Dekonstruktion, Konstruktivismus, Strukturalismus ... hat man ja alles schon mal gehört. Aber wo liegen die Unterschiede? Und was hat das alles mit mir zu tun? Lange für ihren Mangel an handfesten Theorien belächelt, haben die Geisteswissenschaften in den letzten fünfzig Jahren ein wahres Feuerwerk an Theorien versprüht. Wer kann in diesem Wirrwarr noch den Durchblick behalten? Jochen Hörisch eilt dem verwirrten Laien zu Hilfe. Anschaulich, präzise und immer mit einem Lächeln beschreibt der Literatur- und Medienwissenschaftler die wichtigsten Denkmodelle der letzten fünfzig Jahre, Informationen zu »Risiken und Nebenwirkungen« inklusive.

Jochen Hörisch, geboren 1951 in Bad Oldesloe, lehrt Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität Mannheim. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt Gott, Geld und Medien (2004), Eine Geschichte der Medien (2004) und Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen (2003).

Jochen Hörisch

Theorie-Apotheke

Eine Handreichung
zu den humanwissenschaftlichen Theorien
der letzten fünfzig Jahre,
einschließlich ihrer Risiken
und Nebenwirkungen

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Eichborn AG Frankfurt am Main 2005

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Eichborn AG

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73355-4

www.suhrkamp.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Die Heils- und Heilungs-Versprechen von Theorien

Analytische Philosophie

Anarchistische Erkenntnistheorie

Anthropologie

Bourdieus Theorie des sozialen Feldes, des Habitus und des symbolischen Kapitals

Cultural Studies/Kulturalismus

Dekonstruktion (Jacques Derrida)

Diskurstheorie (Michel Foucault)

Existentialismus

Feminismus/Gender Studies

Gerechtigkeitstheorie (John Rawls)

Hermeneutik

Iconic Turn

Interdisziplinarität

Kommunikationstheorie (Paul Watzlawick)

Konstruktivismus

Kritischer Rationalismus

Kritische Theorie (Frankfurter Schule)

Medientheorie(n)

Metaphorologie (Hans Blumenberg)

Paradigmenwechsel in der Wissenschaft (Thomas S. Kuhn)

Politische Theologie

Postmoderne/Posthistoire

Psychoanalyse (Alfred Lorenzer, Jacques Lacan, Gilles Deleuze, Félix Guattari)

Rezeptionsästhetik

Seinsdenken (Martin Heidegger)

Selbstbewußtseinstheorie

Simulationstheorie

Sprechakttheorie

Strukturalismus

Systemtheorie (Niklas Luhmann)

Totalitarismustheorie (Hannah Arendt,Giorgio Agamben)

Zivilisationstheorie (Norbert Elias)

Nachwort: Kursverluste und -gewinne der Humanwissenschaften

Namenregister

Vorwort

Die Methode des Philosophierens ist es, sich wahnsinnig zu machen, und den Wahnsinn wieder zu heilen.

Ludwig Wittgenstein

 

Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein – und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gifttropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!

Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches

Die Heils- und Heilungs-Versprechen von Theorien

Selig sind für ambitionierte Denker die gar nicht so fernen Zeiten, in denen Groß-Theorien noch allgemeines Heil versprachen. Heute versprechen die meisten humanwissenschaftlichen Theorien allenfalls noch Heilung von spezifischen Krankheiten und Leiden. Gänzlich neu ist die Umstellung von Heils- auf Heilungserwartungen jedoch nicht. Die Geschichte der apothekarischen Abkühlung aufgeheizter und fieberhafter Großkonzepte beginnt im sogenannten christlichen Abendland bemerkenswert früh. Sie hat nämlich fast gleichzeitig mit der Geschichte megalomaner Heils-Konzepte statt. Nur hatte und hat die Geschichte der Heilungsversuche eine viel schlechtere Presse als die der Heils-Anstrengungen. »Was ist Wahrheit?« So lautet die abgeklärte und kurze Frage, die ein hoher römischer Jurist einem Angeklagten stellt, der über eine exquisite Theorie der Wahrheit verfügt. Hat er doch von sich selbst in Worten gesprochen, wie sie selbstbewußter kaum sein könnten: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« (Johannes-Evangelium 14,6) Und diese Worte paraphrasiert er nun unter juristisch verschärften Umständen erneut – es geht um sein Leben: »Jch bin dazu geboren und in die Welt komen / das ich die Warheit zeugen sol. Wer aus der warheit ist / der höret meine stimme.« (Johannes-Evangelium 18,37 in Luthers Übersetzung von 1545) Jesus Christus steht – bald zwei Jahrtausende ist das nun her – vor Pontius Pilatus. Der Angeklagte ist nach Ansicht einer Minderheit unter seinen Zeitgenossen, aus der in einigen Weltgegenden später eine herrschende Majorität wird, ein absolut privilegiertes Wahrheitsmedium, der Richter ein römischer Spitzenjurist. Seine Frage, was denn Wahrheit sei, hat Luther mit einer so knappen wie rätselhaften Randbemerkung versehen: »(Was ist warheit) Jronia est. Wiltu von warheit reden / so bistu verloren.«

Ironisch gemeint ist die Frage des Pontius Pilatus sicherlich. Ironie, so die Minimaldefinition, hat statt, wenn jemand etwas anderes meint, als er sagt. Das ist, wenn man wie Pilatus eine Frage stellt (und auch sonst!), gar nicht so leicht. Luthers Kommentar ist dennoch schnell nachzuvollziehen. Denn er bezieht sich ja nicht auf irgend jemanden, sondern auf den privilegierten Sprechenden, in dem sich Wahrheit nicht nur ausspricht, sondern inkarniert. Das Wort ward Fleisch – wenn man, und eben dies ist die Crux dieser Wahrheitstheorie, den Worten Christi bzw. den Worten derer, die von den Worten Christi Zeugnis ablegen, und später den Worten der Kirchenmänner Glauben schenken will. Worte, die etwas über das Verhältnis von Worten und Sachverhalten aussagen, haben noch dann das letzte Wort, wenn sie behaupten, daß es eine Wahrheit vor und hinter den Worten gibt. Und eben deshalb kann Luther (weiß Gott kein Mann mit einem gebrochenen Verhältnis zur Kraft des Wortes) formulieren, daß verloren ist, wer von der Wahrheit reden will, die doch nur als die Inkarnationswahrheit zu haben ist, die uns überwältigt und verstummen läßt.

Nur als Inkarnation? Pontius Pilatus hält dagegen. Dem Kenner des römischen Rechtes ist die Einsicht geläufig, daß es die Wahrheit sowenig wie die Gerechtigkeit gibt, wohl aber viele divergierende Wahrheits- und Rechtsansprüche. Ihm erscheint als belächelnswertes Religions- bzw. Theorie-Gezänk, was doch den Stoff zu einem welthistorischen Ereignis mit unabsehbaren Folgen liefert. Der Streitwert scheint dem abgeklärten römischen Juristen Pilatus zu gering: es liegt kein Eigentumsdelikt und schon gar kein Kapitalverbrechen vor, allenfalls hat da jemand die politreligiösen Gefühle anderer verletzt. Und so besinnt er sich der tolerant-liberalen Maxime des römischen Rechts, die da lautet: in dubio pro reo. Nicht auszudenken, welche Wendung die Weltgeschichte genommen hätte, wenn Pontius Pilatus den Vertreter einer tatsächlich ungewöhnlichen Wahrheitstheorie wirklich hätte laufenlassen. »Quid est veritas?« Eine alte witzige Tradition hat aus dem Buchstabenbestand dieser Pilatus-Frage eine anagrammatische Antwort geformt: »est qui adest« / der Mann, der vor dir steht. Das Anagramm spielt in der programmatischen Konkurrenz von Theorien um den angemessenen Zugang zur Wahrheit allenfalls eine exzentrische Rolle. Die Theorie, nach der die »wahre« Antwort auf eine Wahrheitsfrage im mutierbaren Buchstabenbestand einer Frage, eines Satzes, einer Wortfolge, eines Namens, eines Verses zu finden sei, ist zu irrwitzig, um wirklich ernst genommen zu werden (was nicht ausschließt, daß ein strenger Wissenschaftler wie der Vater der strukturalen Linguistik, Ferdinand de Saussure, sie propagiert hat). Und sie ist zu witzig, um gänzlich ignoriert werden zu dürfen. Kommt sie doch dem tiefen Witz von Kindern nahe, die einander fragen: »Kannst du die Wahrheit sagen?«, und den, der die Frage mit »ja« beantwortet, dann auffordern, eben dies zu tun. Selbstredend wäre »die Wahrheit« die richtige Antwort: »Kannst du ›die Wahrheit‹ sagen?«

Theorien sind dazu da, die Wahrheit zu sagen. Das ist kein einfaches Geschäft. Denn »Wahrheit« ist nicht nur im Deutschen ein Wort, das sich nur widerstrebend in den Plural setzen läßt. Wir sind enttäuscht, wenn wir mit vielen Wahrheiten konfrontiert werden, statt der einen Wahrheit und nichts anderem als der lauteren Wahrheit zu begegnen. So wie die DDR-Bürgerrechtler enttäuscht waren, die nach Gerechtigkeit verlangten und im vereinigten Deutschland auf viele Rechtsbestimmungen und auf Recht als Verfahren stießen. Die Wahrheit will eine und nur eine sein. Theorien gibt es hingegen im Plural. Das macht ihren Vertretern enorm zu schaffen. Eines der beliebtesten Spiele von Theoretikern ist es nicht von ungefähr, andere Theorien zu bekämpfen, als Irrlehren auszuweisen und zu diskreditieren. Nicht erst seit den Romanen Der Name der Rose von Umberto Eco und Der Campus von Dietrich Schwanitz kann man wissen, daß auch anspruchsvolle Theoretiker dazu neigen, konkurrierende Theorien und durchaus auch ihre leibhaftigen Repräsentanten zu verfolgen. Aus dem Ruf »Auf den Scheiterhaufen mit dem Häretiker!« ist der mildere Impuls geworden: »Der bzw. die VertreterIn dieser oder jener Irrlehre darf an unserer Fakultät keinen Lehrstuhl bekommen«.1

Theoretiker neigen dazu, Theorien allzu ernst zu nehmen. Auch Theoretiker kennen den Willen zur Macht oder, um die mildere Variante der Nietzsche-Formel zu bemühen, den Willen zur »kulturellen Hegemonie« (Gramsci). Deshalb kann aus Geschichten über etwas so Abstraktes und Abgehobenes wie z. B. den mittelalterlichen Theorie-Kampf zwischen Begriffsrealisten und Nominalisten der Stoff werden, aus dem Ecos Bestseller gewebt ist. Wo Tinte fließt, kann auch Blut fließen – nicht nur im Mittelalter. Einer »revisionistischen« oder »trotzkistischen« Theoriefraktion zuzugehören konnte einem Zeitgenossen Stalins schnell das Leben kosten. Daß Theorien auch dann, wenn es nicht unmittelbar um Leben oder Tod geht, so harmlos nicht sind, spüren weltweit zur Zeit viele arbeitslose und verarmte Bewohner von Weltecken, deren Wirtschaft nach dem Bilde des sogenannten Monetarismus eingerichtet wird. Ob es ihnen langfristig besser ginge, wenn sie in Ökonomien nach sozialistischem oder keynesianischem Theorie-Design eingelassen wären, ist der Stoff, aus dem die Theorie-Debatten sind – bzw. waren. Denn dies ist auffällig und war einer der Anlässe, das vorliegende Buch zu schreiben: humanwissenschaftliche Theorien insgesamt haben in unseren Breiten erheblich an Wert verloren.

Die Erregung, mit der 1968 über Fragen wie die diskutiert wurde, ob die Theorien von Marx und Freud an der Universität institutionell vertreten werden sollten, ist gut drei Jahrzehnte später kaum mehr nachvollziehbar. Die daran anschließende Diskussion, ob rationalitätskritische, von ihren Gegnern »irrationalistisch« genannte Theorien wie der sogenannte Poststrukturalismus universitätswürdig seien, war nicht minder erregt, aber schon auf universitäre Zirkel begrenzt. Und heutige humanwissenschaftliche Theorie-Debatten sind Insider-Debatten ohne größeren allgemeinen Erregungswert. Schlechte Werbe-Sätze für das vorliegende Buch! Absehbar ist jedoch das Comeback humanwissenschaftlicher Theorie-Debatten. Denn wer theoretisch einigermaßen geschult ist, sieht in der neuen und neusten Unübersichtlichkeit nach »9/11« mehr – zumindest dies: daß man verworrene Verhältnisse unterschiedlich beobachten und militant different bewerten kann.

Die Gründe für das Fallen der Erregungskurve bei der Diskussion von humanwissenschaftlichen Theorien sind (wie sollte es anders sein?) vielfältig. Drei aber ragen unter ihnen heraus. Erstens hat die Universität und somit die alte und ehrwürdige Stätte der Theorieproduktion ihre impulsgebende Funktion weitgehend verloren – vor allem an »die Medien« (siehe den Artikel → Medientheorien). In den Zeiten hochschwappender Theorie-Diskussionen um 1970 gab es noch keine privaten Hörfunk- und TV-Kanäle, keine PCs, keine E-Mail, kein Internet. Die Universität hatte so etwas wie ein Monopol-Recht auf Theorie-Produktion, gegen das (wie gegen alle Monopole) anzukämpfen reizvoll war. Ein Ziel solcher Kämpfe war klar: »Marx/Freud an die Uni«. Wohin sonst mit ihnen und tutti quanti, die keinen Platz unter dem Dach der Universität fanden? Die Antwort zeichnete sich alsbald ab: Medien-Präsenz statt Uni-Präsenz. Gerade exotisch scheinende Theorien und Themen eigneten sich verblüffend gut für eine mediengesteuerte Ökonomie der Aufmerksamkeit. Lesben, Schwule, Astrologen, Alternativmediziner, Kaffeesatzleser, Ufo-Gläubige, Veganer, Zen-Buddhisten, Graue Panther, Satanisten, Pathophysiker, Schilfrohr-Enthusiasten und unendlich viele Gruppen mehr entdeckten schnell, daß sie in dem Maße medientauglich sind, in dem sie Uni-untauglich schienen. Der Re-Import an die Universitäten lief dann häufig über Um-Etikettierungen wie »Gender studies«, »Ökotrophologie« oder »Vergleichende Religionswissenschaften«; am dramatischen Funktionsverlust der Universitäten hat dieser Re-Import wenig geändert.

Verschuldet haben den Ansehensverlust der Hochschulen nicht nur die bösen Politiker und leere öffentliche Kassen, sondern vor allem ihre Bewohner selbst. Es gibt wenige Institutionen, die intern so sandkastenpsychologisch, so kindlich-narzißtisch, so überbürokratisch, so argumentationsimmun, so hilflos-machtzentriert, so endogam, so inzestuös, so phobisch, kurzum: so irrational organisiert sind wie (deutsche) Universitäten, die doch ein Hort der Ratio sein wollen. Jeder Tendenzbetrieb, jede öffentlich-rechtliche Sendeanstalt, jede Gewerkschaft, jeder Turn- und Gesangsverein, jede noch so obskure Kirche ist der Universität in dieser Hinsicht deutlich überlegen. »Wegen der auch an den Hochschulen (...) immer weiter um sich greifenden Dummheit«2 konnten Romane wie Der Campus von Dietrich Schwanitz noch dann ins Schwarze treffen, wenn sie dafür den Preis einer lustvoll gepflegten Kolportagehaftigkeit zahlen. Es gibt eben nicht nur gute und schlechte Zeiten, sondern auch gute und schlechte Orte für Theorie-Produktion.

Zweitens wechselte die Konjunktur von Theorien immer schneller. Die Stichworte für diese Theorie-Lager übergreifende Diagnose wurden schnell zu geflügelten Worten: »Neue Unübersichtlichkeit« (Jürgen Habermas), »anything goes« (Paul Feyerabend) bzw. »Ende der großen Erzählungen« (Jean-François Lyotard). Selig scheinen im Rückblick die Theorie-Zeiten zu sein, in denen Schopenhauer vor einer Handvoll Hörern genau zu den Zeiten las, in denen Hegels Stimme im überfüllten Nachbarhörsaal der Berliner Universität erklang, um deutlich zu machen: entweder ist man Hegelianer oder von Schopenhauers Pessimismus erfüllt. Willamowitz-Moellendorff vs. Nietzsche, Heidegger vs. Cassirer bzw. Quine, Sartre vs. Aron: solche herrlich binär angelegten Versuche, sich Übersicht zu verschaffen, sind unwiderstehlich; sie finden in Strukturierungsschemata – die ihrerseits von Selbststilisierungstendenzen nicht frei sind – wie Positivisten vs. Kritische Theoretiker, Paris vs. Frankfurt oder Habermas vs. Luhmann stets erneut Fortsetzungen. Und doch ist unverkennbar, daß an die Stelle großer miteinander konkurrierender Erzählungen viele kleine Erzählungen getreten sind. Peter Handke hat dieser Tendenz frühzeitig Ausdruck verliehen, als er in seinem 1977 erschienenen Journal mit dem Titel Das Gewicht der Welt formulierte: »Was es, für mich, vor zehn Jahren noch für Einschüchterungen gab: ›Die konkrete Poesie‹, ›Andy Warhol‹ und dann Marx und Freud und der Strukturalismus, und jetzt sind all diese Universal-Pictures verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr bedrücken als das Gewicht der Welt.«3

Ihren einschüchternden Charakter haben humanwissenschaftliche Theorien weitgehend verloren. Daß die Nach-68er-Generation zu Theoriegebilden aller Art ein eher entspanntes Verhältnis pflegt, hat Florian Illies in seinem Essay Generation Golf handfest spieltheoretisch hergeleitet: »Playmobil ist sicherlich das Prägendste, was unserer Generation passiert ist. Playmobil-Figuren sind unser großes, gemeinsames Schlüsselerlebnis. (...) Früh übte man an den Playmobil-Figuren die Rollenspiele der Erwachsenenwelt – wer jemals ein Plastikhaus von Playmobil geschenkt bekam, für den war es albern, sich je wieder die Mühe zu machen, dasselbe mühsam und weniger schön mit Legosteinen zusammenzubauen. So etwas prägt. Die völlige Gleichgültigkeit der Generation Golf gegen Theoriegebäude jeder Art, ihr Hang zur praktischen Philosophie sind sicherlich ganz maßgeblich geprägt durch das Ende des Lego-Zeitalters.«4 Das vorliegende Buch kann und will den Charme von Playmobil-Zusammenhängen nicht leugnen: auch und gerade das, was wir in seiner Konstruktionslogik nicht durchschauen, funktioniert – wahrscheinlich besser als das, was wir durchschauen, weil wir es (re)konstruieren können. Die wunderbare oder aber unerträgliche Leichtigkeit des Seins (nach Milan Kunderas Romantitel) wurde zu Hochzeiten der Playmobil-Epoche zur sprichwörtlichen Wendung. Das vorliegende Buch bleibt, sich zu Anachronismen bekennend, Impulsen des Lego-Zeitalters verhaftet. Es will die Grundbausteine der einflußreichsten Theorien vorstellen, ihre Baupläne rekonstruieren und die auf ihnen beruhenden Gebäude auf ihre Bewohnbarkeit hin testen, also, um die Baumetaphorik weiter zu strapazieren, nach möglichen Asbestbelastungen fragen.

Ob Playmobil oder Lego: auf unterschiedlichen Ebenen vertrauen beide Spiele darauf, daß es sich lohnt, zu basteln, auszuprobieren und zu spielen. Lego- und Playmobil-Spiele haben für Kinder ein konstruktives (theorietechnisch gesprochen: konstruktivistisches) Versprechen bereit: Ihr braucht euch nicht einschüchtern zu lassen, baut euch eure Spaßwelt. Ihren einschüchternden bis allzu ernsten Charakter haben humanwissenschaftliche Theorien in den letzten zwei Jahrzehnten weitgehend verloren. Nicht aber die neuen Wissenschaften, die so unverkennbar keine Modewissenschaften sind und die seit gut zehn Jahren unser Leben buchstäblich umkrempeln: Informatik und Bio-Genetik. Sie bereiten, um milde zu formulieren, den Humanwissenschaften Schwierigkeiten. Denn sie spucken, nach einem klaren Wort Friedrich Kittlers, in dem einen Fall (Computertechnologie) die Menschen aus, während sie sie im anderen Fall (Gentechnologien) auffressen.5 Auf diesen Feldern aufgefressener oder ausgespuckter Menschen mitzureden, ohne sich sofort lächerlich zu machen, fällt (dritter Grund für den Kursverlust von Theorie-Debatten) sogenannten Geistes- und Humanwissenschaftlern schwer. Mit dem doch offenbar notwendigen Restbestand an intellektueller Redlichkeit bei Debatten über Marxismus, Psychoanalyse, Existentialismus, Dritte Welt, Feminismus, Dekonstruktion, Kritische Theorie und Neue Medien mitzuhalten ist lesewilligen Geisteswissenschaftlern grundsätzlich möglich. Den Quellcode von Computer-Software oder die Gen-Buchstabenfolgen ACGT aber können sie, von exotischen Ausnahmen abgesehen, schlechterdings nicht lesen; was »Nanotechnologie« oder »Neurophysiologie« über allgemeine Assoziationen (wie: Es geht um etwas extrem Kleines, es geht ums Funktionieren des Gehirns) hinaus sein mag und wie diese Wissenschaften grundsätzlich funktionieren, entzieht sich weitgehend ihrem Vorstellungsvermögen und, um das sogleich zu gestehen und Rezensenten die Arbeit zu erleichtern bzw. zu erschweren, auch dem des Autors dieses Buches.

Zu den Eigentümlichkeiten und zur Psychodynamik jeder Theorie-Debatte gehört nun aber das früher oder später erfolgende Eingeständnis, daß wir nie und nimmer auf der Höhe der theoretisch angezeigten Möglichkeiten leben. Alltägliche Unterbietung von Avantgarde-Einsichten ist und bleibt wohl auch eine der wenigen wirklichen Kultur-Konstanten seit Beginn der Neuzeit. Kalauer unterschiedlicher Güte haben das stets erneut auf den Punkt gebracht: Das Niveau ist ungeheuer hoch – es ist nur keiner drauf. Die Sonne ging und geht für uns auch nach den Einsichten von Kopernikus und Galilei noch auf und unter; wir nutzen bzw. mißbrauchen den Computer als Schreibmaschine auch dann, wenn wir seinen Quellcode nicht lesen können; und wir erkranken auch in Zeiten fortgeschrittener Gen-Technologie an Erkältungen. Schon dem ersten Blick der Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug über die Gefilde der jüngeren Theorie-Produktion beginnt, präsentiert sich ein unübersehbares Datum: Die Humanwissenschaften haben ihre zuvor geradewegs rituelle Verpflichtung auf Ernst verloren und sind weitgehend zu fröhlichen Wissenschaften geworden. Odo Marquard schreibt witziger als Edmund Husserl; Peter Sloterdijk formuliert heiterer als Martin Heidegger; Norbert Bolz hat weniger Angst vor dem Sarkasmus als Georg Lukács; Jacques Lacan und Gilles Deleuze kennen weniger Tabus gegenüber Sprachspielen als C. G. Jung; Niklas Luhmann hat mehr Sinn für Komik als Max Weber; Richard Rorty hat mehr Humor als Willard Quine; und Theologen wie Hermann Timm und Klaas Huizing formulieren ironischer und enthusiastischer als Rudolf Bultmann oder Joseph Ratzinger.

Humanwissenschaft ist zur fröhlichen Wissenschaft geworden. Eine Doppel-Diagnose für diese so auffallende wie schwer zu bestreitende Symptomatik liegt (allzu?) nahe: Was nicht mehr im Zentrum steht, darf exzentrisch auftreten. Überdies ist das Leben in den letzten Jahrzehnten (in den Gefilden westlicher Theorieproduktion!) deutlich besser als sein Ruf. Gute Voraussetzungen für einen entspannten Rückblick auf die Humanwissenschaften, die ihren Über-Ernst verloren haben und die bei aller Unterschiedlichkeit die Einsicht in Selbstunterbietungsverhältnisse teilen. Der obligatorische Einwand gegen die »Spaßgesellschaft«, die ihre unheimliche Gewalt noch in den Gefilden der Theorie entfaltet, sticht in diesen Zusammenhängen nicht. Denn der 11. September 2001 sorgte dafür, daß die schlichte Einsicht in die Logik der Unterbietung von fortgeschrittener Theoriebildung nicht nur in lebensweltlichen Alltagskontexten, sondern auch in Makro-Zusammenhängen durchschlägt. Nicht nur wir Individuen orientieren uns alltäglich und lebensweltlich unterhalb des Niveaus von avancierten Theorien – auch die sogenannte Weltgeschichte unterbietet geradezu systematisch ihr mögliches Niveau. So liefert noch das skandalös anachronistische, weil den Stand der Weltgeschichte offensiv zurückwerfende und eben deshalb emblematische Qualität gewinnende Datum »11. September« eine zynische Ermutigung, sich mit Theorien zu beschäftigen, die von Verfallsdaten bedroht scheinen.

Mit Informatik, Genetik und Nanotechnologie läßt sich der Knoten, der durch den 11. September 2001 bzw. den 11. März 2004 angezeigt ist, nicht analysieren, geschweige denn auflösen. Wer hingegen in der Lage ist, mit Theorien und Theoremen umzugehen, die langsam als oldfashioned galten (z. B. mit Psychoanalyse, vergleichender Religionswissenschaft und Ethnologie), vermag möglicherweise doch mehr zu beobachten als der nachtheoretische Kopf. Er beobachtet (sicherlich kopfschüttelnd und dabei allzu festgefügte Gedankenstrukturen aufwirbelnd) vor allem eins: daß es viele Theorien und viele Wahrheiten gibt. Gerade der 11. September 2001 hat drastisch vor Augen geführt, daß eine fast vergessene, dabei den Anfängen unserer sogenannten abendländisch-christlichen Kultur intim vertraute Wahrheitstheorie ein gespenstisches Comeback erlebt: die martyriologische Wahrheitstheorie 6. Ihr zufolge gilt: Wahr ist, wofür ich zu sterben bereit bin. Eine Definition, die Köpfe, die sich selbst als aufgeklärte verstehen, nur zur Verzweiflung treiben kann. Allein, es gibt eben auch Theorien – und sehr wirkungsmächtige, nämlich in tödlicher Konsequenz gelebte dazu –, die an diesem martyriologischen Wahrheitsbegriff orientiert sind. So wie es viele weitere Wahrheitsbegriffe und von ihnen abhängige Theorie-Designs gibt. Um nur einige zu nennen (die Liste ist durchaus unvollständig):

– Der Inkarnations-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was derjenige sagt, in dem das Wort Fleisch ward.

– Der Charisma-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was wir beglaubigen, indem wir einem mitreißenden Charakter Folge leisten.

– Der Konsens-Begriff von Wahrheit: Als wahr soll gelten, worüber wir nach Abwägung aller denkbaren Einsprüche und Argumente Einvernehmen erzielen.

– Der Offenbarungs-Begriff von Wahrheit: Wahr ist die Schrift (und/oder das Ereignis), in der bzw. dem sich ein personaler Gott oder das Absolute zu erkennen gegeben hat.

– Der Evidenz-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was offensichtlich der Fall ist und deshalb einleuchtet.

– Der Kohärenz-Begriff von Wahrheit: Als wahr kann gelten, was in sich stimmig, nicht unbedingt aber auch widerspruchsfrei ist. Dissonanzen können in sich kohärente Dissonanzen sein.

– Der altehrwürdige und über lange Epochen hinweg dominierende Korrespondenz- bzw. adaequatio-Begriff von Wahrheit: Wahr sind die Vorstellungen bzw. Sätze, die Sachverhalten entsprechen.

– Der Konstruktions-Begriff von Wahrheit: Wahr sind unsere Wirklichkeits-Konstruktionen, sofern wir sie als Konstruktionen durchschauen und überdies wissen, daß wir keinen anderen genuinen Zugang zur sogenannten Wirklichkeit haben.

– Der Aletheia-Begriff von Wahrheit: Wahrheit hat statt, wenn sich das Sein so lichtet, so entbirgt (gr. A-letheia = Un-verborgenheit), daß etwas als etwas erfahrbar wird.

– Der Autoritätsbegriff von Wahrheit: auctoritas, non veritas facit legem (Hobbes) – wahr ist, was eine Autorität sagt bzw. festsetzt.

– Der Dezisions-Begriff von Wahrheit: Da Lichtungen, Erleuchtungen und Evidenzen häufig ausbleiben und wir unter Zeitdruck stehen, soll als wahr gelten, wofür wir uns entscheiden (bzw. sich einer, der das Sagen hat, z. B. ein Diktator, sich entscheidet).

– Der Falsifikations-Begriff von Wahrheit: Als wahr sollen Aussagen so lange gelten, bis sie als falsch bzw. unzutreffend überführt sind.

– Der Komplexitätsreduktions-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was Überblick und Orientierung verspricht.

– Der Intensitäts-Begriff von Wahrheit: Wahr(haftig existierend) ist das Leben, das sich selbst spürt – ich glühe, also bin ich.

– Der ästhetische Wahrheitsbegriff: Wahr ist das Schöne und Stimmige.

– Der moralische Wahrheitsbegriff: Wahr ist das Gute.

– Der logische Wahrheitsbegriff: Wahr ist, was aus wahren Aussagen widerspruchsfrei folgt bzw. zu folgern ist.

– Der Kalokagathie-Begriff der Wahrheit: Wahr ist (dritteltautologisch), was zugleich schön und gut und wahr ist.

Selbst in einer exquisiten bis exotisch anmutenden Liste möglicher Wahrheitsbegriffe findet nun ein Wahrheitsverständnis selten Aufnahme, das dem vorliegenden Buch zum Titel verhilft: der apothekarische Wahrheitsbegriff. Mit dem medizinischen Wahrheitsbegriff – wahr ist, was uns heilt; wer heilt, hat recht – ist er eng verwandt. Gerne proklamiert wird dieses apothekarisch-medizinische Wahrheitsverständnis nicht. Schon Petrarca mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, er bleibe unter dem argumentativen Niveau von Philosophie, nachdem er 1366 seine umfangreiche Schrift De remediis urtiusque fortunae vorgelegt hatte (Heilmittel gegen Glück und Unglück oder, wie eine Übersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 1532 titelt: Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen)7. Die Abhandlung enthält übrigens auch Hinweise auf einen apothekarisch-angemessenen Umgang mit der Bücherfülle (De librorum copia): Man solle erst einmal Überblicksdarstellungen lesen. Denn »Bücher haben manche ins Wissen, manche in den Wahnsinn geführt. Schluckt man mehr, als man verdauen kann, dann geht es dem Geist wie dem Magen.«8

Die Gründe für das mäßige Prestige apothekarischer Wahrheitsabhandlungen, selbst wenn sie aus der Feder eines Petrarca stammen, liegen auf der Hand. Heilerfolge sind schwer erklärbar. Wer erfolgreiche Heilung zum Wahrheitskriterium erklärt, muß sich mit heiklen Phänomenen herumschlagen, die geeignet sind, seriöse Wahrheitsbegriffe zu diskreditieren: etwa mit Placebo-Effekten,Wunderheilern, homöopathischen Dosen, Spontanheilungen, Alternativmedizin, Akupunktur, Hexenwissen von alten Kräutern oder Warzenbesprechungen bei Vollmondschein. Nicht auszuschließen, daß humanwissenschaftliche Theorien eine eigentümliche Wahlverwandtschaft zu diesen Sphären unterhalten. In den Blick geriet und gerät das apothekarische Wahrheitsverständnis deshalb allenfalls Randfiguren der Theoriegeschichte wie dem philosophierenden Arzt, Schüler Kants und Lehrer Alexander von Humboldts, Marcus Herz (geb. 1747), der in einer Rezension aus dem Jahr 1772 schrieb: »Die Arzneygelahrtheit stehet ausser der allgemeinen Verknüpfung mit der Philosophie, mit einem Theile derselben noch in einer besondern Verschwisterung, nemlich mit demjenigen, der sich mit der Natur der Seele beschäftigt. Sie, deren Entzweck es ist, den menschlichen Körper in seinem natürlichen Zustande zu erhalten, und alle Veränderungen, die ihn aus dieser Verfassung bringen können, abzuwenden, kann ohnmöglich ihre Vollständigkeit erreichen, ohne Kenntniß desjenigen Gegenstands, der eine so fruchtbare Quelle von Veränderungen in dem menschlichen Körper enthält.«9

Hervorgetreten ist der Rezensent Marcus Herz später (1786) mit einem Buch, das den bemerkenswerten Titel trägt: Versuch über den Schwindel.10 Schwindel ist ein vieldeutiges Wort. Wir spüren Schwindelgefühle, wenn unsere vermeintlichen Fundamente aus den Fugen geraten. Und es fällt uns häufig schwer, zwischen erschwindelten und seriösen Aussagen zu unterscheiden. Dann kann es sich lohnen, bei Theorie-Pharmaka Zuflucht zu suchen. Von einem, der nicht weiß, was an seiner ihm vertrauten Biographie erschwindelt ist, und der darüber Schwindelgefühle entwickelt, erzählt auch W. G. Sebalds im Jahr 2000 erschienener Roman Austerlitz. Darin heißt es: »Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche an meinem Krankenbett in der SalpÞtrière brachte mir Marie aus der Bibliothek ihres Großvaters ein 1755 in Dijon herausgegebenes Arzneibüchlein pour toutes sortes de maladies, internes et externes, inveterées et difficiles à guerir, wie es auf dem Titelblatt hieß, ein wahrhaft vollendetes Beispiel der Buchdruckerkunst, in dem der Buchdrucker selber, ein gewisser Jean Ressayre, in einer der Rezeptsammlung vorausgeschickten Adresse die frommen und wohltätigen Damen der oberen Stände daran erinnert, daß sie von der höchsten, über unseren Geschicken waltenden Instanz zu Werkzeugen des göttlichen Erbarmens auserkoren seien, und daß, wenn ihre Herzen den Verlassenen und Beladenen in ihrem Elend sich zukehrten, sie dadurch auf sich sowie die übrigen Mitglieder ihrer Familie vom Himmel alles Glück und allen Wohlstand und Segen herabziehen würden.«11

Die Pointe dieser Passage ist subtil und doch schnell ersichtlich. Hilfe findet der in der berühmten Pariser psychiatrischen Klinik Liegende und an allen möglichen äußeren und inneren, schwer zu heilenden Krankheiten (»toutes sortes de maladies, internes et externes«) Leidende nicht in der Einnahme von Essenzen, sondern in der Lektüre eines Buches. Wahr sind dem apothekarischen Wahrheitsbegriff zufolge Theorien und Theoreme, die auf Heils-Versprechen verzichten, aber uns zu helfen und zu heilen vermögen. Wahrheit steckt in den Büchern, die uns mit neuer Kraft und frischen Denk-Motiven beleben, die aufgrund angemessener Diagnosen vielversprechende Remedien vorschlagen und die zugleich (auch ohne avancierten Rückgriff auf Derridas Abhandlung La pharmacie de Platon) zumindest ahnen, daß es gute Ab-Gründe dafür gibt, wenn das griechische Wort »pharmakon« beides meint: Heilmittel und Gift. Eine gute Apotheke zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie über ein fein differenziertes Angebot an Pharmaka verfügt. Zu Recht sind wir gegenüber einem Apotheker mißtrauisch, der (ein running gag in Westernfilmen) alle Leiden mit ein und demselben Medikament zu mildern verspricht: Whisky hilft immer, egal, ob der Kranke an Epilepsie, Erkältung, Impotenz, Herzinfarkt oder Hautausschlag leidet.

Daß die Welt aus den Fugen ist, ist seit dem Beginn der Neuzeit und philologisch genauer: seit Shakespeares um 1600 geschriebenem Hamlet zum geflügelten Wort geworden. »The time is out of joint – Die Zeit ist aus den Fugen. / Und ich bin nicht gekommen, sie wieder einzurichten.« Groß-Theorien, die versprechen, die aus den Fugen geratene Welt und mit ihr die ins Schwindeln geratene Zeit wieder einzurichten und uns dem Heil entgegenzuführen, haben aus schnell nachvollziehbaren Gründen einen gewaltigen Kursverlust erlitten. Theorien, die bei ihren Zielsuchen von Heil auf Heilung umstellen, haben demgegenüber den Charme der Bescheidenheit. Sie wissen, daß sich Pharmaka verbessern lassen; sie wissen, daß spezifische Erkrankungen je spezifische Heilmittel erfordern; sie wissen, daß Essenzen ihr Verfallsdatum, ihre Risiken und ihre Nebenwirkungen haben; sie wissen, daß pharmakon Arznei, aber eben auch Gift heißen kann12; und sie wissen, daß eine Arznei auch mal das Problem und nicht die Lösung sein kann.

Die vorliegende Theorie-Apotheke versucht zu rekonstruieren, welche Theorien auf welche Probleme ansprechen und welche Nebenwirkungen, Kontraindikationen und Risiken sie haben. Sie will Grundzüge, Grundgesten und Grundbegriffe derjenigen Theorien vorstellen und prüfen, die in den letzten fünfzig Jahren das Sagen hatten und zum Widerspruch reizten. Daß auch die in der vorliegenden Theorie-Apotheke gegebenen Referate zum Widerspruch reizen werden und sollen, liegt auf der Hand. Geht es doch um die pointierte, produktive Vereinfachungen nicht scheuende Darstellung von haltbaren Grundgedanken – und um den Verdacht, daß es mit der Haltbarkeit dieser Grundgedanken mitunter schlecht bestellt ist. Daß es bei dieser Präsentation zu Ungerechtigkeiten kommen muß, da man unsichere und umstrittene Theorien ebensowenig aus sicheren theoriejenseitigen Sphären beobachten kann, wie man die Welt oder die Gesellschaft von außen beobachten kann – diese Botschaft glaubt der Autor der vorliegenden Theorie-Apotheke dem schlichten Faktum eines Pluralismus von Theorieentwicklungen in den letzten Jahrzehnten entnehmen zu dürfen. Und auch dieses: daß man mehr und komplexer beobachten kann und das »Leben« nicht an Intensität verliert, wenn man an der unzeitgemäßen Lust festhält, »Theorie« zu treiben.

Das aus dem Griechischen stammende Wort »Theorie« meint soviel wie »Schau«. »Das deutsche Wort ›Theorie‹«, so beginnt der einschlägige Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, »wird im 16. Jahrhundert aus spätlateinisch ›theoria‹ entlehnt, das seinerseits auf das griechische Wort ›theoria‹ (›Anschauen‹, ›Betrachtung‹, dann ›Erkenntnis‹) zurückgeht. ›Theorein‹ ist von dem Nomen ›theoros‹ (*thea-(F)-oros eigentlich ›der eine Schau sieht‹) abgeleitet, das früh den Abgesandten der Polis zur Teilnahme an Götterfesten und Orakeln bezeichnet. Schon antike Erklärer leiten den ersten Bestandteil des Kompositums ›theoros‹ etymologisch vom Wort für Gott (›theos‹) her.«13

Der Affinität von Theoria und Theos vertrauend, aus der Position Gottes die Welt beobachten – wer möchte das nicht (können)? Viele wären gar bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen: bei Gott und also (irdisch) tot zu sein. Gott sieht alles. »Wie unfein«, lautet Nietzsches Einspruch gegen diesen alten Satz. Man muß nicht so feinsinnig sein wie Nietzsche, um theoretische Bedenken gegen hybride Theoriekonstruktionen zu erheben. Wer wie Gott alles beobachten will, muß noch Gott selbst und also den letzten Beobachter beobachten. Daß solche Suchen nach Letztbeobachtungen und Letztbegründungen sich schnell in vielfach aufgewiesene Dilemmata verwickeln (etwa in infinite Re- und Progresse oder in mengentheoretische Widerspruchsstrukturen), liegt auf der Hand und läßt sich also unschwer beobachten. Dennoch gibt es immer wieder erneut ernsthafte Versuche, Theorien so anzulegen, daß sie »Letztbegründungen«, unhintergehbare Gewißheiten und Letztinstanzen liefern. Der Gestus der vorliegenden Theorie-Apotheke ist ein anderer: sie staunt erst einmal darüber, wieviel ernsthaft vorgetragene Theorien es gibt – das also gibt es alles, so viele Fächer und Schubladen muß die Theorie-Apotheke haben. Sie geht vom schwer zu bestreitenden Faktum aus, daß es Gläubige und Ungläubige gibt, Kantianer und Hegelianer, Empiristen und Logiker, Idealisten und Materialisten, Existentialisten und Psychoanalytiker, kritische Rationalisten und kritische Theoretiker, Systemtheoretiker und Dekonstruktivisten, FeministInnen und Feministen und und und. Sie alle haben eine Aussicht darauf, ihre Bücher zu publizieren; sie alle können grundsätzlich auf Lehrstühlen oder Redakteurssesseln oder Lektorensofas sitzen bzw. liegen; sie alle können möglicherweise auch darüber klagen, daß es ihnen nicht gelingt, den ihnen angemessenen Raum einzunehmen; und sie alle können konkurrierende Theorien schlechtreden.

Die Vielzahl all dieser Theorien sinnvoll zu ordnen setzt zumindest eine massive Entscheidung voraus – eine theoretische Entscheidung. Man kann Theorien z. B. nach ihren Gegenstandsbereichen anordnen: die Rezeptionsästhetik hat anderes zum Thema als die Psychoanalyse, die analytische Philosophie interessiert sich für andere Probleme als die Anthropologie, Systemtheorie handelt schlechthin von allem und zumal von gewichtigen Differenzen, Feminismus »nur« von kleinen Unterschieden. Man kann Theorien z. B. im Hinblick auf ihre Grundorientierungen zu überschauen versuchen und also danach anordnen, ob sie eher idealistisch oder materialistisch, einheits- oder differenzbetont, progressiv oder konservativ gestrickt sind. Man kann Theorien z. B. nach ihrem Design und ihrem Geltungsanspruch anordnen: wollen sie Letztbegründungen liefern bzw. unhintergehbare Größen ausweisen, oder halten sie auch etwas kleiner dimensionierte Einsichten bereit? Man kann Theorien z. B. danach unterscheiden, ob sie von Frauen oder Männern vorangetrieben bzw. hochgeschätzt werden. Man kann Theorien z. B. danach einteilen, ob sie der Kunst genuine Einsichten und ein sachlich relevantes Wissen zutrauen oder eben nicht (man kommt dann übrigens zu sehr aufschlußreichen Konstellationen: so unterschiedliche Köpfe wie Freud, Adorno, Heidegger, Sartre, Derrida, Feyerabend und Luhmann wären dann der pro-ästhetischen Sphäre zuzurechnen, die analytische Philosophie, Popper, Habermas und die Informatik weisen dem Ästhetischen keine Erkenntnis-, sondern allenfalls kompensatorische Funktionen zu). Man könnte natürlich auch tollkühn zwischen wahren Theorien und Irrlehren unterscheiden.

In den abgeklärten und antihierarchischen Zeiten der Postmoderne liegt es nahe, die Risiken solch massiver Vorentscheidungen zu vermeiden und ein Buch über die relevanten und meistdiskutierten Theoriemodelle der letzten fünfzig Jahre so neutral und funktional wie möglich, also alphabetisch anzuordnen. Alte Pflanzen wie Knoblauch oder klassische Medikamente wie Aspirin können bekanntlich zu neuer großer Form auflaufen, wenn man die Entdeckung macht, daß sie noch viel mehr leisten, als man ihnen bislang zugetraut hat (z. B. Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Krebs-Prophylaxe). Für eine historische Anordnung der Artikel spräche hingegen die Vermutung, daß Theorien auf manifeste oder verborgene Probleme reagieren, deren Anamnese lohnt und die sie kurieren wollen. Jemand schreibt Theorien, so wie ein Arzt ein Pharmakon verschreibt – aufgrund von Krankheits- und Problemdiagnosen (und häufig auch aufgrund von erfolgreichen Problemlösungen, die Folgeprobleme freisetzen). Die Probleme, Krankheiten und Lösungen können unterschiedlich dimensioniert sein: Heideggers Sprache deliriert und steckt an – also bedarf es des Antidots der analytischen Philosophie; der Wahnsinn der Nazis fand Zustimmung nicht nur bei einem dem Tiefsinn gewogenen Philosophen wie Heidegger, sondern auch beim sogenannten gesunden Menschenverstand – also bedarf es auch der Kritik des gesunden Menschenverstandes; die Pille ermöglicht die elegante Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung – nicht also, wohl aber auch deshalb hat der Feminismus Konjunktur.

Nach einem berühmten und vielzitierten Wort Hegels ist »Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« In der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts erinnert Hegel an den alten Spruch »Hic Rhodus, hic saltus« und damit an die so schlichte wie tiefe realphilosophische Einsicht, daß alles Tun und Lassen – inclusive der Theorieproduktion – raumzeitlich koordiniert ist, um dann fortzufahren: »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt. / Mit weniger Veränderung würde jene Redensart lauten: / Hier ist die Rose, hier tanze. / Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen.«14

Hegels Worte sind, trotz oder gerade wegen ihrer Lust an esoterischen Anspielungen auf rosenkreuzerisches Ideengut, verblüffend apothekarisch. Erblicken sie doch das Ziel der Beschäftigung mit Theorie darin, sich hic et nunc seiner Gegenwart zu »erfreuen«. Daß dieser hedonistische Zug kein intellektueller Ausfall, sondern vielmehr die eigentliche Pointe von Hegels antignostischem Immanentismus ist, belegt ein Blick auf seine Enzyklopädie, deren letztes Wort15 »genießen« heißt. Wer Aug’ in Aug’ mit manifesten Problemen und Leiden in »denkender Betrachtung« (um eine Lieblingswendung Hegels zu zitieren) dennoch seine Gegenwart genießt und sich ihrer erfreut, hat das Äußerste erreicht, was Theorie eröffnen kann. Lapidar stellt Hegel fest, »daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte«16, und läutet damit als letzter Groß-, Mega- und Superphilosoph selbst ausdrücklich das postmetaphysische Zeitalter ein, in dem viele auf spezifische Einzelprobleme fokussierte Theorien (des Rechts, der Kunst, der Politik, der Erziehung, der Wirtschaft, der Sprache etc.) die eine Philosophie beerben.

Wie es fraglos zeitspezifische Gründe für die Konjunktur von Existentialismus und Kritischer Theorie, Strukturalismus und Systemtheorie, Psychoanalyse und Dekonstruktion gibt, gibt es auch gute Gründe dafür, die Abfolge von Theoriemoden mit einer hegelianischen Geste als begründete und als abgründige zu verstehen. Zu den Abgründigkeiten der Zeit um den Wechsel vom zweiten zum dritten Jahrtausend gehört nun allerdings die Erfahrung seltsamer Gleich- und Ungleichzeitigkeiten, die gegen eine historische Anordnung der Theorie-Apotheke spricht. Wir machen heute nicht nur vieles gleichzeitig, was früher einander nachgeordnet war: z. B. Telefonieren und Auto fahren, Fernsehen und Essen, Joggen und Lesen (lassen: Audio-Books). Wir machen auch jenseits solcher profanen Entwicklungen gleichzeitiger Lebenstechniken die Erfahrung, daß kein Verlaß mehr auf sinnvolle Zeitpfeile ist. So kann z. B. auf den Staatssozialismus ein Räuberkapitalismus, auf Avantgarde-Kunst ein Neoklassizismus und auf Säkularisierungsschübe eine altneue Theokratie folgen. Damit nicht genug: all diese und viele Entwicklungslinien mehr überlagern sich gleichzeitig, wie die Konjunktur von Neo- und Post-Komposita anzeigt. Noch ein Grund, es bei der Einrichtung einer Theorie-Apotheke bei den Zufälligkeiten des Alphabets zu belassen.

Die Schwierigkeiten einer historischen Anordnung von Theoriemodellen sind offensichtlich: Vorgeschichte, Anfang und Ende von Theoriemoden sind nur selten präzise zu datieren; es gibt Revivals und Sonderkonjunkturen; und Theorie(mode)n, die aufeinanderfolgen, müssen sich nicht aufeinander beziehen. Am Wert und Klang des Wortes »Mode« lassen sich die Reize wie die Schwierigkeiten eines Rück- und Überblicks über die humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre leicht vorführen. »Mode« war in den fünfziger bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Begriff mit deutlich negativen Konnotationen. »Das ist doch eine bloße Modeerscheinung« hieß: das ist oberflächlich, irrelevant und hat keine Aussichten auf ewigen Bestand. Zumal ernst gemeinte Theorien zielten, Hegels souveränes Plädoyer für das »Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen« ignorierend, auf ewige Gültigkeit.

Wer Moden auch in der Sphäre der Theoriebildung für nichts a priori Verwerfliches hält, ist nun aber tiefsinniger als die Verfechter ewig gültigen Tiefsinns. Denn er weiß (wiederum mit Hegel), daß im reißenden Strome der Zeit nur eines Bestand hat: »die Furie des Verschwindens«. Wer das Glück hat, mehrere Jahrzehnte lang komplexer Gedankengänge fähig zu sein, bleibt offenbar unter seinem Niveau, wenn er 1945, 1953, 1968, 1989 und nach dem 11. September 2001 dasselbe auf dieselbe Weise mit denselben Leit-Begriffen denkt. Unter seinen Möglichkeiten bleibt ein Kopf, der sich »denkender Betrachtung« verschrieben hat, auch dann, wenn er über die modischen Verschiebungen der thematischen Gravitationsfelder geistes-, human-, gesellschafts-, kommunikations-, kultur- oder medienwissenschaftlicher Theorien verächtlich denkt. Schon die angeführten Adjektive, die die Wissenschaften vom Geist zu den Medien geleiten bzw. gleiten lassen, zeigen an, wie Modeanfällig die Projekte der Theoriebildung sind.

Einige dieser Themen- und Leitbegriffsverschiebungen fallen der Eule der Minerva deutlich in die wachen Augen. Es wäre wohl so unsinnig nicht, Erbsenzählerei zu betreiben und einige der stichwortgebenden deutschsprachigen Feuilletons und Kultur-Zeitschriften auf ihre gemeinsamen Schlüsselwörter hin zu befragen. Eine chronologische Anordnung dieser Schlüsselwörter seit den frühen fünfziger Jahren könnte z. B. diese Sequenz ergeben: Existenz – Sein – Abendland – Anthropologie – Humanismus – Sprache – zwei Kulturen – Totalitarismus – Moderne – Selbstbewußtseinstheorie – Gesellschaft – politische Theologie – sexuelle Revolution – Struktur – Diskurs – Medien – System – Postmoderne – Zusammenstoß der Kulturen.

Probleme ändern sich, Systeme ändern sich, Themen ändern sich, Theorien ändern sich; der Satz »tempora mutantur« klingt hingegen alt und hat doch Aussicht auf je aktuellen Bestand. Auch Arzneien sollte man ab und an wechseln – und auf ihr Verfallsdatum achten. Damit soll nicht bezweifelt werden, daß es auch unsterbliche Texte gibt. Z. B. diesen Text Kafkas, der unter dem Titel Von den Gleichnissen steht und unvergleichlich präzise in Probleme des Verhältnisses von Theoriemodellen zur sogenannten Wirklichkeit initiiert:

»Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: ›Gehe hinüber‹, so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle,