Zvi Provisor, der mürrische Gärtner des Kibbuz Jikhat, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gemeinschaft mit Katastrophenmeldungen zu versorgen: die Erkrankung des norwegischen Königs, der Brand in einem spanischen Waisenhaus, ein Vulkanausbruch in Chile. Abgelenkt von seiner täglichen Dosis Pessimismus, entgeht ihm, dass die Witwe Luna Blank nur ihm zuliebe ihr gutes Sommerkleid trägt. Er, der keine Berührungen zulassen kann, muss erkennen, dass die ungewohnte weibliche Präsenz seine ihm heilige Alltagsroutine ins Wanken bringt. Amos Oz, der Meister der Zwischentöne, knüpft in Unter Freunden an seinen Bestsellererfolg Eine Geschichte von Liebe und Finsternis an und kehrt zu der Zeit zurück, die ihn am meisten inspiriert hat: seine Kibbuz-Jahre.

Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung Schalom Achschaw. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. 1992 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2005 mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main.

Zuletzt erschienen: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman. Sonderausgabe (st 3968), Geschichten aus Tel Ilan (st 4209), Panther im Keller. Roman (st 4393)

Amos Oz

Unter Freunden

Aus dem Hebräischen
von Mirjam Pressler

Suhrkamp

Die hebräische Originalausgabe Bejn chaverim erschien 2012 im Keter Verlag, Jerusalem.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

des suhrkamp taschenbuchs 4509

Copyright © Amos Oz 2012

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Umschlagfoto: Michael Bar Am/Magnum Photos/Agentur Focus

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73139-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

Der König von Norwegen

Zwei Frauen

Unter Freunden

Vater

Ein kleiner Junge

In der Nacht

Deir Adschlun

Esperanto

Der König von Norwegen

Bei uns im Kibbuz Jikhat gab es einen Junggesellen von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, Zvi Provisor. Er war ein kleiner, zum Blinzeln neigender Mann, der es liebte, schlechte Nachrichten zu verkünden: Erdbeben, Flugzeugabstürze, Gebäude, die über ihren Bewohnern zusammenbrachen, Brände und Überschwemmungen. Er las in aller Frühe, vor uns allen, die Zeitung und hörte die Radionachrichten. So konnte er im Speisesaal auftauchen und einen noch vor dem Frühstück mit den zweihundertfünfzig Bergleuten in Erstaunen und Bestürzung versetzen, die in einem Kohlebergwerk in China ohne Aussicht auf Rettung verschüttet waren, oder mit einer Fähre, die samt ihren sechshundert Passagieren bei einem Sturm in der Karibik untergegangen war. Er studierte auch gewissenhaft die Traueranzeigen. Vom Tod namhafter Persönlichkeiten wusste er vor allen anderen, und er war es, der den ganzen Kibbuz davon in Kenntnis setzte. Eines Morgens hielt er mich auf dem Weg vor der Sanitätsstation an: »Hast du schon von diesem Schriftsteller namens Wislawski gehört?«

»Ja, habe ich. Warum?«

»Er ist gestorben.«

»Das tut mir leid zu hören.«

»Auch Schriftsteller sterben.«

Ein andermal erwischte er mich, als ich Speisesaaldienst hatte.

»Ich habe in den Traueranzeigen gelesen, dass dein Großvater gestorben ist.«

»Ja.«

»Und vor drei Jahren ist dir schon ein Großvater gestorben.«

»Ja.«

»Also war dieser schon der letzte.«

Zvi Provisor war der Gärtner des Kibbuz Jikhat, er arbeitete allein. Jeden Morgen stand er um fünf Uhr auf, platzierte die Wassersprenger neu, lockerte die Erde der Blumenbeete, pflanzte, schnitt und goss, mähte mit dem lauten Rasenmäher, sprühte Gift gegen die Blattläuse und verteilte sorgsam organischen und chemischen Dünger.

Die anderen Kibbuzmitglieder gingen ihm aus dem Weg. Im Speisesaal vermieden sie es, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. An Sommerabenden saß er allein auf einer der grünen Bänke am Rand der großen Rasenfläche vor dem Speisesaal und schaute den Kindern zu, die im Gras herumtobten. Der Wind blähte sein Hemd auf und trocknete den Schweiß. Über den Wipfeln der hohen Zypressen zeigte sich ein rötlicher Wüstenwindmond.

An einem Abend wandte sich Zvi Provisor plötzlich an die Frau, die allein auf der Nachbarbank saß, Luna Blank, und verkündete ihr traurig: »Hast du nicht gehört? In Spanien ist ein Waisenhaus abgebrannt, und achtzig Waisen sind im Rauch erstickt.«

Luna, eine verwitwete Lehrerin Mitte vierzig, tupfte sich mit ihrem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sagte: »Das ist ja schrecklich.«

Und Zvi sagte: »Nur drei wurden gerettet, und auch ihr Zustand ist schlecht.«

Er arbeitete mit großer Hingabe und wurde bei uns dafür geachtet. Im Lauf der zweiundzwanzig Jahre, die er schon in unserem Kibbuz lebte, hatte er nicht einen einzigen Tag krankheitshalber bei der Arbeit gefehlt. Es war sein Verdienst, dass die Grünanlagen des Kibbuz blühten und gediehen. An jeder freien Stelle pflanzte er je nach Jahreszeit andere Blumen. Da und dort legte er Steingärten an, die er mit verschiedenartigen Kakteen bepflanzte, da und dort errichtete er Weinlauben aus Holz. Vor dem Speisesaal baute er einen Springbrunnen, mit Goldfischen und Wasserpflanzen darin. Er hatte einen Sinn für Schönheit, und alle wussten das zu schätzen. Aber hinter seinem Rücken nannte man ihn Todesengel, und man sagte ihm nach, er habe kein Interesse an Frauen, auch noch nie gehabt, und eigentlich auch nicht an Männern. Es gab einen jungen Mann, Roni Schindlin, der ihn so vortrefflich nachmachen konnte, dass wir uns vor Lachen kugelten. Nachmittags, wenn alle im Kreis ihrer Familie auf den Terrassen oder den kleinen Rasenstücken vor ihren Häusern saßen, Kaffee tranken und mit den Kindern spielten, ging Zvi Provisor in den Clubraum, um Zeitungen zu lesen. Dort saß er dann zusammen mit fünf, sechs debattierfreudigen Zeitungsfressern, ebenso einsamen Männern wie er, alternden Junggesellen, Geschiedenen oder Witwern.

Ruvke Rot, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit großen Fledermausohren, knurrte in seiner Ecke, dass die Vergeltungsaktionen nur den blutigen Kreislauf anheizten, denn Rache führe zu Rache und Vergeltung zu Vergeltung.

Sofort fielen die anderen über ihn her und machten ihm Vorhaltungen: Was sagst du da, man muss ihnen etwas entgegensetzen, Zurückhaltung und Versöhnlichkeit verstärken die Frechheit der Araber nur!

Zvi Provisor blinzelte und sagte: »Am Schluss wird es zu einem Krieg werden. Es wird unausweichlich zu einem schrecklichen Krieg führen.«

Und Immanuel Glusman, der Stotterer, ereiferte sich: »K-k-krieg. S-s-sehr gut. Wir werden s-s-siegen und das Land bis zum J-j-jordan erobern.«

Ruvke Rot überlegte laut: »Ben Gurion ist ein großer Schachspieler. Immer sieht er fünf Züge voraus. Aber was? Bei ihm geht alles nur mit Gewalt.«

Zvi Provisor prophezeite traurig: »Wenn wir verlieren, werden die Araber kommen und uns auslöschen. Wenn wir gewinnen, werden die Russen kommen und uns in die Luft sprengen.«

Immanuel Glusman flehte: »G-g-genug, Freunde, still, l-l-lasst uns in Ruhe Z-z-zeitung lesen.«

Und nach einigen Minuten Schweigen verkündete Zvi: »Habt ihr schon gehört? Hier steht, dass der König von Norwegen an Leberkrebs erkrankt ist. Auch bei uns hat der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Krebs.«

Wenn Roni Schindlin, der Spötter, Zvi vor der Schusterei oder vor dem Kleidermagazin begegnete, zog er ihn auf: »Nun, Todesengel? Welches Flugzeug ist heute abgestürzt?«

Es wurde Zvi Provisor und Luna Blank zu einer Art Gewohnheit, gegen Abend ein paar Worte zu wechseln. Er saß am rechten Rand der linken Bank vor dem großen Rasen, und sie saß in seiner Nähe, am linken Rand der rechten Bank, in einem hübschen sommerlichen Trägerkleid. Er blinzelte und erzählte ihr etwas, sie zerdrückte ihr Taschentuch zwischen den Fingern und lobte die Gartenanlagen des Kibbuz, die Arbeit seiner Hände, und sagte, es sei sein Verdienst, dass wir hier in einer solchen grünen Aue lebten, im Schatten blühender Obstbäume, umgeben von bunten Blumenbeeten. Sie hatte eine gewisse Neigung zu blumigen Worten. Sie unterrichtete die dritte Klasse und brillierte mit zarten Bleistiftzeichnungen, die die Wände einiger unserer kleinen Wohnungen zierten. Sie hatte ein rundes, lachendes Gesicht und lange Wimpern, aber ihr Hals war ein bisschen faltig, ihre Beine waren sehr dünn, und sie hatte fast keinen Busen. Ihr Mann war vor ein paar Jahren umgekommen, während seines Reservedienstes an der Grenze zu Gaza. Kinder hatten sie nicht. Bei uns galt sie als eine Frau mit positiver Grundeinstellung, die das ihr widerfahrene Unglück bewältigt hatte und sich mit ganzer Seele ihrer pädagogischen Aufgabe widmete. Zvi sprach über Rosensorten, und sie nickte immer wieder begeistert, als wollte sie ihm Wort für Wort zustimmen. Dann berichtete er ihr in allen Einzelheiten von der furchtbaren Heuschreckenplage, die den Sudan heimsuchte.

Luna sagte: »Du bist solch ein empfindsamer Mann.«

Zvi blinzelte und sagte: »Auch ohne das haben sie dort im Sudan schon wenig Grünes.«

Luna fragte: »Warum lädst du dir alles Leid der Welt auf deine Schultern?«

Zvi antwortete: »Die Augen vor der Grausamkeit des Lebens zu verschließen ist meiner Meinung nach Dummheit und Sünde. Tun können wir nur sehr wenig. Deshalb muss man es zumindest zur Sprache bringen.«

An einem dieser Sommerabende lud sie ihn zu sich ein, zum Kaffee. Er kam in seiner guten Kleidung, einer langen Khakihose und einem hellblauen Hemd mit kurzen Ärmeln. Sein Transistorradio hatte er an seinem Hosengürtel befestigt, und um acht Uhr entschuldigte er sich und hörte Nachrichten. An den Wänden von Luna Blanks Zimmer hingen in einfachen Rahmen einige ihrer Bleistiftzeichnungen. Auf diesen Bildern waren verträumte junge Mädchen zu sehen, außerdem gab es auch Landschaftsskizzen von felsigen Hügeln mit Olivenbäumen. Unter dem Fenster stand ein Doppelbett mit einem Überwurf und bestickten orientalischen Kissen. In dem weißen Regal standen Bücher, die nach Größe geordnet waren, erst Kunstbände von van Gogh, Cézanne und Gauguin, dann die Cassuto-Bibelausgabe, schließlich Romane aus der Reihe Bibliothek des Volkes. Mitten im Zimmer standen ein runder, niedriger Tisch, über den eine bestickte Decke gebreitet war, und zwei schlichte Sessel. Der Kaffeetisch war schon für zwei gedeckt.

Zvi Provisor sagte: »Es ist sehr angenehm bei dir.« Und er fügte hinzu: »Sauber. Ordentlich.«

Luna Blank sagte verlegen: »Danke. Das freut mich.«

Aber in ihrer Stimme lag keine Freude, sondern nur verschämte Anspannung.

Dann tranken sie Kaffee und aßen Kekse. Sie sprachen über Zierbäume und Obstbäume, sie sprachen darüber, wie schwer es war, Autorität in der Schule zu wahren, in dieser Zeit, in der alles erlaubt war, sie sprachen über Zugvögel.

Zvi blinzelte und sagte: »In Hiroshima, habe ich in der Zeitung gelesen, gibt es heute, mehr als zehn Jahre nach der Atombombe, noch immer keine Vögel.«

Luna sagte: »Alles Leid der Welt lädst du dir auf deine Schultern.«

Und sie sagte auch: »Auf einem niedrigen Zweig vor meinem Fenster habe ich vorgestern einen Wiedehopf gesehen.«

So fingen sie an, sich regelmäßig in den frühen Abendstunden zu treffen. Sie saßen zusammen auf einer der Bänke in den Anlagen im Schatten einer dichten Bougainvillea, oder sie tranken Kaffee in Lunas Zimmer. Wenn er um vier von der Arbeit nach Hause kam, duschte er, kämmte sich vor dem Spiegel, zog seine gebügelte Khakihose und das hellblaue Hemd an und ging zu ihr. Manchmal brachte er ihr ein paar Blumenstecklinge für ihren kleinen Garten mit und einmal auch einen Band mit einer Auswahl von Gedichten von Jakob Fichmann. Sie schenkte ihm eine Tüte mit Mohnkeksen, außerdem eine Zeichnung von einer Bank vor zwei Zypressen. Doch schon um acht oder halb neun pflegten sie sich zu trennen. Zvi kehrte dann in sein mönchisches Zimmer zurück, in dem immer ein schwerer Junggesellengeruch hing. Roni Schindlin witzelte im Speisesaal: »Der Todesengel sinkt hernieder auf die schwarze Witwe.« Im Clubraum mit den Zeitungen sagte Ruvke Rot halb spöttisch, halb liebevoll zu Zvi: »Na, hat die Hand nun einen Handschuh gefunden?«

Doch Zvi und Luna ließen sich von dem Gerede und den Sticheleien nicht beirren. Das Band zwischen ihnen verstärkte sich nahezu von Tag zu Tag. Er vertraute ihr an, dass er in seiner freien Zeit, allein in seinem Zimmer, einen Roman des Schriftstellers Iwaszkiewicz aus dem Polnischen ins Hebräische übersetze. Ein Roman reich an Zartgefühl und Leid. Unser Dasein hier in der Welt erscheine diesem Schriftsteller absurd und zugleich herzergreifend. Luna lauschte ihm mit geneigtem Kopf, mit leicht geöffnetem Mund, und goss ihm noch etwas heißen Kaffee ein, als wären seine Worte ein Beweis dafür, dass er Trost benötigte und verdiente, und als könnte der Kaffee ihn etwas für das Leid des Schriftstellers Iwaszkiewicz und für sein eigenes Leid entschädigen. Sie spürte, dass die Beziehung zwischen ihnen ihr kostbar war und ihre Tage ausfüllte, die bis dahin flach und eintönig gewesen waren. Eines Nachts träumte sie, dass sie beide zusammen auf einem Pferd saßen, ihre Brüste drückten gegen seinen Rücken, ihre Arme umschlangen seine Hüften, und sie ritten durch ein Tal zwischen hohen Bergen an einem aufgewühlt schäumenden Wildbach entlang. Sie beschloss, Zvi diesen Traum nicht zu erzählen, obwohl sie ihm andere Träume ausführlich und ohne Scheu erzählt hatte. Zvi seinerseits blinzelte und erzählte, dass er in seiner Kindheit, in dem Städtchen Janów in Polen, davon geträumt hatte, Student zu werden. Doch dann sei er von der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung mitgerissen worden, habe sich den Chaluzim, den Pionieren, angeschlossen und auf ein Studium verzichtet. Trotzdem habe er nie aufgehört, aus Büchern zu lernen.

Luna pickte vorsichtig zwei Krümel von der Tischdecke und sagte: »Du warst ein sehr schüchterner Junge. Auch jetzt bist du noch ein bisschen schüchtern.«

Zvi sagte: »Du kennst mich nicht richtig.«

Luna sagte: »Dann erzähl. Ich höre.«

Und Zvi erzählte: »Heute Nacht habe ich im Radio gehört, dass in Chile ein Vulkan ausgebrochen ist. Vier Dörfer wurden völlig unter den Lavaströmen begraben. Den meisten Bewohnern ist es nicht gelungen zu entkommen.«

Eines Abends, als er ihr mit flammenden Worten von der Hungersnot im Osten Afrikas berichtete, wurde ihr das Herz heiß, sie ergriff plötzlich seine Hand und zog sie auf ihren Schoß. Zvi erzitterte und riss eilig, mit einer fast gewaltsamen Bewegung, seine Hand zurück. Er begann heftig zu blinzeln. Sein ganzes Leben lang hatte er andere nicht berührt und erschauerte, wenn er berührt wurde. Er liebte es, aufgelockerte Erde oder zarte Pflanzenstängel zu berühren, aber die Berührung fremder Menschen, seien es Männer oder Frauen, ließ ihn zurückschrecken, als hätte er sich verbrannt. Immer hatte er jedes Händeschütteln vermieden, Schulterklopfen, das zufällige Streifen von Armen, wenn er sich im Speisesaal an den Tisch setzte. Kurz darauf erhob er sich und ging. Am nächsten Tag ließ er sich nicht bei ihr sehen, denn er fing an zu fürchten, dass die Beziehung zwischen ihnen offenbar unvermeidlich zu unglücklichen Situationen führen würde, die er nicht wollte und sogar verabscheute. Luna verstand nicht das Geringste, doch in dem ihr eigenen Feingefühl erahnte sie, dass sie ihn irgendwie verletzt haben musste. Sie beschloss, um Entschuldigung zu bitten, auch wenn sie nicht wusste, wofür. Hatte sie ihm eine Frage gestellt, die sie ihm nicht hätte stellen dürfen? Oder war es ihr misslungen, einen bedeutungsvollen Hinweis zu erfassen, der sich in seinen Worten verborgen hatte?

Zwei Tage später schob sie, als er nicht zu Hause war, einen Zettel unter seiner Tür hindurch, auf dem in ihrer runden, unschuldigen Handschrift stand: »Entschuldige, wenn ich dich gekränkt habe. Können wir sprechen?«

Zvi antwortete mit einem Zettel: »Besser nicht. Es wird nicht gut enden.«

Trotzdem wartete sie nach dem Abendessen unter dem Zedrachbaum vor dem Speisesaal auf ihn und sagte schüchtern: »Erklär mir, was ich getan habe.«

»Nichts Schlimmes.«

»Warum ziehst du dich dann von mir zurück?«

»Versteh doch: Es ist … überflüssig.«

Von da an trafen sie sich nicht mehr, und wenn sie einander auf einem der Wege oder in der Ausgabestelle für Dinge des täglichen Bedarfs zufällig begegneten, nickten sie sich zu, zögerten kurz und gingen auseinander.

Beim Mittagessen sagte Roni Schindlin zu seinen Tischgenossen, der Todesengel habe seine Flitterwochen abgebrochen, ab sofort seien wir alle wieder in Gefahr. Und in der Tat verkündete Zvi wieder schlechte Nachrichten und erzählte den Junggesellen im Clubraum mit den Zeitungen, dass in der Türkei eine große Brücke eingestürzt sei, noch dazu zur Hauptverkehrszeit.

Zwei, drei Monate später fiel uns auf, dass Luna Blank nicht mehr zu den Treffen des Arbeitskreises für klassische Musik kam und dass sie sogar einigen Lehrerkonferenzen fernblieb. Sie färbte sich die Haare kupferrot und fing an, einen grellen Lippenstift zu benutzen. Ab und zu erschien sie nicht zum Abendessen. An Sukkot fuhr sie für einige Tage in die Stadt und kam in einem Kleid zurück, das uns etwas gewagt vorkam, mit einem hohen Schlitz an der Seite. Anfang Herbst sahen wir sie ein paarmal zusammen mit dem Basketballtrainer auf der Bank am Rand des großen Rasens, einem Mann, zehn Jahre jünger als sie, der zweimal in der Woche aus Netanja zu uns kam. Roni Schindlin sagte: »Bestimmt lernt sie nachts zu dribbeln.« Nach zwei, drei Wochen nahm sie Abstand vom Basketballtrainer und ließ sich in Begleitung des Kommandeurs der bei uns stationierten Nachal-Einheit sehen, der gerade einmal zweiundzwanzig war. Das konnte man nun nicht mehr stillschweigend übergehen, der Erziehungsausschuss kam zu einer diskreten Sitzung zusammen und beriet sich über die pädagogischen Auswirkungen.

Abend um Abend saß Zvi Provisor allein auf der Bank beim Springbrunnen, den er eigenhändig gebaut hatte, und schaute regungslos den Kindern zu, die auf dem Rasen spielten. Wenn jemand vorbeiging und ihm einen guten Abend wünschte, wünschte er ebenfalls einen guten Abend und berichtete traurig von den Überschwemmungen im Südosten von China.

Kurz vor Winterbeginn machte sich Luna Blank mitten im Schuljahr auf und fuhr, ohne Vorwarnung und ohne Genehmigung des Kibbuzsekretariats, zu ihrer Schwester nach Amerika. Ihre Schwester hatte ihr ein Ticket geschickt, und Luna wurde eines Morgens in der Nähe der Bushaltestelle gesichtet, in ihrem gewagten Kleid, mit einem bunten Halstuch, auf hohen Absätzen und einen großen Koffer im Schlepptau. »Angezogen geradewegs für Hollywood«, kommentierte Roni Schindlin. Das Sekretariat beschloss, ihre Kibbuzmitgliedschaft bis zur Klärung des Falles zu suspendieren, und Roni Schindlin sagte zu seinen Tischgenossen: »Die schwarze Witwe flieht vor dem Todesengel.«

Luna Blanks Zimmer blieb vorerst verschlossen und dunkel, obwohl im Wohnungsausschuss schon jemand ein Auge darauf geworfen hatte, wegen des allgemeinen Mangels an Unterkünften. Auf ihrer kleinen Terrasse standen noch fünf, sechs einfache Blumentöpfe, Philodendren, Geranien und Kakteen, und Zvi schaute von Zeit zu Zeit nach ihnen, goss sie und lockerte die Erde.

Dann kam der Winter. Tiefhängende Wolken lasteten auf den Wipfeln der Bäume. Auf den Feldern und in den Obstplantagen lag dicker Schlamm, und die Feld- und Plantagenarbeiter arbeiteten in der Fabrik. Unablässig fiel grauer Regen. Nachts hörte man die Regenrinnen laut rauschen, und kalter Wind drang durch die Ritzen der Fensterläden in die Häuser.

Zvi Provisor saß Abend um Abend bis halb elf an dem mönchischen Tisch in seinem Zimmer und hörte alle Nachrichten, und zwischen einer Nachrichtensendung und der nächsten beugte er sich vor und übersetzte im Licht seiner buckligen Lampe noch einige Zeilen aus Iwaszkiewicz’ Buch voller Leid. Über seinem Bett hing die Bleistiftzeichnung, die Luna ihm geschenkt hatte, eine Bank vor zwei Zypressen. Die Zypressen wirkten trist, und auf der Bank saß niemand. Um halb elf hüllte er sich in seinen Mantel, ging hinaus auf seine Terrasse und betrachtete die tiefhängenden Wolken und die menschenleeren, im gelben Laternenlicht vor Nässe glänzenden Betonwege. Wenn der Regen einmal eine Pause machte, brach er zu einem Nachtspaziergang auf und schaute nach den Blumentöpfen auf ihrer Terrasse. Eine Laubschicht bedeckte die Stufen, und Zvi glaubte, einen leichten Seifen- oder Shampooduft wahrzunehmen, der aus ihrem verschlossenen Zimmer drang. Dann wanderte er noch eine Weile über die menschenleeren Wege, von den nassen Zweigen fielen Tropfen auf seinen unbedeckten Kopf. Wenn er schließlich in sein Zimmer zurückkehrte, hörte er blinzelnd, ohne Licht anzumachen, die letzte Nachrichtensendung. Und eines Tages, ganz früh, vor der Morgendämmerung, als noch überall feuchtkalte Finsternis herrschte, hielt er einen der Melker an, der auf dem Weg zur Frühschicht war, und verkündete ihm traurig: »Hast du gehört? Heute Nacht ist der König von Norwegen gestorben. Er hatte Krebs. In der Leber.«

Zwei Frauen

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