Gerbrand Bakker

Oben ist es still

Roman

Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke



Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
Boven is het stil bei Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam.

Die Übersetzung des Buches wurde gefördert vom
Nederlands Literair Produktieen Vertalingenfonds.



ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Gerbrand Bakker 2008
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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www.suhrkamp.de
eISBN 978-3-518-73120-8

I

1

Ich habe Vater nach oben geschafft. Nachdem ich ihn auf einen Stuhl gesetzt hatte, habe ich das Bett zerlegt. Wie er auf dem Stuhl saß, erinnerte er an ein wenige Minuten altes Kalb, noch bevor es saubergeleckt ist; mit unkontrolliert wackelndem Kopf und einem Blick, der nichts festhält. Ich habe die Wolldecken, Bettücher und die Moltondecke von der Matratze gezerrt, die Matratze und die Bodenbretter hochkant an die Wand gelehnt und Kopf- und Fußteil von den Seitenteilen abgeschraubt. Dabei versuchte ich möglichst durch den Mund zu atmen. Das Zimmer oben – mein Zimmer – hatte ich schon leergeräumt.

»Was machst du?« fragte er.

»Du ziehst um«, sagte ich.

»Ich will hierbleiben.«

»Nein.«

Er durfte sein Bett behalten. Die eine Hälfte ist schon seit über zehn Jahren kalt, aber immer noch krönt ein Kissen den unbeschlafenen Teil. Im Zimmer oben schraubte ich das Bett wieder zusammen, mit dem Fußende zum Fenster hin. Unter den Beinen brachte ich Klötze an. Ich bezog das Bett mit sauberen Laken und Decken und steckte beide Kissen in frische Bezüge. Dann trug ich Vater die Treppe hinauf. Als ich ihn vom Stuhl hob, sah er auf und schaute mich dann ununterbrochen an, bis ich ihn ins Bett legte, wobei unsere Gesichter sich fast berührten.

»Ich kann selbst gehen«, sagte er, erst dann.

»Nein, das kannst du nicht«, sagte ich.

Durchs Fenster sah er Dinge, die er nicht zu sehen erwartete. »Ich liege hoch«, stellte er fest.

»Ja. So siehst du draußen mehr als bloß den Himmel.«

Auch in dem neuen Raum roch es muffig, roch er muffig und schimmelig, trotz der frischen Bettwäsche. Ich stieß einen der beiden Fensterflügel auf und hakte ihn fest. Draußen war es eisig frisch und windstill, nur an den höchsten Zweigen der krummen Esche im Vorgarten hingen noch ein paar verschrumpelte Blätter. In großer Entfernung sah ich drei Radfahrer auf dem Deich. Wenn ich einen Schritt zur Seite gegangen wäre, hätte er die drei Radfahrer auch sehen können. Ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Ruf den Arzt«, sagte Vater.

»Nein«, antwortete ich. Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer.

Kurz bevor die Tür zufiel, rief er: »Schafe!«



In seinem ehemaligen Schlafzimmer lag ein Rechteck Staub auf dem Boden, etwas kleiner als die Abmessungen des Betts. Ich räumte das Zimmer aus. Die beiden Stühle, die Nachttische und Mutters Frisiertisch stellte ich ins Wohnzimmer. In einer Ecke des Schlafzimmers würgte ich zwei Finger unter den Teppichboden. »Nicht festkleben«, hörte ich Mutter sagen, vor einer Ewigkeit, als Vater sich gerade hinknien wollte, einen Topf Leim in der linken und einen Leimpinsel in der rechten Hand, und wir fast schon etwas benommen waren von den scharfen Ausdünstungen. »Nicht festkleben, in zehn Jahren möchte ich neue Teppichböden.« Die Rückseite des Teppichs zerbröselte unter meinen Fingern. Ich rollte ihn auf und trug ihn durch die Milchkammer ins Freie. Mitten auf dem Hof wußte ich plötzlich nicht mehr, wohin damit. Ich ließ ihn fallen, wo ich gerade stand. Ein paar Dohlen erschraken bei dem unerwartet lauten Knall und flogen aus den Bäumen auf, die den Hof begrenzen. Auf dem Boden des Schlafzimmers liegen Hartfaserplatten, mit der rauhen Seite nach oben. Ich ging schnell mit dem Staubsauger durchs Zimmer, nahm einen breiten, eckigen Pinsel und strich die Platten, ohne sie vorher abgeschmirgelt zu haben, mit grauer Grundfarbe. Als ich bei der letzten Bahn war, vor der Tür, sah ich die Schafe.



Jetzt sitze ich in der Küche und warte darauf, daß die Farbe trocknet. Erst wenn sie trocken ist, kann ich das düstere Gemälde von der Wand nehmen, das eine Gruppe von schwarzen Schafen zeigt. Er will seine Schafe anschauen können, also werde ich einen Nagel in die Wand neben dem Fenster schlagen und das Bild aufhängen. Die Küchentür und die Zimmertüren stehen offen, ich kann das Bild von meinem Platz aus über den Frisiertisch und die beiden Nachttische hinweg sehen, aber es ist so dunkel und matt, daß ich keine Schafe darauf erkennen kann, so lange ich es auch anstarre.

2

Es regnet, und der starke Wind hat die letzten Blätter von der Esche geweht. Der November ist nicht mehr eisig frisch und windstill. Das Elternschlafzimmer ist jetzt mein Schlafzimmer. Ich habe die Wände und die Decke weiß gestrichen und den Hartfaserplatten eine zweite Schicht Grundfarbe verpaßt. Die Stühle, Mutters Frisiertisch und die beiden Nachttische habe ich nach oben gebracht. Ich habe einen Nachttisch neben Vaters Bett gestellt und die übrigen Sachen in das leere Zimmer neben seinem Schlafzimmer geräumt. Henks Zimmer.

Die Kühe stehen schon seit zwei Tagen im Stall. Beim Melken herrscht Unruhe.

Wenn der runde Deckel oben auf dem Milchwagen offengestanden hätte, wäre heute morgen die Hälfte der Milch aus dem Tank gespritzt, wie bei einem Geysir, so scharf hatte der Milchfahrer vor dem aufgerollten Teppichboden gebremst, der immer noch mitten auf dem Hof liegt. Er schimpfte leise vor sich hin, als ich in die Milchkammer kam. Es gibt zwei Milchfahrer, und dies war der ältere, der mürrische. Ich glaube, er ist ungefähr in meinem Alter. Noch ein paar Jahre fahren und dann in Rente.



Mein neues Schlafzimmer ist bis auf mein Bett völlig leer. Das Holz – die Fußleisten, die Fensterrahmen und die Tür – werde ich auch noch streichen. Vielleicht in der gleichen Farbe, in der ich den Boden gestrichen habe, aber so genau weiß ich es noch nicht. Blaugrau schwebt mir vor; die Farbe des IJsselmeers an einem Sommertag, wenn in der Ferne graue Gewitterwolken drohen.



Vor einiger Zeit, Ende Juli oder Anfang August muß es gewesen sein, sind hier zwei Jungen in Kanus durchgefahren. Das kommt nicht oft vor, die offiziellen Kanurouten führen nicht an meinem Hof vorbei. Nur wer eine weitere Strecke fahren will, nimmt den Weg hier entlang. Sie hatten die Oberkörper entblößt, es war warm, die Muskeln ihrer Arme und Schultern glänzten im Sonnenlicht. Ich stand an der Seite des Wohnhauses, ungesehen, und beobachtete, wie sie sich gegenseitig zu rammen versuchten. Ihre Paddel klatschten zwischen den Gelben Teichrosen ins Wasser. Das vordere Kanu legte sich quer und blieb mit dem Bug am Ufer hängen. Der Junge schaute zum Hof herüber. »Sieh mal da«, sagte er zu dem anderen, einem rotblonden Jüngling mit Sommersprossen und sonnenverbrannten Schultern, »der Bauernhof, der ist zeitlos, der könnte von heute sein, aber genausogut von 1967 oder 1930.«

Der rotblonde Junge sah sich den Hof, die Bäume und das Stück Land, auf dem die Esel standen, genau an. Ich spitzte die Ohren. »Ja«, sagte er nach längerer Zeit, »die Esel, die sind schon altmodisch.«

Der vordere Junge stieß sein Boot vom Ufer ab und drehte den Bug wieder in Fahrtrichtung. Er sagte irgend etwas zu dem anderen Jungen, das ich nicht verstand, weil gerade ein Rotschenkel zu lärmen anfing. Ein später Rotschenkel, meistens sind sie Ende Juli alle verschwunden. Der Rotblonde folgte langsam und schaute dabei weiter meine beiden Esel an. Ich konnte nicht weg, und es gab an der kahlen Seitenwand des Wohnhauses nichts, womit ich mich hätte beschäftigen können. Ich stand reglos da und hielt den Atem an.

Er sah mich. Ich dachte, er würde etwas zu dem anderen Jungen sagen, seine Lippen öffneten sich, und er drehte den Kopf. Aber er sagte nichts. Er schaute nur und ließ mich stehen, ohne seinen Freund auf mich aufmerksam zu machen. Kurz darauf bogen sie in die Opperwoudervaart ein, und die auseinandergetriebenen Gelben Teichrosen schlossen sich wieder zusammen. Ich ging zur Straße, um den Jungen hinterherzuschauen. Nach ein paar Minuten konnte ich ihre Stimmen nicht mehr hören. Ich drehte mich um und versuchte meinen Hof mit ihren Augen zu sehen. »1967«, sagte ich leise und schüttelte den Kopf. Warum gerade dieses Jahr? Der eine Junge hatte die Jahreszahl genannt, der andere, der mit den Sommersprossen und den Schultern, hatte alles gesehen. Es war sehr warm an diesem Tag, der Nachmittag war halb vorbei, fast schon Zeit, die Kühe zu holen. Meine Beine fühlten sich auf einmal schwer an, und der Rest des Nachmittags war unwirklich und leer.

3

Eine große Standuhr eine Treppe hinaufzuschleppen ist Knochenarbeit. Ich helfe mir mit langen, glatten Brettern, mit Läufern und mehreren Stücken Schaumgummi. Alles mögliche klingelt und rumpelt im Gehäuse. Das Ticken hatte mich kribbelig gemacht, aber für die Nacht immer die Uhr anzuhalten, war mir zu lästig. Als ich die halbe Treppe geschafft habe, muß ich mich erst ein paar Minuten ausruhen. Vielleicht macht das Tikken ihn da oben auch kribbelig, aber er hat ja immer noch sein Schafgemälde zum Ruhigwerden.

»Die Uhr?« fragt er, als ich ins Zimmer komme.

»Ja, die Uhr.« Ich stelle sie gleich hinter die Tür, ziehe die Gewichte hoch und stoße das Pendel an. Augenblicklich füllt sich das Zimmer mit Zeit, mit langsam wegpochender Zeit. Wenn die Tür zu ist, kann Vater sehen, wie spät es ist.

Nach einem Blick aufs Zifferblatt sagt er: »Ich hab Hunger.«

»Ich hab auch manchmal Hunger«, sage ich. Die Uhr tickt ruhig weiter.

»Die Vorhänge sind zu«, bemerkt er dann.

Ich gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge auf. Es regnet nicht mehr, und der Wind hat etwas nachgelassen. Das Wasser im Graben steht hoch und läuft über den Rand des Damms. »Ich muß zur Mühle«, sage ich zu mir selbst und zur Fensterscheibe. Vielleicht sage ich es auch zu Vater.

»Was?«

»Nichts.« Ich öffne einen Fensterflügel und denke, während ich ihn festhake, an die kahle Stelle im Wohnzimmer.



In der Küche schmiere ich mir ein paar Scheiben Brot und belege sie mit Käse. Ich schlinge die Brote hinunter, es geht mir kaum schnell genug. Während der Kaffee noch durch die Maschine läuft, stehe ich schon im Wohnzimmer. Ich bin allein, ich muß es allein machen. Das Sofa schiebe ich auf einen der Läufer, die ich auch für die Uhr benutzt habe. Ich schleife es durch den Flur in die Waschküche. Die beiden Sessel schleppe ich durch die Vordertür nach draußen und stelle sie an den Straßenrand. Die übrigen Sachen bringe ich auch in die Waschküche. Das Büfett muß ich erst ganz leerräumen, bevor es sich verschieben läßt. Dann endlich kann ich meine Finger unter den Teppichboden zwängen. Der hier war teurer, nichts zerbröselt unter meinen Händen. Beim Aufrollen überlege ich, ob ich dieses Stück Teppich aufheben soll, kann ich es nicht noch für irgendwas gebrauchen? Mir fällt nichts ein. Die Rolle ist zu schwer zum Tragen, ich schleife sie über den Kiesweg und die kleine Brücke zur Straße. Als ich wieder auf die Vordertür zugehe, fällt mein Blick auf das Telefon im Flur. Ich rufe bei der Gemeinde an und sage, daß ich Sperrmüll habe. In der Kanne auf der Warmhalteplatte dampft der Kaffee.



Auf dem Weg zur Mühle sehe ich, was ich auch an den vergangenen Tagen schon gesehen habe, eine seltsame Erscheinung, die mich beunruhigt. Einen Vogelschwarm, der nicht von Norden nach Süden zieht, sondern in alle Himmelsrichtungen schwenkt, immer wieder. Nur das Geräusch von schlagenden Flügeln ist zu hören. Der Schwarm besteht aus Rabenkrähen, Austernfischern und Silbermöwen. Das ist das Seltsame daran, noch nie habe ich diese drei Vogelarten zusammen fliegen sehen. Es hat etwas von einem unheilverkündenden Vorzeichen. Oder habe ich das gleiche auch früher schon gesehen, ohne dieses unbehagliche Gefühl? Nach längerem Hinschauen stelle ich fest, daß es sogar vier Arten sind: Zwischen den großen Silbermöwen erkenne ich auch deutlich kleinere Lachmöwen. Die Vögel fliegen alle durcheinander, nicht in getrennten Formationen; als ob sie verwirrt wären.



Die Windmühle ist eine kleine eiserne Bosman-Schöpfmühle. »Bosman Piershil« steht auf einer Seite des eisernen Steerts. »N°40832« und »Ned Oct« steht auf der anderen. Oktober, hatte ich früher gedacht, octrooi, weiß ich heute. Ein niederländisches Patent also, bei dem sich die Schöpfmühle selbst in den Wind dreht, wenn der Steert rechtwinklig zu den Flügeln ausgerichtet ist, und dann immer weiterschöpft, bis man den Steert an einer Führungsstange einklappt, so daß er parallel zu den Flügeln steht. Aber jetzt klappe ich den Steert mit Hilfe einer daran befestigten Stange aus. Eine wunderschöne, schlanke kleine Mühle, sie wirkt irgendwie amerikanisch. Eben deswegen, und wegen des Betonfundaments im Graben, und weil wir den Geruch von Schmieröl so gern mochten, waren Henk und ich oft hier, im Sommer. Hier war es anders. Jedes Jahr kam ein Bosman-Mann, um die Mühle zu warten, und auch jetzt funktioniert sie noch einwandfrei, obwohl schon seit Jahren kein Bosman-Mann mehr dagewesen ist. Ich bleibe einen Moment stehen und sehe zu, wie das Wasser im Kanal anschwillt.

Ich gehe auf einem Umweg zurück und zähle die Schafe. Sie sind alle noch da. Alle dreiundzwanzig, und der Schafbock. Die Hinterteile der Mutterschafe sind rot, ich werde den Bock bald fortbringen. Erst laufen sie vor mir weg; dann, als ich mich dem Zaun auf dem Damm nähere, kommen sie allmählich hinter mir her. Am Zaun bleibe ich stehen. In etwa zehn Meter Entfernung machen die Schafe halt. Sie haben sich aufgereiht, und alle schauen mich an, in der Mitte der Bock mit seinem Quadratschädel. Der Anblick bereitet mir Unbehagen.

Als ich wieder auf dem Hof bin, sehe ich den durchweichten Teppichboden und beschließe, auch den an die Straße zu legen.



Bevor ich melken gehe, harke ich noch kurz den Kies im Vorgarten. Es wird schon leicht dämmrig. Die beiden kleinen Jungen von nebenan, Teun und Ronald, sitzen unter dem Teppich – dem teureren Teppich –, den sie halb ausgerollt über die beiden Sessel geworfen haben. Vor ein paar Tagen hatten sie abends gegen sieben an der Vordertür gestanden, ihre ausgehöhlten roten Zukkerrüben hochgehalten und sehr falsch ein Lied gesungen. Das sanfte Licht aus den Rüben hatte ihre erhitzten Gesichter noch röter gemacht. Ich hatte sie mit einem Mars belohnt. Jetzt haben beide eine Taschenlampe. »Hallo, Helmer!« rufen sie mir durch eine Öffnung zu, die sie – mit einem Messer? – in den Teppichboden geschnitten haben. »Das ist unser Haus!«

»Ein wunderschönes Haus«, rufe ich, auf meine Harke gestützt.

»Und wir haben auch Licht!«

»Das sehe ich.«

»Und hier gibt’s ’ne Überschwemmung!«

»Das Wasser fällt schon wieder«, versichere ich.

»Wir schlafen heut nacht hier.«

»Das glaube ich nicht«, sage ich.

»Ich glaube doch«, meint Ronald, der Jüngere.

»Nein, sicher nicht.«

»Wir gehn gleich nach Hause«, höre ich Teun leise zu seinem Bruder sagen. »Hier haben wir nichts zu essen.«

Ich schaue zum Fenster von Vaters Zimmer hinauf. Es ist dunkel.

4

»Ich möchte Nikolaus feiern«, sagt er.

»Nikolaus?« In diesem Haus ist seit Mutters Tod nicht mehr Nikolaus gefeiert worden. »Warum?«

»Das ist gemütlich.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Na ja«, sagt er, »wie üblich.«

»Wie üblich? Wenn du Nikolaus feiern willst, mußt du Geschenke kaufen.«

»Ja.«

»Ja. Wie willst du Geschenke kaufen?«

»Du mußt sie kaufen.«

»Auch für mich?«

»Ja.«

»Dann weiß ich schon, was ich bekomme.« Ich will nicht so lange mit ihm reden. Ich will nur kurz nach ihm sehen und schnell wieder verschwinden. Das Ticken der Standuhr füllt das Zimmer. Sonnenlicht fällt auf die Glasscheiben des Schranks, ein fensterförmiges Viereck, und die Scheiben werfen das Licht auf das Schafgemälde, das jetzt gar nicht mehr so düster wirkt. Ein merkwürdiges Bild. Manchmal scheint darauf Winter zu sein, manchmal ist es Sommer oder Herbst.

Als ich gerade die Tür schließen will, ruft er: »Durst.«

»Ich hab auch manchmal Durst.« Ich ziehe die Tür fest hinter mir zu und gehe die Treppe hinunter.



Nur das Sofa ist ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Auf dem untersten Brett des eingebauten Wäscheschranks in meinem Schlafzimmer habe ich ein großes Stück Stoff gefunden. Vielleicht hatte Mutter sich noch ein Kleid daraus nähen wollen, allerdings kommt es mir für den Zweck reichlich groß vor. Es macht sich sehr gut als Überzug für das Sofa. Der Boden ist grundfarbengrau; wenn die Tür zum Schlafzimmer offensteht, schließen sich die ebenfalls neu gestrichene Schwelle und der Boden dahinter nahtlos an. Auch alle Fußleisten, Fensterpfosten und Türen sind in der Grundfarbe gestrichen. Das Büfett steht in einem anderen Raum, das niedrige Bücherschränkchen oben. Alle Pflanzen, die blühen können, habe ich auf den Misthaufen geworfen. Es sind nicht viele übriggeblieben. Wenn ich Farbe kaufe, muß ich auch mal nach Lamellenjalousien oder Rollos schauen; die schweren, dunkelgrünen Vorhänge im Schlaf- und Wohnzimmer geben mir das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und ich habe die unbestimmte Vorstellung, daß das nicht nur so ist, weil sie seit Jahren nicht mehr ausgeklopft worden sind. Den restlichen Inhalt des Einbauschranks im Schlafzimmer habe ich nach oben gebracht und meine eigenen Kleider heruntergeholt.



Es gibt Katzen hier. Scheue Wegrennkatzen. Manchmal sind es zwei oder drei, ein paar Monate später sind es auf einmal neun oder zehn. Einige hinken oder haben keinen Schwanz mehr, andere (die meisten eigentlich) sind ewig verschleimt. Man hat nie einen Überblick über sie, deshalb wundert man sich nicht, wenn es zehn sind, und auch nicht, wenn es nur zwei sind. Vater löste das Katzenproblem, indem er jeden neuen Wurf in einen Jutesack steckte, einen Stein dazulegte und den Sack in den Graben schmiß. Vor vielen Jahren hatte er auch noch einen alten Lappen in den Sack gestopft, den er mit einer Flüssigkeit aus dem Giftschränkchen tränkte. Ich weiß nicht, was das für eine Flüssigkeit war. Chloroform? Aber wie hatte er sich eine Flasche Chloroform beschafft? War das Zeug vor dreißig Jahren frei verkäuflich? Das silbergraue Schränkchen mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen hängt in der Scheune und enthält schon seit Jahren kein Gift mehr, Gift ist aus der Mode. Ich bewahre die Farbe darin auf.

Im vergangenen Frühjahr sah ich Vater mit Schälchen voll Milch durch die Scheune schlurfen. Ich stellte keine Fragen, seufzte aber tief, so tief, daß er es hören konnte. Nach ein paar Tagen hatte er die jungen Katzen so weit, daß sie sich alle auf einmal um ein Milchschälchen drängten. Er packte sie und steckte sie in einen Sack. Keinen Jutesack, Jutesäcke haben wir nicht mehr. Es war ein Papiersack, der Beifutter enthalten hatte. Den Sack band er an der hinteren Stoßstange des Opel Kadett fest, mit einer Schnur von etwa einem Meter Länge.

Vor sieben Jahren hatte er einen Test machen müssen, um seinen Führerschein verlängert zu bekommen. Er hatte fast alles falsch gemacht, was man falsch machen kann, und war durchgefallen. Seitdem darf er nicht mehr fahren. Trotzdem kroch er jetzt in den Wagen. Ein zarter grüner Schleier lag auf den Bäumen am Rand des Hofs, rund um die Stämme blühten Narzissen. Ich stand im Scheunentor und sah zu. Er ließ den Motor an, und sofort machte das Auto einen Satz nach vorn, wodurch er in den Sitz gedrückt wurde und danach mit der Stirn aufs Lenkrad schlug. Anschließend setzte er zurück, ohne über die Schulter oder in den Rückspiegel zu blicken. So machte er es eine ganze Weile: vorwärts fahren, schalten (das Getriebe jaulte) und zurücksetzen, wobei er das Lenkrad immer etwas drehte. Vor und zurück und hin und her, bis eine Wolke von Auspuffgasen zwischen den Bäumen hing. Dann kroch er wieder aus dem Wagen, band seelenruhig den Papiersack los und versuchte ihn oben auf den Misthaufen zu werfen. Bis er ihn oben hatte, mußte er den Sack dreimal vom Boden aufheben, er hatte nicht mehr genug Kraft in den Armen, um richtig Schwung zu holen. »Die sind wir los«, sagte er, als er in die Scheune zurückkam. Er rieb sich die Stirn und machte mit beiden Händen seine Das-wäre-geschafft-Bewegung; es klang wie Schmirgeln.

Es dauerte einige Zeit, bis ich mich von der Stelle rührte. Dann ging ich langsam auf den Misthaufen zu. Der Sack lag nicht ganz oben, er war ein Stück nach unten gerutscht, und das nicht nur wegen der Schwerkraft, sondern auch, weil sich im Sack etwas bewegte. Ein ganz leises Piepsen war zu hören, und ein kaum wahrnehmbares Kratzen. Vater hatte etwas falsch gemacht, und ich durfte die Sache zu Ende bringen. Aber ich dachte nicht daran. Ich drehte mich um und ging genau so weit vom Misthaufen weg, daß ich nichts mehr hörte, und blieb ihm genau so lange fern, bis ich wußte, daß es nichts mehr zu hören gab und sich nichts mehr bewegte.

Er will Nikolaus feiern, weil das »gemütlich« ist.

5

Keine Ahnung, was hier eigentlich los ist, jedenfalls starrt mich jetzt – von einem Ast der kahlen Esche – eine Nebelkrähe an. Noch nie habe ich hier eine Nebelkrähe gesehen. Sie ist wunderschön, und sie macht mich ganz schön nervös, ich bekomme kaum einen Bissen hinunter. Ich setze mich auf einen anderen Platz, mit Aussicht durchs Seitenfenster. Um den Tisch stehen vier Stühle, ich kann mich hinsetzen, wo ich will, die anderen drei werden nicht benutzt.

Ich sitze sonst immer auf Mutters Platz, auf dem Stuhl, der am nächsten bei der Anrichte steht. Vater saß ihr gegenüber, mit dem Rücken zum vorderen Fenster. Henk saß vor dem Seitenfenster und konnte, wenn die Türen offenstanden, ins Wohnzimmer schauen. Ich hatte die Küchentür hinter mir, und oft sah ich Henk nur als Umriß, wegen des Lichts, das hinter ihm durchs Fenster hereinfiel. Das machte nichts, denn vor mir saß mein Ebenbild, ich wußte genau, wie er aussah. Jetzt bin ich also wieder auf meinem alten Platz am Küchentisch gelandet, und das gefällt mir nicht. Ich stehe auf, schubse meinen Teller zur anderen Seite des Tischs und setze mich auf Henks Stuhl. Hier bin ich für die Nebelkrähe wieder sichtbar, sie dreht ihren Kopf ein bißchen, um mich richtig sehen zu können. Dieses Starren erinnert mich daran, wie die Schafe mich vor ein paar Tagen angeschaut haben, alle vierundzwanzig. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß die Schafe meinesgleichen waren, daß es nicht mehr Tiere waren, die mich anstarrten. Nicht einmal bei meinen beiden Eseln hatte ich das je so empfunden. Und jetzt diese seltsame Nebelkrähe.

Ich schiebe den Stuhl zurück, gehe durch den Flur zur Vordertür und auf den Kiesweg hinaus. »Kssst!« mache ich. Die Krähe neigt den Kopf leicht zur Seite und versetzt ein Bein. »Weg!« rufe ich, und dann erst schaue ich mich wie ertappt um. Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem.

Die Nebelkrähe starrt mich verächtlich an. Ich schlage die Vordertür zu. Als es im Flur wieder still ist, höre ich Vater oben etwas sagen. Ich öffne die Tür zur Treppe.

»Was hast du gesagt?« schreie ich.

»Eine Nebelkrähe«, antwortet er.

»Ja und?« schreie ich.

»Warum jagst du sie weg?« Taub ist er jedenfalls nicht.

Ich schließe die Treppentür und setze mich wieder an den Küchentisch, auf Vaters Platz, mit dem Rücken zum Vorderfenster. Unbeirrt kaue ich meine Brote und bemühe mich, Vater, der einfach weiterredet, nicht zu verstehen.

Ich habe innerhalb von zehn Minuten auf allen Stühlen gesessen. Wenn mich jemand sehen könnte, würde er denken, daß ich zu viert zu sein versuche, um nicht allein essen zu müssen.



Bevor das Holz an die Reihe kam, habe ich die Wände und die Decke des Wohnzimmers weiß gestrichen. Zwei Schichten waren nötig, um die weißen Rechtecke verschwinden zu lassen, die beim Abnehmen von Bildern, Fotos und Sticklappen zum Vorschein gekommen waren. Nachdem ich beim Maler Farbe und einen neuen Pinsel gekauft hatte, war ich zu Praxis gegangen und hatte dort hölzerne Lamellenjalousien gefunden, die genau zu den Fenstern im Wohnzimmer und im Schlafzimmer passen. Offenbar sind die gängigen Abmessungen heute noch die gleichen wie vor hundertfünfzig Jahren. Vor dem Anbringen der Jalousien habe ich die restlichen Pflanzen von den Fensterbänken genommen und auch sie noch auf den Misthaufen geworfen. Jetzt ist es in beiden Zimmern leer und blaugrau, und das Licht fällt in waagerechten Bahnen herein. Morgens ziehe ich die Jalousien nicht hoch, sondern öffne die schmalen Lamellen.



Mit einer Pappschachtel voll Nägeln, einem Hammer und einer großen, schweren Kartoffelkiste steige ich die Treppe hinauf.

»Was machst du?« fragt Vater.

Ich hole nacheinander alle Bilder, Fotos und Sticklappen aus der Kiste und fange an, sie aufzuhängen. »Du findest Nikolaus gemütlich«, sage ich, »aber so wird es auch gemütlich.«

»Was passiert eigentlich da unten?«

»Alles mögliche«, sage ich. Um das Schafgemälde herum hänge ich die ersten Fotos auf, aber bald muß ich auf die anderen Wände ausweichen. Gerahmte Fotos von Mutter und Henk, von Hunderttausendliterkühen mit Rosetten, von den Großeltern und mir; Sticklappen zur Erinnerung an unsere Geburt (nicht einer, sondern zwei) und an die Hochzeit von Vater und Mutter. Unter den Bildern sind allein sechs Pilzgemälde, eine richtige Aquarellserie.

»Was soll das?« fragt Vater.

»So hast du was zum Anschauen«, antworte ich.

Als alles hängt, sehe ich mir die Fotografien noch einmal genauer an. Auf einem der Fotos sitzt Mutter auf einem Stuhl mit Armlehnen. Wie eine vornehme Dame hat sie sich darauf niedergelassen; die Beine, sittsam geschlossen, fallen leicht seitwärts, weswegen ihr Oberkörper etwas gedreht ist, die Hände hat sie elegant im Schoß gefaltet. Sie schaut den Fotografen auf eine Weise an, die überhaupt nicht zu ihr paßt. Ein bißchen verführerisch und hochmütig zugleich, ein Eindruck, den die seitwärts geneigten Beine noch verstärken. Ich nehme das Foto von der Wand und lege es in die leere Kartoffelkiste, zusammen mit den Nägeln und dem Hammer.

»Laß sie hier«, sagt Vater.

»Nein«, sage ich. »Ich nehm sie mit runter.«

»Sind Mandarinen da?«

»Möchtest du Mandarinen?«

»Ja.«



Ich klappe die Stütze auf der Rückseite des Rahmens aus und stelle Mutter auf den Kaminsims. Dann hole ich zwei Mandarinen aus der Waschküche und bringe sie nach oben. Ich lege sie auf den Nachttisch und gehe ans Fenster. Die Nebelkrähe sitzt immer noch in der Esche, von hier aus gesehen auf gleicher Höhe mit mir.

»Schaut die Nebelkrähe dich an?« frage ich.

»Nein«, sagt Vater. »Sie schaut weiter nach unten.«

Plötzlich weiß ich, was ich noch vergessen habe. Ich gehe die Treppe hinunter und in die Küche. In der Ecke neben dem Schreibtisch steht Vaters Jagdgewehr. Ich hebe es hoch und frage mich, ob es geladen ist. Ich kontrolliere es nicht. Es fühlt sich fremd an in meinen Händen. Früher durften wir es nicht anfassen, später wollte ich es nicht. Ich bringe das Gewehr nach oben und lehne es seitlich an die Standuhr. Vater ist eingeschlafen. Er liegt auf dem Rücken, sein Kopf ist zur Seite gefallen, ein Spuckefaden sinkt aufs Kissen.

6

Mutter war eine unerhört häßliche Frau. Für jemanden, der sie nicht gekannt hat, ist das Foto auf dem Kaminsims wahrscheinlich nur lächerlich: grobknochige Bauersfrau mit vorquellenden Augen und Alle-vier-Monate-zum-Friseur-Frisur, die sich angestrengt um eine vornehme Haltung bemüht. Ich lache nicht über das Foto. Sie ist meine Mutter. Allerdings habe ich mich schon gefragt, warum Vater – der, wenn er nicht schläft, bestimmt seine eigene ansprechende Erscheinung auf uralten Fotos anstarrt – sie geheiratet hat. Obwohl: Wenn ich mir das Foto längere Zeit anschaue und an den Mann da oben denke, frage ich mich eigentlich eher, warum sie ihn geheiratet hat.

Auf dem schwarzen Marmor des Kamins steht sonst nicht mehr viel. Ein bronzener Kerzenhalter mit einer weißen Kerze und ein alter Griffelkasten, auf dessen Deckel eine Lakenvelder Kuh gemalt ist. Der ganze übrige Nippes ist jetzt in einem Karton in Henks Zimmer, zusammen mit noch anderem überflüssigen Kram. Henks Zimmer ist zum Abstellraum geworden. Neben seinem Bett, das nie als Gästebett gedient hat, stehen und liegen allerlei Sachen, die er auch noch gesehen und gekannt hat, nichts als gesammelte Vergangenheit, und das noch lebende Museumsstück im Zimmer nebenan hört einfach nicht auf zu atmen. Zu atmen und zu reden. Sogar jetzt, hier, höre ich ihn murmeln. Redet er mit der Nebelkrähe? Mit den Fotos oder den sechs Aquarellpilzen?



Henk und ich wurden 1947 geboren, ich bin ein paar Minuten älter. Zuerst dachte man, daß wir den nächsten Tag (den 24. Mai) nicht erleben würden, aber Mutter hat nie an uns gezweifelt. »Frauen sind für Zwillinge gemacht«, soll sie gesagt haben, als sie uns zum ersten Mal anlegte. Ich glaube das nicht; es klingt zu sehr nach einer von diesen Bemerkungen, die sich aus einem größeren Zusammenhang von Ereignissen und Äußerungen herausschälen – denn natürlich ist damals noch vieles andere gesagt worden – und nach einiger Zeit allein übrigbleiben, obwohl sie so vielleicht nie gemacht wurden; höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Verdrehung von irgend etwas, das Vater oder der Hausarzt gesagt haben. Mutter selbst hat vermutlich wenig gesagt.

Ich habe eine Erinnerung, die ich nicht haben kann. Ich sehe ihr Gesicht von unten, hinter einer sanften, weichen Wölbung. Ihr Kinn und vor allem ihre leicht vorquellenden Augen, die nicht auf mich gerichtet sind, sondern auf einen Punkt irgendwo in der Ferne, im Nichts, hinter den Weiden, vielleicht auf dem Deich. Es ist Sommer, und meine Füße spüren andere Füße. Mutter war eine schweigsame Frau, aber sie sah alles. Vater war derjenige, der redete. Und kaum etwas sah. Er brüllte sich durch alles durch.



Jemand klopft ans Fenster. Teun und Ronald stehen im Vorgarten, rufen irgend etwas und fuchteln mit den Armen. Ich gehe zur Tür.

»Helmer! Die Esel sind los!« Das sagt Ronald, und ich kann ihm anhören, daß er es am liebsten hätte, wenn die Esel jeden Tag »los« wären.

»Sie sind noch auf dem Hof.« Das sagt Teun, und ihm höre ich an, daß er auch gehört hat, was sein kleiner Bruder eigentlich am liebsten hätte.

Sie rennen vor mir her und um die Ecke des Wohnhauses. »Langsam!« rufe ich.

Die Esel warten zwischen den Bäumen, etwa fünf Meter vor dem Gatter, das ein kleines Stück offensteht. Der Strick, mit dem das Gatter normalerweise an dem Betonpfosten festgemacht ist, hängt lose herunter. Mir ist schon klar, was passiert ist.

»Tja«, sage ich. »Dann seht mal zu, daß ihr sie wieder auf die Koppel bekommt.«

»Wir?« fragt Ronald.

»Ja, ihr.«

»Warum?«

»Darum.«

Seit die Esel ausgebrochen sind, haben Teun und Ronald Angst vor ihnen. Es ist wie mit einem Wasserhahn, wenn man noch klein ist: eine wunderbare, reizvolle Sache bis zu dem Augenblick, in dem man ihn aufgedreht hat und das viele Wasser, das herausläuft, einen in Panik versetzt und man keine Ahnung hat, wie man das Ding wieder zubekommt.

»Darum?« fragt Teun. »Was heißt das?«

»Das heißt«, sage ich, »daß ich weiß, daß du das Gatter aufgemacht hast, weil du zu faul warst drüberzuklettern, und daß Ronald hinter dir hergegangen ist und daß er das Gatter noch ein Stückchen weiter aufgemacht hat.«

»Ja«, sagt Ronald.

Teun wirft ihm einen bösen Blick zu.

»Na kommt«, sage ich. »Einfach schieben.«

»Schieben? Das Gatter?«

»Nein, die Esel.« Ich gehe langsam zum Gatter, hebe es an und öffne es ganz. Die Jungen rühren sich nicht von der Stelle, sie schauen mich ungläubig und ein bißchen ängstlich an.

Im Winter stehen die Esel oft lange im Eselstall neben dem Hühnerhaus. Esel hassen es, nasse Füße zu bekommen. Im Stall ist es trocken, und auf dem Boden liegt eine Lage Stroh. Der Stall ist sechs Meter lang und fünf Meter breit. Nach vorn hin, wo er ein Vordach hat, ist er offen. Die Esel haben eine Box von vier mal fünf Metern, und auf den restlichen zwei Metern an der Vorderseite warten Heuballen und ein Sack Hafer. In einer Kiste sind meistens ein paar Zuckerrüben und Wintermöhren. Auf einem Wandbrett liegen ein großes Messer, ein Striegel, eine Bürste, ein Renet, eine grobe Feile und ein Hufkratzer. Wenn die Esel im Stall stehen, vergeht kein Tag, an dem Teun und Ronald nicht bei ihnen sitzen. Auf den Heuballen oder in der Box, auf der Einstreu. Und am liebsten, wenn es draußen schon ein bißchen dunkel wird und ich die Lampe angemacht habe. Einmal lagen sie, als ich in den Stall kam, der Länge nach auf dem Boden – unter den Eseln. Ich fragte sie, warum sie das machten. »Wir wollen unsere Angst besiegen«, sagte Teun, der damals etwa sechs war. Ronald nieste, weil ihm das lange Winterfell seines Esels ins Gesicht hing. Und jetzt haben sie Angst, weil die Esel los sind.

»Wie denn?« fragt Ronald.

»Ganz einfach. Man stellt sich hinter sie und drückt gegen ihren Po.«

»Ja vielen Dank!« sagt Teun.

»Sie tun nichts«, verspreche ich.

»Wirklich nicht?« fragt Ronald.

»Wirklich nicht.«

Beide stellen sich hinter einen Esel, und Ronald fängt gleich an zu drücken, mit seinem ganzen Gewicht. Teun klopft seinem Esel erst vorsichtig auf den Hintern, um sicherzugehen, daß er nicht tritt. Ich bin gespannt, was jetzt geschieht.

Es geschieht nichts. Ich gehe zur Scheune.

»Wo gehst du hin?« fragt Teun.

»Ich komme gleich wieder«, sage ich.

In der Scheune fülle ich ein paar Handvoll Kraftfutter in einen Eimer. Bevor ich zu den Jungen zurückgehe, spähe ich um die Scheunenecke, um zu sehen, wie die Sache steht. Es hat sich nichts verändert. Als Teun sich ängstlich umschaut, gehe ich wieder zu ihnen. »Klappt’s nicht?« frage ich.

»Nein«, sagt Ronald. »Dumme Viecher.«

»Bitte?«

»Ich meine . . .« beginnt er.

»Sie bewegen sich nicht«, erklärt Teun.

Ich gehe auf die Koppel und schüttle den Eimer. Ronald fällt um, so schnell läuft der Esel, gegen den er sich gestemmt hatte, auf mich zu. Ich kippe den Eimer aus und schließe das Gatter. Dann lehnen wir uns zu dritt noch eine Weile auf das oberste Brett und schauen den Eseln dabei zu, wie sie das Kraftfutter auffressen. Ich stehe auf dem Boden, Teun auf dem untersten und Ronald auf dem zweituntersten Brett.

»So was macht ihr nicht mehr, nein?« frage ich.

»Nein«, sagen beide gleichzeitig.

Sie springen auf den Boden und gehen Richtung Hof. Als sie fast schon beim Damm sind, dreht Teun sich um. »Wo ist dein Vater?« ruft er.

»Drinnen«, antworte ich.

Mehr will er gar nicht wissen. Sie überqueren den Damm und biegen nach rechts ab.

Ich bleibe allein bei den Eseln zurück. Sie haben keine Namen. Vor Jahren, als ich sie kaufte, fielen mir keine Namen ein, und nach einiger Zeit war es zu spät, da waren sie schon »die Esel«. Vater hatte mich gefragt, ob ich verrückt geworden wäre. »Esel?« fragte er. »Was um Himmels willen sollen wir mit Eseln? Und was das wieder kosten wird!« Ich sagte ihm, daß sie nicht unsere Esel sein würden, sondern meine Esel. Wenigstens hatte der Viehhändler Freude an dem Geschäft; wieder mal was anderes. Es sind Mischlingsesel, keine französischen, irischen, italienischen oder spanischen Rasseesel. Ihre Farbe ist ein sehr dunkles Grau, und der eine hat eine hellgraue Nase. »Wo ist dein Vater«, sage ich leise zu ihnen und schnalze mit der Zunge. Sie kommen näher und drücken ihre verschiedenfarbigen Nasen in mein Haar.



Die Kühe sind unruhig, zwei haben nach mir getreten, als ich ihnen das Melkzeug anhängen wollte. Vor kurzem dachte ich noch, es läge daran, daß sie nicht mehr auf die Weide gehen, aber jetzt kommt mir der Verdacht, daß ich unruhig bin, und was das angeht, sind Kühe manchmal fast wie Hunde; die haben ja angeblich ein feines Gespür für die Gemütsverfassung ihrer Herren. Ich habe keinen Hund. Wir haben nie Hunde gehabt.



Vater hat die Mandarinen nicht gegessen. Eigentlich will ich von ihm nichts sehen und nichts hören. Ich habe ihn von unten nach oben gebracht, und jetzt könnte er sich von mir aus aufs Dach setzen und danach in die höchsten Wipfel der Pappeln am Rand des Hofs, um dann von einem Windstoß weggefegt zu werden, ab in die Luft. Das wäre am besten: wenn er einfach verschwinden würde.

»Ich krieg die Schale nicht ab«, sagt er.

Ich versuche die Mandarinen auf dem Nachttisch und seine krummen Finger auf der Decke nicht zu sehen. Allmählich stinkt es hier wirklich, obwohl ich das Fenster immer offenlasse. Wenn er partout nicht verschwinden will, werde ich ihn waschen müssen. Bevor ich die Vorhänge zuziehe, halte ich meine Hände an die Fensterscheibe, um das Lampenlicht abzuschirmen, strecke den Kopf zwischen die Hände und spähe nach der Esche im Vorgarten. Die Nebelkrähe ist weg. Oder ist es nur so dunkel, daß sie sich nicht mehr von den Ästen und vom Abendhimmel abhebt?

Dann sehe ich jemanden vorbeigehen. An der Straße stehen Laternen, vor jedem Haus oder Hof eine. Insgesamt also sieben. Seit ein paar Wochen stimmt mit meiner Laterne etwas nicht. Sie brennt, aber das ist auch alles; selbst wenn man sich direkt unter sie stellt, erreicht einen das Licht nicht. Die Jalousie im Wohnzimmer ist geschlossen. Bei dieser Dunkelheit draußen kann ich nur sehen, daß jemand vorbeigeht und – jetzt –, daß jemand vor dem Hof stehenbleibt. Ein dunkler Fleck, nur vor dem Hintergrund des Kanals sichtbar. Ich kann nicht einmal erkennen, in welche Richtung der Fleck schaut.

»Was ist?« fragt Vater.

»Auf der Straße geht jemand«, flüstere ich.

»Wer?«

»Ich kann ihn nicht richtig sehen.« Dann bewegt sich der Fleck und hat plötzlich ein rotes Rücklicht. Ich schaue dem Rücklicht nach, bis es hinter der Fensterlaibung verschwindet. Mit einem Ruck ziehe ich die Vorhänge zu. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. »Na, dann woll’n wir mal«, sage ich und nehme die Mandarinen vom Nachtschränkchen. Ich schäle beide, entferne die bitteren weißen Fäden und reiche Vater einzelne Stückchen. Bald läuft ihm der Fruchtsaft übers Kinn.

»Lecker«, sagt er.

7

Ich habe mein Leben lang Angst gehabt. Angst vor Stille und Dunkelheit. Außerdem kann ich schon mein Leben lang schlecht einschlafen. Ich brauche nur irgendein Geräusch zu hören, das ich mir nicht erklären kann, und es ist Essig mit dem Schlafen. Trotzdem habe ich noch nie richtig darüber nachgedacht, was sich nachts draußen abspielt. Natürlich habe ich alles mögliche am Fenster vorbeikommen sehen, früher, obwohl ich wußte, daß das Fenster mehrere Meter oberhalb des Kieswegs war. Schultern, angestrengt hochgezogene Schultern von einem, der gerade an der Vorderfront des Hauses hinaufkletterte. Panthergleich. Manchmal schob sich schon ein Arm auf die Fensterbank. Dann horchte ich auf das Atmen von Henk, der neben mir lag – später stellte ich ihn mir schlafend vor, im Zimmer nebenan –, und die Schultern verschwanden, oder was ich sonst zu sehen geglaubt hatte. Im Grunde wußte ich, daß ich Dinge sah, die ich nicht sehen konnte.

Und jetzt, nachdem ich die Gestalt auf der Straße gesehen und Vater gefüttert habe, liege ich im Bett und kneife die Augen fest zu. Schlafen, denke ich, schlafen. Aber ich sehe Schafe auf der Weide liegen, stöhnende, wiederkäuende Schafe, graue Flecken auf grünschwarzem Flachland; und Dohlen auf den Pappeln, die Köpfe ins Gefieder gesteckt; und die Esel, die in der Nähe des Gatters dösen und sich dabei mit geneigten Hälsen so gegenüberstehen, daß ihre Köpfe sich zu berühren scheinen; und einsam in einer weit entfernten Ecke der Weiden die wieder abgestellte Bosman-Mühle, die hellgrau schimmert, als die Wolkendecke aufreißt; und eine Gestalt, die bei der Mühle steht und zum Steert hinaufblickt und »N° 40832« liest. Als ich das vor mir sehe, öffne ich die Augen. Kommt das öfter vor, daß jemand in einer Herbstnacht reglos vor dem Hof steht? Und hätte ich das je erfahren, wenn ich nicht zufällig aus dem Fenster geschaut hätte?



Später sehe ich die Jungen in den Kanus. Der eine, der gesagt hatte, hier sei es zeitlos, bleibt schemenhaft und ist schnell wieder weg. Der andere, der rotblonde mit den sonnenverbrannten Schultern, bleibt hängen. Auch er hatte etwas gesagt, aber was, war ohne Bedeutung. Er sah, was es zu sehen gab, und er sah mich. Einen Bauern schon recht fortgeschrittenen Alters in einem verschossenen blauen Overall, dessen obere Knöpfe offen waren, weil es an diesem Tag sehr warm war. Der an der Seitenmauer eines Bauernhofs stand, im Schatten, und dort nichts zu tun hatte, außer zu beobachten, reglos, mit angehaltenem Atem. Der seit 1967 jeden Tag älter geworden ist, ohne daß sich sonst irgend etwas verändert hätte, nein, etwas ist doch anders: die Esel, und ausgerechnet über die Esel hatte der rotblonde Junge etwas gesagt. Altmodisch seien sie. Insofern war es doch nicht ohne Bedeutung, was er gesagt hatte. Sie lenken ihre Boote in die Opperwoudervaart, lachend, jung, selbstsüchtig, also mit kurzem Gedächtnis. Sie fahren auf die untergehende Sonne zu. Das ist unmöglich, weil der Kanal nach Osten führt, Richtung IJsselmeer, dort kann die Sonne also gar nicht untergehen, aber jetzt ist es möglich, und die Jungen werden zu Umrissen, und der Klang ihrer Stimmen wird immer schwächer. Dann sind sie weg. Jetzt, denke ich, jetzt schlafe ich ein. Wenn man es denkt, kann man es natürlich vergessen. Die eingebildete Sonne erinnert mich ans Meer, das in Luftlinie vielleicht fünfunddreißig Kilometer weiter westlich liegt. Es ist sehr lange her, daß wir dort waren, zweimal im selben Sommer. An beiden Tagen hatte sich der Himmel im Lauf des Nachmittags bezogen. Mutter wollte gern die Sonne im Wasser untergehen sehen und hatte Vater dazu überredet, den Knecht allein melken zu lassen. Ich habe noch nie gesehen, wie die Sonne im Meer untergeht, obwohl ich dafür gar nicht weit fahren müßte.

Ich höre etwas, ich glaube, daß es unter meinem Fenster ist, und spüre ein Kribbeln unter meinen Nackenhaaren. Ich denke an Vater, der oben liegt. Zu nichts ist er mehr nütze, aber jetzt brauche ich ihn doch, um meine Angst zu vertreiben.

Vielleicht denkt der rotblonde Junge manchmal noch an mich, an den alten Bauern, der nur dagestanden hatte, damals an dem schönen Sommertag.

8

»Alt? Helmer, du bist doch nicht alt!« Ada, die Mutter von Teun und Ronald, sitzt mir am Küchentisch gegenüber. »Dein Vater, ja, der ist alt.«

Ada hatte von ihren Söhnen so einiges gehört. Von den Eseln und von »schmalen Holzlatten« an den Fenstern. Sie ist neugierig. »Weißt du, wer auch alt ist? Klaas van Baalen, der gleich außerhalb von Broek wohnt. Der ist in deinem Alter, und er ist so schmutzig. Er kann nicht für sich selbst sorgen. Neulich hat man seine Schafe abgeholt, ganz vernachlässigt, Wollknäuel mit klappernden Knochen.«

Ich hatte vergessen, daß Ada ihren Kaffee jetzt ohne Milch trinkt, und deshalb gesagt, daß ich alt würde. Ada fand es »phantastisch«, was ich aus Wohn- und Schlafzimmer gemacht habe. Das Blau der Böden und der Holzteile sei »superschön«, und vor allem von dem vielen Platz war sie begeistert. Ich müsse mir aber noch eine Steppdecke kaufen, meinte sie. Diese Wolldecken, nein, das gehe wirklich nicht mehr, das sei »ganz furchtbar altmodisch«, und unter einer Steppdecke schlafe man »um einiges komfortabler«. (»Ist der Ausdruck eigentlich richtig?« überlegte sie gleich darauf.) Sie wollte wissen, was ich für die Lamellenjalousien bezahlt habe; ihre Vorhänge zu Hause (»diese Staubfänger«) wäre sie nämlich auch gerne los. Ob ich die Sessel einfach weggeworfen hätte? Ach richtig, eigentlich wisse sie das ja schon, plötzlich fiel ihr eine Geschichte ein, die Teun und Ronald erzählt hatten, etwas von einem »Teppichhaus«. »Wunderbar«, Sachen einfach wegwerfen zu können, Platz zu schaffen, nicht immer alles aufheben zu wollen. Dann ging sie noch einmal ins Schlafzimmer. Warum ich immer noch in einem Einzelbett schlafe? In einem großen Bett würde ich »schön viel Platz« haben. Sie schaute mich schelmisch an, als sie das sagte. Und um noch mal auf die Steppdecken zurückzukommen, das solle ich »unbedingt machen«, dann könne ich nämlich auch hübsche blaue Bettbezüge kaufen, und das Zimmer würde noch schöner und »frischer« wirken.

Auf dem Weg zur Küche breitete sie die Arme aus und zeigte auf die leeren Wohnzimmerwände. Kunst. Warum ich nicht mal »irgendwas an Kunst« kaufen würde?



Ada ist noch jung, sie wird etwa fünfunddreißig sein. Ihr Mann ist bestimmt zehn Jahre älter, vielleicht auch fünfzehn. Sie platzt fast vor Energie, am liebsten würde sie jede Woche hier putzen, statt nur einmal im Jahr, im