Die religionstheoretischen Überlegungen, die Peter Sloterdijk in Gottes Eifer und Du mußt dein Leben ändern vorstellte, fanden große Beachtung, lösten allerdings auch Mißverständnisse und kritische Einwände aus. In diesem Band präzisiert Sloterdijk nun, ausgehend von der Sinai-Episode aus dem zweiten Buch Mose, seine Ausführungen zu Monotheismus und Gewalt sowie zur Rolle der Religion in vormodernen Gesellschaften. Er befaßt sich mit der ethnoplastischen Funktion religioider Einheitssemantiken und erläutert, warum wir angesichts dieses historischen Erbes nervös auf jede Form des Fundamentalismus reagieren – ob es sich dabei um radikale Islamisten handelt, um die katholischen Pius-Brüder oder um evangelikale Sekten in den USA.

Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt dort Philosophie und Ästhetik. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt Mein Frankreich (st 4297) sowie Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011.

Peter Sloterdijk

Im Schatten des Sinai

Fußnote über
Ursprünge und Wandlungen
totaler Mitgliedschaft

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73343-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

1.
Verkleinerung der Kampfzone

2.
Über Volksentstehungen im allgemeinen

3.
Das Sinai-Schema: Die integrale Einschwörung

4.
Phobokratie: Zur Proliferation des Prinzips totaler Mitgliedschaft

5.
Metamorphosen der Mitgliedschaft


1. Verkleinerung der Kampfzone

Wer vorhat, zu einem umstrittenen Gegenstand wie den Gewalt-Implikationen des sogenannten Monotheismus, den erwiesenen wie den bloß behaupteten, etwas zu sagen, dürfte gut beraten sein, sich einiger Vorsichtsregeln zu vergewissern. Theologie ist dämonisches Gebiet. Was Thomas Mann in seiner großen Washingtoner Rede von 1945 über Deutschland und die Deutschen hinsichtlich der Musik bemerkte, gilt für das Sprechen über die göttlichen und diesseitig-jenseitigen Dinge nicht weniger. Auch die in derselben Rede getroffene Feststellung, wonach Musik »die der Wirklichkeit fernste und zugleich die passionierteste der Künste« sei, läßt sich ohne nennenswerte Abstriche auf die Beschaffenheit vieler theologischer Lehrstücke übertragen. Nicht selten handeln die Reden über die fernsten und ausweichendsten Größen wie Gott, Allmacht, Heil und Verdammnis mit einer Heftigkeit, wie nur die intimsten Leidenschaftsmotive sie entfachen. Musik und Theologie haben gemeinsam, daß sie, wenn es ernst wird, dem Betroffenen näher sein können als dieser sich selbst, ganz so, wie Augustinus es in seiner Konfessionen-Formel interior intimo meo (»noch innerer als mein Innerstes«)1 ausgesprochen hat.

Mit diesem Warnhinweis vor Augen möchte ich im Folgenden einige Überlegungen notieren, die als Fußnoten zu zwei meiner religionstheoretischen Publikationen aus jüngerer Zeit gelesen werden können: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen (2007) und Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik (2009).2 Jedoch sollten die nachfolgenden Ausführungen auch ohne den Bezug auf die genannten Bücher verständlich sein. Ich bin durch manche Reaktionen von Theologen auf Gottes Eifer daran erinnert worden, daß man gewisse Gegenstände wohl nicht zur Sprache bringen kann, ohne daß sie durch die Erörterung zum Leben erwachen. Es scheint, als hätte ich, indem ich von religiösen Eifer-Systemen in den Monotheismen sprach, bei dem einen oder anderen Leser, namentlich aus Kreisen christlicher Theologen, die Neigung zu eifernder Widerlegung, wenn nicht gar zur Dämonen-Abwehr hervorgerufen. Diese »Widerlegungen« gingen in der Mehrheit von der Unterstellung aus, ich hätte den monotheistischen »Schriftreligionen«, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, unterschiedslos eine »intrinsische« (so die gängige Debatten-Vokabel), anders gesagt eine nicht abstreifbare Gewaltträchtigkeit zugeschrieben und hierdurch das zeitlos gutartige Wesen dieser Religionen mit ihrer manchmal unsympathischen historischen Erscheinung verwechselt. Die entschlossensten Gegner dieser von ihnen selbst aufgestellten These führten dagegen die Behauptung ins Feld, die genannten Religionen, allen voran das Christentum, wollten ihrer Natur wie ihrem Selbstverständnis nach von jeher als befreiende und friedenstiftende Bewegungen verstanden werden. Sie seien allerdings im Lauf ihrer jeweiligen Geschichte durch häretische Verzerrungen und politische Instrumentalisierungen von ihrer authentischen Mission vorübergehend abgelenkt worden.

Angesichts des weitgehend von Projektionen, Fehllektüren und apologetischen Interessen bestimmten Diskussionsverlaufs – der durch die zahlreichen, meist durchaus interessanten Reaktionen auf die etwas früher publizierten Thesen Jan Assmanns zur »Mosaischen Unterscheidung« überlagert wurde – sind mir Zweifel daran gekommen, ob es sinnvoll sei, die Debatte als einen Streit um die adäquate Verwendung des Begriffs »Monotheismus« weiterzuführen. Vor allem stellt die bis zum Überdruß wiederholte Entgegensetzung eines vorgeblich gewaltaffinen Monotheismus mit einem vorgeblich gewaltarmen Polytheismus eine Karikatur dar, die man am besten durch Nichtkommentierung würdigt. Ich möchte daher in den nachstehenden Bemerkungen den Begriff »Monotheismus« soweit wie möglich auf sich beruhen lassen3 und mich statt dessen darauf beschränken, das Phänomen eifernder und potentiell gewaltförmiger Motivierung durch gewisse Religionsnormen zu erörtern, ohne noch einmal auf die logische Konstruktion des Eingott-Glaubens einzugehen.4 Ebenso stelle ich im Folgenden meine in Du mußt dein Leben ändern dargelegten Einwände gegen den Begriff »Religion« beiseite (den ich für einen Pseudobegriff, genauer für eine falsche Abstraktion mit hohem Irreführungspotential halte) und verwende den Ausdruck hier und auf den folgenden Seiten konventionell und ohne Ironie, da ich das aktuelle, schon hinreichend strittige Thema nicht durch die Eröffnung einer zweiten Front verkomplizieren möchte. Daher kann ich mich hier nicht mit dem Vorwurf auseinandersetzen, das zuletzt genannte Werk aus meiner Feder sei »der seit Feuerbach prinzipiellste Angriff auf Religion«5 – was im günstigsten Fall ein doppelsinniges Kompliment, realiter aber einen polemischen Warnruf an die theologische Mitwelt bedeutet. Für den Augenblick begnüge ich mich mit dem Hinweis, daß die übungs-theoretischen Überlegungen in Du mußt dein Leben ändern gerade keinen Angriff auf Religion, sondern einen von Sympathie getragenen Versuch darstellen, die Tatsachen des religiösen Felds durch eine gegenstandsnahe Zweitbeschreibung neu zu erschließen – eben in der Sprache einer allgemeinen Übungstheorie, allerdings verbunden mit dem Anspruch, zu einer Abklärung des allenthalben verfestigten Religionen-Mißverständnisses beizutragen.6

Ich gehe in dem hier vorliegenden Essay von der Annahme aus, daß nicht die Einzahl oder Mehrzahl in den Gottesvorstellungen von Kollektiven oder einzelnen bei der Freisetzung von Gewalthandlungen den Ausschlag gibt. Für die Disposition zur Gewaltanwendung entscheidend ist vielmehr die Form und Intensität der Absorption von Glaubenspraktikanten durch das Normensystem, dessen Befolgung sie ihr Dasein verschreiben. Taucht also in den nachstehenden Überlegungen der Begriff »Monotheismus« noch gelegentlich auf, bezeichnet er nicht so sehr eine Gruppe theologischer oder metaphysischer Vorstellungen. Ich verwende ihn, sofern er sich nicht ganz vermeiden läßt, bis auf weiteres lediglich als Chiffre für einen historisch erfolgreichen Komplex hochgetriebener psychoreligiöser Motiviertheit.


2. Über Volksentstehungen im allgemeinen