständigen Reiberei wund geworden waren. Der Tod des Genossen hatte sie – hatte uns alle – in tiefe Trauer gehüllt.
Josip Broz-Tito war tot: der Mann, der mit seiner riesigen runden Brille in meinem Klassenraum hing und dessen Bild ich als Anstecker bei meiner Pionierseinweihung erhalten hatte, zusammen mit dem partisanenartigen Mützchen, dem roten Stern und dem roten Halstuch. Sein durchdringender Blick schmückte jedes Schusterlädchen, jeden noch so blutigen Metzgerladen, jedes verstaubte Lehrerzimmer eines weltvergessenen Bergdorfs, jedes Einkaufszentrum, jedes Amtszimmer und jedes Schulzimmer. Niemand sollte die ruhmreichen Schlachten »unserer Männer« vergessen, die sich mutig dem Feind entgegengestellt und ihn nicht nur mit ihren Waffen, sondern mit dem Herzen besiegt hatten, als sie unerschrocken den Tod des Faschismus und die Freiheit des Volkes forderten.
Großvater bekam es in den frühen Nachrichten mit und rief mich in die Wohnküche. Auf allen Kanälen war Tito zu sehen. Er wurde innerhalb von wenigen Stunden zum einzigen Bild der Nation; das Passepartout bildeten schmale, trauernde Gesichter.
Aus aktuellem Anlaß reagierte auch das Radio: Meine Lieblingssendung fiel aus. Statt dessen sollte es einen Sonderbericht über Titos Leben und Wirken geben, ausgerechnet am Sonntag, dem Tag, an dem ich meine geheiligte Wünsche- und Grüße-Sendung der dalmatinischen Matrosen und Seefahrer hörte. Die schönen Mandolinen-Lieder gingen mir an diesem Nachmittag unwiderruflich verloren.
Mein Großvater schaute mit einem blinden und einem sehenden Auge gebannt auf den Bildschirm. Beunruhigt nahm er mehrmals seine Mütze vom Kopf, nur, um sie sogleich wieder aufzusetzen. Immer wieder gab er kopfschüttelnd ein kurzes, fast gezischtes Tss Tss von sich. Jetzt werde der Teufel die ganze verdammte Menschheit in die Knie runterreiten und alles sei umsonst gewesen. Umsonst habe er im Zweiten Weltkrieg den Soldaten die Suppe gekocht, weil er dachte, das sei der letzte Krieg, zumindest für die nächsten hundert Jahre. Damals hat sich ein Soldat, für dessen Kompanie Großvater eingeteilt war, geweigert, zwanzig Soldaten zu erschießen, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Ich habe nie begriffen, auf welcher Seite diese Gefangenen waren und auch nicht danach gefragt, weil schon die Vorstellung von ihrer Exekution überhand nahm und mich das Bild, das Großvater stets aufs neue beschrieb, in Bann schlug. Der Kommandant mußte am Ende selbst die Gefangenen erschießen, nachdem auch der Koch sich seine Hände nicht hatte schmutzig machen wollen. Die Verweigerer konnten sich diesem willkürlichen Massaker – es geschah in den letzten Tagen des Krieges – nicht entziehen; sie hatten die Wahl, entweder Zuschauer des einseitigen Vergnügens eines Durchgedrehten zu werden oder sich neben die zwanzig anderen Männer an die Wand zu stellen. So hörten alle Anwesenden die Namen der zum Tode Verurteilten. Der verrücktgewordene Kommandant befahl ihnen, einzeln vorzutreten und laut ihre Namen zu sagen. Bevor die schnell abgefeuerten Kugeln in ihren dünnen Bäuchen landeten und die ausgehungerten Körper wie Mücken zu Boden fielen, hörte man ein letztes Mal ihre Stimmen.
Später ist es zu einer der seltenen Verurteilungen gekommen. Der Kommandant traf bei Gericht auf seinen Kompanie-Koch, meinen Großvater, der die Namen der zwanzig Toten wie in Trance aufsagte. Auch zu Hause hat er ihre Namen wiederholt und dabei ungerichtet in die Ferne gesehen. Erst in der Rückschau habe ich seinen unruhigen, schweifenden Blick deuten können und erst dann verstanden, warum er Titos Tod, bei allem Zweifel an der unantastbaren Größe des Marschalls, als einen wirklichen Verlust empfand. Noch später begriff ich, wie deutlich sein Körper das Unglück vorausgefühlt haben muß, denn schon bald sollte wieder ein Krieg ausbrechen und nicht nur diejenigen trennen, die sich haßten, schlimmer: auch jene, die sich liebten. Warum das so war? Weil der Krieg Nichts und Niemanden verbindet.
Ich hörte im Dorf, Tito hätte die Menschen gezwungen, miteinander zu leben, und jetzt würden sie Rache üben. An der Politik und am Feind, an allen, die ihnen das Leben schwergemacht hatten. So war ich nicht überrascht, als ich las, die Albaner hätten nach dem Tod Enver Hodschas als erstes die staatlichen Pflaumenbäume gefällt und ihre Rache unwiderruflich in die eigene Landschaft gemalt. Öde Graswüsten lagen nun dort, wo früher von der gegenüberliegenden Grenze aus Baumplantagen zu sehen gewesen waren. Jetzt blickte man nur auf fades Gestrüpp, auf die breiten abgesägten Stämme – Zeugen einer Zeit, der kein Überleben vergönnt sein sollte, schon gar nicht in den Pflaumenbäumen.
Ich war ein neugieriges Kind, und wenn Großvater keine Geschichten erzählte, dachte ich mir selber welche aus. Meiner Phantasie entging nichts. Selbst die Russen waren nicht sicher vor mir; ich scheute mich nicht, unserer Nachbarin Svetlana Rodenska einen Apfel, den ich am Morgen aus ihrem Garten gestohlen hatte, als Beweis für russischen Besuch unter die Nase zu halten und ihr von Soldaten zu erzählen, die nachts das »Gelände« – ein Wort, welches ich bei Großvater aufgeschnappt hatte – abgesucht und »in dieser Sache« nur mich ins Vertrauen gezogen hätten.
In Loncari, einem Teil unseres Dorfes, in dem nur hartgesottene Parteigänger wohnten, flossen die Tränen bis in die Adria hinein, wie man es sich unter meinen patriotischen Verwandten noch lange nach Titos Tod erzählte. Die Roten liebten ihn sehr, den Tito. In der Schule schaute der Marschall immer noch auf uns und unsere blauen Uniformen herunter. Seine riesige Brille sah auch an diesem Tag so aus, als ob sie runterrutschen und auf den glattpolierten Fliesen zersplittern würde. Man rief uns zusammen, um fünf Schweigeminuten einzulegen. Die ganze Schule versammelte sich in einem langen dunklen Flur, der die zehn Klassenräume miteinander verband und auch im Winter nur spärlich beleuchtet war. Auf diesem Flur wurde jetzt gemeinsam geschwiegen. In der Stille turnten die Gedanken nur so herum, und ich merkte rasch, daß mein Unmut über die vielen Tito-Bilder im Fernsehen nicht von allen Schülern geteilt wurde. Die meisten waren ernst, und einige wischten sich verlegen die Tränen von den Wangen. In ihren Gesichtern schien sich eine bekennende Stille verkrochen zu haben, so, als hätten sie Schuld an Titos Tod.
Ich senkte den Kopf und sah auf die weißen Seidensöckchen, die unter dem Uniformrock meiner blauen Pionierskleidung hervorschauten. Daß die Söckchen neu waren, hatte bei dem ganzen Trubel noch nicht einmal die aufmerksame Matilda bemerkt. Die Matrosen erwähnte ich erst gar nicht. Ich wußte, daß sie draußen waren und irgendwo auf dem tiefen Blau des Meeres an ihrem Radioknopf drehten; daß sie Grüße erwarteten, sich Lieder erhofften, die sie in die Häfen ihrer Geburtsstädte zurückbringen würden, in die Arme der Geliebten, der Frau oder der Mutter. Aber was mußten sie hören. Die Genossen Radiosprecher berichteten heiser und gehetzt von einem Staatsmann, der keiner mehr war, weil er längst schon unter der Erde lag und auch sein Amt nicht mehr ausüben konnte.
Wie gewohnt ging ich auch an diesem Tag nach Hause und erzählte Großvater von der verordneten Schweige-Zeit. Er hörte nur still zu und erwiderte kein einziges Wort. Wie beiläufig sagte er ein paar Tage später: »Hör mal, die Leute aus Loncari, sag ihnen nie ›Grüß Gott‹, sie wollen lieber mit ›Guten Tag, der Genosse ‹ begrüßt werden.«
Fortan hatte ich jede Menge damit zu tun, die Menschen aus den verschiedenen Ecken des Dorfes voneinander zu unterscheiden und sie mit den richtigen Worten zu begrüßen. So begannen der ehrfurchteinflößende Gott, der liebe Jesus und der gute Genosse in meinem Kopf durcheinander zu wirbeln, bis ich eine schöne neue Bricolage daraus gemacht hatte. Den Genossen Veljko begrüßte ich mit einem fröhlichen: »Grüß’ Tag, Herr Genosse Jesus, wie geht’s ihrer schönen Frau von der Küste?« Herr Veljko hatte nämlich eine Adria-Schönheit, die Frau Marijana, geheiratet und war mächtig stolz auf seine Süße. So jedenfalls erzählten es sich die alten Männer meines Dorfes.
Genosse Veljko hat mir nie etwas getan. Aber es ist sicher wahr, daß er nicht gerade ein zartes Wesen hatte; in jedem Dorf gibt es schroffe, herzlose Menschen. Eines Tages wurde mir klar, warum sich manche der Dorfbewohner so über ihn geärgert hatten. Ich hörte den Genossen, wie er auf der Landstraße barsch mit seiner Frau redete. Als sie zu ihm sagte, die andere Seite sei auch in ihrer Brust, sah ich im Vorbeigehen, wie sich über sein Gesicht ein Schleier legte. Sie komme ja schließlich von dort her, fuhr Marijana ungeachtet seines Unmuts fort, das Herz schlüge nun mal in ihrem besonderen Fall auf der linken und auf der rechten Seite zugleich.
Damit stand Marijana nicht allein. Es gab viele, deren Herz auf beiden Seiten schlug. Dennoch oder gerade deshalb haben die Häuser gebrannt, und in den Kellern der Geflohenen fanden sich Bücher, die man angesichts der flammenden Welt als gefährlich einstufen mußte. Nichts ging unter in dieser Zeit, niemand war ein Freund des einen oder des anderen, und es hatte keine Bedeutung, dem Nachbarn Verständnis entgegenzubringen, weil er eine Vorliebe für russische oder deutsche Literatur gehabt hatte. Welche Art von Literatur ihm nah war, davon zeugte seine verlassene Bibliothek. Jeder war neutral geworden, ohne Geschichte, ohne Biographie; merkwürdig genug, daß dabei ein »nationales Gedächtnis« bewahrt wurde. Sicher lag das an den Augen des großen Bruders, denn wieder einmal bewachten sie das Geschehen. Auch wenn sie jetzt einem anderen Herrn gehörten, es waren die üblichen großen Augen, nur daß er jetzt einen anderen Namen trug.
Die alte Desanka ist über all diesen Feuern verrückt geworden. Sie hatte in der Gaststätte ihres Sohnes mit den Männern Billard gespielt, bevor diese in die Berge abzogen und lange Zeit dort blieben, Männer, die nach Wochen wiederkamen und nicht mehr wußten, wer zu wem gehörte und warum die Felder nicht wie sonst bestellt worden waren. Einer der Rückkehrer, ein junger Mann mit Vorliebe für Rockmusik und mit einem atheistischen Gemüt, ist strenger Katholik geworden, der sonntags der heiligen Hostie entgegenlebte. Selbst wenn Desanka nicht verrückt geworden wäre, ihr Billardspiel wäre das sichere Zeichen einer Veränderung gewesen, und wahrscheinlich hätten sich die Dorfbewohner innerhalb kürzester Zeit darauf geeinigt, daß mit ihr etwas Wesentliches nicht stimmte, was auf das Gleiche hinauslief. So aber schaute man auf die jungen und die alten Männer, die selbst immer merkwürdiger wurden und einander absurde Aufmunterungen zuriefen und Sätze sagten wie, lass uns in den Bergen einen Kaffee trinken oder eine Runde Boccia spielen, das wärs jetzt. Jeder wußte, daß es seit Monaten keinen Kaffee mehr gab und an die Boccia-Kugeln selbst der eingefleischteste Küstenbewohner nicht mehr dachte. In den Bergen schon gar nicht, wo in ruhigen Zeiten nur die hungrigen Wölfe einander begegneten, wo aber jetzt Kanonenschüsse selbst diese alten Heuler, die an Kriege wie an den Regen im Winter gewohnt waren, verjagt hatten. Im Grunde war es für Desanka die beste Zeit, verrückt zu werden.
Die Porträts von Tito sind endgültig verschwunden und wurden von neuen Gesichtern abgelöst. Die Männer, die seine Stelle eingenommen hatten – Fleischerläden und Schulräume gab es ja noch immer – sahen ihrem Vorgänger unerwartet ähnlich. Der wissende Blick über den Köpfen der Menschen verband die neuen Herrscher miteinander. In der Höhe der Räume bauten sie sich mit ihren immergleichen Bildern eine Brücke über die Welt. Und die Brücke erwies sich als ein geeigneter Ort: von hier aus war alles überschaubar.
Zu allen Zeiten hat man sich Geschichten erzählt. Auch jetzt, wo die neuen Brückenbewohner ins Land gezogen waren, konnte es nicht anders sein. In einer dieser Geschichten heißt es, im Kabinett der Hauptstadt säßen Männer, die in jenen Tagen, als der Kaffee knapp und Desanka verrückt geworden war, mit Totenköpfen Fußball gespielt hätten. Diese Lakeien sind die Brückenpfeiler für jene großäugigen Herrscher, nach deren Willen ganze Landstriche in Blut ertränkt wurden und die dir später, ohne mit der Wimper zu zucken, das Rot des Todes als Pfingstrosenfarbe verkaufen.
Großvater hat sie nicht in ihrem Element erlebt, die neuen Alleskönner. Er hat sich ihnen von Anfang an entzogen und ihre lächerlichen Namen nie gelernt. Ob es seine Absicht war oder nicht, er ist nie vertraut mit ihnen geworden und hat sie, zum Vergnügen, aber auch leider, und das war eher die Regel, zum Spott aller Gasthausbesucher, gänzlich falsch ausgesprochen. Als ihre Fahnen gekommen sind, ist Großvater gestorben. So schmerzlich sein Tod war, so gut war sein Zeitpunkt.