Anna B.

In Zusammenarbeit
mit Kerstin Dombrowski

Ich werde die Bilder
im Kopf nicht los

Mein Leben nach dem Missbrauch

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In dieser Reihe außerdem erschienen:
Ela Aslan: Plötzlich war ich im Schatten.
Mein Leben als Illegale in Deutschland
Bader/Braun/Sailer/Schober/Schreiber/Sellmaier:
Die Schüler von Winnenden.

Unser Leben nach dem Amoklauf
Christina Helmis: Mein Lollimädchen-Ich.
Mein Leben mit der Magersucht
Lisa-Marie Huber: Der Tod kriegt mich nicht.
Mein Leben mit der Leukämie
Julia Kristin: Online fühle ich mich frei.
Mein Leben im Netz
Josephine Opitz: Auf dem Laufsteg bin ich schwerelos.
Mein Leben als Model im Rollstuhl
Angela S.: Dann bin ich seelenruhig.
Mein Leben als Ritzerin
Mihrali Simsek: Mit 18 mein Sturz.
Mein Leben im Gefängnis
Sabrina Tophofen: So lange bin ich vogelfrei.
Mein Leben als Straßenkind

Zu diesem Buch wird eine Unterrichtserarbeitung erstellt.
Informationen darüber erhalten Sie beim
Arena Verlag, Würzburg, unter Telefon 0931/79644-0
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Aus Datenschutzgründen wurden die Namen im nachfolgenden Text
teilweise von der Redaktion geändert.

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1. Auflage 2014
© 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Zitat S. 69: Seite »Trauma (Psychologie)«.
In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
Bearbeitungsstand: 21. September 2013, 09:40 UTC.
URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Trauma_(Psychologie)&oldid=122735136
(Abgerufen: 23. September 2013, 08:58 UTC)
Einbandgestaltung: Juliane Hergt, unter Verwendung eines Fotos von
© plainpicture/André Schuster
Bei der Person auf dem Cover handelt es sich
nicht um die Autorin des Buches.
ISBN 978-3-401-80337-1

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1. Die Anzeige

»Pro Jahr werden wegen sexuellen Missbrauchs 12000 bis 15000 Anzeigen erstattet. 92 Prozent der Opfer sind im Alter zwischen 6 bis 14 Jahren. Schätzungen von Experten gehen allerdings von 100000 bis 300000 Missbrauchsfällen pro Jahr aus – das bedeutet, dass nur jeder 7. bis 25. Fall angezeigt wird.«

Veit Schiemann, Pressesprecher Weißer Ring e.V.

Umständlich hantiert der dickliche Polizist an der kleinen Videokamera herum, die oben an der Decke hängt. Dann ruft er »Jetzt?« und lauscht hoffnungsvoll in den Flur. »Nee, noch immer nix!«, brüllt seine Kollegin aus der Technik zurück, die im Nachbarraum vor dem Monitor sitzt und darauf wartet, dass sie endlich das Kamerabild empfängt. Kommissar Krause verzieht genervt das Gesicht. Ich sehe ihm an, dass er am liebsten laut fluchen würde, sich aber zusammenreißt, weil ich ja hier sitze und ihn beobachte. Bemüht freundlich lächelt er stattdessen zu mir herüber, entschuldigend die Achseln zuckend, um sich dann weiter mit der Kamera zu beschäftigen. Dazwischen brummt er so aufmunternde Dinge wie »Gleich haben wir's!« oder so.

Mir egal, von mir aus kann er noch stundenlang weiter an dem Ding schrauben. Oder auch Tage. Oder mich am besten gleich nach Hause schicken.

Ich fühle mich elend. Unendlich grenzenlos elend. Klitzeklein, ausgeliefert und verloren. Ich versuche, ruhig zu atmen, weil ich mal gelesen habe, dass das in Stresssituationen helfen soll. Leider merke ich nichts davon. Am liebsten würde ich davonlaufen. Aber ich kann nicht. Zumindest habe ich das Gefühl, nun nicht mehr davonlaufen zu können. Was würde das auch bringen? Der Polizist wüsste eh, wo er mich findet. Meine ganzen Daten hat er ja schon …

Ich ärgere mich. Selbst schuld, dass ich hier sitze. Nur weil ich meine Klappe nicht halten konnte und geheult habe, als mein Ausbildungsleiter mich zum hundertsten Mal gefragt hat, was eigentlich mit mir los ist. Allerdings hat er diesmal nicht lockergelassen. Kein Wunder, ich seh wirklich schlimm aus: übersät mit blauen Flecken, meine Lippe aufgesprungen. Mein Ausbildungsleiter musterte mich lange, als er auf eine Antwort wartete. Dann hat er weitergebohrt und schließlich resigniert den Kopf geschüttelt, als er gesagt hat: »Anna, das kann so nicht weitergehen!« Und da habe ich plötzlich Panik bekommen. Sollte das heißen, dass er mir kündigen will, dass ich meine Ausbildung in der Pressestelle des Unternehmens nicht zu Ende machen darf? Erst habe ich ihn entsetzt angestarrt. Na, und dann habe ich geredet. Oder besser gesagt: geschrieben. Nicht viel, nur vier Worte: »Das war mein Stiefvater.« Meinem Chef war das genug, um mich sofort zur Polizei zu schleppen: »Du musst deinen Stiefvater anzeigen!«, hat er vorher noch gesagt. Und ich habe mich nicht getraut, ihn davon abzubringen. Erst hatte ich ein kurzes, unverbindliches Vorgespräch mit dem Polizisten, in dem er mir dringend riet, die ganze Sache zur Anzeige zu bringen. Und irgendwie erschien mir das in diesem Moment ganz logisch und richtig und deshalb habe ich Ja gesagt.

Nun sitze ich hier. In einem kleinen kahlen Büro. Lediglich in einer Ecke liegt ein bunter Spielteppich, auf dem ein paar Holztiere stehen und ein Stapel übergroßer Lego-Steine. Mir schnürt mein Hals zu. Hier sind wohl häufiger Kinder. Alles Misshandelte oder Missbrauchsopfer?

Unruhig rutsche ich auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Ich fühle mich schrecklich! Kommissar Krause hat mich zu meiner ersten Vernehmung in diesen Raum gebracht. Meiner ersten! Das klingt, als würden noch weitere folgen sollen. Dabei weiß ich schon jetzt, dass ich nichts sagen werde. Ich kann nicht. Mein Körper kann nicht, mein Kopf kann nicht. Alles wehrt sich dagegen, die schmutzigen Worte in den Mund zu nehmen, die das beschreiben, was mein Stiefvater mir jahrelang angetan hat – schon bei dem Gedanken daran schüttelt es mich. Ich möchte nicht daran denken. Nie wieder! Ich will diese Bilder loswerden, sie endlich aus dem Kopf bekommen und nicht wieder heraufbeschwören und auch noch einem wildfremden Mann erzählen.

Schuld, Scham – ich weiß gar nicht, welches Gefühl stärker ist. Ich fühle mich so schmutzig, dass ich mir sicher bin, dass niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollte, wenn er Bescheid wüsste. Deshalb rede ich auch nicht darüber. Selbst meine beiden besten Freundinnen ahnen nichts. Sie wundern sich höchstens, warum ich manchmal so merkwürdig reagiere, wenn es um Jungs geht. Aber ich habe solche Angst, dass sie sich vor mir ekeln. Und Vorwürfe machen. Selbst wenn sie es nicht zugeben, dann zumindest denken: Warum hat sie sich denn nicht gewehrt? Das ist es, was ich mich auch selbst immer frage: Hätte ich mich mehr wehren können? Wäre mir dann alles erspart geblieben? Bin ich selbst schuld an meiner Geschichte?

Ich mustere den Beamten. Kriminalbeamter Martin Krause. Er tut so nett. Ganz verständnisvoll. Noch ist er das vielleicht auch. Aber wenn er gleich meine Geschichte kennt, wird er sicher auch sagen: »Du warst schließlich schon zwölf und kein Baby mehr!« Meistens glaube ich auch, dass ich mich als Zwölfjährige doch schon gegen einen erwachsenen Mann hätte wehren können – gegen meinen erbärmlichen Stiefvater.

»So, ich wäre dann endlich so weit«, sagt Krause nun, nachdem seine Kollegin aus dem Nachbarzimmer begeistert gerufen hat: »Es geht! Martin, es läuft!« An der Kamera blinkt sogar schon ein rotes Licht. Auch das noch! Ich bin wie erstarrt. Während der Kriminalbeamte noch ein paar Ordner auf dem Tisch beiseiteschiebt, erfragt er wie beiläufig meine Personalien. Obwohl er das doch alles schon weiß: Anna B., geboren am 12. Dezember 1989 in Bonn. Dann verschränkt er seine Hände. Kleine Hände. Harmlose Hände. Trotzdem beschleicht mich ein Hauch Panik: Du bist mit diesem Mann alleine im Zimmer. Die Tür ist zu. Die Panik verstopft kurzfristig meine Ohren und sticht in meinem Gesicht. Genau wie im Büro meines Ausbildungsleiters. Als das ganze Dilemma anfing. Dieses Dilemma, meine ich. Dass ich jetzt hier sitzen muss und über etwas reden soll, worüber ich seit zehn Jahren schweige. Schweige, schweige, schweige! Natürlich haben viele gemerkt, dass ich oft unkonzentriert bin, verheult aussehe, dass mein Körper mit blauen Flecken und wulstigen Narben übersät ist, von denen jeder ahnt, dass sie nicht durch diverse Unfälle entstanden sind, sondern dass ich sie mir teilweise selbst zugefügt habe. In einem Anfall von Selbstverletzungsdrang.

Ich atme tief ein. Martin Krause schaut mich erwartungsvoll an.

Krause: »Weshalb sind Sie heute hier?«

Ich: Schweigen.

Krause: »Ihr Ausbildungsleiter hat Sie begleitet. Ist etwas vorgefallen oder warum sind Sie hergekommen?«

Ich: »Nein. Also, ja.« Schweigen.

Krause: »Was denn? Womit hat es zu tun? Könnten Sie mir zumindest einen Anhaltspunkt geben?«

Ich: Schweigen.

Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 17. Juni 2011, 10 Uhr

Das Schweigen fällt mir nicht schwer. Es ist einfach da. Ich weiß, dass es manchen Leuten Stress bereitet, auf eine Frage nicht zu antworten und die Stille danach zu ertragen. Mir macht das nichts. Schon allein deshalb, weil ich keine Worte habe. Sie sind nicht in meinem Kopf. Stattdessen fühle ich, was der Polizist hören möchte. Ich fühle den ganzen Schmerz meiner Kindheit und Jugend. Permanent. Ich höre den schweren Atem meines Stiefvaters, rieche seinen Schweiß, spüre die Schmerzen, die er mir immer zugefügt hat. Höre meine Mutter im Nachbarzimmer, die genau gewusst hat, was ihr Mann mir gerade antut. Habe das Gefühl, den Boden unter mir zu verlieren. Wie früher. Kein Halt. Keine Chance zu entkommen. Und nicht mal eine Mutter, die mich beschützt. Ganz im Gegenteil. »Du kriegst das, was mir zusteht!«, hat sie mir manchmal vorgeworfen. Als ob ich das gewollt hätte! Als ob ich eine Wahl gehabt hätte!

Oder hätte ich die Wahl gehabt? Da ist es wieder: Ich hätte mich mehr wehren müssen!!! Ich bin so wütend auf mich selbst. So wahnsinnig wütend. Und enttäuscht. Und traurig. Und hilflos. Und verloren.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Wie immer. Kommissar Krause sieht mich einfach an und wartet. Dann ändert er seine Taktik.

Krause: »Sind Sie schon länger in der Ausbildung oder haben Sie gerade erst angefangen?«

Ich: »Seit Oktober 2010.«

Krause: »Und was haben Sie vorher gemacht? Sind Sie direkt von der Schule gekommen?«

Ich: »Nein. Ich habe 2008 Abi gemacht. Und danach.« Schweigen.

»Danach habe ich erst mal Pause gemacht.«

Krause: »Inwiefern Pause? Haben Sie zwei Jahre lang gar nichts gemacht oder haben Sie nebenbei gejobbt oder so etwas in der Art?«

Ich: Schweigen.

Krause: »Seit wann wohnen Sie denn nicht mehr zu Hause bei Ihren Eltern?«

Ich: »Gute Frage. Also offiziell umgemeldet habe ich mich direkt an meinem 18. Geburtstag. Aber ausgezogen bin ich eigentlich schon mit 17.«

Krause: »Wieso haben Sie sich dazu entschieden, das Elternhaus so früh zu verlassen? War es nicht praktisch, noch etwas bekocht und betüddelt zu werden?«

Ich: Schweigen.

Krause: »O. k. Anscheinend nicht. Wie haben Sie das denn finanziert? Haben Sie Unterstützung von Ihren Eltern bekommen oder sind Sie bei Freunden oder anderen Familienangehörigen untergekommen?«

Ich:»Nein, ich bin in eine kleine Wohnung gezogen.«

Krause: »Und die haben die Eltern bezahlt?«

Ich: Schweigen.

»Nein, ich habe doch gesagt, die haben mich nicht unterstützt. Ich musste selber zusehen, wie ich klarkomme.« Krause: »Und sind Sie klargekommen?«

Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 17. Juni 2011, 10:15 Uhr

Bei diesen Fragen fühle ich mich in die Ecke gedrängt. Mein Kopf senkt sich ganz automatisch. Ich möchte Kommissar Krause nicht ansehen. Ich möchte mich wegdenken. Was glaubt der denn? Wahrscheinlich hatte Herr Krause ein liebevolles Elternhaus, in dem Mutti gefragt hat, wann er nach Hause kommt, damit dann pünktlich das Essen auf dem Tisch steht. Aber so war mein Zuhause nicht. Früher vielleicht. Als mein Vater noch lebte. Ja, da war es noch eine heile Welt. Vater, Mutter, mein zwei Jahre älterer Bruder Alex und ich. Und mein Pony Pedro natürlich, auf dem ich reiten gelernt habe.

Mein Vater war selbstständig mit einem kleinen Verlag. Es ging uns gut. Finanziell und auch so. Am liebsten erinnere ich mich an unsere schönen Urlaube. In den Herbstferien waren wir meistens in Amerika und Ostern oder Weihnachten im Disneyland Paris, das fand ich besonders toll. Auf der Fahrt haben wir CDs gehört, Kinder-CDs, da haben Alex und ich uns immer durchgesetzt. Und wir haben diese typischen Spiele gespielt: aus Nummernschildern Sätze bilden, wer weiß zuerst ein Tier mit dem Anfangsbuchstaben auf dem Nummernschild?, all so etwas. Dabei haben wir viel gelacht.

Sie haben sich gut verstanden, meine Eltern. Und sie haben sich toll um uns gekümmert. Jeden Donnerstag hatten wir »Mädels-Ausgang«, das heißt, Mama und ich sind alleine losgezogen. Meistens waren wir Eis essen und anschließend durfte ich mir in einem kleinen Spielzeuggeschäft neben der Eisdiele ein Gummitier aussuchen. Die habe ich gesammelt und hatte schon eine richtig große Kiste voll. Das war schön. Jeden Donnerstag dasselbe Ritual …

Mein Vater wollte immer etwas Neues entdecken. Beinahe jedes Wochenende hat er uns mit einer Ausflugsidee oder einer Kurzreise überrascht. Er wollte uns die ganze Welt zeigen.

Und er konnte sie uns auch erklären, denn er wusste unglaublich viel. Alles konnten wir ihn fragen: zu Sternbildern, Tieren, Mathematik-Hausaufgaben – und alles hat er uns geduldig und anschaulich erklärt. Unser Papa war ein toller Vater: geduldig, liebevoll, verständnisvoll und lustig. Wir waren eine richtig glückliche Familie.

Doch dann wurde seine Krankheit schlimmer, von der wir Kinder bis dahin nur wussten, dass er sie hatte und dass sie ihn ein bisschen schwächer machte: multiple Sklerose, eine unheilbare Nervenerkrankung. Früher war er einfach nur ein bisschen wackeliger unterwegs, aber dann ging alles wahnsinnig schnell – plötzlich saß Papa im Rollstuhl. Das war erst mal gar nicht schlimm, also für mich nicht. Schließlich konnte er mir weiterhin Geschichten erzählen und die Welt erklären. Nun musste Mama eben das Auto fahren, wenn wir verreisten. Ich habe ihm geholfen, sich anzuziehen, habe ihm Brote geschmiert und seinen Rollstuhl geschoben. Das habe ich gerne gemacht und mich dabei groß und selbstständig gefühlt. Leider musste er nun auch häufiger für längere Zeit ins Krankenhaus und ich war jedes Mal überglücklich, wenn er wieder nach Hause kam.

Weil das Schlafzimmer im ersten Stock lag, ist Papa irgendwann in unser Gästezimmer im Erdgeschoss gezogen. Ohne Mama. Die konnte ja weiter Treppen steigen und wollte im Schlafzimmer bleiben. Damals habe ich das nicht so verstanden, aber es war wohl schon das erste Anzeichen, dass sich zwischen meinen Eltern etwas veränderte. Meine Mutter führte den Betrieb weiter, mein Vater sollte sie beraten. Aber eigentlich stritten sie nur noch. Ich habe das nicht verstanden. Papa war doch noch immer derselbe. Noch immer der liebevolle, witzige, schlaue Geschichtenerzähler. Aber meine Mutter war nur noch überfordert und genervt, hatte ständig schlechte Laune und meckerte dann auch oft mit uns Kindern rum.

Als ich etwa acht Jahre alt war, kam ich von der Schule nach Hause und Papa war weg. Ohne Vorwarnung hatte er das Gästezimmer geräumt und war in ein Heim gezogen. »Da ist er besser versorgt«, erklärte meine Mutter. Und damit war das Thema für sie erledigt. Für mich nicht, aber ich traute mich nicht, danach zu fragen. Mein Bruder auch nicht. Über Probleme wurde bei uns nicht gesprochen, jeder musste alles mit sich alleine ausmachen. Aber das war okay so. Ich kannte es ja nicht anders.

Ich seufze. Vielleicht fällt es mir deshalb auch extra schwer, dem Polizisten jetzt und hier aus meinem Leben zu erzählen.

Krause: »Nun mal im Ernst: Wie haben Sie das denn bezahlen können? Ich kann mir schon vorstellen, wie teuer das sein muss: eine eigene Wohnung, Nahrungsmittel …«

Ich: »Ich habe halt nebenbei angefangen zu arbeiten.«

Krause: »Und als was? Haben Sie gekellnert oder Zeitungen ausgetragen?«

Ich: »Nein, ich habe mich mit Männern getroffen und dafür Geld bekommen.«

Krause: »Und was haben Sie dann gemacht?Sich einfach getroffen, zusammen hingesetzt, geredet? Und dafür haben Sie Geld bekommen? Das klingt ja nicht so schlecht.«

Ich: »Meine Güte, nein! Natürlich nicht! Natürlich haben die mich nicht fürs Angucken bezahlt. Das wissen Sie doch genau. Natürlich war ich mit denen im Bett, habe mich anfassen lassen, denen tolle Wünsche erfüllt …«

Krause: »Was hat Sie denn auf die Idee gebracht, sich gerade einen solchen Nebenjob zu suchen? Ich meine, nehmen Sie mir es bitte nicht übel, aber es ist ja nicht der beliebteste oder ein angesehener Job. Und Sie sind ja nicht dämlich, sodass Sie auch etwas anderes hätten finden können.«

Ich: »Und wo kann man bitte sonst in so kurzer Zeit so viel Geld verdienen?«

Krause: »Und das ist es Ihnen wert, sich zu verkaufen? Oder hat es Ihnen Spaß gemacht?So wie Sie aussehen, sicher nicht.«

Ich: »Was denken Sie denn? Natürlich hat es keinen Spaß gemacht! Aber immerhin war es meine eigene Entscheidung. War ja schon mal ein Fortschritt. Und meine Güte! Es ist doch eh vollkommen scheißegal, ob man sich nun vom Stiefvater ficken …«

Schweigen

Krause: »Möchten Sie weiterreden? Was hat Ihr Stiefvater damit zu tun?«

Ich: Schweigen

Krause: »Vielleicht verstehe ich es gerade falsch. Dann klären Sie mich bitte auf. Aber hat er Ihnen schon einmal was angetan?«

Ich: Weinen

Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll, 17. Juni 2011, 10:42 Uhr

Es ist raus, denke ich in diesem Moment. Etwas, das seit etwa neun Jahren in mir pocht und hämmert, was mich wütend macht und traurig, weswegen ich mich schmutzig fühle und schuldig. Etwas, das mir jeden Tag auf die Seele drückt, sie kleinhält und einsperrt und zerquetscht und zerhackt. Trotzdem wünsche ich mir sofort, ich könnte das Gesagte zurücknehmen. Aus Angst vor den Folgen, die es haben wird: für mich, meine Mutter. Ich mag gar nicht daran denken … Aber dass es Folgen haben muss, ist mir sofort klar. Sofort.

Ich ärgere mich über mich. Es war nur dieser kurze Moment, als ich wollte, dass Herr Krause mich versteht. Als ich nicht wollte, dass er denkt, ich hätte mich gerne und freiwillig beim Escort-Service beworben, da konnte ich nicht anders. Ich hatte das Gefühl, ich müsste dem netten Herrn Krause diesen ganzen Mist auf den Tisch kotzen, damit ich ihn los bin.

Nun ziehe ich mich wieder komplett zurück. Tränen strömen über mein Gesicht. Tonlos – wie immer. Ich weine vollkommen tonlos.

Bilder kommen in mir hoch, Situationen, die mir die Kehle zuschnüren. Auf keinen Fall werde ich sie hier erzählen können. Ich ärgere mich, dass ich mich nicht besser im Griff hatte und alles für mich behalten habe. Ich bin so doof! Dumm, abstoßend, schmutzig und unendlich blöd!

Hin und her. Aufbäumen und zusammensinken. Schließlich fühle ich mich nur noch kraftlos. Viel zu schwach, um noch irgendetwas zu tun oder zu sagen. Kriminalkommissar Krause betrachtet mich und sagt dann: »Sollen wir eine Pause machen?« Ich nicke. Mehr geht nicht. Am liebsten hätte ich jetzt eine Pause für immer und von allem.

Während wir den Raum verlassen, werfe ich einen vorsichtigen Blick auf meinen verhörenden Polizisten. Nur aus den Augenwinkeln, einen direkten Blickkontakt vermeidend. Ich schäme mich zu sehr für das, was er nun von mir weiß, auch wenn er mir nicht das Gefühl gibt, dass ich mich schämen müsste. Er wirkt eher mitleidig besorgt als angewidert. Er behandelt mich wie ein rohes Ei, als er mich zu einer Sitzecke am Ende des Flurs begleitet – Berührungen vermeidend.

In meinem Inneren fahren meine Gefühle mit meinen Gedanken Achterbahn, ich bin völlig verwirrt. Aber eigentlich auch ein bisschen froh, dass Herr Krause nun nicht denkt, ich hätte zum Spaß als Callgirl gearbeitet.

Es war kein Spaß. Das war es nie. Es war eine Mischung aus Panik und Trotz, dass ich mich dort beworben habe. Ganz spontan, nachdem mein Stiefvater mich mal wieder beim Abspülen in der Küche »überrascht« hatte. Ich konnte seine Übergriffe nicht mehr ertragen!

Meinen Körper jemand anderem anzubieten, schien mir damals die einzige Möglichkeit, von zu Hause ausbrechen zu können. Mein Vater lebte nicht mehr, zu anderen Verwandten hatte ich keinen Kontakt, meine Mutter konnte und wollte mir nicht helfen. Und etwas anderes hätte ich mir nicht vorstellen können. Zur Polizei zu gehen? Absurd. Niemals hätte ich mich das getraut. Ich hatte schon länger über solche Escort-Firmen nachgedacht. So könnte ich den Albtraum Zuhause schlagartig beenden. Ich hätte ganz schnell das Geld für Miete, Kaution, Möbel und Essen zusammen. Wie sonst sollte ich so schnell zu so viel Geld kommen?

Die Anmeldung ging ganz einfach im Internet. Hätte es mehr Mühe gekostet oder hätte ich erst auf einen Rückruf warten oder mich sogar persönlich vorstellen müssen, hätte ich es vermutlich nicht durchgezogen. Aber ich musste nur einen Online-Fragebogen ausfüllen. Beim Alter habe ich geschummelt. Schließlich war ich erst 17 – aber das war denen wohl zu egal, um es richtig zu kontrollieren. Sie wollten lediglich noch ein Foto von mir haben und dann wurden mir schon die ersten Kunden vermittelt. Männer, meistens verheiratet, die sich in irgendwelchen Hotelzimmern mit mir verabredeten, nachdem wir am Telefon geklärt hatten, in welchem Outfit ich erscheinen soll. Mädchenhaft? Kein Problem! Supersexy? Selbstverständlich! Strapse? Alles da! Für zwei Stunden mit mir zahlten die Männer 300 Euro. Einhundert davon musste ich anschließend als Vermittlungshonorar an die Agentur schicken. Das war's.

Natürlich war es jedes Mal anstrengend und kostete Überwindung, sich auf den Weg zu einer solchen Verabredung zu machen. Aber es war allemal besser, sich mit fremden Männern in Hotels zu treffen, als rund um die Uhr meinem Stiefvater ausgeliefert zu sein. Zu Hause wusste ich nie, wann es wieder passieren und wie weit es gehen würde. Dort lebte ich in ständiger Panik und unter Daueranspannung. Bei diesen organisierten Treffen wusste ich wenigstens, was passieren würde. Und ich war es ja gewohnt, meine Gefühle einzusperren und meinen Körper zur Verfügung zu stellen.

Morgens ging ich also in die Schule, nachmittags lernte ich fürs Abi und abends traf ich mich zwei- bis dreimal pro Woche mit irgendwelchen Männern oder mit meinen Freundinnen. Zwischendurch verbrachte ich so viel Zeit wie nur möglich bei meinen geliebten Pferden – zur Seelenpflege.