Andrzej Stasiuk, berühmt für seine Kunst, untergehende Orte und verschwindende Landschaften zu beschreiben, erzählt vier Geschichten über Abschied und Tod. Da ist Augustyn, der Schriftstellerkollege, der das Gedächtnis verloren hat und gelähmt im Pflegeheim liegt. Oder Olek, der vertraute Jugendfreund, der auf einer Reise nach Budapest damit herausrückt, dass er bald sterben wird. Ihr Sterben frisst sich ins Leben hinein. Der Tod trägt nicht mehr, wie noch in der Kindheit, das gutmütige Gesicht der Großmutter, die einfach hinüberging in eine andere Wirklichkeit. Verstörend ist seine Präsenz: dass er Menschen und auch Tiere im Griff hat, die noch warm und vertraut neben einem leben. Stasiuks Erzähler schaut genau hin, konfrontiert sich mutig mit einer Erfahrung, die kaum jemandem erspart bleibt.

Andrzej Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit 1986 in den Beskiden und bereist seit Jahren den europäischen Südosten, neuerdings auch Russland und die Mongolei. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk wird in 25 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen Tagebuch danach geschrieben (es 2654); Hinter der Blechwand (st 4405).

Andrzej Stasiuk

Kurzes Buch über das Sterben

Geschichten

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Grochów bei Czarne, Wołowiec.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© by Andrzej Stasiuk, 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die Hündin wurde erstmals u. d. T. Der sandgelbe Teppich mit den Klappohren am 7./8. Januar 2012 und Augustyn am 8./9. September 2012 in der SZ veröffentlicht.

Umschlag: Göllner, Michels

eISBN 978-3-518-73169-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Großmutter und die Geister

Augustyn

Die Hündin

Grochów

Großmutter und die Geister

Meine Großmutter wohnte in Podlasie. Nicht im Dorf, sondern in der sogenannten »Kolonie«: ungleichmäßig verstreute Gehöfte, durch Espenhaine und Spaliere aus hohen alten Pappeln voneinander getrennt. Das Haus stand in einem Obstgarten. Hier war es im Sommer selbst zur Mittagszeit kühl. Die Apfelbäume waren uralt und verwachsen, ihre Kronen ineinander verschlungen – ein Reich ewigen Schattens.

Der Obstgarten grenzte an eine Wiese. Doch dieses Wort hörte ich nie. Man sagte smug, »Streif«, die Kühe weideten auf dem smug. Ein Stück Grün mit einem Brunnen in der Mitte, der als Viehtränke diente. Der Brunnen war alt und hatte statt einer Betoneinfassung eine Verschalung aus Brettern. Den Eimer zog man mit Hilfe einer langen Stange heraus, an deren Ende ein Haken befestigt war. Diese Hakenstange hieß kluczka.

Das »u« hat den sanftesten, den weichsten Klang von allen Vokalen.

Immer wenn ich an meine Großmutter denke, kommen mir diese zwei Wörter in den Sinn: kluczka, smug. Und noch ein drittes: duch – »Geist«.

Großmutter glaubte an Geister.

In den sechziger Jahren gab es dort noch keinen Strom. Großvater stieg auf einen Schemel und zündete die von der Decke hängende Petroleumlampe an. Im Herbst tat er das recht früh, um sechs, vielleicht schon um fünf. Im Herbst kam ich mit meinem Vater dorthin, um Äpfel zu ernten, wir luden ganze Kisten in den Lublin meines Onkels, eines waschechten Fahrers des frühen und mittleren Kommunismus.

Großmutter also glaubte an Geister. Es war kein ängstlicher Glaube und auch keiner, wie man ihn dank gelegentlicher Kontakte mit dem Jenseits oder aufgrund von Träumen oder Erscheinungen gewinnt – nichts dergleichen.

Sie setzte sich in die Ecke, auf das Bett mit der Wolldecke, hinter ihr zwei Rehe an der Tränke in einer himmelblau-grünen Landschaft, von der das gelbe, sanfte Licht der Lampe nur das silbrige Weiß des Wassers sichtbar machte, und erzählte. Es waren lange Geschichten über banale Ereignisse, über Arbeit, Besuche, Wanderungen ins Nachbardorf, Familientreffen. Eine ruhige Erzählung, ausgefüllt mit Fakten, mit Namen von Dingen und Namen von Menschen. Die Topographie ihres Dorfes und einiger Orte der Umgebung, eine Chronologie, gespannt zwischen Weihnachten, Mariä Himmelfahrt und Allerseelen.

In dieser grauen Materie bildeten sich von Zeit zu Zeit Risse, die Fäden von Schuss und Kette liefen auseinander, und durch schien das Jenseits, das Übernatürliche, jedenfalls das Andere.

So sah Großmutter eines Sommerabends, als sie von einer ihrer zahlreichen Cousinen nach Hause zurückkehrte, zwischen den Getreidestiegen eine weiße Gestalt. Nicht Mensch, nicht Tier, lief die Gestalt am Rain entlang, mal auf zwei, mal auf vier Beinen, im Mondlicht deutlich zu sehen, aber ganz und gar immateriell.

Ein andermal, nach dem Tod eines nahen Verwandten, sah Großmutter, wie der Verstorbene in die Küche kam; die Tür quietscht, der Gast schaut in alle Schubladen und Fächer der Kredenz und geht wieder, ohne etwas mitzunehmen. Das geschah im Morgengrauen. Großmutter war gerade dabei aufzustehen. Sie sah den Besucher, als sie schon auf dem Bettrand saß, an derselben Stelle, wo sie ihre Geschichten erzählte.

Natürlich kann ich mich nicht an alle Erzählungen erinnern, nur an Bruchstücke. Aber ihre Aura habe ich mir bewahrt: eine unerhört einfache Aura, kein Staunen, keine Ausrufezeichen – nichts.

Dieses Durchscheuern des Existenzgewebes fand eher in meiner Phantasie statt; ich war es, der die Risse sah. Großmutter ging nach diesen Geschichten zur Tagesordnung über. Überhaupt schien es für sie eine ungeteilte Ordnung der Dinge zu geben: alle waren gleichermaßen real und berechtigt. Vielleicht führte ihr Bewusstsein irgendwelche Unterscheidungen durch, vielleicht heftete es zusammen und nähte Flicken auf die brüchigen Stellen, aber in den Geschichten selbst waren keine Spuren von Ausbesserungen zu sehen.

Wenn an einem reglosen, windstillen Nachmittag auf dem Feld eine kleine Windhose erschien, die die aufgestellten Garben fortriss, bekreuzigte sich Großmutter einfach, verfolgte das Phänomen mit dem Blick und machte sich wieder an die Arbeit. Hatte doch nur das Böse in einer von vielen Gestalten seine Anwesenheit manifestiert. Da war nichts von der Erregung, die schwebende Tische begleitet oder den Geschichten von Edgar Allan Poe innewohnt. Großmutter erinnerte eher an Swidrigajlow und seine äußerlich banalen Abstecher auf die andere Seite der Existenz. Großmutters Verwandter, der in der Kredenz stöberte, jetzt sehe ich das genau, kommt an Realität und Macht dem Geist des Dieners Filka gleich, der mit einem ganz gewöhnlichen Loch am Ellbogen in Arkadij Iwanowitschs Zimmer erscheint.

Warum hat sie nie von Heiligen erzählt? Von übernatürlichen Existenzen, die von der Kirchenlehre bestätigt wurden? Warum sind ihr Petrus, Paulus oder die heilige Lucia nie erschienen? Sie alle hat sie nur zum Abmessen der Zeit benutzt. Als wären sie tote Gegenstände, etwas wie ideale Maße oder Gewichte. Die Unbewegtheit dieser Heiligen war die Unbewegtheit der Figuren, denen sie am Sonntag in der Messe begegnete. Die kleine Holzkirche stand in ebenso tiefem Schatten wie Großmutters Haus. Der knarrende braune, vergoldete Innenraum eröffnete ihr einmal in der Woche ein Bild der Unendlichkeit und des Lichts, das Bild eines fernen Versprechens und einer noch ferneren Belohnung.

Geister hingegen, von Sünde und Fluch gezeichnete, träge Seelen und der Tod begleiteten ihr tägliches Leben. Die Wahrheit, dass der Mensch dem Tod, der Verdammung und dem Zufall näher ist als der Erlösung, hat in ihrem Leben eine Verkörperung gefunden.

Im Übrigen war sie kein Einzelfall. Meine zahlreichen Tanten und Großtanten, die ich in ihrem Haus antraf, nahmen regen Anteil an den Geschichten und ergänzten sie ihrerseits, bis Großvater genervt dazwischenfuhr: »Wann seid ihr Weiber endlich still!« – ob von Rationalismus oder Angst geleitet, werde ich nie erfahren. Sie verstummten dann für eine Weile, um bald darauf wieder, wie perfide Parzen, den Faden jenes anderen, verborgenen Lebens zu spinnen, eines Lebens, das keinen Moment vergisst, dass es zugleich aus Verlust und Sterben besteht.

Die Geschichte von einer Mutter, die mittags um zwölf auf dem Feld die Gestalt einer unbekannten alten Frau in grauem Kleid sah und deren Kind am selben Tag erkrankte und bald darauf starb.

Die Geschichte, wie Großmutter eines Abends den Stall betrat und etwas, das gerade weglief, sie fast umgeworfen hätte, worauf keine der Kühe mehr Milch gab.

Die Geschichte ... die Geschichte ... die Geschichte ...

Großmutter starb im Herbst. Ich bin noch zu klein gewesen, um mir das genaue Datum zu merken. Es war windig damals, und ich bin mit Vater dort gewesen, denn die Ärzte hatten sorgfältig gerechnet – nicht nur auf den Tag, sondern auf einige Stunden genau. Sie lag auf einem mit schwarzem Stoff bedeckten Brett, ganz in Schwarz, schmal und still. Bevor sie in den Sarg gelegt wurde, küssten alle Verwandten sie auf die Stirn (wie es Brauch war). Vielleicht war ich zu klein, um den Tod zu verstehen. Aus Gewohnheit und von meinen Gefühlen geleitet, küsste ich sie auf den Mund, wie bei jeder Begrüßung zu Beginn der Ferien. Ich wunderte mich, dass sie so hart und unbewegt war und dass sie nicht mehr ihren warmen, vertrauten Geruch ausströmte.

Die Angst kam später. In dem Moment, als ich draußen am Haus die schwarze Kirchenfahne mit dem silbernen Kreuz sah. Jemand hatte sie so an der Hauswand angebracht, dass sie sich flatternd vom Hintergrund des blauen Himmels und der blattlosen Bäume abhob.

Das war meine erste Lektion von der Dominanz des Symbols über die Wirklichkeit.

Worauf zielt diese Erinnerung oder Erzählung ab?

Bald werden die letzten Großmütter sterben, die die Welt der Geister mit eigenen Augen gesehen haben. Sie haben sie gläubig und ruhig betrachtet, natürlich auch mit Angst. Die lebendige, übernatürliche Wirklichkeit wird mit ihnen zusammen verschwinden. Die seltenen mystischen Erfahrungen Auserwählter ausgenommen, werden wir auf das anstrengende und schwierige Vertrauen in die Existenz des Ungewissen angewiesen sein. Die glattpolierte Oberfläche des Alltags wird uns unsere eigenen, flachen Spiegelbilder beflissen als Tiefe vorgaukeln.

Meine Großmutter saß auf dem Bettrand und erzählte Geschichten. Sie tat es uneigennützig, ohne einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Die Gewöhnlichkeit der ungewöhnlichen Ereignisse verlieh ihnen ihre Glaubwürdigkeit.