Montauk
Eine Erzählung
Suhrkamp
Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt dich schon beim Eintritt, daß ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates … Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf daß sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden … denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt … So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; es ist nicht billig, daß du deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest./Mit Gott denn, zu Montaigne, am ersten März 1580.
Ein Schild, das Aussicht über die Insel verspricht: OVERLOOK. Es ist sein Vorschlag gewesen, hier zu stoppen. Ein Parkplatz für mindestens hundert Wagen, zur Zeit leer; ihr Wagen steht als einziger in dem Raster, das auf den Asphalt gemalt ist. Es ist Vormittag. Sonnig. Büsche und Gestrüpp um den leeren Parkplatz; keine Aussicht also, aber es gibt einen Pfad, der durch das Gestrüpp führt, und sie haben nicht lang beraten: der Pfad wird sie zur großen Aussicht führen. Dann ist sie nochmals zum Wagen zurückgegangen. Er wartet; sie haben Zeit. Ein ganzes Wochenende. Er steht und weiß nicht, was er im Augenblick grad denkt … In Berlin ist es jetzt schon drei Uhr nachmittags … Er wartet sonst ungern. Es ist ihr eingefallen, daß sie, um den Atlantik zu sehen, eigentlich ihre Handtasche nicht braucht. Es kommt ihm alles etwas unwahrscheinlich vor, aber nach einer Weile sieht er es als einfache Wirklichkeit: Rascheln in den Büschen, dann ihre Hosen (das verwaschene Hellblau natürlich) und ihre Füße auf dem Pfad, hinter viel Zweigen und Ästen ihr ziemlich rotes Haar. Ihr Gang zum Wagen hat sich gelohnt: YOUR PIPE. Und dann geht sie wieder voran; sie duckt sich da und dort unter den wirren Ästen, und er duckt sich unter den selben Ästen, wenn sie schon wieder aufrecht geht noch immer durch Dickicht. Es ist eine Art von Pfad, nicht immer deutlich, ein verwilderter Pfad. Zuerst ist er vorangegangen: als Mann, der sich hier so wenig auskennt wie sie. Einmal ein sumpfiger Graben, wo er ihr hat helfen müssen, und seither geht sie voran. Das ist ihm auch lieber. Es macht ihr Freude, das zeigt ihr leichter und flinker Gang. Der Atlantik kann nicht fern sein. Hochoben eine vereinzelte Möwe. Im Gehen stopft er die Pfeife und wundert sich, ohne wissen zu wollen, worüber er sich wundert. Stellenweise riecht es nach Blüten; keine Ahnung, was da blüht; es sind fremde Gewächse. Er hat dafür gebürgt, daß er den Wagen jederzeit wieder finden werde, und sie scheint ihm zu vertrauen. Um dann die Pfeife anzuzünden, muß er kurz stehenbleiben, es ist windig, fünf Streichhölzer sind nötig, und sie ist unterdessen weiter gegangen, so daß er sie für Augenblicke nicht mehr sieht; für Augenblicke kommt es ihm wie eine Einbildung vor oder wie eine ferne Erinnerung: dieser Gang mit einer jungen Frau. Eigentlich gibt es viele Pfade oder was wie ein Pfad aussieht; deswegen ist sie stehengeblieben: Wohin jetzt? Die Landkarte, die er gestern gekauft hat, liegt im Wagen; sie würde in diesem Gelände auch nicht viel helfen. Sie gehen nach der Sonne. Kein Pfad für Gespräche. Wo einmal kein Dickicht ist, sieht man das Gelände ringsum: nicht fremd, obschon er noch nie in seinem Leben hier gewesen ist. Das ist nicht Griechenland; eine ganz andere Vegetation. Trotzdem denkt er an Griechenland, dann wieder an Sylt. Es stört ihn, daß immer Erinnerungen da sind. Sie sind schon eine halbe Stunde gegangen. Sie wollen den Atlantik sehen. Sie haben nichts anderes zu tun; sie haben Zeit. Auch ist das nicht in der Bretagne, wo er zuletzt am Meer gewesen ist vor einem Jahr. Die gleiche Küstenluft. Es kann sein, daß er das gleiche Hemd trägt, die gleichen Schuhe, alles ein Jahr älter. Er weiß, wo sie sich befinden:
MONTAUK
ein indianischer Name; er bezeichnet die nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt, und er könnte auch das Datum nennen:
11. 5. 1974
Es gibt nicht nur Äste, die über den Pfad hängen, so daß man sich ducken muß; ab und zu liegt auch ein dürrer Ast auf dem Boden, dann hüpft sie darüber. Sie ist sehr schlank, nicht knochig. Ihre Bluejeans sind bis zu den Waden gekrempelt; ihr kleines Gesäß in der knappen Hose, die sie ohne Gürtel trägt, und in der Seitentasche steckt ein Kamm. Sie ist nicht größer und nicht kleiner als er, aber leicht. Ihr Haar, wenn sie es offen trägt, reicht bis zu den Hüften; jetzt hat sie es hochgeknotet, ein roter Roßschwanz, der beim Gehen pendelt. Da auf den Pfad zu achten ist, sofern das überhaupt noch ein Pfad ist, und da er zudem Ausschau hält, um vielleicht zu erraten, wo sie am besten weitergehen, um aus dem Dickicht herauszukommen, sieht er ihre Gestalt nur von Zeit zu Zeit; ihre helle Bluse in der Sonne, auch ihr Haar erscheint in der Sonne jetzt hell. Oft ist es nur noch eine Ermessensfrage, ob man weitergehen soll; kein Pfad. Manchmal macht sie einen großen Schritt, um auf einen Stein oder auf einen Baumstrunk zu gelangen; ihre langen Beine, doch ihr Schritt etwas zu groß, so daß ihr Körper nicht ohne Mühe hochkommt. Das würde sie auch machen, wenn sie allein wäre: diese scharfe Bewegung mit dem Kopf, um ihren Roßschwanz hinter die Schultern zu werfen. Ob sie an die Küste kommen, erscheint immer fraglicher. Sie gehen aber weiter. Dann wieder, eine Weile lang, sieht es aus, als gehe sie auf einem Seil, Fuß vor Fuß wie eine Seiltänzerin, wobei ihr Oberkörper schmiegsam das Gleichgewicht sucht und findet. Es sieht noch immer nicht nach Düne aus; keine Möwe am Himmel. Ein Mal bleibt sie stehen, um die Ärmel ihrer Bluse hochzukrempeln; hier in der Mulde ist es heiß; kein Meerwind. Wenn sie nebeneinander stehen wie jetzt: die sonderbare Gegenwart zu zweit. Er bemerkt, daß er seine beiden Hände in den Hosentaschen hat, die kalte Pfeife im Mund. Ihr Gesicht: er hat es nicht vergessen, aber sie trägt diese große Dunkelbrille, und ihre Augen sind nicht zu sehen. Ihre Lippen tagsüber schmal, oft spöttisch.
HOW DID I ENCOURAGE YOU?
ihre Frage nicht jetzt, sondern gestern auf der Fahrt hierher; offenbar verwundert es sie, wie es ihn verwundert, wenn er, wie jetzt, neben ihr steht.
WHEN DID I ENCOURAGE YOU?
Sein Flug ist für Dienstag gebucht.
Zuerst habe ich gemeint, sie sei die übliche Kamera-Fee, die bei solchen Gelegenheiten mitkommt, plötzlich in die Hocke geht und knipst, Wünsche hat, wie man sich setzen soll, und jedesmal, wenn man sie endlich vergessen hat, wieder knipst, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Sie hat aber keine Kamera. Sie sitzt nur dabei und schweigt, stört nicht, während der Mann von einer erbärmlichen Zeitung eine volle Stunde lang fragt: HAVE YOU BEEN IN THIS COUNTRY BEFORE etc. Ein Interview zur Person. ARE YOU MARRIED, WHERE IN EUROPE ARE YOU LIVING, DO YOU HAVE CHILDREN etc. Das alles weiß sie nun auch, die junge Frau. Einmal nimmt sie das Telefon ab, weil sie grad daneben sitzt, und erledigt die Sache bestens; ich danke. WHAT ARE YOU GOING TO WRITE NEXT, PLAY OR NOVEL OR ANOTHER DIARY? Ich werde vergnügt, weil das immer die letzte Frage ist, mindestens die vorletzte. Ich sage der amerikanischen Öffentlichkeit: Leben ist langweilig, ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe. Eigentlich kein Witz; er lacht trotzdem. Sie nicht. Als ich ihr später die weißliche Zotteljacke halte, frage ich der Höflichkeit halber nochmals nach ihrem Namen. LYNN, sagt sie, als brauche ich nur den Vornamen. Ihr langes offenes Haar: das ist etwas umständlich beim Anziehen der Jacke, und ich kann da nicht helfen, das steht meiner Hand nicht zu. Eine Frage noch, die letzte: DO YOU CONSIDER YOURSELF A DOOMED MAN? Später stelle ich fest, daß sie ihre Zigaretten hat liegen lassen, ihr Feuerzeug. Es bleibt zwei Wochen lang unter der Lampe liegen, ein billiges grünes Feuerzeug.
Was habe ich hier wirklich zu tun?
Man kann ohne Mantel gehen; Ankunft bei Schneesturm, aber kurz darauf ist es wieder Frühling geworden … Das Frauengefängnis an der Ecke, ein hoher Klotz aus braunem Backstein, ist abgebrochen worden; jetzt ein sandiger Platz, umzäunt von Drahtgeflecht, Tauben gurren im Gehege, doch können sie das Gehege jederzeit überfliegen. Sonst hat sich wenig verändert in zwei Jahren. Die kleinen Bäume in der Neunten Straße, seinerzeit gepflanzt, sind nach wie vor dünn und dürftig; sie grünen aber. (Diese Tapferkeit des Chlorophylls!) Im Drugstore, wo ich wieder frühstücke, bedient noch dieselbe Mannschaft. Die gelben Taxi, die schwarzen glänzenden Müllsäcke an der Straße, die Sirene der roten Feuerwehr. Im Hotel haben sie den alten Kunden erkannt: DID YOU HAVE A GOOD TIME? Ein anderes Zimmer als vor zwei Jahren, die Einrichtung genau die gleiche: der niedrige Tisch mit Marmor, wo man die Füße darauflegen kann, die gelben Ständerlampen, die gelben Bettdecken, der Spannteppich grün, ein Sofa in der Farbe von Jauche und nicht unbequem, zwei Fauteuils in der gleichen Farbe, das vertraute Sausen der air-conditioning, die man aber ausschalten kann; zum Teil kann man die beiden Schiebefenster öffnen, ihre morschen Rahmen hochziehen, die Scheiben sind immer schmutzig. Die niedrige Brüstung dieser Fenster; man muß aufpassen, wenn man in die Straßenkreuzung hinunterschauen will; nur in Träumen gelingt ein Fliegen aus eigener Kraft.
MAY I INTRODUCE YOU
dann überhöre ich die Namen oder vergesse sie sofort, stehe und antworte und weiß nicht immer, wem ich geantwortet habe. Warum macht man das. Es muß sein (meint der Verlag) für das Buch –
LYNN
ich könnte anrufen unter einem beruflichen Vorwand. Ein Abendessen vielleicht; sowie eine Frau mir gefällt, komme ich mir jetzt als Zumutung vor.
HUDSON:
ein paar feiste Möwen auf der Mole, Wiedersehen mit der öligen Spiegelung im Wasser. Ein veralteter Dampfer liegt noch immer am Anker; Ketten mit Bärten aus Tang. Einmal ein Helikopter. Es ist windig, das schwarze Wasser klatscht gegen die Mole, deren Gehölz vor zwei Jahren schon morsch gewesen ist. Ein großer weißer Frachter, der vermutlich am nächsten Tag auslaufen wird, liegt ruhig und unbeweglich, STATENDAM, eine holländische Flagge im Wind. Rückwärts die alte Hochstraße, die zur Zeit in Reparatur ist. Die kleine düstere Bar, wo sie Billard spielen, gibt es auch noch; BLUE RIBBON, die Lichtschrift rot wie Limonade in der Dämmerung. Westwärts findet gerade ein schleimiger Sonnenuntergang statt; ein langer schwarzer Frachter davor. Ein paar Leute auf der Mole, Müßiggänger wie ich. Ein junger Schwarzer mit Fahrrad fährt Slalom. Ein Paar, das umschlungen auf der äußersten Planke sitzt als Schattenriß. Ein Alter mit Hund. Ein anderer Hund ohne Herr. Die langen dicken Taue aus Hanf. Eine Bierdose, die im Wind zu rollen beginnt.
AMERICAN ACADEMY OF ARTS AND LETTERS:
ich erhebe mich und danke.
MUSEUM OF MODERN ART:
ich schwänze die Kunst und sitze im Gartenhof einen ganzen Vormittag. Es kann sein, daß mich Kunst nichts angeht, wenn ich allein bin. Ich genieße es, hier unter den paar Bäumen zu sitzen. Ich sitze in diesem Gartenhof (Moore, Picasso, Calder etc.) seit zwanzig Jahren und länger:
1951
1956
1963
1970
1971
1972
Unterwegs wieder einmal das Gefühl, der Körper sei leichter geworden, ganz leicht, als habe sich die Schwerkraft vermindert beim langen Gehen: alles, was ich einsehe, erscheint auch durchführbar, ich muß es nur nicht aussprechen, sondern tun.
CENTRAL PARK:
ein Gewährsmann hat mich belehrt, daß die berühmten Eichhörnchen gar keine Eichhörnchen sind, sondern Baumratten. Früher gab es hier noch Eichhörnchen. Die Baumratten sind nicht rötlich wie die Eichhörnchen, doch nicht minder zierlich. Man kann ihnen Minuten lang aus der Nähe zuschauen, so zutraulich sind die Baumratten. Der Unterschied zu den Eichhörnchen besteht vor allem darin, daß sie die Eichhörnchen vernichten.
WHITE HORSE:
der Schriftsteller scheut sich vor Gefühlen, die sich zur Veröffentlichung nicht eignen; er wartet dann auf seine Ironie; seine Wahrnehmungen unterwirft er der Frage, ob sie beschreibenswert wären, und er erlebt ungern, was er keinesfalls in Worte bringen kann. Diese Berufskrankheit des Schriftstellers macht manchen zum Trinker.
SANITATION:
immer noch erwache ich viel zu früh. Bevor der Alltag losgeht, führen sie ihre Hunde und Hündchen durch die Straßen, halten sich an der Leine, während die Tiere pinkeln oder scheißen. Eine Hundestunde morgens, eine Hundestunde abends. Man muß eben aufpassen, wo man hintritt. Sie hängen an ihren Hunden und Hündchen, das sieht man, sie haben ein Bedürfnis nach Liebe, die Menschen hier, sie lassen sich von Duftmarke zu Duftmarke ziehen und warten ohne Ungeduld, auch wenn’s regnet. Nur gegen die rote Verkehrsampel lassen sie sich an der Leine nicht ziehen und wehren sich, bis die Ampel wieder grün ist. Eine verschissene Gegend. Einige haben mehr als nur einen Hund. Eine Gegend voll Bedürfnis nach Liebe. Der weiße Wagen mit dem Kreiselbesen erwischt nie alles; ein Rest bleibt immer.
LONG DISTANCE:
Weinen einer Frau durchs Telefon macht mich hilflos, vollkommen hilflos; die Unmöglichkeit, ihr Handgelenk zu fassen – was auch nichts ändern würde.
FIFTH AVENUE HOTEL:
Der Spannteppich erscheint tagsüber (ohne den Schein der gelben Lampen) eher blau, nicht grün. Im Augenblick liegt Sonne darauf, ein schiefes Geviert, aber die Luft um die Beine ist kühl. Ich habe gelesen und gedacht, was ich da lese: plötzlich dieses Gedächtnis der Haut: FRÜHLING, JA, DU BIST’S! nämlich mit Sonne auf diesem Spannteppich, den ich kenne; ich habe ihn einmal geküßt. DICH HAB’ ICH VERNOMMEN! Plötzlich hilft keine Lektüre (FICTION) gegen dieses Gedächtnis der Haut; das macht vor allem die Kühle um die Beine oberhalb der Socken; kein Vogelsang durch das offene Fenster, sondern das Geräusch von Großstadtverkehr, ein ganz bestimmtes: wenn die Busse losfahren bei Grünlicht an der Ecke FIFTH AVENUE/9TH STREET. Wieder lege ich die Füße mit den Schuhen auf den niedrigen Tisch und esse Nüsse aus der hohlen Hand.
MY GREATEST FEAR: REPETITION
Eine amerikanische Studentin aus Yale stellt nicht die üblichen Fragen der Sekundär-Literatur; sie fragt: Will Stiller denn wirklich, daß Julika erlöst werde, oder geht es ihm in erster Linie darum, ihr Erlöser zu sein?
WASHINGTON SQUARE
die Schachspieler an den öffentlichen Steintischen mit dem wetterfesten Schachmuster, darüber Grün mit Vogelzwitschern. Oft bleibe ich lange da stehen, aber immer nur stehen; ich setze mich nicht. Heute hat mich einer gefragt, ein Schwarzer, ob ich Lust habe zu einer Partie. Kein sehr guter Spieler, wie ich vorher bemerkt habe, und trotzdem wage ich’s dann nicht. Kann ich mir keine Niederlagen leisten? Oder keinen Sieg? weil er nichts bewirkt; im Gegenteil, nachher klafft das Bewußtsein meines häuslichen Versagens –
COMMERCE STREET 15
keinen früheren Wohnplatz möchte ich nochmals bewohnen, auch nicht dieses liebliche Haus. Ein Zimmer auf jeder Etage. Im Souterrain die perfekte Küche und ein Eßplatz, wo man sich wie in einer Kajüte fühlt, auch tagsüber mit Lampenlicht; man sieht durch die kleinen Fenster nicht Meeresgischt, sondern Schnee auf dem Trottoir, die Beine von Passanten in Schnee und Matsch, die schnelleren Beine von Hunden. Zuoberst im Haus, wo ich zu arbeiten versucht habe, zittert es am meisten; das Poltern der schweren Lastwagen mit den schweren Anhängern beginnt lang vor dem Morgengrauen, und wenn das verstummt, weil sie vor der Verkehrsampel eine Minute warten müssen, so ist es das andere Poltern der Subway. Trotzdem kommt es mir vor, es sei still im Haus; eine Stille, als sei ich taub. Das leise Summen im Eisschrank, die eignen Schritte, das Geräusch, wenn ich die Zeitung blättere. Ich höre, wenn Post durch den Schlitz der Tür fällt, wenn der Schlüssel in das Schloß der Haustüre gesteckt wird und gedreht. Bin ich taub gewesen? Ich höre, was mir gesagt wird, und glaube es. Eine Platte mit echtem Meeresrauschen (damit man den Straßenlärm nicht höre) habe ich auch gehört; ein freundliches Geschenk –
Wir haben gehört, wie Neruda liest.
VIA MARGUTTA:
das macht die warme Luft, das Licht: plötzlich bin ich in Rom. Nur die architektonische Kulisse stimmt nicht dazu, das sehe ich. Keine Ahnung, was ich in Rom täte; ich bin nur grad in Rom für eine Weile –
GOETHE HOUSE:
ein Arrivierter könnte aussehen wie ein Walroß, die Frauen geben sich nicht nur mit ihm ab, sondern entfalten unverlangt ihren Charme fast ohne Reserve. Erst auf der Straße, anonym im Gedränge, empfinde ich mich wieder als Walroß ganz und gar.
EIGHT STREET BOOKSTORE:
daß man um Mitternacht noch in einem Buchladen stehen kann … ich habe den kleinen gelben Langenscheidt gekauft, um dann, wenn ich darin nachschlage, fast jedesmal das Gedächtnis zu blamieren; nämlich man hat das schon einmal gewußt:
SENSIBLE/SENSITIVE/SENSUAL
Die Nachricht, daß Konrad Farner in Zürich gestorben ist, lese ich im Lift, ohne deswegen mein Stockwerk zu versäumen. Es ist Konrad Farner viel erspart geblieben. Es mehren sich die Toten als Freundeskreis.
OLIVETTI LETTERA
ich kann’s nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht. (Eine literarische Erzählung, die im Tessin spielt, ist zum vierten Mal mißraten; die Erzähler-Position überzeugt nicht.) Diese Obsession, Sätze zu tippen –
PRO MEMORIA
ein französischer Edelmann auf dem Weg zur Guillotine bittet um Papier und Feder, um sich etwas zu notieren, und es wird ihm gewährt. Man könnte die Notiz ja vernichten, wenn sie sich an irgend jemand richtet. Das ist nicht der Fall. Es ist eine Notiz ganz und gar für ihn selbst: pro memoria.
Was ich in New York zu tun habe, wäre in Zürich oder in Berlin auch noch zu tun. In Berzona (Tessin) ist es bereits getan, glaube ich. In Rom? Umweltverschmutzung durch Gefühle, die nicht mehr zu brauchen sind – etwas Verfaultes, weil ich es nie ausgesagt habe oder nie ehrlich genug, nicht mit Bewußtsein verabschiedet. Es wird Zeit. Vorgestern geträumt: daß ich am nächsten Mittwoch hingerichtet werden soll, und ich verstehe nicht, warum am nächsten Mittwoch, ich bin gesund, diese willkürliche Verfügung einer Behörde, die gar nicht Bescheid weiß, einer Behörde ohne Adresse übrigens; keine Chance, Rekurs anzumelden.
Ein andrer Traum:
sie munkeln. Wer? Der Sarg meines Vaters sei geplatzt, das habe ich nicht gewußt, verstehe es aber. Man wird verrückt werden vor Enge. Sie geben mir etwas Süßes, womit man Kinder vertröstet. Passanten. Plötzlich sehe ich nicht ein, warum ich mich in den Sarg legen soll. Sie haben schon eine Art von Kahn bestiegen, alle in Schwarz, sie stehen in diesem Kahn mit langen Rudern. Zürichsee. Es hindert mich niemand, ich laufe, am Geländer finde ich eine lange Rettungsstange, die sich zur Not als Ruder verwenden läßt; nur ist es mühsam, da die Stange keine Schaufel hat. Aber ich werde es ihnen schon zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, worauf ich stehe; eine Art von Floß, ein Brett? Ich stehe und rudere neben ihnen her. Jemand hat mir verraten, wohin sie rudern. Als ich sie endlich eingeholt habe, jetzt neben ihrem Kahn rudere, reden sie mich nicht an; ich höre, was sie reden. Ihr braucht nicht zu munkeln! Sie munkeln auch gar nicht; jetzt wird ihm die Lunge zerplatzen, sagen sie. Kein Zweifel für sie, daß es aus ist mit mir. Das hat noch gefehlt, daß ich rudere. Sie haben angenommen, daß es mir leichterfalle, daß ich keine Schererei mache, daß ich mich nicht wehre. Es bleibt dabei: wir rudern zum Begräbnis. Das sehe ich aber nicht ein, da ich, wie sie sehen, imstande bin zu rudern. Sie sprechen jetzt nicht mehr mit mir; es eilt.
TRATTORIA DA ALFREDO
ich gestehe, daß ich diese Trattoria nicht zufällig entdecke; ich habe sie gesucht, als gäbe es hier ein Gefühl abzuholen: A CAUSE D’UNE FEMME. Ich möchte hier nicht erkannt werden und stehe nur so lang, bis die Pfeife angezündet ist; ein Passant, der hier nichts verloren hat. Gefühl der Scham, daß ich hier stehe zwei Jahre später; Warten auf Grün. Übrigens habe ich die kleine Trattoria nur von außen gesehen; die Stühle auf den kleinen Tischen. Denn es ist früher Vormittag. Um das Interieur zu erkennen, müßte man das Gesicht nahe an die spiegelnde Fensterscheibe halten, die beiden Hände als Scheuklappen, um die Spiegelung zu durchschauen. Das habe ich nicht getan. Es hat mich erschreckt, als ich in der Scheibe meine Gestalt gesehen habe. Sobald dann wieder Grün ist, weiß ich: Eine natürliche Geschichte. Hätte ich denn Schüsse abgegeben? Immerhin habe ich jetzt vergessen, wohin ich eigentlich habe gehen wollen, gehe aber. Ohne Mantel. Es ist kühl, Frühling wie damals, ein klarer blauer Vormittag mit Wind vom Meer. Im Gehen lese ich jede Reklame genau, obschon ich anderes zu tun hätte.
DIE WAHRHEIT IST DEM MENSCHEN ZUMUTBAR
sie kann diesen Satz nicht leiden. Ein Zitat. Sie findet es Kitsch. Was heißt schon Wahrheit! Wir haben gestritten darüber, was Kitsch ist.
MY LIFE AS A MAN
heißt das neue Buch, das Philip Roth gestern ins Hotel gebracht hat. Wieso würde ich mich scheuen vor dem deutschen Titel: Mein Leben als Mann? Ich möchte wissen, was ich, schreibend unter Kunstzwang, erfahre über mein Leben als Mann.
GIACOMETTI:
seine Ausstellung in diesem unmöglichen Museum mit der Spiral-Rampe; Vernissage mit tausend Smokings und mit Damen in langen Roben; dazu sein übergroßes Foto-Porträt: dieses Gesicht! … Wer oder was verleiht Rang? Die Leistung tut es zum Teil. Verleiht einer den Rang sich selbst? Auch der Gescheiterte kann Rang haben. Wodurch? Rang bedeutet noch nicht Ruhm. Ich kenne Leute, die ihren Ruhm verloren haben zur Lebzeit; der Rang ist ihnen geblieben. Rang ist nicht der Glanz des Siegers. Wie bekundet sich Rang? Ich bin Leuten von Rang begegnet, Männern und Frauen, älteren und jüngeren, berühmten und anderen; ich bin Giacometti nie begegnet. Die Begegnung mit Leuten von Rang (sie müssen nicht von der gleichen Fakultät sein) macht Mut auf merkwürdige Weise; sie bedienen sich nicht des Lobes, um Mut zu machen. Sie verleihen Rang, ob sie zustimmen oder widersprechen; noch eine Fehde führen sie in der Erwartung von Rang. Solche Erwartung kann natürlich enttäuscht werden. Bei Leuten von Rang besteht die Erwartung von Rang nicht blindlings, aber unabhängig von Erfolg oder Nichterfolg; sie selber setzen die Maßstäbe. Das kennzeichnet sie untrüglicher als ihre Leistungen, die der andere in vielen Fällen ja nicht beurteilen kann. Ihr Rang beglänzt ihre Leistung. Sie sind nicht immer freundlich; nur lassen sie sich in ihrer Erwartung nicht irritieren, wenn jemand sich gelegentlich unter seinem Rang verhält. Die Selbstzweifel, die ihnen vorgetragen werden, nehmen sie ernst, doch fallen sie nicht auf Selbstbezichtigung herein wie die andern, die, sobald sie nicht mit Allüre überrannt werden, ihre Erwartung unwillkürlich herabsetzen und gnädig werden in einer Art, die alles eine Nummer zu klein nimmt, aber auch alles.
ERYNNIEN
sie zerreißen dich nicht, sie stehen nur an irgendeiner Ecke: Hier oben, im dritten Stock, hast du einmal gewohnt, WAVERLY PLACE/CHRISTOPHER STREET, vor dreiundzwanzig Jahren. Als wüßte ich’s nicht! Ich blicke nicht einmal an die Fassade hinauf, sehe bloß, daß im Parterre ein andrer Laden ist; damals ein Lebensmittelgeschäft, ein lausiges, ich verfügte über 200 Dollar im Monat, die Wohnung kostete 100 Dollar im Monat, einmal fiel mir ein Blumentopf vom Fenstersims und traf niemanden.
Wo werden die Erynnien mich packen?
Neuerdings haben wir ein Kennwort dafür: Anfälle. Jedesmal ein Schrecken für sie, ich weiß, und vollkommen unverständlich. Dabei kommt es zu keiner körperlichen Bedrohung des Partners; sie irrt sich, wenn sie das fürchtet; nicht die mindeste Versuchung dazu. Wenn Tätlichkeit, dann wäre es Tätlichkeit gegen mich selbst: um mich auszudrücken. Ich meine zu verstehen, zu denken, zu erkennen; das allerdings ohne Rücksicht, im Beginn fast gelassen, ohne Rücksicht auf mich oder irgendwen. Ich schreie nicht, im Beginn jedenfalls nicht; allerdings werde ich dann unansprechbar, auch wenn ich eine Weile lang zuhöre. Die Wahrheit, die ich auszudrücken versuche, die ich in diesem Augenblick erkenne, ist selten ein Freispruch für mich. Es kann von Lappalien ausgehen; geradezu lächerlich, eine solche Lappalie überhaupt zu erwähnen. Ich sehe sie als Zeichen, daher nicht als Lappalie; als Zeichen so eindeutig für mich, daß ich jede andere Auslegung kaum ertrage, eine harmlose schon gar nicht. Keine Vorwürfe, nein, ich rede nur von Erkenntnissen. So kommt es mir vor. Im Augenblick ohne jede Angst vor den Konsequenzen, die ich sehe. Meine Rede (Monolog) hat etwas Hinrichtendes; nicht aus Haß. Was soll der Partner? Er soll verstehen, was ich nicht auszudrücken vermag; er soll einverstanden sein. Ich ertrage mich nicht. Ich kann dann nicht aufwachen, wie man aus Träumen, wenn sie unerträglich sind, aufwachen kann. Wie ich’s in diesem Augenblick sehe, so ist es eben, wirklich und so und nicht anders, und ich fühle mich bereit. Wozu? Dann wiederhole ich mich, ich weiß. Kein Zurück in die Vernunft; die Vernünftigkeit verletzt mich, sie erniedrigt mich, sie entfesselt auch noch den Zorn. Dabei habe ich so gelassen begonnen; was ich gemeint habe, ist kein Vorwurf, es ist wichtiger: WAHRHEIT, meine. Wenn ich mir das Hemd zerreiße, so meine ich meine Haut. Ich bitte; offenbar tönt es ganz anders; ich flehe. Dabei ist alles, was ich jetzt sage, nur noch verletzend. Es fällt mir anders nicht ein. In diesem Augenblick möchte ich sterben dafür, daß ich mich ein Mal verständlich machen könnte, ohne Forderung. Nachher finde ich es schade um meinen Zorn; nie hat er den Gordischen Knoten getroffen – ich habe mich auch noch zu entschuldigen.
SWEET’S
es sei das älteste Fisch-Restaurant in der Stadt. Ein Schuppen am alten Markt, abbruchreif seit Jahren. Wer nicht davon gehört hat, würde hier nie eintreten. Über Mittag bekommt man kaum einen Tisch, dann speisen hier die Tätigen aus der WALL STREETEAST RIVERGUIDED TOUR