Charmant und schwungvoll plaudert Isabel Allende über ihre Heimat, jenes langgestreckte Land am Rand der Welt, das sie nach dem Militärputsch 1973 verlassen mußte. Ausgehend von ihrer eigenen Geschichte und der ihrer Familie erzählt sie vom Stolz, von der Großzügigkeit und der Borniertheit ihrer Landsleute, von aufgeplusterten Machos und mutigen Frauen, von all dem, was ihr Chile liebenswert und unausstehlich macht – vor allem aber davon, was es bedeutet, ein Land zu verlieren und ein Zuhause zu finden.
»Mein erfundenes Land ist ein Buch der Erinnerungen an ein bewegtes Leben mit vielen Höhen und Tiefen.« Rheinischer Merkur
Isabel Allende, 1942 geboren, hat ab ihrem achtzehnten Lebensjahr als Journalistin in Chile gearbeitet. Nach Pinochets Militärputsch am 11. September 1973 ging sie ins Exil, wo sie ihren Weltbestseller Das Geisterhaus schrieb. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Kalifornien. Ihr Werk erscheint auf deutsch im Suhrkamp Verlag.
Mein erfundenes Land
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel
Mi país inventado
bei Plaza & Janés, Barcelona.
© Isabel Allende, 2003
Umschlagfoto: Isabel Allende Archives
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73505-3
www.suhrkamp.de
Einige Worte vorweg
Spannelanges Land
Gaumenfreuden, Leierkästen und Zigeuner
Ein altes verwunschenes Haus
Eine Blätterteigtorte
Sirenen mit Blick auf das Meer
Mit Gottes Beistand
Landschaft der Kindheit
Ernste und hochfahrende Leute
Von Tugenden und Untugenden
Wo das Heimweh entspringt
Wirre Jahre der Jugend
Der diskrete Charme der Bourgeoisie
Ein Hauch von Geschichte
Pulver und Blut
Chile im Herzen
Dieser Ort in meinem Kopf
Danksagung
Anmerkungen der Übersetzerin
… aus dem einen oder anderen Grund bin ich ein trauriger Verbannter. Auf die eine oder andere Weise reise ich mit unserem Land, und es lebt auch dort, in der Ferne, mit mir die meiner Heimat eigene lange Spanne.
PABLO NERUDA, 1972
Ich wurde geboren, als das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs in vollem Gange war, und ein großer Teil meiner Jugend war geprägt vom Warten darauf, daß der Planet in Stücke flöge, weil jemand versehentlich auf einen Knopf gedrückt und die Atombomben gezündet hätte. Niemand glaubte, sehr lange zu leben, und so verschlangen wir eilig jeden Augenblick, ehe die Apokalypse über uns hereinbräche, und nahmen uns nicht die Zeit, den eigenen Nabel zu beschauen und uns Notizen zu machen, wie man das heute üblicherweise tut. Noch dazu wuchs ich in Santiago de Chile auf, wo jede natürliche Neigung zur Selbstbetrachtung im Keim erstickt wird. Die Losung dieser Stadt lautet: »Die dösende Krabbe landet im Topf.« In anderen, etwas kultivierteren Städten, in Buenos Aires etwa oder in New York, war es normal, daß man zur Therapie ging, und wer es nicht tat, dessen mangelnde Kultur oder geistige Schlichtheit galten als erwiesen. In Chile dagegen gingen nur gemeingefährliche Irre zur Therapie und auch die nur in der Zwangsjacke. Aber das hat sich in den siebziger Jahren geändert, zugleich mit der sexuellen Revolution. Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen… Obwohl etliche von meiner Familie klassische Fälle wie aus dem Lehrbuch waren, hat nie jemand von uns einen Therapeuten aufgesucht, weil die Vorstellung, einem Unbekannten intime Angelegenheiten anzuvertrauen und dafür auch noch Geld zu bezahlen, einfach absurd war: dafür gab es Priester und Tanten. Ich habe wenig Übung im Nachdenken über mich selbst, ertappte mich in den letzten Wochen jedoch so häufig bei Gedanken an meine Vergangenheit, daß ich es nur als ein Zeichen verfrühter Senilität deuten kann.
Zwei erst kurz zurückliegende Begebenheiten haben diese Lawine der Erinnerung ausgelöst. Zunächst eine beiläufige Bemerkung meines Enkels Alejandro, der mich überraschte, als ich eben vor dem Spiegel die Landkarte meiner Falten studierte, was ihn zu einem mitleidigen »Keine Bange, altes Haus, drei Jahre lebst du mindestens noch« veranlaßte. Da entschied ich, es sei an der Zeit, mir mein Leben noch einmal zu betrachten, um herauszufinden, wie ich die drei Jahre verbringen möchte, die mir so großzügig gewährt wurden. Die andere Begebenheit war die Frage eines Unbekannten während einer Tagung von Reiseschriftstellern, die ich eröffnen durfte. Ich sollte hier klarstellen, daß ich nicht zu dieser sonderbaren Gruppe von Leuten gehöre, die an entlegene Orte reisen, jedes Bakterium überleben und nachher Bücher veröffentlichen, mit denen sie die Blauäugigen dazu verleiten möchten, auf ihren Spuren zu wandeln. Reisen strengt über Gebühr an, zumal, wenn es dort, wo ich hinfahre, keinen Zimmerservice gibt. Meine idealen Ferien verbringe ich in einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm in meinem Patio, mit einem Buch über abenteuerliche Fahrten, die ich niemals unternehmen würde, es sei denn, ich wäre vor etwas auf der Flucht. Ich komme aus der sogenannten Dritten Welt (was ist die Zweite?) und mußte mir einen Ehemann angeln, um legal in der Ersten leben zu können. Es liegt mir fern, ohne triftigen Grund in die Unterentwicklung zurückzukehren. Dennoch – und zu meinem Leidwesen – bin ich kreuz und quer durch fünf Kontinente gepilgert, sah mich ins Exil getrieben und lebe als Immigrantin. Etwas weiß ich also vom Reisen, und daher bat man mich, auf jener Tagung zu sprechen. Als ich meine kurze Rede beendet hatte, hob sich eine Hand im Publikum, und ein junger Mann fragte, welche Rolle das Heimweh in meinen Romanen spiele. Es verschlug mir für einen Moment die Sprache. Heimweh… das ist laut Wörterbuch die »große Sehnsucht nach der fernen Heimat«, und das spanische Wort »nostalgia« steht überdies für die »Schwermut, die durch die Erinnerung an ein verlorenes Glück ausgelöst wird«. Die Frage nahm mir die Luft, denn bis dahin war mir nicht klar gewesen, daß mein Schreiben eine beständige Übung der Sehnsucht ist. Ich war fast mein ganzes Leben hindurch eine Fremde, ein Zustand, den ich hinnehme, weil mir keine Wahl bleibt. Viele Male sah ich mich zum Weggehen gezwungen, habe Bindungen gelöst und alles zurückgelassen, um an einem anderen Ort von vorn zu beginnen; ich war eine Pilgerin auf mehr Wegen, als mir in Erinnerung geblieben sind. Von all den Abschieden sind meine Wurzeln vertrocknet, und ich mußte neue austreiben, die sich aus Mangel an einem geographischen Ort in der Erinnerung festklammerten. Aber Vorsicht! Die Erinnerung ist ein Labyrinth, in dem Minotauren lauern.
Hätte man mich vor kurzem gefragt, woher ich komme, ich hätte ohne langes Nachdenken geantwortet, von nirgendwo her oder aus Lateinamerika oder vielleicht im Herzen aus Chile. Heute jedoch sage ich, daß ich Amerikanerin bin, und das nicht nur, weil mein Paß es bezeugt oder weil dieses Wort den Norden wie den Süden umfaßt oder weil sich mein Mann, mein Sohn, meine Enkel, die meisten meiner Freunde, meine Bücher und mein Haus in Nordkalifornien befinden, sondern auch, weil vor nicht allzu langer Zeit die Zwillingstürme des World Trade Center durch ein terroristisches Attentat zerstört wurden, und in diesem Moment hat sich vieles verändert. In einer Krise kann man nicht neutral bleiben. Diese Tragödie hat mich mit meinem Identitätsgefühl konfrontiert, und ich spüre, daß ich heute Teil der bunten Bevölkerung Nordamerikas bin, so wie ich früher Chilenin war. Ich sehe die Vereinigten Staaten nicht mehr von außen. Als die Türme einstürzten, war mir, als hätte ich diesen Albtraum fast genauso schon einmal erlebt. Durch eine grausige Koinzidenz – historisches Karma – zerschellten die in den Vereinigten Staaten entführten Flugzeuge an einem Dienstag, dem 11. September, genau am gleichen Wochentag und im gleichen Monat – und fast zur gleichen Stunde am Morgen –, an dem 1973 in Chile das Militär putschte. Damals war es ein terroristischer Akt gegen eine Demokratie, und die CIA hatte die Begleitmusik geliefert. Die brennenden Gebäude, der Rauch, die Flammen und die Panik – die Bilder ähneln sich hier wie dort. An jenem lange zurückliegenden Dienstag des Jahres 1973 brach mein Leben entzwei, nichts war wie zuvor, ich verlor mein Land. Auch dieser unselige Dienstag des Jahres 2001 markiert einen Wendepunkt, nichts wird mehr sein wie zuvor, und ich gewann ein Land.
Der Bemerkung meines Enkels und der Frage jenes Unbekannten auf der Tagung verdankt sich dieses Buch, von dem ich noch nicht weiß, wohin es mich führen wird; noch streife ich umher, wie die Erinnerungen umherstreifen, aber ich bitte Sie, mich ein Stück auf meinem Weg zu begleiten.
Ich schreibe diese Seiten in einem Krähennest hoch oben an einem steilen Hang, bewacht von hundert sturmgebeugten Eichen und mit Blick auf die Bucht von San Francisco, aber ich komme von einem anderen Ort. Das Heimweh ist mein Laster. Es ist ein schwermütiges Gefühl und auch ein wenig kitschig, wie die Rührung. Fast scheint es aussichtslos, das Thema ohne Sentimentalitäten in Angriff zu nehmen, aber ich will es versuchen. Falls ich ausrutsche und in Kitsch verfalle, seien Sie gewiß, daß ich mich einige Zeilen weiter wieder aufrappeln werde. In meinem Alter – ich bin so alt wie das synthetische Penizillin – kommen einem Dinge in den Sinn, die ein halbes Jahrhundert hindurch wie ausgelöscht waren. Ich habe jahrzehntelang nicht an meine Kindheit oder Jugend gedacht, ja, meine Vergangenheit lag mir so fern, daß ich beim Blättern in den Fotoalben meiner Mutter niemanden wiedererkannte, außer einer Bulldog-Hündin mit dem unglaublichen Namen Pelvina López-Pun, und auch die ist mir nur in Erinnerung geblieben, weil wir uns bemerkenswert ähnlich sahen. Auf einem Foto von uns beiden, ich bin erst wenige Monate alt, mußte meine Mutter mit einem Pfeil markieren, wer wer ist. Mein schlechtes Gedächtnis ist sicher darauf zurückzuführen, daß diese Zeiten nicht eben glücklich waren, aber das ist wohl beim überwiegenden Teil der Sterblichen so. Die glückliche Kindheit ist ein Mythos. Um das zu begreifen, genügt ein Blick ins Märchenbuch, wo der Wolf die Großmutter frißt, dann der Förster kommt und das arme Tier mit seinem Messer der Länge nach aufschlitzt, die Großmutter lebendig und unversehrt herauszieht, den Wolfsbauch mit Wackersteinen füllt und sodann den Pelz mit Nadel und Faden vernäht, woraufhin der Wolf einen so fürchterlichen Durst bekommt, daß er zum Brunnen wankt, wegen der schweren Steine hineinfällt und ertrinkt. Mußte er denn so elendiglich ersaufen? Wäre es nicht auch anders gegangen? Einfacher? Humaner? Das frage ich mich. Und gewiß wäre es auch anders gegangen, aber in der Kindheit ist eben nichts einfach und human. Als ich Kind war, war das Wort »Kindesmißhandlung« noch nicht erfunden, und daß man die Kleinen am besten mit dem Lederriemen in der einen und dem Kreuz in der anderen Hand erzog, galt als ausgemacht wie das Recht des Mannes, seine Frau zu schlagen, wenn die Suppe kalt auf den Tisch kam. Ehe Psychologen und Behörden sich einmischten, bezweifelte niemand die Segnungen einer anständigen Tracht Prügel. Ich wurde nicht geschlagen wie meine Brüder, aber auch ich lebte mit der Angst, wie alle Kinder in meiner Umgebung.
In meinem Fall wurde das naturgegebene Unglück der Kindheit noch durch einen Kuddelmuddel von Komplexen verschlimmert, so viele an der Zahl, daß ich mich heute nicht mehr an alle erinnere, aber zum Glück sind mir keine Wunden geblieben, die die Zeit nicht geheilt hätte. Einmal hörte ich von einer bekannten afroamerikanischen Schriftstellerin, sie habe sich von klein auf in ihrer Familie und an ihrem Wohnort fremd gefühlt. Sie sagte, diese Erfahrung machten nahezu alle Schriftsteller, selbst wenn sie sich nie aus ihrer Heimatstadt fortbewegten. Das sei eine notwendige Bedingung für diesen Beruf, denn ohne die Unruhe, die es verursacht, wenn man sich anders fühlt, empfinde man keine Notwendigkeit zu schreiben. Letzten Endes ist das Schreiben ein Versuch, sich die eigene Umgebung verständlich zu machen und das Dasein zu entwirren, womit normale Leute keine Schwierigkeiten haben, notorische Querköpfe jedoch schon, und die enden dann häufig als Schriftsteller, nachdem sie in anderen Beschäftigungen gescheitert sind. Diese Hypothese nahm mir eine Last von den Schultern: Ich bin kein Monstrum, es gibt andere wie mich.
Ich paßte nirgends hinein, weder in meine Familie noch in die soziale Schicht oder die Religion, die mir der Zufall beschieden hatte. Ich war nicht Teil der Clique, die auf der Straße Fahrrad fuhr, meine Cousins ließen mich nicht mitspielen, in der Schule war ich das unbeliebteste Kind und später lange Zeit diejenige, die auf Festen am wenigsten tanzte, nicht weil ich so unansehnlich, sondern weil ich so schüchtern war, wie ich heute glauben möchte. Ich verbarrikadierte mich hinter meinem Stolz, tat, als kümmerte es mich nicht, hätte jedoch, um dazuzugehören, meine Seele an den Teufel verkauft, angenommen, der hätte mir dies verlockende Angebot unterbreitet. Die Wurzel meiner Schwierigkeiten ist von jeher dieselbe: Ich kann nicht hinnehmen, was sich für andere von selbst versteht, und verspüre einen unwiderstehlichen Drang, Meinungen zu äußern, die niemand hören will, womit ich mehr als einen möglichen Verehrer in die Flucht schlug. (Bleiben wir ehrlich: Viele waren es nie.) Später dann, während meiner Zeit als Journalistin, hatten Neugier und ein flottes Mundwerk einiges für sich. Damals war ich zum ersten Mal Teil einer Gemeinschaft, ich besaß einen Freibrief, durfte indiskrete Fragen stellen und meine Ansichten verbreiten, aber das war mit dem Militärputsch von 1973 auf einen Schlag vorbei. Die Bluthunde wurden von der Kette gelassen, und ich war von einem Tag auf den anderen eine Fremde im eigenen Land, bis ich es schließlich verlassen mußte, denn wie hätte ich dort leben und meine Kinder großziehen sollen, wo die Angst regierte und es keinen Platz für Dissidenten wie mich gab. Damals waren Neugier und ein flottes Mundwerk per Dekret verboten. Außerhalb Chiles wartete ich über Jahre darauf, daß die Demokratie wiederhergestellt würde, weil ich zurückkehren wollte, aber als es schließlich soweit war, tat ich es nicht, denn inzwischen war ich mit einem Nordamerikaner verheiratet und lebte in der Nähe von San Francisco. Ich habe nicht wieder in Chile gewohnt, wo ich tatsächlich weniger als die Hälfte meines Lebens verbracht habe, auch wenn ich es häufig besuche. Um jedoch auf die Frage jenes Unbekannten über mein Heimweh zu antworten, muß ich fast ausschließlich von meiner Zeit dort sprechen. Und von meiner Familie, denn Land und Sippe werden eins in meinem Kopf.
Fangen wir vorne an, mit Chile, diesem entlegenen Land, das wenige auf der Landkarte finden, so weit am Rand, daß man weiter nicht gehen kann, ohne vom Planeten zu fallen. »Wollen wir Chile nicht verkaufen und etwas anschaffen, das näher an Paris liegt …?« fragte einmal einer unserer Schriftsteller. Niemand kommt zufällig hier vorbei, wie sehr er sich auch verlaufen haben mag, obgleich so mancher Besucher sich zum Bleiben entschließt, weil er sich in das Land und seine Menschen verliebt hat. Hier enden alle Wege, an dieser Lanze im Süden des Südens von Amerika, viertausenddreihundert Kilometer Berge, Täler, Seen und Meer. Neruda beschreibt sie in seinen flammenden Versen:
Nacht, Schnee und Sand formen die Gestalt
meiner schlanken Heimat
alles Schweigen ist in ihrer langen Linie,
alle Gischt rinnt aus ihrem Meeresbart,
alle Kohle füllt sie mit geheimnisvollen Küssen.
Dieser schmale Landstrich gleicht einer Insel, ist im Norden vom übrigen Kontinent durch die Atacamawüste getrennt, die trockenste der Welt, wie ihre Bewohner gerne behaupten, obwohl das nicht stimmen kann, denn im Frühling hüllt sich ein Teil ihres Mondschotters in ein Blütengewand wie auf einem farbenprächtigen Gemälde von Monet; im Osten begrenzt durch die Kordillere der Anden, ein grandioses Massiv aus Fels und ewigem Eis; im Westen durch die steilen Küsten des Pazifischen Ozeans; an der Südspitze durch die menschenleere Antarktis. Dieses Land mit seiner dramatischen Topographie und seinen vielen Wetterzonen, das gespickt ist mit bizarren Barrieren und geschüttelt wird vom Seufzen vieler hundert Vulkane – ein geologisches Wunder zwischen den Höhen der Gebirgskette und den Tiefen des Meeres –, wird vom Scheitel bis zur Sohle zusammengehalten von seinen Bewohnern, die sich trotzig als Nation fühlen.
Wir Chilenen haften an der Scholle wie die Bauern, die wir einmal waren. Die meisten von uns träumen von einem Stückchen Land, und sei es, um darauf vier raupenzerfressene Salatköpfe zu ziehen. Die wichtigste Tageszeitung, El Mercurio, veröffentlicht Woche für Woche eine Landwirtschaftsbeilage, in der sie den Durchschnittsbürger über jeden noch so unbedeutenden Schädling informiert, der in den Kartoffeln gesichtet wurde, oder über die Milchmenge, die sich erzielen läßt, wenn man ein bestimmtes Futtermittel verwendet. Die Leser, die zwischen Asphalt und Beton leben, sind mit ganzem Herzen dabei, auch wenn sie noch nie eine lebende Kuh gesehen haben.
Auf der Länge meines schlaksigen Chiles gibt es – grob gesagt – vier sehr unterschiedliche Klimazonen. Das Land gliedert sich in Provinzen mit wohlklingenden Namen, die sich das Militär vielleicht nur schwer merken konnte, jedenfalls hat es sie mit einer Nummer versehen. Ich weigere mich, diese zu benutzen, denn es kann doch nicht sein, daß sich ein Land der Dichter wie im Zahlenzwang die Landkarte mit Ziffern bekleckst. Aber kommen wir zurück auf die vier großen Regionen, beginnend mit dem Norte grande, dem Großen Norden, der, unwirtlich und rauh, bewacht von hohen Bergen, ein Viertel der Landesfläche einnimmt und in seinem Innern einen unerschöpflichen Reichtum an Bodenschätzen birgt.
Als Kind war ich einmal im Norden und habe es nicht vergessen, obwohl seither ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Zwar durchquerte ich später in meinem Leben noch mehrmals die Atacamawüste, was immer eine atemberaubende Erfahrung ist, aber meine nachhaltigsten Eindrücke stammen von diesem ersten Mal. In meiner Erinnerung ist Antofagasta, was in der Sprache der Quechua »Ort am großen Salzsee« heißt, nicht die moderne Stadt von heute, sondern ein alter und ärmlicher, mit Fischerbooten, Möwen und Pelikanen gesprenkelter Hafen. Antofagasta tauchte im 19. Jahrhundert wie eine Fata Morgana in der Wüste auf, weil dort Salpeter abgebaut wurde, der jahrzehntelang eines der wichtigsten Exportprodukte des Landes war. Später, als das Nitrat synthetisch hergestellt wurde, verlor der Hafen zwar nicht seine Bedeutung, denn nun wurde Kupfer exportiert, aber die Salpeterunternehmen schlossen eines nach dem anderen und ließen das Hinterland übersät mit Geisterstädten zurück. Dieses Wort, »Geisterstadt«, beflügelte meine Phantasie auf jener ersten Reise.
Ich weiß noch, wie meine Familie und ich, mit Taschen und Koffern bepackt, in einen Zug stiegen, der im Schneckentempo durch die erbarmungslose Atacamawüste Richtung Bolivien kroch. Sonne, glühende Steine, Kilometer um Kilometer gespenstische Einsamkeit, zuweilen ein verlassener Friedhof, ein paar zerfallene Gebäude aus Lehmziegeln oder Holz. Die trockene Hitze machte selbst den Fliegen den Garaus. Der Durst war nicht zu stillen; wir tranken gallonenweise Wasser, saugten den Saft aus Orangen und verteidigten uns nach Kräften gegen den Staub, der durch alle Ritzen kroch. Unsere Lippen sprangen auf, bis sie bluteten, die Ohren schmerzten, wir waren ausgedorrt. Nachts war die Kälte hart wie Kristall, und der Mond übergoß die Landschaft mit einem bläulichen Schein. Viele Jahre später besuchte ich Chuquicamata, den größten Kupfertagebau der Welt, ein riesiges Amphitheater, in dem wie Ameisen Tausende Männer von der Farbe der Erde das Erz aus den Felsen brechen. Der Zug kletterte in eine Höhe von über viertausend Metern, und das Thermometer fiel, bis das Wasser in den Gläsern gefror. Wir kamen am Salzsee von Uyuni vorbei, an einem weißen Meer, wo reines Schweigen ist und keine Vögel fliegen, und an anderen Salzseen, an denen wir elegante Flamingos sahen: rosa Pinselstriche inmitten der juwelengleich glitzernden Salzkristalle.
Der sogenannte Norte chico, der Kleine Norden, den einige nicht als eigenständige Region ansehen möchten, trennt den trockenen Norden von der fruchtbaren Mitte des Landes. Dort liegt das Tal des Elqui, ein spiritueller Pol der Erde, von dem es heißt, er sei magisch. Die geheimnisvollen Kräfte des Elqui locken Pilger an, die mit der kosmischen Energie in Verbindung treten wollen, und viele von ihnen bleiben, um in esoterischen Gemeinschaften zu leben. Meditation, östliche Religionen, Gurus sämtlicher Couleur, man findet alles im Elquital – als wäre man in einem Winkel von Kalifornien. Dort wird auch unser Pisco gemacht, gebrannt aus Muskatellertrauben, durchscheinend, heilkräftig und heiter wie die himmlische Kraft, die dieser Erde entströmt. Er ist der Grundstoff für den Pisco sour, unser süßes und durchtriebenes Nationalgetränk, das man sorglos genießt und das einem mit dem zweiten Glas einen Tritt versetzt, der den stärksten Mann umhaut. Den Namen des Getränks haben wir, mir nichts, dir nichts, der peruanischen Stadt Pisco abgeluchst. Wenn im Spanischen jeder perlende Wein Champagner genannt wird, einerlei, ob er aus der französischen Champagne kommt oder nicht, darf sich unser Pisco wohl ebenfalls mit einem fremden Namen schmücken. Im Norte chico wurde La Silla gebaut, eine der wichtigsten Sternwarten der Welt, denn dort ist die Luft so klar, daß kein Stern – ob gestorben oder im Werden begriffen – dem gigantischen Auge des Teleskops entgeht. Jemand, der dort dreißig Jahre tätig war, erzählte mir, um das Universum zu erforschen, müßten die bedeutendsten Astronomen der Welt manchmal jahrelang warten, bis sie an der Reihe seien. Ich bemerkte, es müsse herrlich sein, mit Wissenschaftlern zu arbeiten, die den Blick immer in die Unendlichkeit richteten und losgelöst vom irdischen Jammer lebten, aber wenn man ihm glauben darf, ist das Gegenteil der Fall: Astronomen sind ebenso engstirnig wie Dichter. Sie zanken sich um die Marmelade beim Frühstück. Verblüffend, wie der Mensch beschaffen ist.
Das Valle central, Zentralchile, ist die fruchtbarste Gegend des Landes, wo Wein und Äpfel wachsen und sich Industrien und ein Drittel der Bevölkerung ballen, die Einwohner der Hauptstadt. Santiago wurde hier von Pedro Valdivia im Jahr 1541 gegründet, denn nachdem er monatelang durch den trockenen Norden gewandert war, fühlte er sich, als habe er den Garten Eden gefunden. In Chile konzentriert sich alles in der Hauptstadt, trotz der schon ein halbes Jahrhundert währenden Bemühungen unterschiedlicher Regierungen, die Provinzen zu stärken. Man könnte meinen, was nicht in Santiago geschieht, habe keine Bedeutung, dabei lebt es sich im übrigen Land tausendmal angenehmer und ruhiger.
Die Zona sur, der Süden, beginnt in Puerto Montt, vierzig Grad südlicher Breite, eine verwunschene Region der Wälder, Seen, Flüsse und Vulkane. Regen und noch mehr Regen nährt das dichte Grün der kalten Urwälder, in denen unsere einheimischen, tausend Jahre alten Bäume wachsen und heute von der holzverarbeitenden Industrie bedroht werden. Nach Süden durchquert der Reisende windgepeitschte Steppen; dann perlt das Land aus in einem Rosenkranz unbewohnter Inseln und milchiger Nebel, in einem Labyrinth aus Fjorden, Klippen, Passagen. Überall Wasser. Die letzte Stadt auf dem Festland ist Punta Arenas, das zernagt von allen Winden, schroff und stolz auf die Hochebenen und Gletscherzungen blickt.
Chile besitzt ein Stück des kaum erforschten antarktischen Kontinents, eine Welt aus Eis und Einsamkeit, unendliches Weiß, wo Fabeln gedeihen und der Mensch zugrunde geht – unsere Fahne flattert am Südpol. Lange Zeit maß niemand der Antarktis einen Wert bei, doch wissen wir mittlerweile, daß sie nicht nur ein Paradies für Meerestiere ist, sondern auch einen großen Reichtum an Bodenschätzen birgt, also gibt es kaum ein Land, das nicht ein Auge auf sie geworfen hätte. Mit einem Kreuzfahrtschiff kann man sie im Sommer einigermaßen bequem besuchen, aber das ist teuer, und so unternehmen zur Zeit nur reiche Touristen und arme, aber unbeirrte Naturliebhaber diese Reise.
Im Jahr 1888 annektierten wir die rätselhafte Osterinsel, den »Nabel der Welt« oder Rapa Nui, wie sie in der Sprache der Inselbewohner heißt. Sie liegt verloren im weiten Pazifischen Ozean, zweitausendfünfhundert Meilen vom chilenischen Festland entfernt, etwa sechs Flugstunden von Valparaíso oder Tahiti. Mir ist nicht recht klar, warum sie uns gehört. Damals reichte es wohl, daß der Kapitän eines Segelschiffs seine Fahne irgendwo aufpflanzte, und schon hatte er sich ein Scheibchen des Planeten unter den Nagel gerissen, einerlei, was die Bewohner, in diesem Fall friedfertige Polynesier, davon hielten. So verfuhren die europäischen Staaten – da konnte Chile nicht zurückstehen. Für die Bewohner der Osterinsel war der Kontakt mit Südamerika fatal. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man die meisten männlichen Bewohner nach Peru verschleppt, wo sie als Sklaven im Guanoabbau schuften mußten, bis die Mißhandlungen schließlich solche Ausmaße annahmen, daß es in Europa zu Protesten kam. Nach langem diplomatischen Ringen brachte man die letzten fünfzehn Überlebenden zurück zu ihren Familien. Sie trugen das Pockenvirus in sich, und achtzig Prozent derjenigen, die auf der Insel verblieben waren, wurden binnen kürzester Zeit von der Krankheit hingerafft. Den übrigen erging es kaum besser. Die eingeführten Schafe fraßen die Insel kahl, zurück blieb blanker Lavaschutt, und die Untätigkeit der Herrschenden – mittlerweile der chilenischen Marine – gab die Bevölkerung dem Elend preis. In den letzten zwei Jahrzehnten kamen der Tourismus und das Interesse der Wissenschaft Rapa Nui zu Hilfe.
Verstreut über der Insel finden sich monumentale Figuren aus vulkanischem Gestein, von denen einige über zwanzig Tonnen wiegen. Diese sogenannten Moais geben der Fachwelt seit Jahrhunderten Rätsel auf. Sie aus den Hängen der Vulkane herauszuhauen und dann über ein zerklüftetes Gebiet zu schleppen, sie auf Sockel zu wuchten, die häufig kaum zugänglich sind, und ihnen einen Hut aus rotem Stein aufzusetzen war eine Aufgabe für Titanen. Wer hat sie vollbracht? Es gibt keine Spuren einer Hochkultur, die eine solche Großtat erklären könnte. Zwei verschiedene Volksgruppen bewohnten die Insel, von denen eine, die Arikis, der Legende nach übernatürliche geistige Kräfte besaß, durch die sie die Moais anheben und ohne körperliche Mühe bis zu ihren erhöhten Altären schweben lassen konnten. Es ist ein Jammer, daß diese Technik verlorengegangen ist. 1940 baute der norwegische Anthropologe Thor Heyerdahl ein Floß, die Kon-Tiki, mit der er von Südamerika bis zur Osterinsel segelte, um zu beweisen, daß die Insel in Kontakt mit den Inka stand.
Ich besuchte die Osterinsel Anfang des Jahres 1974, als es nur einen Flug in der Woche und kaum Tourismus dort gab. Verliebt in den Ort, blieb ich drei Wochen länger als geplant und erlebte so die erste Fernsehübertragung und einen Besuch von General Pinochet, der als Kopf der Militärjunta einige Monate zuvor der Demokratie ein Ende gemacht hatte. Das Fernsehen wurde freudiger begrüßt als der brandneue Staatschef. Sein Aufenthalt gestaltete sich überaus pittoresk, vielleicht könnte ich andernorts einmal ins Detail gehen. Hier sollte genügen, daß sich jedesmal, wenn er in der Öffentlichkeit sprechen wollte, eine kecke Wolke strategisch geschickt über seinem Haupt plazierte und ihn einweichte wie einen Wischmob. Er war gekommen, den Bewohnern der Osterinsel Eigentumstitel für ihr Land zu überreichen, aber niemand war sonderlich erpicht, sie entgegenzunehmen, denn man wußte von alters her, wem welches Land gehörte, und fürchtete mit gutem Grund, daß einem dieser amtliche Schnipsel Papier das Leben nur umständlicher machen würde.
Zu Chile gehört auch der Juan-Fernández-Archipel, auf dessen größter Insel 1704 der schottische Freibeuter Alexander Selkirk ausgesetzt wurde, der Daniel Defoe die Vorlage zu seinem Roman Robinson Crusoe lieferte. Selkirk lebte über vier Jahre auf der Insel, ohne einen gelehrigen Papagei und ohne die Gesellschaft eines Eingeborenen namens Freitag wie im Buch, bis ihn ein anderer Kapitän rettete und zurück nach Britannien brachte, wo es ihm auch nicht viel besser erging. Der hartgesottene Tourist kann nach einem unruhigen Flug in einer kleinen Propellermaschine oder einer nicht enden wollenden Überfahrt mit dem Boot die Höhle besichtigen, in der der Schotte dank Wurzelgemüse und Fisch überlebte.
Die Abgeschiedenheit gibt uns Chilenen die Mentalität eines Inselvolks, und die großartige Schönheit des Landes macht uns überheblich. Wir halten uns für den Nabel der Welt – Greenwich sollte in Santiago liegen, finden wir – und kehren Lateinamerika den Rücken, da wir uns von jeher mit Europa vergleichen. Wir sind egozentrisch und brauchen den Rest des Universums einzig, damit er unsere Weine trinkt und Fußballmannschaften zusammenstellt, die wir besiegen können.
Dem Besucher rate ich, die Wunder, die er über das Land, seinen Wein und seine Frauen hört, nicht in Zweifel zu ziehen, denn dem Fremden ist das Kritisieren nicht gestattet; dafür gibt es über fünfzehn Millionen Einheimische, die das unentwegt tun, sobald sie unter sich sind. Wäre indes Marco Polo nach dreißig abenteuerlichen Jahren in Asien an unseren Küsten an Land gegangen, man hätte ihn zunächst wissen lassen, daß unsere Empanadas viel besser schmecken als alles, was das Reich der Mitte an Speisen zu bieten hat. (Ach, ja! Auch das ist typisch für uns: Wir behaupten Dinge ins Blaue hinein, jedoch mit solcher Überzeugung, daß sie über jeden Zweifel erhaben sind.) Ich gestehe, auch ich bin von diesem haarsträubenden Nationalstolz befallen. Als ich zum ersten Mal in San Francisco war und über die sanften, goldenen Hügel blickte, auf die grandiosen Wälder und den grünen Spiegel der Bucht, war mein einziger Kommentar, hier sehe es aus wie an der Küste Chiles. Später bestätigte sich, daß die süßesten Früchte, die erlesensten Weine und der wohlschmeckendste Fisch aus Chile importiert waren – natürlich.
Um mein Land im Herzen zu verstehen, muß man Pablo Neruda lesen, unseren Nationaldichter, der in seinen Versen die erhabenen Landschaften, die Düfte und Sonnenaufgänge verewigt hat, den beharrlichen Regen und die Würde der Habenichtse, den Stoizismus und die Gastlichkeit. Das ist das Land meiner Sehnsucht, das ich heraufbeschwöre in meinen Einsamkeiten, das so vielen meiner Geschichten als Hintergrund dient, das mir in Träumen erscheint. Natürlich hat Chile auch andere Gesichter: ein materialistisches Gesicht, hochnäsig, wie das eines Tigers, der ein Leben lang seine Streifen zählt und sich die Barthaare frisiert. Ein schwermütiges Gesicht, gezeichnet von den brutalen Narben der Vergangenheit. Ein heiteres, das den Touristen und Bankiers entgegenlächelt. Jenes, das resigniert auf die nächste geologische oder politische Katastrophe wartet. In Chile findet man alles.
Meine Familie stammt aus Santiago, aber das erklärt nicht all meine Traumata: es gibt schlimmere Orte unter der Sonne. Dort wuchs ich auf, aber heute erkenne ich die Stadt kaum wieder und verlaufe mich in ihren Straßen. Soldaten hatten sie ursprünglich mit Schwertstreich und Spaten nach dem Grundriß alter spanischer Städte angelegt: eine Plaza de Armas in der Mitte, von der schnurgerade, parallele Straßen abgehen. Davon ist kaum mehr als die Erinnerung geblieben. Wie eine nimmersatte Krake hat Santiago seine Tentakel gierig in alle Richtungen ausgestreckt; heute beherbergt die Stadt fünfeinhalb Millionen Menschen, die sich nach Kräften durchschlagen. Die Stadt könnte schön sein, ihre Straßen sind sauber, und es fehlt nicht an Parks, doch trägt sie eine braune Haube aus verschmutzter Luft, die im Winter Säuglinge in der Wiege, Greise in den Altersheimen und Vögel im Flug umbringt. Die Bewohner Santiagos sind daran gewöhnt, den täglichen Smog-Index zu verfolgen wie die Börsennachrichten und Fußballergebnisse. Steigt der Index zu stark an, wird der Verkehr anhand der Nummernschilder eingeschränkt, für Schulkinder fällt der Sportunterricht aus, und man bemüht sich allenthalben, das Atmen weitgehend einzustellen. Der erste Regen des Jahres wäscht die Schmierage aus der Luft und fällt wie Säure auf die Stadt. Falls Sie ohne Regenschirm unterwegs sind, werden Sie glauben, man träufele Ihnen Zitronensaft in die Augen, aber keine Bange, blind ist davon noch niemand geworden. Und es gibt andere Tage: Manchmal ist der Himmel am Morgen wolkenlos, und man kann den herrlichen Blick auf die schneebedeckten Berge genießen.
In Metropolen wie Caracas oder Mexiko-Stadt mögen Arm und Reich sich mischen, aber in Santiago sind die Grenzen deutlich markiert. Lichtjahre liegen zwischen den Villen der Reichen an den Berghängen der Kordillere, mit Wächtern an den Pforten und vier Garagen, und den Behausungen in den Wohngegenden der Arbeiter, wo fünfzehn Personen in zwei Zimmern ohne Bad zusammengepfercht sind. Wenn ich in Santiago bin, staune ich immer aufs neue, daß ein Teil der Stadt schwarzweiß ist und der andere in Technicolor leuchtet. Im Zentrum und in den Arbeitervierteln sieht alles grau aus, die wenigen Bäume sind am Ende ihrer Kräfte, die Mauern ausgewaschen, die Menschen müde. Selbst die Hunde, die zwischen den Mülltonnen herumstromern, sind flohgeplagte Promenadenmischungen von undefinierbarer Farbe. In den Gegenden der Mittelklasse stehen üppig grüne Bäume, und die Häuser sind bescheiden, aber gepflegt. In den Wohngegenden der Reichen kann man nur die Vegetation bewundern, die Villen verbergen sich hinter unüberwindlichen Mauern, kein Mensch ist auf der Straße, und die einzigen Hunde sind abgerichtet und werden nur nachts aus dem Zwinger geholt, um die Anwesen zu bewachen.
Lang, trocken und heiß ist der Sommer in der Hauptstadt. Gelblicher Staub legt sich in diesen Monaten über alles, die Sonne läßt den Asphalt schmelzen und schlägt den Leuten aufs Gemüt, deshalb flieht, wer kann, aufs Land. Als ich klein war, siedelte meine Familie für zwei Monate ans Meer um, eine wahre Safari im Automobil meines Großvaters, das eine Tonne Gepäck auf dem Dach und drei restlos seekranke Kinder im Fond aushalten mußte. Die Straßen waren miserabel und schlängelten sich hügelauf, hügelab, eine unmäßige Strapaze für unser rumpeliges Gefährt. Mindestens einmal, wenn nicht zweimal war ein Reifen platt, und zum Wechseln mußte alles Gepäck abgeladen werden. Großvater hatte während der Fahrt ein altes Schießeisen auf den Knien, wie man sie früher für Duelle benutzte, denn er glaubte, am Paß von Curacaví, der bezeichnenderweise »Die Grabstätte« hieß, lauere eine Horde Banditen. Falls es sie überhaupt gab, waren es wohl eher Herumtreiber, die beim ersten Warnschuß das Weite gesucht hätten, aber vorsichtshalber überquerten wir die Anhöhe betend, ein unfehlbares Mittel gegen Überfälle, denn die finsteren Banditen bekamen wir nie zu Gesicht. All das ist Vergangenheit. Die Badeorte erreicht man heute in weniger als zwei Stunden über hervorragende Straßen. Bis vor kurzem waren die einzigen holprigen Wege diejenigen zu den Stränden der Reichen, die darum kämpften, in ihrer Sommerfrische unter sich zu bleiben. Allein der Gedanke, jedes Wochenende von Bussen voller Gesindel mit dunkelhäutigen Kindern, Grillhähnchen und plärrenden Transistorradios heimgesucht zu werden, ließ sie schaudern. Also sorgten sie dafür, daß die staubigen Pisten im schlechtestmöglichen Zustand gehalten wurden. Ein Senator der Rechten sprach ihnen aus der Seele: »Wenn die Demokratie demokratisch wird, taugt sie nicht.« Das hat sich geändert. Das Land ist von einer langen Verkehrsader durchzogen, der Panamericana, die im Süden in die Carretera Austral übergeht, und verfügt auch sonst über ein dichtes Netz befestigter und sehr sicherer Straßen. Keine Guerrilleros auf der Suche nach möglichen Entführungsopfern, keine Drogenbanden, die ihr Territorium verteidigen, keine korrupten Polizisten auf der Jagd nach Schmiergeld wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, die etwas spannender sind als das unsere. Man wird eher mitten im Stadtzentrum ausgeraubt als auf einem einsamen Weg durchs Hinterland.
Kaum hat man Santiago verlassen, wird die Landschaft idyllisch: pappelgesäumte Viehweiden, Hügel und Weinberge. Dem Reisenden empfehle ich, an einem der Stände am Straßenrand anzuhalten und Obst und Gemüse zu kaufen oder ein wenig abseits der Hauptstraße über die Dörfer zu fahren und nach einem Haus mit einem weißen, im Wind flatternden Tuch Ausschau zu halten, denn dort werden ofenfrische Brötchen, Honig und goldgelbe Eier angeboten.
Die Küstenstraße führt vorbei an Stränden, an malerischen Dörfern und Buchten mit Fischernetzen und Kähnen, wo man die märchenhaften Schätze unserer Küche findet: zunächst den Seeaal, den König des Meeres in seinem juwelenbesetzten Schuppenwams; dann den Adlerfisch mit seinem saftigen weißen Fleisch, umgeben von einem Hofstaat aus hundert bescheideneren, nicht minder wohlschmeckenden Fischen; sodann der Chor unserer Meeresfrüchte: Seespinnen, Austern, Miesmuscheln, Kammuscheln, Ohrschnecken, Langusten und vieles mehr, darunter auch manches von so dubiosem Aussehen, daß kein Fremder es wagt, davon zu kosten, etwa Seeigel und Felsenmuscheln – Jod und Salz, die reine Essenz der See. Unser Fisch ist so gut, daß man für seine Zubereitung nichts vom Kochen verstehen muß. Auf den Boden einer feuerfesten Form aus Steingut oder Glas breiten Sie ein Bett aus gehackten Zwiebeln, darauf legen Sie Ihren prächtigen, in Zitronensaft marinierten Fisch, geben einige Butterflöckchen darüber, salzen und pfeffern ihn und garen ihn dann im vorgeheizten Backofen, wobei Sie darauf achten müssen, daß der Fisch durch ist, aber nicht zu lange im Ofen bleibt, sonst wird er trocken. Genießen Sie ihn zusammen mit einem unserer gut gekühlten Weißweine im Kreis Ihrer liebsten Freunde.
Jedes Jahr zu Weihnachten nahm uns Großvater mit, um einen der Truthähne zu kaufen, die von den Bauern für die Festtage gemästet wurden. Ich sehe den alten Mann noch vor mir, der, sein Bein nachziehend, durch den Pferch hechtet auf der Jagd nach dem fraglichen Vogel. Er mußte sich mit einem gutberechneten Sprung auf das Tier werfen, es zu Boden reißen und festhalten, während einer von uns sich mühte, die Truthahnfüße mit einem Strick zusammenzubinden. Später bekam der Bauer ein paar Münzen extra, damit er dem Vogel fernab von den Blicken der Kinder den Hals umdrehte, denn sonst hätten wir uns geweigert, von dem Braten zu essen. Es ist sehr schwer, einem Geschöpf den Garaus zu machen, zu dem man eine persönliche Beziehung aufgebaut hat, wie wir feststellen durften, als Großvater einmal ein Zicklein heimbrachte, das er im Hof mästen und zu seinem Geburtstag grillen wollte. Das Tier starb an Altersschwäche. Zudem entpuppte es sich nicht als Ziege, sondern als Bock, der uns, kaum waren ihm Hörner gesprossen, aus dem Hinterhalt attackierte.