Bertolt Brecht, geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg, starb am 14. August 1956 in Berlin.

Der gute Mensch von Sezuan wurden in den Jahren 1938 bis 1940 geschrieben und am 4. Februar 1943 in Zürich uraufgeführt. Das Stück, eine Parabel, zeigt am Einzelfall des Mädchens Shen Te das allgemeine Gesetz dieser Welt auf, daß es unmöglich ist, »gut zu sein und doch zu leben«. Drei Götter durchwandern die Welt auf der Suche nach einem guten Menschen. Sie wollen das Gerücht Lügen strafen, wonach die wirtschaftlichen Bedingungen auf Erden zu unerträglich seien, als daß die Menschen die Gebote der Götter zu befolgen vermöchten.

»Bertolt Brechts geschlossenstes Stück ist wohl Der gute Mensch von SezuanSiegfried Melchinger

Der gute Mensch von Sezuan

Suhrkamp

Der gute Mensch von Sezuan erschien in der hier abgedruckten Fassung erstmals 1953 im Rahmen der Versuche Bertolt Brechts im Suhrkamp Verlag, Berlin (West).

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:

Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Band 6: Stücke 6, bearbeitet von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989, S. 175-279, 280 f.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag Berlin 1953

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-73190-1

www.suhrkamp.de

Mitarbeiter: Ruth Berlau und Margarete Steffin

»Der gute Mensch von Sezuan«, ein Parabelstück, 1938 in Dänemark begonnen, 1940 in Schweden fertiggestellt, ist der 27. Versuch. – Die Provinz Sezuan der Parabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten. – Das Stück wurde bisher in Zürich und Frankfurt a. M. aufgeführt. Die Bühnenbilder für die Aufführung in Frankfurt entwarf Teo Otto. Paul Dessau hat eine Musik dazu geschrieben.

Personen

Die drei Götter · Shen Te · Shui Ta · Yang Sun, ein stellungsloser Flieger · Frau Yang, seine Mutter · Wang, ein Wasserverkäufer · Der Barbier Shu Fu · Die Hausbesitzerin Mi Tzü · Die Witwe Shin · Die achtköpfige Familie · Der Schreiner Lin To · Der Teppichhändler und seine Frau · Der Polizist · Der Bonze · Der Arbeitslose · Der Kellner · Die Passanten des Vorspiels

Schauplatz: Die Hauptstadt von Sezuan, welche halb europäisiert ist

Vorspiel
Eine Straße in der Hauptstadt von Sezuan

Es ist Abend. Wang, der Wasserverkäufer, stellt sich dem Publikum vor.

WANG Ich bin Wasserverkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan. Mein Geschäft ist mühselig. Wenn es wenig Wasser gibt, muß ich weit danach laufen. Und gibt es viel, bin ich ohne Verdienst. Aber in unserer Provinz herrscht überhaupt große Armut. Es heißt allgemein, daß uns nur noch die Götter helfen können. Zu meiner unaussprechlichen Freude erfahre ich von einem Vieheinkäufer, der viel herumkommt, daß einige der höchsten Götter schon unterwegs sind und auch hier in Sezuan erwartet werden dürfen. Der Himmel soll sehr beunruhigt sein wegen der vielen Klagen, die zu ihm aufsteigen. Seit drei Tagen warte ich hier am Eingang der Stadt, besonders gegen Abend, damit ich sie als erster begrüßen kann. Später hätte ich ja dazu wohl kaum mehr Gelegenheit, sie werden von Hochgestellten umgeben sein und überhaupt stark überlaufen werden. Wenn ich sie nur erkenne! Sie müssen ja nicht zusammen kommen. Vielleicht kommen sie einzeln, damit sie nicht so auffallen. Die dort können es nicht sein, die kommen von der Arbeit. Er betrachtet vorübergehende Arbeiter. Ihre Schultern sind ganz eingedrückt vom Lastentragen. Der dort ist auch ganz unmöglich ein Gott, er hat Tinte an den Fingern. Das ist höchstens ein Büroangestellter in einer Zementfabrik. Nicht einmal diese Herren dort zwei Herren gehen vorüber kommen mir wie Götter vor, sie haben einen brutalen Ausdruck wie Leute, die viel prügeln, und das haben die Götter nicht nötig. Aber dort, diese drei! Mit denen sieht es schon ganz anders aus. Sie sind wohlgenährt, weisen kein Zeichen irgendeiner Beschäftigung auf und haben Staub auf den Schuhen, kommen also von weit her. Das sind sie! Verfügt über mich, Erleuchtete! Er wirft sich zu Boden.

DER ERSTE GOTT erfreut: Werden wir hier erwartet?

WANG gibt ihnen zu trinken: Seit langem. Aber nur ich wußte, daß ihr kommt.

DER ERSTE GOTT Da benötigen wir also für heute Nacht ein Quartier. Weißt du eines?

WANG Eines? Unzählige! Die Stadt steht zu euren Diensten, o Erleuchtete! Wo wünscht ihr zu wohnen?

Die Götter sehen einander vielsagend an.

DER ERSTE GOTT Nimm das nächste Haus, mein Sohn! Versuch es zunächst mit dem allernächsten!

WANG Ich habe nur etwas Sorge, daß ich mir die Feindschaft der Mächtigen zuziehe, wenn ich einen von ihnen besonders bevorzuge.

DER ERSTE GOTT Da befehlen wir dir eben: nimm den nächsten!

WANG Das ist der Herr Fo dort drüben! Geduldet euch einen Augenblick! Er läuft zu einem Haus und schlägt an die Tür. Sie wird geöffnet, aber man sieht, er wird abgewiesen. Er kommt zögernd zurück.

WANG Das ist dumm. Der Herr Fo ist gerade nicht zu Hause und seine Dienerschaft wagt nichts ohne seinen Befehl zu tun, da er sehr streng ist. Er wird nicht wenig toben, wenn er erfährt, wen man ihm da abgewiesen hat, wie?

DIE GÖTTER lächelnd: Sicher.

WANG Also noch einen Augenblick! Das Haus nebenan gehört der Witwe Su. Sie wird außer sich sein vor Freude. Er läuft hin, wird aber anscheinend auch dort abgewiesen.

WANG Ich muß dort drüben nachfragen. Sie sagt, sie hat nur ein kleines Zimmerchen, das nicht instand gesetzt ist. Ich wende mich sofort an Herrn Tscheng.

DER ZWEITE GOTT Aber ein kleines Zimmer genügt uns. Sag, wir kommen.

WANG Auch wenn es nicht aufgeräumt ist? Vielleicht wimmelt es von Spinnen.

DER ZWEITE GOTT Das macht nichts. Wo Spinnen sind, gibt's wenig Fliegen.

DER DRITTE GOTT freundlich zu Wang: Geh zu Herrn Tscheng oder sonstwohin, mein Sohn, ich ekle mich vor Spinnen doch ein wenig.

Wang klopft wieder wo an und wird eingelassen.

STIMME AUS DEM HAUSE Verschone uns mit deinen Göttern! Wir haben andere Sorgen!

WANG zurück zu den Göttern: Herr Tscheng ist außer sich, er hat das ganze Haus voll Verwandtschaft und wagt nicht, euch unter die Augen zu treten, Erleuchtete. Unter uns, ich glaube, es sind böse Menschen darunter, die er euch nicht zeigen will. Er hat zu große Furcht vor eurem Urteil. Das ist es.

DER DRITTE GOTT Sind wir denn so fürchterlich?

WANG Nur gegen die bösen Menschen, nicht wahr? Man weiß doch, daß die Provinz Kwan seit Jahrzehnten von Überschwemmungen heimgesucht wird.

DER ZWEITE GOTT So? Und warum das?

WANG Nun, weil dort keine Gottesfurcht herrscht.

DER ZWEITE GOTT Unsinn! Weil sie den Staudamm verfallen ließen.

DER ERSTE GOTT Ssst! Zu Wang: Hoffst du noch, mein Sohn?

WANG Wie kannst du so etwas fragen? Ich brauche nur ein Haus weiter zu gehen und kann mir ein Quartier für euch aussuchen. Alle Finger leckt man sich danach, euch zu bewirten. Unglückliche Zufälle, ihr versteht. Ich laufe! Er geht zögernd weg und bleibt unschlüssig in der Straße stehen.

DER ZWEITE GOTT Was habe ich gesagt?

DER DRITTE GOTT Es können immer noch Zufälle sein.

DER ZWEITE GOTT Zufälle in Schun, Zufälle in Kwan und Zufälle in Sezuan! Es gibt keinen Gottesfürchtigen mehr, das ist die nackte Wahrheit, der ihr nicht ins Gesicht schauen wollt. Unsere Mission ist gescheitert, gebt es euch zu!

DER ERSTE GOTT Wir können immer noch gute Menschen finden, jeden Augenblick. Wir dürfen es uns nicht zu leicht machen.

DER DRITTE GOTT In dem Beschluß hieß es: die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können. Der Wasserverkäufer selber ist ein solcher Mensch, wenn mich nicht alles täuscht. Er tritt zu Wang, der immer noch unschlüssig dasteht.

DER ZWEITE GOTT Es täuscht ihn alles. Als der Wassermensch uns aus seinem Maßbecher zu trinken gab, sah ich was. Dies ist der Becher. Er zeigt ihn dem ersten Gott.

DER ERSTE GOTT Er hat zwei Böden.

DER ZWEITE GOTT Ein Betrüger!

DER ERSTE GOTT Schön, er fällt weg. Aber was ist das schon, wenn einer angefault ist! Wir werden schon genug finden, die den Bedingungen genügen. Wir müssen einen finden! Seit zweitausend Jahren geht dieses Geschrei, es gehe nicht weiter mit der Welt, so wie sie ist. Niemand auf ihr könne gut bleiben. Wir müssen jetzt endlich Leute namhaft machen, die in der Lage sind, unsere Gebote zu halten.

DER DRITTE GOTT zu Wang: Vielleicht ist es zu schwierig, Obdach zu finden?

WANG Nicht für euch! Wo denkt ihr hin? Die Schuld, daß nicht gleich eines da ist, liegt an mir, der schlecht sucht.

DER DRITTE GOTT Das bestimmt nicht. Er geht zurück.

WANG Sie merken es schon. Er spricht einen Herrn an. Werter Herr, entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche, aber drei der höchsten Götter, von deren bevorstehender Ankunft ganz Sezuan schon seit Jahren spricht, sind nun wirklich eingetroffen und benötigen ein Quartier. Gehen Sie nicht weiter! Überzeugen Sie sich selber! Ein Blick genügt! Greifen Sie um Gottes willen zu! Es ist eine einmalige Gelegenheit! Bitten Sie die Götter zuerst unter Ihr Dach, bevor sie Ihnen jemand wegschnappt, sie werden zusagen.

Der Herr ist weitergegangen.

WANG wendet sich an einen anderen: Lieber Herr, Sie haben gehört, was los ist. Haben Sie vielleicht ein Quartier? Es müssen keine Palastzimmer sein. Die Gesinnung ist wichtiger.

DER HERR Wie soll ich wissen, was deine Götter für Götter sind? Wer weiß, wen man da unter sein Dach bekommt.

Er geht in einen Tabakladen. Wang läuft zurück zu den dreien.

WANG Ich habe schon einen Herren, der bestimmt zusagt. Er sieht seinen Becher auf dem Boden stehen, sieht verwirrt nach den Göttern, nimmt ihn an sich und läuft wieder zurück.

DER ERSTE GOTT Das klingt nicht ermutigend.

WANG als der Mann wieder aus dem Laden herauskommt: Wie ist es also mit der Unterkunft?

DER MANN Woher weißt du, daß ich nicht selber im Gasthof wohne?

DER ERSTE GOTT Er findet nichts. Dieses Sezuan können wir auch streichen.

WANG Es sind drei der Hauptgötter! Wirklich! Ihre Standbilder in den Tempeln sind sehr gut getroffen. Wenn Sie schnell hingehen und sie einladen, werden sie vielleicht zusagen.

DER MANN lacht: Das müssen schöne Gauner sein, die du da wo unterbringen willst. Ab.

WANG schimpft ihm nach: Du schieläugiger Schieber! Hast du keine Gottesfurcht? Ihr werdet in siedendem Pech braten für eure Gleichgültigkeit! Die Götter scheißen auf euch! Aber ihr werdet es noch bereuen! Bis ins vierte Glied werdet ihr daran abzuzahlen haben! Ihr habt ganz Sezuan mit Schmach bedeckt! Pause. Jetzt bleibt nur noch die Prostituierte Shen Te, die kann nicht nein sagen.

Er ruft »Shen Te«. Oben im Fenster schaut Shen Te heraus.

WANG Sie sind da, ich kann kein Obdach für sie finden. Kannst du sie nicht aufnehmen für eine Nacht?

SHEN TE Ich glaube nicht, Wang. Ich erwarte einen Freier. Aber wie kann denn das sein, daß du für sie kein Obdach findest?!

WANG Das kann ich jetzt nicht sagen. Ganz Sezuan ist ein einziger Dreckhaufen.

SHEN TE Ich müßte, wenn er kommt, mich versteckt halten. Dann ginge er vielleicht wieder weg. Er will mich noch ausführen.

WANG Können wir nicht inzwischen schon hinauf?

SHEN TE Aber ihr dürft nicht laut reden. Kann man mit ihnen offen sprechen?

WANG Nein! Sie dürfen von deinem Gewerbe nichts erfahren! Wir warten lieber unten. Aber du gehst nicht weg mit ihm?

SHEN TE Es geht mir nicht gut, und wenn ich bis morgen früh meine Miete nicht zusammen habe, werde ich hinausgeworfen.

WANG In solch einem Augenblick darf man nicht rechnen.

SHEN TE Ich weiß nicht, der Magen knurrt leider auch, wenn der Kaiser Geburtstag hat. Aber gut, ich will sie aufnehmen. Man sieht sie das Licht löschen.

DER ERSTE GOTT Ich glaube, es ist aussichtslos.

Sie treten zu Wang.

WANG erschrickt, als er sie hinter sich stehen sieht: Das Quartier ist beschafft. Er trocknet sich den Schweiß ab.

DIE GÖTTER Ja? Dann wollen wir hingehen.

WANG Es hat nicht solche Eile. Laßt euch ruhig Zeit. Das Zimmer wird noch in Ordnung gebracht.

DER DRITTE GOTT So wollen wir uns hierhersetzen und warten.

WANG Aber es ist viel zuviel Verkehr hier, fürchte ich. Vielleicht gehen wir dort hinüber.

DER ZWEITE GOTT Wir sehen uns gern Menschen an. Gerade dazu sind wir hier.

WANG Nur: es zieht.

DER DRITTE GOTT Ist es dir hier angenehm?

Sie setzen sich auf eine Haustreppe. Wang setzt sich etwas abseits auf den Boden.

WANG mit einem Anlauf: Ihr wohnt bei einem alleinstehenden Mädchen. Sie ist der beste Mensch von Sezuan.

DER DRITTE GOTT Das ist schön.

WANG zum Publikum: Als ich vorhin den Becher aufhob, sahen sie mich so eigentümlich an. Sollten sie etwas gemerkt haben? Ich wage ihnen nicht mehr in die Augen zu blicken.

DER DRITTE GOTT Du bist sehr erschöpft.

WANG Ein wenig. Vom Laufen.

DER ERSTE GOTT Haben es die Leute hier sehr schwer?

WANG Die guten schon.

DER ERSTE GOTT ernst: Du auch?

WANG Ich weiß, was ihr meint. Ich bin nicht gut. Aber ich habe es auch nicht leicht.

Inzwischen ist ein Herr vor dem Haus Shen Tes erschienen und hat mehrmals gepfiffen. Wang ist jedesmal zusammengezuckt.

DER DRITTE GOTT leise zu Wang: Ich glaube, jetzt ist er weggegangen.

WANG verwirrt: Jawohl.

Er steht auf und läuft auf den Platz, sein Traggerät zurücklassend. Aber es hat sich bereits folgendes ereignet: Der wartende Mann ist weggegangen und Shen Te, aus der Tür tretend und leise »Wang« rufend, ist, Wang suchend, die Straße hinuntergegangen. Als nun Wang leise »Shen Te« ruft, bekommt er keine Antwort.

WANG Sie hat mich im Stich gelassen. Sie ist weggegangen, um ihre Miete zusammenzubekommen, und ich habe kein Quartier für die Erleuchteten. Sie sind müde und warten. Ich kann ihnen nicht noch einmal kommen mit: Es ist nichts! Mein eigener Unterschlupf, ein Kanalrohr, kommt nicht in Frage. Auch würden die Götter bestimmt nicht bei einem Menschen wohnen wollen, dessen betrügerische Geschäfte sie durchschaut haben. Ich gehe nicht zurück, um nichts in der Welt. Aber mein Traggerät liegt dort. Was machen? Ich wage nicht, es zu holen. Ich will weggehen von der Hauptstadt und mich irgendwo verbergen vor ihren Augen, da es mir nicht gelungen ist, für sie etwas zu tun, die ich verehre.

Er stürzt fort.

Kaum ist er fort, kommt Shen Te zurück, sucht auf der anderen Seite und sieht die Götter.

SHEN TE Seid ihr die Erleuchteten? Mein Name ist Shen Te. Ich würde mich freuen, wenn ihr mit meiner Kammer vorliebnehmen wolltet.

DER DRITTE GOTT Aber wo ist denn der Wasserverkäufer hin?

SHEN TE Ich muß ihn verfehlt haben.

DER ERSTE GOTT Er muß gemeint haben, du kämst nicht, und da hat er sich nicht mehr zu uns getraut.

DER DRITTE GOTT nimmt das Traggerät auf: Wir wollen es bei dir einstellen. Er braucht es.

Sie gehen, von Shen Te geführt, ins Haus.

Es wird dunkel und wieder hell. In der Morgendämmerung treten die Götter wieder aus der Tür, geführt von Shen Te, die ihnen mit einer Lampe leuchtet. Sie verabschieden sich.

DER ERSTE GOTT Liebe Shen Te, wir danken dir für deine Gastlichkeit. Wir werden nicht vergessen, daß du es warst, die uns aufgenommen hat. Und gib dem Wasserverkäufer sein Gerät zurück und sage ihm, daß wir auch ihm danken, weil er uns einen guten Menschen gezeigt hat.

SHEN TE Ich bin nicht gut. Ich muß euch ein Geständnis machen: Als Wang mich für euch um Obdach anging, schwankte ich.

DER ERSTE GOTT Schwanken macht nichts, wenn man nur siegt. Wisse, daß du uns mehr gabst als ein Nachtquartier. Vielen, darunter sogar einigen von uns Göttern, sind Zweifel aufgestiegen, ob es überhaupt noch gute Menschen gibt. Hauptsächlich um dies festzustellen, haben wir unsere Reise angetreten. Freudig setzen wir sie jetzt fort, da wir einen schon gefunden haben. Auf Wiedersehen!

SHEN TE Halt, Erleuchtete, ich bin gar nicht sicher, daß ich gut bin. Ich möchte es wohl sein, nur, wie soll ich meine Miete bezahlen? So will ich es euch denn gestehen: ich verkaufe mich, um leben zu können, aber selbst damit kann ich mich nicht durchbringen, da es so viele gibt, die dies tun müssen. Ich bin zu allem bereit, aber wer ist das nicht? Freilich würde ich glücklich sein, die Gebote halten zu können der Kindesliebe und der Wahrhaftigkeit. Nicht begehren meines Nächsten Haus, wäre mir eine Freude, und einem Mann anhängen in Treue, wäre mir angenehm. Auch ich möchte aus keinem meinen Nutzen ziehen und den Hilflosen nicht berauben. Aber wie soll ich dies alles? Selbst wenn ich einige Gebote nicht halte, kann ich kaum durchkommen.

DER ERSTE GOTT Dies alles, Shen Te, sind nichts als die Zweifel eines guten Menschen.

DER DRITTE GOTT Leb wohl, Shen Te! Grüße mir auch den Wasserträger recht herzlich. Er war uns ein guter Freund.

DER ZWEITE GOTT Ich fürchte, es ist ihm schlecht bekommen.

DER DRITTE GOTT Laß es dir gut gehn!

DER ERSTE GOTT Vor allem sei gut, Shen Te! Leb wohl!

Sie wenden sich zum Gehen. Sie winken schon.

SHEN TE angstvoll: Aber ich bin meiner nicht sicher, Erleuchtete. Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?

DER ZWEITE GOTT Da können wir leider nichts tun. In das Wirtschaftliche können wir uns nicht mischen.

DER DRITTE GOTT Halt! Wartet einen Augenblick! Wenn sie etwas mehr hätte, könnte sie es vielleicht eher schaffen.

DER ZWEITE GOTT Wir können ihr nichts geben. Das könnten wir oben nicht verantworten.

DER ERSTE GOTT Warum nicht?

Sie stecken die Köpfe zusammen und diskutieren aufgeregt.

DER ERSTE GOTT zu Shen Te, verlegen: Wir hören, du hast deine Miete nicht zusammen. Wir sind keine armen Leute und bezahlen natürlich unser Nachtlager! Hier! Er gibt ihr Geld. Sprich aber zu niemand darüber, daß wir bezahlten. Es könnte mißdeutet werden.

DER ZWEITE GOTT Sehr.

DER DRITTE GOTT Nein, das ist erlaubt. Wir können ihr ruhig unser Nachtlager bezahlen. In dem Beschluß stand kein Wort dagegen. Also auf Wiedersehen!

Die Götter schnell ab.

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Ein kleiner Tabakladen

Der Laden ist noch nicht ganz eingerichtet und noch nicht eröffnet.

SHEN TE zum Publikum: