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Nach Kurz vor dem Gewitter (2003), Unter freiem Himmel (2007) und Ins Reine (2010) erscheint ein vierter Band poetisch-lyrischer Naturerkundungen von Michael Krüger, Umstellung der Zeit. Es sind Gedichte, die, mit einer Mischung aus Staunen und Reflexion, den Blick auf unsere Lebensverhältnisse richten – hundert Versuche, das zentrifugale Geschehen ohne große Worte, so lapidar wie möglich, zu erfassen, um zu einem wie immer flüchtigen Bild von der Welt zu kommen.

 

»Michael Krügers neue Gedichte fügen sich zu einer großen Elegie auf die verschwindende Sichtbarkeit von Welt, die gebrochen, aber nicht resignativ an eine große Tradition der Naturlyrik anknüpft, sich aber zugleich immer wieder als eine sehr persönliche Klage um versäumtes Leben darstellt. … der Lyriker auf der Höhe seiner Kunst«, schrieb Friedmar Apel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Ins Reine.

 

Michael Krüger, geboren am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf / Kreis Zeitz, lebt als Autor, Leiter des Hanser Verlags und Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente in München. Zuletzt erschienen: Ins Reine, Gedichte, 2010; Reden und Einwürfe, Gedichte, 2008; Unter freiem Himmel, Gedichte, 2007.

Michael Krüger

Umstellung der Zeit

Gedichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Erste Auflage 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Satz: Memminger MedienCentrum AG

Printed in Germany

 

eISBN 978-3-518-73453-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

I

Mein Schreibtisch in Allmannshausen

Kein Haiku

Postkarte, Mai 2012

Drei Winde, Pfingsten

Mai

Bei Münsing

Lange Unterredung

Krähenbeißer

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten

Holzhaus

Glück

Waldspaziergang

Ein Freund

Dämmern

Der letzte Tag im August

Der Tod der Birke, 2011

Alter Mann unterm Apfelbaum

Nachts auf der Terrasse

Fotoalbum

Erinnerung an die Schule

Klassentreffen

Gedicht

Begleiterscheinungen des Krieges

II

Im Negev

Hotel Malibran, Venedig

Hotel bei Erfurt

Botschaft, 2012

Hotel Europa

Erleuchtung

Flug nach Istanbul

Harry Mulisch

Hotel Il Patriarca

Scham

Nach dem Regen

Vor dem Sturm

Straßenszene in fremder Stadt

Russisches Geld

Vier Zeilen für Lalla

Zimt

Über Möwen

Ländliches Café

Nationalmuseum Kalkutta

Indien – Sieben Postkarten

Programmlyrik

Der Igel

Wie Gedichte entstehen

Schlaflos

Urheberrecht

III

Altes Holzhaus

Ein Dichter

(Ohne Titel)

In der Uckermark

Linsen in New York

Fast nichts

Geschenkte Zeit

Herzensschrift

Istanbul revisited

Alte Brunnen

Diel

Spazierengehen, leicht bewegt

Czesław Miłosz

Übersetzen

Überholt

Was noch zu tun ist

Antonio ist gestorben

Literarisches Colloquium

Nicolas Born

Claude Simon

Zur Erinnerung

Wer war es?

Spiegel

Aufräumen

Im Schuppen

IV

Schnee

Neujahr 2012

Neujahr

Winter

Arme Äpfel im Februar

Schnee-Träumer

Träumerei

Palmsonntag, 2012

Setzlinge

Strand-Café

Kurzer Ausflug

Sommerhaus, Ostern

Zum Stand der Dinge, 2012

Am See

Bei Boston, am Meer

In Erwartung des Regens

Herbst

An der Ostsee, sehr früh

Chiusi, terre di Siena

Die Spinne und ich

Die Amsel

Frühe Sonne, im Süden

Mähen

Sommerende

Rêverie

Stehendes Gewässer

Lichtung

I.

»Die Vernunft trägt immer Trauer.«

Ramón Gómez de la Serna

Mein Schreibtisch in Allmannshausen

Im Haus nebenan, wenn man den Hang hinauf geht,

hat Mussolinis Außenminister gelebt,

bevor man ihn nach Italien brachte und aufhängte.

Und ein Haus weiter Hitlers Lieblingsdichter

Hanns Johst, dem hier offenbar die Worte zuflogen.

Ich schaue auf Kühe, Eichhörnchen und Pferde,

bei offenem Fenster höre ich die ferne Autobahn.

Man wird nicht dazu angehalten,

dem Menschen Gutes zu unterstellen.

Wenn die Sonne sinkt, sehe ich mich

im Fenster, aber natürlich können auch Spiegel irren.

Kein Haiku

Eine tote Amsel

vor meinem Fenster.

Ich warte eine Stunde

auf die Umstellung

der Zeit.

Postkarte, Mai 2012

Die Tür zur Terrasse steht offen,

die gelbe Armee des gemeinen Löwenzahns

erobert unerbittlich den Rasen,

das Eichhörnchen sucht die Nüsse

vom letzten Jahr. Es soll regnen,

die Schaukel träumt schon vom Wind.

Wenn die dicken Sonntagszeitungen

recht haben, gibt es das alles nicht.

Den Specht nicht, der seine Elegie

dem Ahorn anvertraut, und nicht

das Unkraut, den Freund der Hummeln.

Weil wir die Unvollkommenheit verachten,

arbeitet jetzt eine unsichtbare Maschine

an der Vollkommenheit. Übrigens,

auch der Apfelbaum, der wie ich

im Krieg das Licht der Welt erblickt hat,

beginnt wieder zu blühen.

 

Drei Winde, Pfingsten

Ein spitzbübischer Wind

schaukelt in den Vorhängen,

ein anderer liest mein Buch

in rasender Eile,

ein dritter sammelt Steine,

damit die Welt nicht

abhanden kommt vor der Zeit.

In welchen Sprachen

muß einer sprechen,

damit die Welt ausheilen kann?

Und gibt es wirklich

fünfzig Wörter für Licht?

Mai

Es ist Mai, und ich lese

in einem der unaufgeschnittenen Bücher,

daß mein Leben bereits aufgeschrieben ist,

Jahr für Jahr. Auf der letzten Seite