Seit einigen Jahren wimmelt es in der ostukrainischen Metropole Charkiw von Leuten mit ausgefallenen Geschäftsideen und dem Gespür für Marktlücken. Die einen gründen die Bestattungsfirma »House of the Dead« und blamieren sich mit ihren Power-Point-Präsentationen in Budapest. Andere widmen sich den »Besonderheiten des Organschmuggels« und handeln an der EU-Außengrenze mit Visa und Prostituierten. Mit ihren genialen Einfällen besiegen sie ihre existentielle Verzweiflung – zumindest vorläufig.
Serhij Zhadan, Chronist seiner Generation, erzählt von den Abenteuern der Transformationszeit: aggressiv, temporeich und witzig.
Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk geboren, ist der populärste ukrainische Schriftsteller seiner Generation. Seit 1995 publizierte er zahlreiche Gedichtbände, seit 2005 auch Prosa. Bei Suhrkamp erschien 2006 seine in Wien entstandene Lyriksammlung Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts (es 2455). Es folgten 2007 die Romane Depeche Mode (es 2494) und Anarchy in the UKR (es 2522). Serhij Zhadan lebt in Charkiw.
Hymne der demokratischen Jugend
Aus dem Ukrainischen von
Juri Durkot und Sabine Stöhr
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
Himn demokratyčnoï molodi
bei Folio, Charkiw
Umschlagfoto: Reiner Riedler / Anzensberger Agency
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Serhij Zhadan 2006
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73365-3
www.suhrkamp.de
Inhaber des besten Schwulenklubs der Stadt
Ballade von Bill und Monika
Vierzig Waggons usbekische Drogen
Besonderheiten des Schmuggels von inneren Organen
Laß den Priester nur reden, das Lustigste kommt zum Schluß
»Metallist« nur für Weiße
Nachweis
Wer echte Verzweiflung kennt, wird mich verstehen. Eines Morgens wachst du auf und merkst, es steht schlecht, sehr schlecht. Eben noch, sagen wir gestern, hättest du etwas ändern, es richten, die Weichen anders stellen können, aber jetzt ist finito – du bist raus und hast keinen Einfluß mehr auf die Ereignisse, die dich umflattern wie Leintücher. Genau so, hilflos, ausgestoßen und abgetrennt, fühlt man sich kurz vor dem Tod, wenn ich das Konzept Tod richtig verstehe – eigentlich hast du doch alles richtig gemacht, alles unter Kontrolle gehabt, warum versucht man dann aber, dich von den roten Kabelrollen des Systems abzukoppeln, dich zu löschen wie eine Datei und auszubrennen wie einen subkutanen Eiterherd, warum verzieht sich das Leben, an dem du gerade noch unmittelbar teilgenommen hast, wie das Meer in östliche Richtung, eilig entfernt es sich, und zurück bleibt die Sonne deines langsamen Sterbens. Wie ungerecht der Tod ist, läßt dich das Leben besonders deutlich spüren, keiner kann dich davon überzeugen, daß dein Übertritt auf das Territorium der Toten Sinn macht, da fehlen einfach die Argumente. Aber es steht schlecht, plötzlich glaubst du das auch, hast es verinnerlicht und wirst ganz ruhig, läßt zu, daß irgendwelche Scharlatane, Alchimisten und Pathologen dein Herz herausreißen und es auf Jahrmärkten und in Raritätenkabinetten zur Schau stellen, läßt zu, daß sie es für zweifelhafte Experimente und freudlose Rituale heimlich mit sich herumtragen, läßt zu, daß sie von dir wie von einem Toten sprechen und dein Herz – schwarz von verlorener Liebe, leichten Drogen und falscher Ernährung – in ihren Raucherfingern drehen.
Dahinter stehen die Tränen, die Nerven und die Liebe deiner Altersgenossen. Ja, Tränen, Nerven und Liebe, denn alles Unglück und aller Ärger deiner Altersgenossen hat mit der Geschlechtsreife begonnen und war mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch beendet, und wenn irgendwas diese scharfen slawischen Zungen zum Schweigen bringen und die stark verrauchten Lungen zum Luftholen bewegen kann – dann Liebe und Ökonomie, Business und Leidenschaft in ihren absurdesten Erscheinungsformen; alles andere bleibt abseits der Strömung, außerhalb des dunklen, wilden Flusses, in den ihr alle springt, kaum daß ihr volljährig seid. Der Rest ist Bodensatz, Blasen auf dem Wasser, Fußnoten zur Biographie, er löst sich in Sauerstoff auf, und auch wenn Sauerstoff dir lebensnotwendig erscheint, er ist es gar nicht. Warum? Weil keiner an Sauerstoffmangel stirbt, sterben tut man aus Mangel an Liebe oder Mangel an Geld. Wenn du eines Tages aufwachst und merkst, alles steht schlecht, sie ist weg, gestern noch hättest du sie aufhalten, alles richten können, jetzt ist es zu spät, du bleibst allein mit dir, und sie kommt die nächsten fünfzig Jahre nicht wieder oder auch sechzig, je nachdem, wie lange du ohne sie leben kannst und willst. Als dir das bewußt wird, schlägt große, grenzenlose Verzweiflung über dir zusammen, der Schweiß purzelt auf deine unselige Haut wie Zirkusclowns in die Manege, das Gedächtnis verweigert dir die Gefolgschaft, obwohl man auch daran nicht stirbt, im Gegenteil – alle Hähne öffnen sich, die Luken brechen, alles okay, sagst du, ich bin in Ordnung, ich schaff das schon, alles klar, immer schmerzhafter stößt du dich in der Leere, die sie im Raum zurückgelassen hat, in den Tunneln und Gängen aus Luft, die ihre Stimme einst füllte und in denen jetzt die Monster und Reptilien ihrer Abwesenheit hausen, alles okay, sagst du, ich schaff das, ich bin in Ordnung, daran ist noch keiner gestorben, noch eine Nacht, noch ein paar Stunden in diesem mit schwarzem Pfeffer und Glasscherben bestreuten Gelände, auf dem heißen, mit Kippen und Tabakbröseln vermischten Sand, in den Kleidern, die ihr gemeinsam getragen habt, unter dem Himmel, der jetzt dir allein gehört, du benutzt ihre Zahnbürste, nimmst ihre Handtücher mit ins Bett, hörst im Radio ihre Musik und singst an den besonders wichtigen Stellen mit – da, wo sie immer verstummte, singst du jetzt die Worte für sie, besonders wenn das Lied von Sachen handelt, die wichtig sind, wie zum Beispiel das Leben, oder dein Verhältnis zu deinen Eltern, oder vielleicht auch Religion. Was kann tragischer sein als dieses einsame Singen, manchmal unterbrochen von den neuesten Nachrichten, den letzten Neuigkeiten − so, wie die Lage ist, könnte jede neue Nachricht tatsächlich die letzte für dich sein.
Tragischer ist eigentlich nur die Sache mit der Knete. Alles, was die Finanzen betrifft, dein Business, deine finanzielle Stabilität, treibt dich in immer dunklere Sackgassen, aus denen es nur einen Ausweg gibt – den schwarzen, unerforschten Raum, das Reich des Todes. Wenn du plötzlich aufwachst und merkst, um weiterzuleben, brauchst du fremde Hilfe, und zwar möglichst von Gott dem Herrn persönlich oder jemandem aus seinem direkten Umfeld. Aber was für Hilfe denn, vergiß das Wort, hast dir alles selbst eingebrockt, also strample schön, dabei mußt du gut abwägen – Business und Liebe, Sex und Ökonomie, ja, genau, Ökonomie – diese Prostatitis der Mittelklasse, diese Tachykardie der Währungsbörsenpioniere; ein paar verunglückte Gesetzesvorlagen, und du bist eine Wasserleiche, soll heißen, sie ertränken dich bestimmt, wahrscheinlich in Zement, und die tödlichen, milchkaffeebraunen Zementwellen schlagen über dir zusammen und trennen dich vom Leben und sogar vom Tod, denn in einem solchen Fall verdienst du keinen normalen, ruhigen Tod, da kannst du so viel strampeln, wie du willst, dir ist nicht mehr zu helfen, wie der Vollmond hängen die Schulden über dir; und es bleibt dir nichts übrig, als ihn anzuheulen und damit auch noch die Aufmerksamkeit des Finanzamts auf dich zu ziehen. Wie viele junge Seelen sind verloren, weil sie keinen Business-Plan erstellen konnten, wie viele Herzen hat die Privatisierungspolitik zerrissen; Falten auf den vertrockneten Gesichtern und ein gelber, metallischer Schimmer in den Augen, Resultat eines langen Überlebenskampfes – das ist unser Land, das ist unsere Ökonomie, dein und mein Weg zur Unsterblichkeit, die du spürst, wenn du plötzlich aufwachst und merkst, daß es im Leben nichts gibt als deine Seele, deine Liebe und, fuck, deine Schulden, die du nie zurückzahlen kannst, wenigstens nicht in diesem Leben.
Davon laßt uns reden.
Die Geschichte vom Klub hat mir einer seiner Gründer höchstpersönlich erzählt, ich hatte schon von ihnen gehört, war aber nie einem über den Weg gelaufen, was angesichts der spezifischen Ausrichtung des Ladens auch kein Wunder ist. Gerüchte vom ersten offiziellen Schwulenklub machten schon seit ein paar Jahren die Runde, wobei aber immer unterschiedliche Namen und Adressen genannt wurden, und weil niemand genau wußte, wo er sich befand, verdächtigte jeder jeden. Am häufigsten wurde der Klub im Stadion erwähnt, die rechtsgerichtete Jugend der Stadt verurteilte das Entstehen solcher Etablissements aufs schärfste und gelobte, den Klub niederzubrennen und die Schwulen, die sich dort zu ihren sogenannten Partys trafen, gleich mit. Einmal, in der Spielzeit 2003/2004, legten sie Feuer im »Burattino«, einer Kneipe beim Stadion, aber die Miliz brachte diesen Vorfall nicht mit dem Schwulenklub in Verbindung, logo – wie kann das »Burattino« denn ein Schwulenklub sein, wo doch schon der Name fremdenfeindlich ist. Andererseits wurde der Klub oft in den Medien erwähnt, in verschiedenen Kultursendungen und Reportagen über die wilde Klubszene unserer Stadt. Meistens erinnerte die Klubszene unserer Stadt an Briefe von der Front – in den Fernsehreportagen erklangen zuerst Trinksprüche, dann Maschinengewehrsalven, und manchmal, wenn der Kameramann seine Berufspflichten nicht verletzte, sich also nicht mit kostenlosem Kognak auf Rechnung des Wirts zudröhnte, erklangen die Maschinengewehrsalven im Rhythmus von Hochzeitsreden und Abschiedsflüchen, und die Leuchtmunition zerschoß den warmen Himmel über Charkiw, ein Feuerwerk zu Ehren von Treue, Liebe und anderen Dingen, die im Fernsehen wenig populär sind. Der Schwulenklub aber erregte gerade darum besonderes Interesse, weil es keine Bilder gab und weil Informationen über direkte Verbindungen zwischen Obrigkeit und Mafia fehlten, es hieß nur, eine Party habe stattgefunden im Schwulenklub, die Gäste hätten sich ordentlich benommen, Opfer seien keine zu beklagen. Zwar machten auch weiterhin Gerüchte über den Klub die Runde, aber das Interesse ließ nach, was zu erwarten gewesen war – in unserer Stadt gibt es weit interessantere Einrichtungen, zum Beispiel das Traktorenwerk. Und überhaupt – wen interessieren in einem Land mit solchen Auslandsschulden schon die Probleme sexueller Minderheiten. Daß es hieß, der Gouverneur selbst halte seine schützende Hand über den Klub, wunderte auch keinen – etwas anderes erwartete man vom Gouverneur ja im Prinzip gar nicht. Schließlich muß jeder sehen, wo er bleibt, Hauptsache, ein reines Gewissen und die Steuererklärung rechtzeitig abgeben.
San Sanytsch habe ich im Wahlkampf kennengelernt. Er sah aus wie knapp vierzig, war aber in Wirklichkeit Jahrgang 74. Das Leben ist einfach stärker als die Gene, dafür war Sanytsch der beste Beweis. Er trug eine Jacke aus schwarzem, knarzendem Leder und eine Kanone, Typ Durchschnittsbandit, wenn ich mich verständlich ausdrücke. Für einen Banditen war er allerdings viel zu melancholisch, er telefonierte wenig, nur manchmal rief er seine Mutter an, während er selbst, soweit ich mich erinnere, überhaupt nie angerufen wurde. Er stellte sich als San Sanytsch vor und überreichte mir feierlich eine Visitenkarte aus Kreidepapier, auf der in Goldbuchstaben »San Sanytsch, Rechtsschutz« stand, darunter ein paar Telefonnummern mit Londoner Vorwahl, Sanytsch sagte, das seien die Büronummern, was für ein Büro, fragte ich, aber er antwortete nicht. Wir freundeten uns an, kaum daß wir uns kennengelernt hatten, Sanytsch holte die Knarre aus der Jackentasche, sagte, er sei für ehrliche Wahlen, und erklärte, er könne, wenn nötig, hundert solcher Knarren besorgen. Er hatte seine eigene Vorstellung von ehrlichen Wahlen, warum nicht. Außerdem erzählte er von einem Bekannten bei »Dynamo«, der in seinem Bastelkeller Startpistolen in echte ummodelte. Schau, sagte er, wenn man diesen Scheiß hier absäbelt – er zeigte mir, wo sich offensichtlich früher der inzwischen abgesäbelte Scheiß befunden hatte –, lassen sie sich mit normalen Patronen laden, und der Hauptvorteil ist, daß die Miliz nichts dagegen haben kann – ist ja eine Startpistole. Wenn du willst, kann ich dir eine Partie besorgen, vierzig Grüne das Stück, plus zehn, um den Scheiß abzusäbeln. Wenn nötig, organisier ich dir auch einen Dynamo-Mitgliedsausweis, for full legalization. Sanytsch liebte Waffen, und noch mehr liebte er es, von ihnen zu reden. Mit der Zeit wurde ich sein bester Kumpel.
Eines Tages erzählte er mir dann vom Klub, es rutschte ihm so raus, daß er, bevor er zum Rechtsschutz ging und sich für freie Wahlen engagierte, im Klub-Business gewesen und, wie sich herausstellte, direkt am ersten offiziellen Schwulenklub der Stadt beteiligt war, ebenjenem Phantom-Laden, den unsere progressive Jugend so lange vergeblich niederzubrennen versucht hatte. Ich bat ihn, mir mehr davon zu erzählen, und er tat es, okay, kein Problem, alles längst Geschichte, also warum nicht.
Und er erzählte ungefähr folgendes.
Wie sich herausstellte, war er Mitglied der Assoziation »Boxer für Gerechtigkeit und soziale Adaptation« gewesen. Er erzählte nur wenig davon; sie waren bei »Dynamo« als Bürgerinitiative ehemaliger Leistungssportler entstanden. Womit genau sich die »Boxer für Gerechtigkeit« beschäftigten, blieb unklar, aber die Sterblichkeit in den Reihen der Assoziation war hoch, jeden Monat wurde mindestens einer von ihnen abgeknallt, und es folgte ein üppiger Leichenschmaus in Anwesenheit hoher Milizoffiziere und leitender Beamter der Gebietsverwaltung. Alle paar Monate organisierten die »Boxer für Gerechtigkeit« ein Freundschaftsspiel mit der polnischen Auswahl, so nannten sie es jedenfalls, vor dem Büro fuhren Busse vor, wurden mit Boxern und einem Haufen einheimischer Elektro- und Haushaltsgeräte beladen, und die Karawane zog los Richtung Polen. Die Bosse von der Gebietsverwaltung und das Trainerteam reisten getrennt. In Warschau angekommen, gingen die Boxer ins Stadion und vertickten die Ware im Dutzend billiger, woraufhin sie den erneuten Sieg der vaterländischen paralympischen Bewegung ordentlich feierten. Das Interessante war, daß Sanytsch gar kein Boxer war. Sanytsch war Kämpfer. Nicht etwa für Gerechtigkeit und soziale Adaptation, sondern Ringkämpfer. Zum Ringkampf war er durch seinen Opa gekommen, seinerzeit, in den Nachkriegsjahren, hatte sein Opa das Ringen ernsthaft betrieben und sogar an der Spartakiade der Völker der Sowjetunion teilgenommen, wo man ihm den Arm brach, worauf er unheimlich stolz war, nicht auf den gebrochenen Arm natürlich, sondern daß er an der Spartakiade teilgenommen hatte. Über seinen Opa also kam er zu »Dynamo«. Sanytsch erzielte erste Erfolge. Nahm an städtischen Turnieren teil, gehörte zu den Hoffnungsträgern, doch nach ein paar Jahren brach man auch ihm den Arm. Da war er schon mit der Schule fertig und versuchte, sein eigenes Business aufzuziehen, aber es klappte nicht richtig, vor allem mit gebrochenem Arm. Also ging er zu den »Boxern für Gerechtigkeit«. Die »Boxer für Gerechtigkeit« sahen sich seinen Arm an, fragten ihn, ob er für Gerechtigkeit sei und für soziale Adaptation, und als sie darauf eine positive Antwort erhielten, nahmen sie ihn auf. Sanytsch kam zu einer Brigade, die die Märkte beim Traktorenwerk kontrollierte. Wie sich herausstellte, konnte man in diesem Business ziemlich leicht Karriere machen – dein direkter Vorgesetzter wird ermordet, und schon rückst du auf seinen Platz vor. Nach einem Jahr befehligte Sanytsch bereits eine kleine Einheit, war wieder einmal Hoffnungsträger, aber das Business gefiel ihm nicht: Sanytsch hatte ja immerhin Abitur und daher keine Böcke, mit nicht mal dreißig durch die Granate eines Spekulanten hopszugehen. Noch dazu ging seine ganze Freizeit für das Business drauf, und Sanytsch hatte überhaupt kein Privatleben, wenn man die Nutten nicht zählt, die er eigenhändig auf den Märkten auflas. Aber Sanytsch zählte die Nutten nicht, ich glaube, auch sie nannten es nicht Privat-, sondern eher Wirtschafts- und Sozialleben, das trifft es wohl. Sanytsch begann also, sich ernsthaft Gedanken über seine Zukunft zu machen. Ausschlaggebend war der Zwischenfall mit der kugelsicheren Weste. Einmal, im Zustand eines anhaltenden alkoholbedingten Rausches (er sprach von irgendwelchen Feiertagen, wahrscheinlich Weihnachten), beschlossen Sanytschs Schützlinge, ihrem jungen Boß eine kugelsichere Weste zu schenken. Die Weste hatten sie auf dem Polizeirevier gegen ein neues Kopiergerät der jüngsten Generation getauscht. Das Geschenk wurde auf der Stelle ausgiebig begossen, danach wollten sie es ausprobieren. Sanytsch zog die Weste über, die Kämpfer griffen zur Kalaschnikow. Die kugelsichere Weste erwies sich als zuverlässig – Sanytsch überlebte mit nur drei mittelschweren Schußverletzungen. Er beschloß, es gut sein zu lassen – die Ringkämpferkarriere war in die Hose gegangen, auch mit seiner Karriere als Kämpfer für Gerechtigkeit und soziale Adaptation stand es nicht zum besten, Zeit, sich beruflich zu verändern.
Er leckte seine Wunden, ging dann zu den »Boxern für Gerechtigkeit« und bat, aussteigen zu dürfen. Die »Boxer für Gerechtigkeit« waren mit Recht der Meinung, daß man aus ihrem Business nicht einfach so aussteigt, jedenfalls nicht lebendig, doch letztendlich nahmen sie Rücksicht auf seine Verwundungen und willigten ein. Zum Abschied verliehen sie ihrer Hoffnung Ausdruck, Sanytsch möge die Verbindung zur Assoziation nicht abreißen lassen und den Idealen des Kampfes für Gerechtigkeit und soziale Adaptation treu bleiben, und nachdem sie Sanytsch schnelle Genesung gewünscht hatten, beeilten sie sich, ihre Busse mit einheimischen Elektro- und Haushaltsgeräten zu beladen. Sanytsch stand also auf der Straße – ohne Business und Privatleben, dafür kampferprobt und mit Abitur, wobei letzteres aber kaum jemanden interessierte. In diesem Moment der persönlichen Krise traf er Goga, Georgi Bruchadse. Er und Goga waren zusammen in einer Klasse gewesen, Sanytsch ging dann zu den Kämpfern und Goga auf die medizinische Fakultät. Die letzten paar Jahre hatten sie sich nicht gesehen – Sanytsch engagierte sich wie berichtet, und Goga reiste als junge Fachkraft in den Kaukasus und nahm dort am russisch-tschetschenischen Krieg teil. Auf welcher Seite er teilnahm, war schwer zu sagen, denn Goga trat als Subunternehmer auf, kaufte beim russischen Gesundheitsministerium Medikamente und verkaufte sie an georgische Sanatorien, in denen Tschetschenen ärztlich versorgt wurden. Die Sache flog auf, als Goga unbedacht eine zu große Menge Anästhetika bestellte, was das Gesundheitsministerium dazu veranlaßte, die Lieferscheine zu überprüfen und sich die berechtigte Frage zu stellen: Wozu benötigt die regionale Kinderpoliklinik, auf die sämtliche Lieferscheine ausgestellt sind, so viel Stoff? Goga mußte also zurück nach Hause, wobei er sich erst noch einen Schußwechsel mit den beleidigten kaukasischen Zwischenhändlern lieferte. Kaum daheim, kaufte er einige Ladungen Rigips. Das Geschäft lief nicht schlecht, aber Goga begeisterte sich bereits für eine neue Idee, die immer mehr Raum in seinen Phantasien und Plänen einnahm – er beschloß, ins Klubgeschäft einzusteigen. Und genau in diesem kritischen Moment begegneten sich unsere beiden Helden.
– Hör mal, – sagte Goga zu seinem Jugendfreund, – ich bin neu in diesem Business, ich brauche deine Hilfe. Ich will einen Klub aufmachen. – Also weißt du, – antwortete ihm sein alter Kumpel, – ich kenn mich da nicht wirklich aus, aber wenn du willst, kann ich mal ein bißchen rumfragen. – Du hast das falsch verstanden, – sagte Goga, – ich muß nicht rumfragen, ich weiß selber genug, aber ich brauche einen Partner, kapiert? Ich will, daß du mit mir in dieses Business einsteigst, das lohnt sich für mich, verstehst du – ich kenne dich von klein auf, ich kenne deine Eltern, ich weiß, wo ich dich im Fall des Falles zu suchen habe, wenn du auf die Idee kommst, mich hängenzulassen. Und vor allem kennst du ja hier alle und jeden. Du bist genau der richtige Kompagnon für mich. – Und du willst damit wirklich Geld machen? – fragte Sanytsch. – Verstehst du, – antwortete Goga Bruchadse, – ich kann mit allem möglichen Geld machen. Du denkst, ich tu das wegen der Knete? Hey, ich hab in Balaschowka fünf Waggons Rigips stehen, die kann ich sofort losschlagen – und ab nach Zypern. Aber weißt du, das Problem ist – ich will nicht nach Zypern. Und weißt du, warum ich nicht nach Zypern will? Ich bin fast dreißig, genau wie du, richtig? Ich habe in vier Ländern Geschäfte gemacht, die Staatsanwaltschaft etlicher autonomer Republiken fahndet nach mir, ich hätte längst irgendwo in der Tundra an Skorbut sterben sollen, dreimal bin ich unter Artilleriebeschuß geraten, Bassajew persönlich hat seine Spritzen bei mir gekauft, beinahe hätte mich der Krasnojarsker Omon abgeknallt, einmal wurde der Wagen, in dem ich fuhr, vom Blitz getroffen, danach mußte die Batterie ausgewechselt werden. Ich zahle einer Witwe in Nordinguschetien Alimente, den anderen zahle ich nichts, die Hälfte meiner Zähne sind falsch, fast hätte ich eine meiner Nieren verpfändet, um eine Ladung Metallverarbeitungsmaschinen auszulösen. Aber ich bin heimgekehrt, ich bin guter Stimmung und habe einen gesunden Schlaf, die Hälfte meiner Freunde wurde ins Jenseits befördert, aber die andere lebt noch, du hier lebst auch noch, obwohl die Chancen dafür ja eher nicht gut standen. Verstehst du, irgendwie habe ich überlebt, und wo ich schon überlebt habe, dachte ich mir – okay, Goga, okay, alles in Ordnung jetzt, alles wird gut, wenn dich der Krasnojarsker Omon nicht erschossen und der Blitz nicht erschlagen hat, wieso dann Zypern? Und plötzlich habe ich kapiert, was ich mein Leben lang wollte. Weißt du was? – Was? – fragte San Sanytsch. – Mein ganzes Leben lang wollte ich einen eigenen Klub haben, verstehst du, einen eigenen Klub, in dem ich jeden Abend sitzen kann und wo mich keiner rausschmeißt, auch wenn ich anfange, in die Speisekarte zu kotzen. Was habe ich also gemacht? Weißt du, was ich gemacht habe? – Goga lachte auf. – Ich bin einfach hergegangen und habe mir diesen verfuckten Klub gekauft, kapiert? – Wann denn? – fragte Sanytsch nach. – Vor einer Woche. – Und was ist das für ein Klub? – Also es ist kein richtiger Klub, sondern ein Sandwichladen. – Was? – San Sanytsch verstand nicht ganz. – Na, der Imbiß »Butterbrote«, kennst du doch, oder? Es gibt natürlich noch arschviel zu tun, die Lage ist aber gut, im Bezirk Iwanowo, ich verticke den Rigips, renoviere den Laden, und alle meine Neurosen sind Geschichte. Nur daß ich noch einen Partner brauche, du verstehst schon. Gefällt dir die Idee? – fragte er Sanytsch. – Der Name gefällt mir. – Welcher Name? – Der Name des Klubs: »Butterbrot-Bar«.
Sie vereinbarten, sich am nächsten Morgen im Klub zu treffen. Goga versprach, seinen Partner mit ihrem künftigen Art-Direktor bekannt zu machen. San Sanytsch kam pünktlich, sein Partner war schon da und wartete vor der Tür der »Butterbrot-Bar«. Mit der »Butterbrot-Bar« stand es nicht zum besten, zum letzten Mal war sie vor etwa dreißig Jahren renoviert worden, und wenn man berücksichtigt, daß sie erst vor etwa dreißig Jahren gebaut wurde, kann man sagen, daß sie niemals renoviert wurde. Goga öffnete das Vorhängeschloß und ließ San Sanytsch vorgehen. San Sanytsch trat in einen halbdunklen Raum voller Tische und Plastikstühle, na bitte, dachte er traurig, wär ich mal lieber bei den »Boxern für Gerechtigkeit« geblieben. Doch für einen Rückzug war es zu spät – Goga kam hinter ihm herein und zog die Tür zu. – Gleich kommt der Art-Direktor, – sagte er und setzte sich auf einen Tisch, – laß uns warten.
Der Art-Direktor hieß Slawik. Slawik entpuppte sich als alter Junkie, er sah aus wie über vierzig, aber das lag wohl an den Drogen, er kam eine halbe Stunde zu spät, schob es auf die Staus, dann sagte er, er wäre mit der U-Bahn unterwegs, mit einem Wort, Nebelkerzen. Er hatte eine alte Jeansjacke an, trug eine große arschige Sonnenbrille und weigerte sich aus Prinzip, sie abzusetzen in dem dunklen Loch. – Wo hast du den denn aufgegabelt? – fragte Sanytsch leise, als Slawik den Raum inspizierte. – Meine Mutter hat ihn mir empfohlen, – antwortete Goga genauso leise. – Er war künstlerischer Leiter im Pionierpalast, dann hat man ihn rausgeschmissen, wegen unmoralischem Benehmen oder so. – Klar, wegen übermäßiger Frömmigkeit bestimmt nicht, – sagte Sanytsch. – Schon gut, – antwortete Goga, – alles okay. Was ist, – rief er Slawik zu, – gefällt’s dir? – Im Prinzip schon, – antwortete Slawik geschäftig, kam zu ihnen und setzte sich auf einen Plastikstuhl. Hätte ja auch gerade noch gefehlt, daß diesem Arschloch hier was nicht paßt, dachte Sanytsch und schaltete sogar das Handy ab, um nicht gestört zu werden, wobei ihn ja sowieso nie einer anrief. Also was ist, – Goga war ganz aufgekratzt, – was sagst du, was hast du für Ideen? – Also folgendes, – Slawik seufzte schwer und zog eine schmierige Papirossa hervor, – also folgendes. – Er schwieg eine Zeitlang. – Georgi Dawydowytsch, – wandte er sich schließlich an Goga, – ich will offen mit Ihnen sein. Arschloch, dachte Sanytsch. Goga kniff im Halbdunkel der Butterbrot-Bar zufrieden die Augen zusammen. – Ich will also offen sein, – wiederholte Slawik. – Ich bin seit zwanzig Jahren im Showbiz, ich habe noch mit UkrKonzert gearbeitet, die Musiker kennen mich, ich habe Verbindungen zu Grebenschtschikow1, ich habe das Charkiwer U2-Konzert organisiert ... – U2 hat ein Konzert in Charkiw gegeben? – fiel ihm San Sanytsch ins Wort. – Nein, sie haben abgesagt, – erwiderte Slawik, – aber ich will Ihnen folgendes sagen, Georgi Dawydowytsch, – Sanytsch ignorierte er einfach, – es war eine geile Idee von Ihnen, diesen Klub zu kaufen. – Meinst du? – fragte Goga zweifelnd. – Ja, wirklich eine geile Idee. Ich rede ganz offen mit Ihnen, ich weiß alles vom Showbiz, habe die erste Rock-Session dieser Stadt organisiert, – hier erinnerte er sich offensichtlich an etwas, verlor den Faden und verstummte minutenlang. – Und, weiter? – Goga hielt es nicht mehr aus. – Ja, – nickte Slawik, – ja. Scheiße, der ist ja bekifft, stellte Sanytsch begeistert fest. – Was ja? – Goga verstand nicht. Slawik nickte wieder, – ja ... San Sanytsch streckte ergeben die Hand nach dem Handy aus, im Prinzip hätte er solche Typen in seinem früheren Job fertiggemacht, aber das hier war was anderes, ein anderes Business, sollen die das doch unter sich ausmachen. – Ich will Ihnen, Georgi Dawydowytsch, folgendes sagen, – brach es plötzlich aus Slawik heraus, und er schwallte los –
das Klubgeschäft, – holte er weit aus, – ist eine heiße Angelegenheit, besonders weil sich der Markt schon herausgebildet hat, verstehen Sie, was ich meine? Alle taten so, als verstünden sie. Daran ist der Mittelstand schuld, dieser Mittelstand, verfuckt, entwickelt sich ja besonders gut. Sie, zum Beispiel, haben Räumlichkeiten gekauft, – er wandte sich weiterhin vor allem an Goga, – wollen einen normalen Klub aufmachen, mit normalem Publikum, Kulturprogramm und all dem Scheiß, – Slawik, kein Agitprop, bitte, – fiel ihm Goga ins Wort. – In Ordnung, – willigte Slawik ein, – was aber ist das wichtigste? Was ist das Wichtigste im Showbiz? – Gogageile geile