Angesichts von künstlicher Befruchtung, Stammzellforschung sowie der Möglichkeit genetischer Diagnostik und Manipulation ist der moralische Status zukünftiger Personen so umstritten wie nie zuvor. Aber wer gilt überhaupt als zukünftige Person? Nur diejenigen Embryonen, so Anja Karneins provokative These, die zur Geburt bestimmt sind – dann jedoch ab der Empfängnis. Und während liberale Theorien oft das Machtgefälle zwischen den Generationen vernachlässigen, wenn sie weitreichende Eingriffe in das Erbgut erlauben, verkennen restriktivere Ansätze, dass genetische Eingriffe notwendig sein können, um die Unabhängigkeit zukünftiger Personen zu sichern. Karnein liefert eine brillante Verteidigung ihrer Theorie gegen etablierte Ansätze und zeigt anhand eines Vergleichs rechtlicher Regelungen in Deutschland und den USA, wo diese Auffassung unserer Praxis bereits heute zugrunde liegt – und wo noch nicht.

Anja Karnein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für politische Theorie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Anja Karnein

Zukünftige Personen

Eine Theorie des ungeborenen Lebens
von der künstlichen Befruchtung bis zur
genetischen Manipulation

Aus dem Amerikanischen von
Christian Heilbronn

Suhrkamp

Für meine Eltern Susan Stern
und Alfred Karnein

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der ersten Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1986.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73250-2

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Danksagung

Einleitung

I. Erzeugung und Zerstörung

Kapitel 1: Embryonen und zukünftige Personen

1.1 Der Schutz von Personen

1.2 Warum die Geburt von Bedeutung ist

1.3 Der moralische Wert von Embryonen, die geboren werden

1.4 Der Wert der Erzeugung von Personen

1.5 Fazit

Kapitel 2: Menschliche Würde von Embryonen?
Die Situation in Deutschland

2.1 Die Abtreibungsdebatte in Deutschland

2.2 Der Schutz von Embryonen im Straf- und Deliktsrecht

2.3 Das Gesetz zum Schutz (einiger) Embryonen

2.4 Das Stammzellgesetz

2.5 Fazit

Kapitel 3: Die moralische Anonymität von Embryonen: Die Situation in den Vereinigten Staaten

3.1 Die Abtreibungsdebatte in den Vereinigten Staaten

3.2 Das Deliktsrecht: Fälle pränataler Verletzung

3.3 Der Fötus im Strafrecht

3.4 Technologien künstlicher Befruchtung und die Stammzellforschung

3.5 Fazit

II. Selektion und Manipulation

Kapitel 4: Die Grenzen reproduktiver Freiheit und distributiver Gerechtigkeit

64.1 Die Verteidigung reproduktiver Freiheiten: John A. Robertson

4.2 Der Vorrang wissenschaftlichen Fortschritts: Ronald Dworkin

4.3 Die Sicherstellung der Chancengleichheit: Buchanan et al.

4.3.1 Genetische Manipulation, Gerechtigkeit und unsere Moral

4.3.2 Die Beschränkung elterlicher Befugnisse: Die Achtung für das Recht eines Kindes auf eine offene Zukunft

4.3.3 Die Gefahr intergenerationaler Beherrschung

4.4 Fazit

Kapitel 5: Beunruhigende Intuitionen: Habermas und die Gefahr, die menschliche Natur zu verändern

5.1 Habermas’ Zurückweisung der liberalen Eugenik

5.2 Irreversibilität, Verantwortung und angemessene Einstellungen

5.3 Die anthropologischen Grundlagen der Moral

5.4 Fazit

Kapitel 6: Zukünftige Personen und ihre Unabhängigkeit

6.1 Prekäre intergenerationale Beziehungen

6.1.1 Das Problem der Nichtidentität

6.1.2 Zur Bestimmung der Natur intergenerationaler Beziehungen

6.2 Die Bedeutung der Unabhängigkeit

6.2.1 Natürliche und substanzielle Unabhängigkeit

6.2.2 Unabhängigkeit und Behinderung

6.2.3 Unabhängigkeit und die Bedeutung von Abhängigkeit

6.2.4 Unabhängigkeit und Autonomie

6.2.5 Unabhängigkeit als (relativ) unabhängiger Begriff

6.2.6 Unabhängigkeit und die Zukunft der Moral

6.3. Wer ist verantwortlich? Warum es nicht in erster Linie die Eltern sind

6.4 Fazit

Literaturverzeichnis

Namenregister

Sachregister

7Danksagung

An dieser Stelle möchte ich die Geschichte des ungeborenen Lebens dieses Buches erzählen und jenen danken, die zu seiner Erzeugung beigetragen haben. Dieses Buch begann als Doktorarbeit an der Brandeis University, hat aber – in all den Jahren, die es zum Reifen benötigte – vielfältige Änderungen erfahren. Ich bin dankbar dafür, dass mir als Visiting Graduate Fellow am Edmond J. Safra Foundation Center for Ethics an der Harvard University und als Postdoctoral Fellow am Center for Society and Genetics an der University of California, Los Angeles (UCLA), jeweils die Möglichkeit gegeben wurde, an diesem Manuskript weiterzuarbeiten. Ein großzügiges Stipendium der Gerhard C. Starck Stiftung erlaubte es mir, Zukünftige Personen in Deutschland weiter zu verbessern und dann meine Arbeit im Kontext des von Rainer Forst geleiteten Forschungsprojekts »Bioethische Herausforderungen normativer Ordnungen« am neu gegründeten Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt fortzusetzen. Meine darauf folgende Anstellung am Fachbereich für Gesellschaftswissenschaften an der Goethe-Universität erlaubte es mir schließlich, dieses Buch fertigzustellen. Zusätzlich waren zwei Aufenthalte als Gastwissenschaftlerin besonders hilfreich dabei, das zentrale Argument über die Bedeutung der Unabhängigkeit für zukünftige Personen zu entwickeln: ein Aufenthalt am Center for Bioethics an der New York University (NYU) und einer im Rahmen des Law and Philosophy Programs an der UCLA. Schließlich bin ich der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität dafür dankbar, dass sie meinen Forschungsaufenthalt in Los Angeles unterstützt hat.

Innerhalb dieser Institutionen bin ich vielen Personen für ihre Unterstützung zu Dank verpflichtet: an der Brandeis University meinem Doktorvater Jeffrey Abramson, der derjenige war, der mein Interesse an der politischen Theorie weckte und mir beibrachte, wie man Texte lebendig werden lassen kann; zudem meinen beiden weiteren Gutachtern – Bernard Yack für seinen Rat und seine stets anregenden Fragen sowie Michael Sandel, von dem ich gelernt habe, bei aller Schwere des verhandelten Stoffes beim Nachdenken 8und Unterrichten niemals eine gewisse Leichtigkeit zu verlieren; an der Harvard University Frances Kamm, deren scharfsinnige Kommentare stets ein Genuss waren, und Arthur Applbaum, dessen wöchentliche Seminare mich sehr bereichert haben; an der UCLA Sally Gibbons, deren Güte und Warmherzigkeit ich nicht vergessen werde, Russell Korobkin für die Unterstützung meines Post-doc-Stipendiums und Seana Shiffrin für ihre Gastfreundschaft bei meinem späteren Aufenthalt an der UCLA; an der NYU William Ruddick und J. David Velleman, die beide Kommentare und Ratschläge bereithielten, für die ich ihnen zutiefst verpflichtet bin. In Frankfurt bin ich insbesondere Rainer Forst für seine Unterstützung in besonders schwierigen Zeiten dankbar und dafür, dass er mir die Möglichkeit eröffnete, dieses Buch fertigzustellen.

Zudem möchte ich Steve Teles für seine Ermutigung und seinen Rat bei der Publikation dieses Buches danken. Mein Dank gilt auch den beiden anonymen Gutachtern der Oxford University Press für ihre nützliche und konstruktive Kritik. Beim Suhrkamp Verlag danke ich Eva Gilmer, Christian Heilbronn und Philipp Hölzing für ihren Enthusiasmus in Bezug auf dieses Projekt sowie Jan-Erik Strasser für sein sorgfältiges Lektorat der deutschen Übersetzung. Den vier Letztgenannten danke ich zudem für ihre Geduld während der Überarbeitung der Übersetzung, für die ich Christian Heilbronn zu Dank verpflichtet bin.

Sehr profitiert habe ich auch von Gesprächen mit und schriftlichen Kommentaren von Ayelet Banai, Ben Chan, Stefan Gosepath, Matthew Hanser, Markus Rothhaar, Martin Saar und Marcus Willaschek. Ich habe ebenfalls viel gelernt von den stimulierenden Diskussionen und Fragen im Rahmen mehrerer Tagungen der American Political Science Association sowie von Vorträgen an der New York University, der Columbia University, der University of California, Santa Barbara, an der University of Cambridge und an der University of Oxford. Zudem möchte ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines internationalen Workshops zu »What We Owe to Future People«, den ich im Februar 2008 im Rahmen des Exzellenzclusters zusammen mit Rainer Forst veranstalten durfte, für ihre kritischen und dabei stets hilfreichen Kommentare danken.

Zu besonderem Dank bin ich Jürgen Habermas verpflichtet, der mein Manuskript in einer äußerst großzügigen Weise kommentiert und unterstützt hat. Zudem ermöglichte er es mir, im Rahmen ei9nes Workshops am Berkley Center der Georgetown University mit ihm über unsere Gemeinsamkeiten und Differenzen zu diskutieren, wovon ich sehr profitiert habe. Meine Gespräche mit Mattias Iser waren von unschätzbarem Wert. Er war und ist mein leidenschaftlichster Leser, schärfster Kritiker und größter Unterstützer. Ohne ihn hätte ich dieses Buch so nicht beenden können. Darüber hinaus bin ich ihm für seine umfassende Hilfe bei der Überarbeitung der deutschen Übersetzung dankbar. Schließlich möchte ich meinen Eltern, Susan Stern und Alfred Karnein, für so ziemlich alles danken. Die stete Unterstützung durch meine Mutter und ihre gründliche Hilfe beim Lektorat waren entscheidend für die Fertigstellung meiner Doktorarbeit. Sie verfügte über ein großes schriftstellerisches Talent und hatte viel zu lehren, das es wert war, gelernt zu werden. Ich wünschte nur, ich wäre eine bessere Schülerin gewesen. Es war mein Vater, durch den ich mich ursprünglich für die ethischen Fragen zu interessieren begann, die sich an der Stammzellforschung entzünden. Ihnen beiden ist dieses Buch gewidmet.

10Einleitung

»Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie taten, als sie mich zeugten.«[1] So beginnen Tristram Shandys bittere Klagen über die Umstände seiner Empfängnis. Erschrocken ist er ob der kurzzeitigen Ablenkung seines Vaters (durch den Hinweis von Tristrams Mutter, nicht zu vergessen, die Uhr aufzuziehen) in genau dem Augenblick, in dem der Samen, aus dem Tristram werden soll, den Körper des Vaters verließ und seine Reise zum Ei der Mutter antrat. Tristram ist ernsthaft darüber besorgt,

daß mein kleiner Gentleman vor lauter Schreck, was nur natürlich ist bei einem Reisenden so jungen Alters, ganz jämmerlich erschöpft ans Ende seiner Fahrt gelangt wäre; – seine Muskelkraft und Mannheit zur Stärke eines Fadens abgezehrt; – seine eigenen Lebensgeister über alle Beschreibung zerzaust, – und daß er sich in diesem betrüblich-wirren Nervenzustand niedergelegt hätte, für neun lange, lange Monate die Beute plötzlicher Zuckungen oder einer Reihe melancholischer Träume und Einbildungen.[2]

Über die Konsequenzen dieses so unglücklichen Beginns, die er für irreparabel hält, ist Tristram regelrecht erzürnt: »Mich schaudert’s bei dem Gedanken, welch Fundamente hier für tausend Schwächen sowohl des Körpers wie des Geistes gelegt worden wären, die später weder ärztliche noch philosophische Kunst je wieder hätte gründlich zurechtrücken können.«[3]

Die Komik dieser Stellen ist – zumindest teilweise – der falschen Zuordnung von Ursache und Wirkung geschuldet: Tristram glaubt, die kurzzeitige Beeinträchtigung seines Vaters im Moment der Ejakulation könnte schreckliche und dauerhafte Auswirkungen auf den jungen Tristram gehabt haben. Trotz dieser Absurdität steckt ein Körnchen Wahrheit in dem, was Tristrams Vater über diese verhängnisvollen Ereignisse zu sagen hat, nämlich: »Meines 11Tristram’s Unglück begann ja schon neun Monate bevor er überhaupt zur Welt kam[4] Der Beginn des Lebens einer Person ist immer und zwangsläufig auch der Beginn ihres Glücks und Unglücks.

Es gibt also einen ernsten Kern in Tristrams Wehklagen: Für Personen ist es von Bedeutung, was mit dem Embryo geschah, aus dem sie sich entwickelt haben. In diesem Sinne drückte Sterne eine Wahrheit aus, als er mit der Tradition der Epik brach (die in medias res begann und den Hintergrund durch Rückblenden lieferte) und die Art, mit dem Anfang zu beginnen, radikalisierte, nämlich ab ovo: Das Leben beginnt nicht mit der Geburt, und viele Ereignisse, die weit davor liegen, können für das spätere Kind und schließlich den Erwachsenen einen bedeutenden Unterschied markieren. Daraus folgt umgekehrt allerdings nicht, dass das Leben vor der Geburt von Bedeutung ist, wenn daraus keine Person entsteht, die sich daran stören könnte. Wäre Tristram nicht geboren worden, so hätte es niemanden gegeben, der aus der Perspektive der ersten Person gegen die Umstände seiner Empfängnis hätte protestieren können. Die folgenden zwei Annahmen scheinen daher beide wahr zu sein: Erstens ist es für Personen relevant, was mit den Embryonen geschah, aus denen sie sich entwickelt haben, und zweitens ist es für niemanden aus der Perspektive der ersten Person relevant, was mit Embryonen geschieht, die sich nicht zu Personen entwickeln.

Diese beiden Einsichten bilden den Kern meiner Theorie des ungeborenen Lebens. Diese Theorie bietet eine Lösung für die Probleme an, mit denen sich Diskussionen um Abtreibung immer wieder konfrontiert sehen, aber auch – und mit besonderem Nachdruck – für jene Kontroversen, die im Kontext neuer biomedizinischer Technologien aufkommen. Zu diesen Technologien gehören zum Beispiel die Stammzellforschung, die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die genetische Manipulation. So müssen etwa für die Stammzellforschung Embryonen zerstört werden, um menschliche embryonale Stammzellen zu gewinnen, die für wissenschaftliche Forschung und medizinischen Fortschritt wichtig sein könnten.[5]12Die PID erlaubt es Eltern, sich Embryonen in vitro auszusuchen. Die genetische Manipulation könnte es Eltern schon bald ermöglichen, tödliche oder gravierende genetische Defekte von Embryonen zu heilen oder sie körperlich oder geistig so zu optimieren, dass die menschliche Natur der zukünftigen Kinder entscheidend verändert wird. Die beiden letztgenannten Technologien, also die PID und die genetische Manipulation, werden manchmal in der Kategorie »Reprogenetik« [reprogenetics] zusammengefasst.[6] Diese Klassifikation wird vorgenommen, weil beide Technologien im Zusammenspiel mit reproduktiven Verfahren das Ziel verfolgen, Personen zu erzeugen, die entweder nach gewissen Merkmalen selektiert oder genetisch manipuliert wurden. Im Verlauf dieses Buches werde auch ich »Reprogenetik« an einigen Stellen als Abkürzung für PID und genetische Manipulation verwenden.

Diese neuen Technologien stellen uns vor zwei Arten von Herausforderungen. Die erste betrifft die Rechtfertigung von Praktiken, in deren Vollzug Embryonen zerstört werden. Obwohl diese Thematik aus den Kontroversen um die Abtreibung bekannt ist, war es dort möglich, Fragen danach, was wir Embryonen schulden, erfolgreich zu umgehen. Das Recht einer Frau, ihre Schwangerschaft zu beenden, konnte stets verteidigt werden, indem man sich auf ihr Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Integrität berief. Im Falle von Embryonen, die außerhalb des weiblichen Organismus erzeugt werden, also Embryonen in vitro, gibt es allerdings kein ähnlich zwingendes Interesse, an das wir appellieren könnten. Daher ist es wichtig, einen neuen Ansatz zu entwickeln, der uns darüber aufklärt, ob Embryonen zu Forschungs- oder Selektionszwecken zerstört werden dürfen.

Die zweite Herausforderung ist neu: Sie betrifft Praktiken, die 13darauf abzielen, Embryonen, die zu Personen werden, genetisch zu selektieren oder zu manipulieren. Das Problem besteht darin, dass der Frage, wie wir unsere Beziehung zu diesen Embryonen verstehen sollten, bisher nicht sorgfältig nachgegangen worden ist. Wie sollen wir Embryonen, die sich zu Personen entwickeln, behandeln, damit den Personen, zu denen sie werden, durch unser Verhalten kein Unrecht geschieht?

In diesem Buch entwerfe ich eine Theorie, die beiden Arten von Herausforderungen begegnen kann, indem sie darlegt, inwiefern unsere normativen Verpflichtungen gegenüber Personen unseren Umgang mit Embryonen informieren sollten. Das Buch besteht aus zwei Teilen, die je drei Kapitel umfassen. Der erste Teil behandelt vor allem jene Herausforderung, die sich aus Technologien ergibt, in deren Vollzug Embryonen zerstört werden. Dagegen steht im zweiten Teil die Herausforderung im Vordergrund, mit der uns Praktiken konfrontieren, die darauf abzielen, genetisch veränderte Personen zu erzeugen. In den folgenden Abschnitten gebe ich einen kurzen Überblick über die Argumente der einzelnen Kapitel.

Im ersten Teil dieses Buches (Kapitel 1-3) mache ich geltend, dass Embryonen, die sich zu Personen entwickeln, in Antizipation der Achtung, welche diesen Personen geschuldet wird, behandelt werden sollten. Sie sollten so behandelt werden, weil es für lebende Personen von Bedeutung ist, was mit den Embryonen geschah, aus denen sie entstanden sind. In Kapitel 1 entwickle ich daher das von mir so genannte »Prinzip der zukünftigen Personalität« (PZP) [personhood dependent principle]. Dieses Prinzip erläutert, warum wir den Embryonen, die einmal Personen sein werden, eine bestimmte Art des Schutzes schulden. Dieser Ansatz bringt natürlich einige Schwierigkeiten mit sich. So ist nicht klar, wer – von einem beschreibenden Standpunkt aus betrachtet – unter die Kategorie »Person« fällt und in welchem Maß Neugeborene oder Embryonen Teil dieser Kategorie sein können. Ich schlage daher eine mögliche Art vor, den Begriff der Person zu konzipieren (wobei ich anerkenne, dass es andere Arten geben mag, die gleichermaßen zu meiner Theorie passen): Diesem Vorschlag zufolge gehören all diejenigen Wesen zur Kategorie der Person, die zu moralischem Handeln imstande sind. Das schließt sekundär auch jene ein, die vertraute Teile unserer sozialen Welt und menschlicher Abstammung sind. Hingegen können Ungeborene, so behaupte ich, nicht in dieser 14Weise unter die Kategorie der Person subsumiert werden. Weil sie notwendigerweise auf die Entwicklung im Körper einer Frau angewiesen sind, befinden sie sich strukturell in einer Lage, in der sie nicht vor ihrer Zerstörung geschützt werden können – also nicht so geschützt werden können, wie dies bei Personen der Fall sein sollte.

Diejenigen Embryonen hervorzuheben, die zu Personen werden, wirft natürlich zwei Fragen auf. Erstens: Woher können wir wissen, welche Embryonen sich zu Personen entwickeln werden? Und zweitens: Wer verfügt über die Autorität, darüber zu bestimmen? Offensichtlich können wir nicht mit Gewissheit sagen, aus welchen Embryonen Personen werden und aus welchen nicht. Doch solange bestimmte Embryonen zu Personen heranwachsen könnten, sollten wir dem von mir so genannten »Prinzip der Vorsicht« [precautionary principle] folgen und sie so behandeln, als würden sie es auch tatsächlich tun.

Demnach gilt: Solange Embryonen vom Organismus einer Frau vollständig abhängig sind oder deren Existenz, wie es bei Embryonen in vitro der Fall ist, eine solche Verbindung erfordert, kann die Frau sich dafür entscheiden, ihre Unterstützung überhaupt nicht oder nicht weiter zu gewähren. Solange sich also nichts daran ändert, wie Menschen auf diese Welt kommen (solange es zum Beispiel keine künstlichen Gebärmütter gibt), sind es letztlich immer Frauen (oder sollten es sein), von deren Handlungen es abhängt, ob Embryonen zu Personen werden oder nicht. Diese Tatsache, so schlage ich vor, sollte uns auch dazu bewegen, die Rede von Embryonen als »potenziellen« Personen neu zu überdenken: Wenn sich eine Frau nicht dazu bereit erklärt, einzelne Embryonen auszutragen, dann gibt es schlicht keine potenzielle Person. Anders verhält es sich, wenn die Frau mit der Schwangerschaft einverstanden ist. In Fällen dieser Art sollte die Achtung für Personen auch eine affirmative Haltung hinsichtlich ihrer Erzeugung nach sich ziehen. Diese Haltung mag sogar Gründe dafür liefern, es Frauen (die dazu gewillt sind) zu erlauben, Embryonen, die aus Fruchtbarkeitsbehandlungen stammen, auszutragen – vielleicht sogar gegen den Willen der biologischen Eltern dieser Embryonen.

Die letzte Aufgabe des ersten Kapitels ist es, genauer zu klären, was es heißt, Embryonen in Antizipation jener Achtung zu behandeln, die wir den Personen schulden, zu denen sie sich entwickeln werden. Ich zeige, dass sich hieraus keine Verpflichtung für Frauen 15ergibt, ihre Schwangerschaften fortzuführen. Sie müssen keineswegs sicherstellen, dass sich neue Personen entwickeln

In den Kapiteln 2 und 3 teste ich die Anwendbarkeit meiner Theorie, indem ich ihre Attraktivität für zwei vollkommen unterschiedliche politische und rechtliche Kontexte erörtere – Deutschland und die Vereinigten Staaten. Es handelt sich dabei um zwei Länder mit geradezu entgegengesetzten Herangehensweisen an den moralischen Wert von Embryonen.

Kapitel 2 widmet sich der Diskussion der Situation in Deutschland. Diese ist schon deshalb faszinierend, weil die offizielle Haltung bemerkenswerten Nachdruck auf den Schutz menschlicher Embryonen legt – und das aus Gründen, die überwiegend säkular sind. Die Abtreibungsdebatte begann in Deutschland zu einer Zeit, in der die jüngere Vergangenheit des grausamen medizinischen Missbrauchs allen Beteiligten noch bewusst war. Als Resultat gewann der Begriff der menschlichen Würde – der die Würde von Embryonen einschließt – überragende Bedeutung und hat sie bis heute behalten. All dies hat zu einem rechtlichen Rahmen geführt, der Embryonen in vivo vom Augenblick ihrer Einpflanzung und Embryonen in vitro vom Augenblick der Empfängnis schützt. Dennoch sind die Ausnahmen von der allgemeinen Regel beachtlich, insbesondere im Fall von Embryonen in vivo. Tatsächlich sind sie so beträchtlich, dass in Deutschland eine einigermaßen liberale Abtreibungspraxis herrscht.

Viele halten die deutsche Herangehensweise an die Fragen der Abtreibung für besonders scheinheilig. Allerdings ist sie in Bezug auf alle weiteren Fragen, die Embryonen betreffen, sei es nun in vivo oder in vitro, ähnlich inkonsistent. So wird etwa jemand, der fahrlässig einen lebensfähigen Fötus (vor der Geburt) tötet, zumindest strafrechtlich nicht belangt. Das gleiche Recht verbietet es hingegen einer Frau abzutreiben, weil Embryonen angeblich vom Augenblick der Einpflanzung an menschliche Würde und ein Recht auf Leben besitzen. Was Embryonen in vitro betrifft, so genießen einige von ihnen mehr Schutz als Embryonen in vivo: Während Erstere vom Augenblick der Empfängnis an geschützt sind, dürfen Letztere vor der Einpflanzung zerstört werden. Im Gegensatz dazu werden andere Embryonen in vitro gar nicht geschützt (zum Beispiel Embryonen, die von einer Frau ausgetragen werden müssten, die nicht die biologische Mutter ist).

16Diese Widersprüche sind meiner Meinung nach aufschlussreich. Sie zeigen, dass die Tatsache, dass es für den Schutz einiger Embryonen vom Augenblick der Empfängnis an gute und wichtige Gründe gibt, keineswegs impliziert, alle Embryonen sollten in demselben Maße geschützt werden. Allerdings überzeugt die Art und Weise nicht, in der in Deutschland Embryonen je nach Kontext anders bewertet werden. Insbesondere wird die Unterscheidung zwischen Embryonen, die Schutz verdienen, und solchen, die zerstört werden dürfen, aufgrund willkürlicher und mitunter vorurteilsbehafteter Gründe getroffen. Mit »vorurteilsbehaftet« meine ich solche Gründe, die entweder auf problematischen Einstellungen bezüglich der Rolle von Frauen im Reproduktionsprozess beruhen oder die nichttraditionelle Familienstrukturen diskriminieren. Ich denke, dass das PZP an dieser Stelle von Nutzen sein kann. Da Deutschland ohnehin unterschiedliche Arten von Embryonen verschieden behandelt, erlaubt es das PZP, diese Unterscheidungen weniger willkürlich, weniger vorurteilsbehaftet und kohärenter zu machen, indem es zwischen Embryonen unterscheidet, die zu Personen werden, und solchen, für die dies nicht gilt.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem Schutz von Embryonen in den Vereinigten Staaten. Die USA sind ein interessanter Vergleichsfall, weil Embryonen, insbesondere frühe Embryonen, dort moralisch völlig anders bewertet werden. Diejenigen, die für ein Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch eintreten (die so genannten Pro-Choice-Aktivisten), haben in der Abtreibungsdebatte keine kohärente Theorie des moralischen Wertes von (frühen) Embryonen entwickelt. Darüber hinaus gibt es keine Gesetze, die die Zerstörung von Embryonen zu Forschungs- oder Selektionszwecken verbieten. Statt also, wie in Deutschland, Widersprüche zu produzieren, offenbart die Situation in den Vereinigen Staaten eher einen blinden Fleck: Es besteht die Gefahr, Embryonen, die zu Personen werden, schutzlos zu lassen. Wenn es aber für Personen von Bedeutung ist, was mit den Embryonen geschah, aus denen sie sich entwickelt haben, erzeugt dies eine beunruhigende Situation – sie macht Embryonen äußerst anfällig für alle möglichen schädlichen Eingriffe der vorhergehenden Generation. Die Frage ist, ob es für Abtreibungsbefürworter und Unterstützer von Technologien, die die Zerstörung von Embryonen beinhalten, wichtig ist anzunehmen, es gebe gar keine Gründe, zumindest einige Embryonen mit 17besonderer Achtsamkeit zu behandeln. Meiner Ansicht nach ist dies nicht der Fall. Das PZP stellt daher eine attraktive Lösung dar, um den angesprochenen blinden Fleck zu umgehen. Es eröffnet einerseits die Möglichkeit, Embryonen zu schützen, die sich zu Personen entwickeln. Andererseits erlaubt es Frauen, ihre ungeborenen Föten abzutreiben, Eltern, bestimmte Embryonen mittels PID auszusortieren, und Wissenschaftlern, Embryonen zu Forschungszwecken zu verwenden.

Wenn ich im ersten Teil des Buches dafür eintrete, dass Frauen durch ihre Handlungen entscheiden dürfen, wer geboren wird, könnte dies nahelegen, dass es ihnen auch erlaubt ist zu entscheiden, wie zukünftige Person auf die Welt kommen. Es wäre ihnen also erlaubt, ihre Kinder genetisch nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen oder im vermeintlich »besten« Interesse ihrer Kinder zu manipulieren. Im zweiten Teil dieses Buches (in den Kapiteln 4-6) zeige ich jedoch, dass dies nicht der Fall ist, zumindest nicht ohne eine Reihe von Beschränkungen. Diese folgen aus dem, was es bedeutet, Personen – inklusive zukünftiger Personen – als eigenständig und gleichwertig zu behandeln.

Damit widerspreche ich den prominentesten liberalen Ansätzen hinsichtlich der genetischen Manipulation zukünftiger Personen. Ich beginne daher den zweiten Teil dieses Buches, indem ich in Kapitel 4 drei solche liberale Ansätze diskutiere. Zum Auftakt erörtere ich John Robertsons Theorie, der zufolge Eltern aufgrund ihrer reproduktiven Freiheiten dazu berechtigt sind, ihre zukünftigen Kinder sowohl genetisch zu manipulieren als auch zu selektieren. Im Anschluss daran wende ich mich den Ansichten von Ronald Dworkin zu. Dieser glaubt, die neuen Technologien sollten im Namen des moralischen und technologischen Fortschritts eingesetzt werden. Abschließend bespreche ich die Argumente von Allen Buchanan, Dan Brock, Norman Daniels und Daniel Wikler, die sie in ihrem gemeinsam verfassten Buch From Chance to Choice. Genetics and Justice vorbringen, um genetische Interventionen im Namen der sozialen Gerechtigkeit zu befürworten.[7]

Robertson betont insbesondere die reproduktiven Freiheiten erwachsener Menschen. Seiner Ansicht nach haben sie ein Recht, 18jedwede Technologie zu verwenden, die sie in ihrem Versuch unterstützt, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Mehr noch: Sie dürfen dies zu ihren eigenen Bedingungen tun. Wenn also Erwachsene nur bereit sind, Kinder mit einer bestimmten genetischen Anlage zu zeugen, können sie Robertson zufolge aufgrund ihrer reproduktiven Freiheiten die genetische Selektion und auch einige Formen der genetischen Manipulation nutzen, um dieses Ziel zu erreichen. Zudem sind die Formen der genetischen Manipulation, die außerhalb des Bereichs der reproduktiven Freiheiten liegen (das heißt bestimmte Formen der genetischen Optimierung), durch den Ermessensspielraum gedeckt, der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zugesprochen wird. Nach Robertson können Erwachsene zukünftigen Personen, denen sie das Leben schenken, im Grunde nur auf eine einzige Art schaden: Wenn sie die genetische Ausstattung ihrer Kinder auf eine Weise verändern, die diese – als Resultat der Veränderung – unter jenen Schwellenwert bringt, der ein »normales« und gesundes Leben markiert. Diesem Ansatz mangelt es meiner Ansicht nach an Achtung für zukünftige Personen. Sie haben als Personen ein Recht darauf, so akzeptiert zu werden, wie sie auf die Welt kommen (also ohne manipuliert worden zu sein). Von ihnen kann nicht erwartet werden, für ihre Geburt so dankbar zu sein (weil man ihnen die Nichtexistenz erspart hat), dass sie freudig alle Bedingungen akzeptieren, die ihre Eltern an ihre Geburt geknüpft haben.

Während Robertson die reproduktiven Rechte der Erwachsenen allzu ernst nimmt, legt Dworkin zu großen Nachdruck darauf, den wissenschaftlichen Fortschritt und die Optimierung der Gattung nicht zu behindern. Seine Begeisterung für die neuen Technologien ist so groß, dass er gewillt ist, konventionelle moralische Begriffe, die diesen Technologien im Wege stehen oder ihre Anwendung in bestimmten Fällen fragwürdig erscheinen lassen, über Bord zu werfen. Allerdings bleibt nicht nur unklar, was Dworkin unter »konventionellen« moralischen Begriffen versteht, sondern es ist auch rätselhaft, warum er diese zugunsten von neuen Technologien verabschieden will, anstatt sie zu verwenden, um die neuen Technologien zu kontrollieren. Sein Ansatz versäumt es, die legitimen Ansprüche irgendeiner der beteiligten Personen zu beachten. So berücksichtigt er nicht den Anspruch von Frauen, von Verfahren verschont zu werden, die im Namen von Embryonen ihre körperliche Integrität verletzen. Und er berücksichtigt auch nicht den 19Anspruch zukünftiger Personen, als die eigenständigen Individuen akzeptiert zu werden, zu denen sie sich – ohne genetische Manipulation – einmal entwickeln werden.

Der umfassendste und überzeugendste Ansatz stammt von Buchanan et al. Im Namen der Chancengleichheit halten sie Eltern teils dazu an, teils erlauben sie ihnen, eine Reihe genetischer Veränderungen an ihren ungeborenen Kindern vorzunehmen – sowohl zu Behandlungs- als auch zu Optimierungszwecken. Das zentrale Problem ihres Ansatzes besteht darin, dass sie missverstehen, was es heißt, das Recht zukünftiger Personen auf eine offene Zukunft zu achten. Sie glauben, dieses Recht beziehe sich vor allem auf die absolute Anzahl von Möglichkeiten, die einem Kind offenstehen. Damit entgeht ihnen aber gerade, dass der Anspruch eines Kindes auf eine offene Zukunft auch das Recht des Kindes auf genau die Zukunft umfassen kann, die es hätte, wenn niemand in sein genetisches Erbgut eingreifen würde. Mit anderen Worten: Sie verstehen nicht, dass eine offene Zukunft nicht nur eine quantitative Dimension besitzt, sondern auch eine qualitative. Darüber hinaus überschätzen Buchanan et al. auch, was Eltern überhaupt darüber wissen können, was für ihre Kinder »am Besten« wäre. Zugleich aber unterschätzen die Autoren den Unterschied zwischen den gewohnten Arten, die Entwicklung eines Kindes zu beeinflussen, etwa durch Sozialisation einerseits und durch genetische Manipulation zukünftiger Personen andererseits. So ist Sozialisation ein langwieriger und äußerst interaktiver Prozess, während genetische Manipulation unmittelbar und in keiner Weise interaktiv ist.

Zusammengefasst lautet mein zentraler Kritikpunkt an den liberalen Eugenikern, dass sie nicht genügend Nachdruck auf die beiden Bedingungen legen, die notwendig sind, um intergenerationale Beherrschung zu vermeiden. Eine Situation intergenerationaler Beherrschung liegt dann vor, wenn die Angehörigen einer Generation Entscheidungen für die Mitglieder einer anderen Generation treffen können, ohne deren Interessen berücksichtigen zu müssen und ohne dass Letztere diese Entscheidungen anfechten könnten. Wären liberale Eugeniker stärker sensibilisiert für diese Gefahr intergenerationaler Beherrschung, würden sie bemerken, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, die Interessen zukünftiger Personen ausfindig zu machen (und sie würden dann wahrscheinlich nicht die These vertreten, dass Eltern eine Reihe von Veränderungen im 20»besten« Interesse der Kinder vornehmen dürfen). Auch würden sie anerkennen, wie wichtig es ist, zukünftigen Personen die Möglichkeit zu lassen, den Entscheidungen ihrer Eltern zu widersprechen (und sie würden daher keine Eingriffe vorschlagen, die zukünftigen Personen schlicht »angetan« werden, so wie es etwa bei der genetischen Manipulation der Fall ist, ohne die Maßnahmen dem Kind auf interaktive Weise zu vermitteln – wie dies bei Sozialisation und Erziehung geschieht).

Diese Überlegungen leiten unmittelbar über zu Kapitel 5, in dem ich Argumente von Jürgen Habermas detailliert diskutiere. Im Namen ebenjener liberalen Werte, die die zuvor diskutierten Autoren in Anspruch nehmen, um genetische Selektion und Manipulation zu befürworten (nämlich Freiheit und Gleichheit), weist Habermas die meisten Verwendungsweisen dieser Technologien zurück. Er glaubt, dass es von entscheidender Bedeutung ist, der »natürlichen Lotterie« entsprungen und nicht durch andere Personen designt worden zu sein. Habermas ist sich der Probleme sehr genau bewusst, die aus der Verschärfung der schon bestehenden Asymmetrie zwischen den Generationen erwachsen können. Daher treibt ihn die Sorge um, genetisch manipulierte Individuen könnten sich nicht länger als ungeteilte Autoren ihres eigenen Lebens und als Gleiche gegenüber denen begreifen, von denen sie genetisch verändert wurden. Für Letztere besteht wiederum die Gefahr, die Achtung sowohl für die zukünftigen Personen zu verlieren, die sie gestalten, als auch für Personen im Allgemeinen (sie selbst eingeschlossen). Diese psychologischen Auswirkungen könnten die Fähigkeit von Personen auf beiden Seiten des genetischen Gestaltungsprozesses untergraben, miteinander in einer moralischen Gemeinschaft auf der Grundlage egalitärer und universeller Prinzipien zu kooperieren. Meiner Ansicht nach hat Habermas insofern recht: Menschen geht die genetische Ausstattung anderer Personen, ob nun zukünftiger oder gegenwärtiger, nichts an. Allerdings sehe ich das Hauptproblem, anders als er, nicht in den psychologischen Auswirkungen auf die genetisch Manipulierten oder in den problematischen Einstellungen derer, die genetische Veränderungen an ihren Nachfahren vornehmen. Das zentrale Problem ist vielmehr, dass genetische Manipulation nicht die angemessene Achtung für die gleiche und eigenständige Bedeutung von Personen bezeugt – unabhängig davon, wann diese geboren werden.

21In Kapitel 6 werde ich daher dafür argumentieren, dass die zentrale Problematik nicht psychologisch, sondern normativ ist. Wir müssen zukünftige Personen in Antizipation jener Achtung behandeln, die wir den tatsächlichen Personen schulden, zu denen sie sich entwickeln. Dies impliziert die Verpflichtung, ihre Unabhängigkeit von uns zu achten und unsere genetischen Eingriffe entsprechend einzuschränken. Nicht nur sollten wir ihre Andersartigkeit und Unabhängigkeit von uns, den Angehörigen der vorhergehenden Generation, anerkennen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass sie hinreichend unabhängig sind von den Mitgliedern ihrer eigenen Generation. Aus der Achtung für die Unabhängigkeit (zukünftiger) Personen ergeben sich daher zwei Arten von Verpflichtungen, eine negative und eine positive. Die negative Verpflichtung besteht darin, grundsätzlich auf genetische Eingriffe zu verzichten und (zukünftige) Personen so zu achten, wie sie auf die Welt kommen. Ich nenne dies unsere Pflicht, die natürliche Unabhängigkeit (zukünftiger) Personen zu achten. Dagegen fordert die positive Verpflichtung bestimmte genetische Veränderungen in jenen Fällen, in denen ansonsten nicht garantiert werden kann, dass Personen mit der körperlichen und geistigen Ausstattung geboren werden, die notwendig ist, um ein minimal unabhängiges Leben zu führen. Minimal unabhängig ist eine Person dann, wenn sie nicht permanent dazu gezwungen ist, von der wohltätigen Hilfe anderer abhängig zu sein, sondern selbst die Arten von (Abhängigkeits-)Beziehungen wählen kann, an denen sie teilhaben möchte. Ich nenne dies unsere Pflicht, die substanzielle Unabhängigkeit (zukünftiger) Personen zu achten.

Diese beiden Arten von Unabhängigkeit sind meines Erachtens notwendig, um intergenerationale Beherrschung zu verhindern. Die erste zielt darauf ab, solche Formen von Beherrschung zu verhindern, die entstehen können, wenn eine Generation genetische Entscheidungen für eine andere trifft. Die zweite Art von Unabhängigkeit zielt hingegen darauf ab, solche Formen von Beherrschung zu vermeiden, die sich ergeben, wenn Individuen gezwungen sind, an Beziehungen teilzuhaben, die sie nicht aus eigenem Willen beenden können.

Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Arten der Unabhängigkeit in einem Spannungsverhältnis zueinander zu stehen. So fordert die eine, Eingriffe in das Erbgut zukünftiger Personen zu 22unterlassen, während die andere gerade solche Veränderungen in bestimmten Situationen verlangt. Den Begriff substanzieller Unabhängigkeit verstehe ich jedoch als einen, der einen Schwellenwert markiert: Sobald die notwendigen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zukünftiger Personen sichergestellt sind, die es ihnen erlauben, ein minimal unabhängiges Leben zu führen, dürfen keine weiteren Eingriffe vorgenommen werden. In all den Fällen, in denen zukünftige Personen schon über diese Fähigkeiten verfügen, sind jegliche Formen genetischer Manipulation zu unterlassen.

Abschließend gehe ich auf fünf mögliche Einwände gegenüber meinem Ansatz ein. Diese ergeben sich im Hinblick auf folgende Fragen: Erstens, was sind die Implikationen für Menschen mit Behinderungen? Zweitens, was bedeutet mein Vorschlag für die Wertschätzung von Abhängigkeitsbeziehungen im Allgemeinen? Drittens, in welchen Hinsichten unterscheidet sich der von mir verteidigte Begriff der Unabhängigkeit von jenem der Autonomie? Viertens, inwiefern schneidet mein Ansatz besser ab als die Vorschläge der liberalen Eugeniker, insbesondere wenn es um die genetische »Imprägnierung« von bestimmten Wert-, Vor- und Geschmacksurteilen durch vorhergehende Generationen geht? Fünftens, können meine Überlegungen das Problem umgehen, dass eine Veränderung der menschlichen Natur problematische Auswirkungen auf die Moral haben kann?

Als Antwort auf die ersten beiden Bedenken behaupte ich, dass mein Ansatz weder Menschen mit Behinderungen herabwürdigt noch die Bedeutung von Abhängigkeitsbeziehungen im Allgemeinen unterbewertet. Er zielt vielmehr darauf ab sicherzustellen, dass Personen – ob nun mit oder ohne Behinderungen – die (Abhängigkeits-)Beziehungen, an denen sie teilhaben möchten, selbst wählen können. Zudem zeige ich, inwiefern sich der Begriff der Unabhängigkeit auf eine geringfügige, aber doch wichtige Art und Weise von jenem der Autonomie unterscheidet: Unabhängigkeit schützt Personen davor, von anderen beherrscht zu werden, und nicht primär davor, durch die eigenen Impulse und Begierden beherrscht zu werden. Auch umfasst mein Vorschlag, so behaupte ich, weniger partikulare und zeitabhängige Urteile als die genetischen Eingriffe, die von liberalen Eugenikern befürwortet werden. Unabhängigkeit ist ein absoluter und kein relativer Begriff und daher weniger anfällig für Veränderungen, die sich aus langfristigen und 23weitverbreiteten genetischen Manipulationen ergeben können. Mit anderen Worten: Meinem Vorschlag zufolge erlaubt es ein IQ von 120 einer Person entweder, ein unabhängiges Leben zu führen, oder er erlaubt es ihr nicht (obwohl es natürlich zutrifft, dass die Frage, ob ein IQ von 120 einer Person ein unabhängiges Leben ermöglicht, von dem Grad der technologischen Entwicklung einer Gesellschaft abhängig sein kann). Im Gegensatz dazu sind die Kriterien, die liberale Eugeniker wie Buchanan et al. geltend machen, wenn sie als Maßstab der Unabhängigkeit den Grad der Wettbewerbsfähigkeit von Personen verwenden, daran gebunden, einen IQ von 120 relativ zu dem IQ aller anderen zu bewerten. Sollten die meisten Menschen irgendwann einmal einen IQ von 140 erreichen, würde ein IQ von 120 die Wettbewerbschancen mindern (ohne allerdings ein unabhängiges Leben notwendigerweise unmöglich zu machen). Abschließend behaupte ich, dass die Befürchtung, die anthropologischen Grundlagen der Moral könnten sich verändern, gegenstandslos ist, weil die Gewährleistung der Unabhängigkeit die menschliche Natur mit großer Wahrscheinlichkeit nicht verändern wird.

Ich beende meine übergreifende Argumentation mit einigen Bemerkungen darüber, wen eigentlich der Ausdruck »Wir« meint, den ich verwende, wenn ich von »unseren« Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Personen spreche: Wer ist moralisch dazu verpflichtet, die Lasten »unserer« Verpflichtungen zu tragen? Ich argumentiere, dass dies nicht notwendigerweise diejenigen sind, die kausal dafür verantwortlich sind, zukünftige Personen auf die Welt zu bringen, also die biologischen Eltern. Vielmehr, so behaupte ich, ist es die Gesellschaft im Allgemeinen, die dafür sorgen sollte, »unsere« Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Personen zu erfüllen, weil individuelle Reproduktion vor allem auch sozialen Zielen dient und nicht einfach nur ein Mittel zur Befriedigung der eigenen Wünsche darstellt.

Das Ziel meiner Theorie des ungeborenen Lebens ist es sicherzustellen, dass das Leben einer jeden Person, die wir erschaffen, für diese zum bestmöglichen »Geschenk« wird. Für die so entstandenen Personen ist das Leben eine Überraschung und voll von gewaltigen Herausforderungen, um die sie nie gebeten haben. Daher müssen – gemäß der Argumentation des ersten Teils dieses Buches – diejenigen, die ein Interesse daran haben, solch zweifelhafte Geschenke 24zu verteilen, sicherstellen, dass die, die diese Geschenke erhalten, physisch geschützt sind; ihnen also vom Moment der Empfängnis an kein Schaden zugefügt wird. Mein zentrales Anliegen im zweiten Teil des Buches ist, dass wir darüber hinaus im Rahmen der uns durch die neuen Technologien eröffneten Möglichkeiten das beisteuern müssen, was die Natur nicht garantieren kann: die angemessene körperliche und geistige Ausstattung, die es Embryonen erlaubt, sich zu unabhängigen Personen zu entwickeln. Jeder weiter gehende genetische Eingriff verletzt dagegen unsere normativen Verpflichtungen gegenüber Personen, denen das »Geschenk« zusteht – ein Geschenk, dem andere Personen nicht ihren Stempel aufgedrückt haben und mit dem auch nicht leichtfertig herumgespielt wurde.

25I. Erzeugung und Zerstörung

27Kapitel 1: Embryonen und zukünftige Personen

Die Abtreibungsdebatte zeigt, wie schwierig es ist, sich auf den moralischen Wert von Embryonen zu einigen.[1] Das macht Fragen so kompliziert, die von Technologien aufgeworfen werden, in deren Vollzug Embryonen zerstört werden, so etwa bei der Stammzellforschung (und, zu einem gewissen Grad, bei Technologien künstlicher Befruchtung und der PID). Während die Frage nach der Zulässigkeit einer Abtreibung im Prinzip allein durch den Verweis auf das Recht einer Frau auf Selbstbestimmung beantwortet werden könnte,[2] ist das bei Fragen, die mit diesen Technologien verknüpft sind, nicht möglich. Das hat etwas mit den Interessen zu tun, die im Kontext der Stammzellforschung oder der PID dem Anspruch auf Leben von Embryonen entgegenstehen. Zu diesen widerstreitenden Interessen gehört der Wunsch von Wissenschaftlern (und zukünftigen Patienten), weitere Einsichten in die Entwicklung von Embryonen zu gewinnen sowie Heilungsmethoden für bisher unheilbare Krankheiten zu finden, aber auch das Interesse potenzieller Eltern, Embryonen mit bestimmten genetischen Defekten auszusortieren. So legitim solche Interessen sein mögen, so ergeben sie sich doch im Kontext anderer Arten von Beziehungen zu Embryonen und sind daher schlicht nicht mit denen vergleichbar, die Frauen geltend machen können: Da sich Embryonen nicht entwickeln können, ohne dass eine Frau gewillt ist, sie auszutragen, ist die Entscheidung der Frau, diesen Prozess zuzulassen oder nicht, von besonderer Bedeutung. Demgegenüber ist weder die Existenz noch die Entwicklung eines Embryos abhängig vom Wissensdrang eines Forschers, dem Verlangen von Patienten nach der Entwicklung neuer Heilmittel oder dem Wunsch von Eltern nach Kindern 28mit einer bestimmten genetischen Ausstattung – wie berechtigt diese Anliegen auch immer sein mögen. Um die Frage beantworten zu können, ob und unter welchen Umständen es legitim ist, Embryonen zu zerstören, benötigen wir daher eine Theorie, die nicht ausschließlich auf Interessen zurückgreift, die mit dem Anspruch von Embryonen auf Leben konkurrieren. Erst wenn eine solche Theorie vorliegt, können wir eine biomedizinische Technologie wie etwa die Stammzellforschung beurteilen.

Dieses Kapitel versucht, genau eine solche Theorie zu entwickeln – eine, die uns dabei hilft, den moralischen Wert von Embryonen so zu begreifen, dass unseren Verpflichtungen ihnen gegenüber in allen Situationen Rechnung getragen wird, in denen ihre Gesundheit auf dem Spiel steht oder ihre Existenz bedroht ist.[3] Dieser Aufgabe werde ich gerecht, indem ich mich auf die mo29ralischen Ansprüche derer konzentriere, die zu schützen wir eine eindeutige Verpflichtung haben – das heißt, indem ich mich auf die Ansprüche von Personen konzentriere. Für wie ungenau und problematisch viele den Begriff der Person auch halten mögen,[4] gehe 30ich doch davon aus, dass wir eindeutige normative Verpflichtungen gegenüber denjenigen identifizieren können, die wir als Personen erachten.[5] Auf Individuen als Personen im normativen Sinne Bezug zu nehmen bedeutet zum Beispiel, dass sie nicht willkürlich getötet oder in eine Lage gebracht werden dürfen, in der es ihnen schlechter geht als in der Situation, in der sie sich ohne unser Zutun befunden hätten.[6] Als individuelle Träger von Rechten werden Personen gemeinhin als nicht ersetzbar angesehen. Zudem nötigt uns unsere Sorge um Personen im Allgemeinen dazu, ihre Interessen ernst zu nehmen.

Wie ich weiter unten etwas ausführlicher darlegen werde (Abschnitt 3), umfassen diese Interessen auch retrospektive Interessen, die sich auf das Wohlergehen der Embryonen beziehen, aus denen sich Personen entwickelt haben. Insofern haben wir gute Gründe dafür, Embryonen, die sich zu Personen entwickeln, in Antizipation der Achtung zu behandeln, die wir den späteren Personen schulden. Ich nenne dies das »Prinzip der zukünftigen Personalität« (PZP). Des Weiteren erkläre ich, dass uns unsere Verpflichtungen gegenüber Personen nicht nur aufzeigen, wie Embryonen, die sich tatsächlich einmal zu Personen entwickeln, (gemäß des PZP) zu bewerten und zu behandeln sind, sondern uns auch grobe Richtlinien dafür liefern, wie wir über jene Embryonen nachdenken sollten, die über die reale Möglichkeit verfügen, Personen zu werden.

Dieses Argument besteht aus vier Schritten: Der erste Schritt skizziert eine mögliche Art, den Begriff der Person zu entwickeln. Ich behaupte, dass diese Kategorie auf moralische Akteure beschränkt ist, das heißt auf Akteure, die sich von moralischen Gründen leiten lassen können. Ich mache jedoch auch geltend, dass es sekundäre Gründe gibt, die moralische Akteure dazu anhalten, den 31