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2Wenn es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas wie die »arme Verwandtschaft« unter den philosophischen Themen gab, so waren das die Gefühle. Zwar hatten sich Klassiker wie Platon, Aristoteles, Spinoza, Descartes und Hume eingehend mit ihnen befaßt, aber seit Kant, der sie als »Gegner der Vernunft« abtat, wurde den Gefühlen in der Philosophie nur noch wenig Beachtung geschenkt. Erst seit den 1960er Jahren rückten sie wieder in den Fokus des Interesses, und zwar aufgrund der Einsicht, daß Gefühle kognitive mentale Zustände sind, die dazu dienen können, andere Zustände und Handlungen rational zu machen. Strittig ist indes, von welcher Art emotionale Kognitionen sind. Der Band versammelt in historisch-systematischen Einzelstudien die wichtigsten Positionen in der Philosophie der Gefühle und eignet sich gleichermaßen als umfassende Einführung in die Thematik wie auch als Seminarvorlage.

 

Sabine A. Döring ist Professorin für Praktische Philosophie am Philosophischen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

3Philosophie der Gefühle

Herausgegeben von
Sabine A. Döring

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweilige Seitenanfänge der Printausgabe an.

 

eISBN 978-3-518-73232-8

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

9

Sabine A. Döring
Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute

12

Teil I:
Emotionen und ihre Objekte

Sabine A. Döring
Einleitung

69

Anthony Kenny
Handlung, Emotion und Wille

76

William Lyons
Emotion

83

Ronald de Sousa
Die Rationalität der Emotionen

110

Teil II:
Emotionen als Kognitionen

Anja Berninger und Sabine A. Döring
Einleitung

141

Robert C. Solomon
Emotionen, Gedanken und Gefühle: Emotionen als Beteiligung an der Welt

148

Robert C. Roberts
Was eine Emotion ist: eine Skizze

169

Michael Stocker
Einige Betrachtungen zu intellektuellen Wünschen und Emotionen

202

6Teil III:
Theorie »der« Emotionen?

Sabine A. Döring
Einleitung

227

Paul E. Griffiths
Was Emotionen wirklich sind

236

Robert C. Roberts
Emotionen.
Ein Essay zur Unterstützung der Moralpsychologie

263

Teil IV:
Philosophie der Emotionen und empirische Wissenschaft

Jean Moritz Müller und Sabine A. Döring
Einleitung

295

Jenefer Robinson
Emotionen:
Biologische Tatsache oder soziale Konstruktion?

302

David Pugmire
Emotionen und ihre empirische Untersuchung

327

Teil V:
Phänomenologie der Emotionen

Jean Moritz Müller und Sabine A. Döring
Einleitung

363

Peter Goldie
Emotionen und Gefühle

369

Bennett W. Helm
Gefühlte Bewertungen:
Eine Theorie der Lust und des Schmerzes

398

7Teil VI:
Emotionen und Werte

Anja Berninger und Sabine A. Döring
Einleitung

433

Christine Tappolet
Emotionen und die Wahrnehmung von Werten

439

Kevin Mulligan
Von angemessenen Emotionen zu Werten

462

David Wiggins
Ein vernünftiger Subjektivismus

496

Teil VII:
Emotionen und Akteure

Holger Baumann und Sabine A. Döring
Einleitung

513

Nomy Arpaly
Über das rationale Handeln
gegen sein bestmögliches Urteil

520

Karen Jones
Gefühle, Willensschwäche und die normative
Vorstellung des Akteurseins

546

 

 

Nachweise und Literatur

 

 

570

Über die Autorinnen und Autoren

582

Namenregister

584

89Vorwort

Als ich 1998 gerade von einem Forschungsaufenthalt an der University of California, Berkeley, zurückgekehrt war, rief mich mein dortiger Betreuer, Sir Bernard Williams, an, um mich zu warnen. Ich hatte beschlossen, meine zuvor im Zusammenhang mit meiner Dissertation über Robert Musil bereits begonnene Arbeit zu den Gefühlen fortzusetzen. Williams nun befürchtete, daß das philosophische Interesse an den Gefühlen seinen Höhepunkt bereits überschritten habe. In diesem Fall sollte er ausnahmsweise einmal nicht recht behalten. Ironischerweise zählt ausgerechnet einer von Williams’ Schülern, Peter Goldie, zu jenen Philosophen, die der Debatte um die Jahrtausendwende noch einmal eine völlig neue Richtung gegeben haben – zu einer Zeit, zu der in Deutschland die Renaissance des Gefühls in der Philosophie überhaupt erst ankam.

Im Zuge dieser Entwicklung versammelt der vorliegende Band neuere und neueste Texte zur Philosophie der Gefühle und präsentiert diese – bis auf eine Ausnahme – erstmalig in deutscher Übersetzung. Mit Gefühlen sind dabei durchweg emotionale Gefühle bzw. Emotionen gemeint, die sich gegenüber nichtemotionalen Gefühlen dadurch auszeichnen, daß sie auf etwas in der Welt gerichtet sind und es als in bestimmter Weise seiend repräsentieren. Es ist die hierin zum Ausdruck kommende kognitivistische Reinterpretation jedenfalls bestimmter Gefühle, die für deren Renaissance maßgeblich verantwortlich ist. Demnach sind nämlich Emotionen (emotions) wie Furcht, Ärger, Empörung, Neid, Trauer, Bewunderung, Scham oder Stolz keine reinen Gefühle (feelings), sondern repräsentationale und damit kognitive mentale Zustände. Furcht vor einer zähnefletschenden Dogge zum Beispiel erschöpft sich demnach nicht in dem »Wie-es-ist«, sie zu erleben. Vielmehr ist sie auf den Hund gerichtet und (re)präsentiert ihn als gefährlich. Indem damit die Möglichkeit eröffnet ist, daß eine Emotion ihren jeweiligen Gegenstand korrekt repräsentiert (wie in dem Beispiel den Hund als gefährlich), kann sie ihrem Subjekt möglicherweise Wissen über die Welt vermitteln.

Im vorliegenden Band werden Emotionen aus sieben verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen. Die daraus resultierenden Teile dieses Bandes lassen sich ihrerseits in zwei große Bereiche 10untergliedern: Während in Teil I (Emotionen und ihre Objekte), II (Emotionen als Kognitionen), III (Theorie »der« Emotionen?) und IV (Philosophie der Emotionen und empirische Wissenschaft) Grundsatzfragen innerhalb der Theorie der Emotionen behandelt werden, verweisen die Teile V (Phänomenologie der Emotionen), VI (Emotionen und Werte) und VII (Emotionen und Akteure) darüber hinaus auf den systematischen Zusammenhang der Philosophie der Emotionen mit anderen philosophischen Disziplinen wie insbesondere der Theorie der Werte. Überraschenderweise stehen diese beiden so offenkundig affinen Theoriestränge bisher weitgehend unverbunden nebeneinander. In der diesem Band vorangestellten allgemeinen Einleitung gehe ich der Frage nach, warum das so ist. Nach meiner Hypothese ist dies nur zum Teil darauf zurückzuführen, daß moderne Emotionstheorien derzeit wenig beachtete philosophische Traditionen (wie etwa die der Brentano-Schule) fortschreiben. Vor allem formulieren führende Emotionstheoretiker eine offene Herausforderung an das heute gängige Bild des menschlichen Geistes. Eine Synthese von Emotions- und Werttheorie hätte entscheidende Konsequenzen für dieses Bild. Der Preis der Integration jüngster emotionstheoretischer Einsichten in die Werttheorie könnte darin bestehen, daß dieses Bild hier und auch in systematisch unmittelbar angrenzenden Disziplinen wie insbesondere der Ethik und der Theorie der praktischen Rationalität verabschiedet werden muß.

Den einzelnen Teilen sind jeweils gesonderte Einleitungen vorangestellt, die die Texte einordnen und die verdeutlichen sollen, warum diese in dem vorliegnden Band Eingang finden. Einige Teileinleitungen habe ich gemeinsam mit Doktoranden verfaßt, die ebenfalls über die Emotionen forschen. Bei ihnen – Holger Baumann, Anja Berninger und Jean Moritz Müller – bedanke ich mich hiermit ganz herzlich. Gemeinsam mit Susanne Mantel und Tom Poljansek haben sie mich auch tatkräftig und kompetent dabei unterstützt, das Manuskript in seine korrigierte Endfassung zu bringen. Mein Dank gilt ferner den Übersetzern Christoph Ammann, Louise Andersen, Anja Berninger, Pegah Kassraian, Anita Konzelmann Ziv und Jean Moritz Müller sowie Eva Gilmer und Nora Mercurio vom Suhrkamp Verlag für ihre Unterstützung und die reibungslose Zusammenarbeit. Ganz besonders verpflichtet fühle ich mich den Autoren dieses Bandes, die fast alle die Kosten für die 11Übersetzung ihrer Beiträge selbst übernommen haben – anders wäre dieser Band nicht möglich gewesen.

 

Sabine A. Döring

Tübingen im März 2009

12Sabine A. Döring
Allgemeine Einleitung:
Philosophie der Gefühle heute

Emotionen

Die Gefühle haben in der Philosophie der Gegenwart eine Renaissance erfahren. Nachdem die Mehrzahl der klassischen Philosophen – wie Platon, Aristoteles, Baruch de Spinoza, René Descartes oder David Hume – sich eingehend mit ihnen befaßt hatte, wurde den Gefühlen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zunächst kaum Beachtung zuteil, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil der Ausdruck »Gefühl« und seine nächsten Verwandten eine so große Vielzahl unterschiedlicher Phänomene bezeichnen, daß kaum Aussicht auf eine einheitliche Theorie zu bestehen scheint. Bis heute ist es eine offene Frage, ob es eine Theorie der Gefühle geben kann und, falls ja, wie eine solche Theorie aussehen könnte. Genauer lautet die Frage, ob es eine einheitliche Theorie der emotions geben könne, denn die fragliche Debatte wird überwiegend in englischer Sprache geführt und die Ausdrücke »emotion« und »Gefühl« sind keineswegs bedeutungsgleich.1 Wie schon in der Einleitung zu dem von Verena 13Mayer und mir 2002 herausgegebenen Band zur Moralität der Gefühle werde ich von emotions hier als »Emotionen« sprechen.2 Dabei handelt es sich nicht um ein Wort der deutschen Alltagssprache, sondern um einen terminus technicus für Gefühle im engeren Sinne wie z. B. Furcht, Ärger, Empörung, Neid, Trauer, Bewunderung, Scham oder Stolz, die etwa schon Hume (nicht minder technisch) als »Eindrücke der Selbstwahrnehmung« (impressions of reflexion) von »Eindrücken der Sinne« (impressions of sensation) abzugrenzen versucht hatte.3 Der vorliegende Band soll einen Beitrag zum Ver14ständnis solcher Gefühle im engeren Sinne leisten, indem moderne Klassiker versammelt und – bis auf eine Ausnahme – erstmalig in deutscher Übersetzung vorgestellt werden.

Gefühle im engeren Sinne sind also Emotionen bzw. »emotionale Gefühle«. Gegenüber »nichtemotionalen Gefühlen« zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie auf etwas in der Welt gerichtet sind und es als in bestimmter Weise seiend repräsentieren. Wer sich vor einer Kreuzotter fürchtet, die sich beim Waldspaziergang plötzlich zu seinen Füßen windet, der sieht die Schlange als furchteinflößend oder gefährlich an; wer seinen Nachbarn beneidet, der in seinem neuen Maserati vorüberfährt, dem präsentiert sich der Nachbar im Erleben der Emotion als ein beneidenswerter Mann; und wer sich seiner Untat schämt, dem scheint es, daß er wirklich etwas verbrochen hat. Damit wird typischerweise nicht geleugnet, daß Emotionen zugleich Erlebnisse einer bestimmten Qualität und Intensität sind: eben Gefühle (feelings).4 Aber anders als ein nichtemotionales Gefühl erschöpft sich eine Emotion nicht in einer bestimmten Erleb15nisqualität – dem »Wie-es-ist«, sie zu empfinden –, sondern repräsentiert ihren jeweiligen Gegenstand als in bestimmter Weise seiend: die Schlange als gefährlich, den Nachbarn als beneidenswert und die Untat als beschämend für das eigene Selbst, weil man den eigenen Ansprüchen nicht genügt.5 Technisch gesprochen lassen sich Emotionen demnach nicht auf eine bestimmte Phänomenologie (Erlebnisqualität) reduzieren, sondern sind wesentlich intentional (auf etwas in der Welt gerichtet) und haben einen repräsentationalen Inhalt (stellen die Welt als in bestimmter Weise seiend dar). Dabei entspricht der repräsentationale Inhalt einer Emotion einer Bewertung des Repräsentierten. Indem sich im Erleben von Furcht z. B. eine Schlange als gefährlich darstellt, repräsentiert die Emotion ihren Gegenstand in seiner Bedeutung für das Subjekt; und auch wenn man eine andere Person als beneidenswert oder das eigene Handeln als beschämend erlebt, sind die involvierten Repräsentationen nicht neutral, sondern bewerten die andere Person bzw. das eigene Selbst im Lichte eigener Ansprüche, Ziele und Motive.6

Diese Charakteristika machen unmittelbar verständlich, warum Emotionen eine so wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Gleichwohl werden ihre Intentionalität und ihr evaluativ-repräsentationaler Inhalt vielfach durch ein weiteres Charakteristikum überdeckt: ihre motivierende Kraft.7 Das bemängelt bereits Robert Musil, wenn er in seiner sogenannten »Gefühlspsychologie« feststellt, daß wir den Gefühlen in der modernen Lebenswelt irrigerweise allein »die 16Rolle des mehr oder minder blinden Antreibers« zubilligten.8 Diese Diagnose läßt sich auch für die moderne Philosophie und Wissenschaft stellen, wenn etwa der Philosoph Michael Smith in seiner neohumeschen Theorie der Motivation Humesche Emotionen als rein funktionale Handlungsdispositionen reinterpretiert;9 oder wenn der Ökonom Robert H. Frank das Spektrum rationalen Entscheidens und Handelns gegenüber dem neoklassischen Paradigma seiner Disziplin um sogenannte emotionale Entscheidungen erweitert und dazu Emotionen schlichtweg mit nichtmaterialen Präferenzen identifiziert.10 Beide Autoren blenden den evaluativ-repräsentationalen Inhalt der Emotionen aus, obschon dieser von Hume selbst mindestens in seiner Analyse des Stolzes klar herausgestellt wurde und er hierin mit einer ganzen Reihe von Emotionstheoretikern bis zurück in die Antike übereinstimmt.

Es ist gerade die Wiederentdeckung des evaluativ-repräsentationalen Inhalts der emotionalen Gefühle, die für ihre Renaissance in der Gegenwartsphilosophie verantwortlich ist. Denn dadurch wird 17die Möglichkeit eröffnet, daß emotionale Gefühle nicht bloß »blinde Antreiber« sind. Möglicherweise können Emotionen andere Zustände und Handlungen nicht bloß verursachen, sondern sie auch rational machen. Einen repräsentationalen Inhalt zu haben, heißt, einer Korrektheitsbedingung zu unterliegen. Indem beispielsweise Furcht eine Schlange als gefährlich repräsentiert, kann die Repräsentation korrekt oder inkorrekt sein und dementsprechend die Emotion angemessen oder unangemessen. Das heißt natürlich nicht, daß der repräsentationale Inhalt einer Emotion auch tatsächlich korrekt ist. In dem Beispiel könnte die Furcht etwa eine harmlose Blindschleiche als gefährlich fehlrepräsentieren. Gleichwohl impliziert die Auszeichnung von Emotionen als Trägern repräsentationalen Inhalts, daß der Inhalt einer Emotion unter geeigneten Bedingungen korrekt und das Subjekt dementsprechend berechtigt sein könnte, auf ihn zu bauen. Das wiederum bedeutet, daß Emotionen ihrem Subjekt möglicherweise Wissen über die Welt vermitteln können.

Aufgrund ihrer essentiell evaluativen Repräsentation der Welt ist diese mögliche »epistemische« bzw. »kognitive« Rolle der Emotionen von besonderer Relevanz für die Theorie der Werte und damit zugleich für die Ethik und Ästhetik sowie die Theorie der Person.11 Von jeher ist es eine weit über die Philosophie hinaus verbreitete Annahme, daß die Werte und Werteigenschaften, die wir den Dingen zuschreiben, auf bestimmte Weise mit unseren Gefühlen zusammenhängen. Hierfür spricht bereits die Struktur der normalen Sprache. Nicht nur gibt es in allen mir bekannten Sprachen eine beeindruckende Vielzahl spezifischer oder »inhaltsreicher« (thick) Wertprädikate, die semantisch direkt auf bestimmte Gefühle zurückverweisen: im Deutschen z. B. »beneidenswert«, »beschämend«, »abscheulich«, »ärgerlich«, »bewundernswert«, »erfreulich« oder »empörend«. Auch die abstrakten (thin) Wertprädikate »gut«, »richtig«, »schön«, »häßlich«, »erhaben« und dergleichen, mit denen sich die Ethik und Ästhetik vornehmlich beschäftigen, sind nach Meinung 18vieler an das menschliche Fühlen gebunden.12 Dies einmal zugestanden, stellt sich unmittelbar die Frage, ob somit Werteigenschaften bloß Projektionen subjektiver Reaktionen sind, die uns über die wirkliche Beschaffenheit der bewerteten Gegenstände in Wahrheit gar nichts verraten; oder ob Werteigenschaften gleichwohl reale Eigenschaften von Dingen sein können, über die uns unsere Gefühle unter geeigneten Bedingungen Wissen geben. Die zweite Möglichkeit setzt klarerweise voraus, daß Gefühle überhaupt von der Welt handeln und sie als Träger bestimmter Werteigenschaften repräsentieren – daß sie also Emotionen in dem beschriebenen Sinne sind.

Keiner der hier vertretenen Autoren zieht die Intentionalität und den evaluativ-repräsentationalen Inhalt der Emotionen in Zweifel. Umgekehrt ist die Mehrzahl der Beiträger gerade bestrebt, diese zu etablieren. Das heißt allerdings weder, daß die in Frage stehenden Charakteristika emotionaler Gefühle von allen in gleicher Weise analysiert werden, noch herrscht Einigkeit darüber, welche so genannten Gefühle sich kraft einer solchen Analyse als Emotionen qualifizieren, sofern diese überhaupt für eine homogene Klasse gehalten werden. Umstrittene Kandidaten sind beispielsweise Stimmungen und Schmerzzustände. Insofern Stimmungen wie Depression oder Gereiztheit definitionsgemäß nicht auf bestimmte Gegenstände gerichtet sind, repräsentieren sie folglich auch nicht bestimmte Gegenstände als in bestimmter Weise seiend. Ronald de Sousa etwa nimmt sie daher von den »eigentlichen Emotionen« (emotions proper) aus.13 Andere wie exemplarisch Musil betonen demgegenüber, daß Stimmungen gleichsam die ganze Welt in ihrem Sinne färben und insofern sehr wohl einen repräsentationalen Inhalt haben.14 Dementsprechend stellt auch Ludwig Wittgenstein fest, daß die »Welt 19des Glücklichen eine andere ist als die des Unglücklichen«.15 Überdies scheint der Übergang von einer Stimmung oder »unbestimmten« Emotion hin zu einer »bestimmten« fließend: Eine unbestimmte Gereiztheit kann sich schließlich in einem Wutanfall über die Unpünktlichkeit des Partners entladen. Umgekehrt kann die unterdrückte Wut auf den permanent unpünktlichen Partner in einen unbestimmten Zustand der Gereiztheit münden. Ohnehin treten bestimmte und unbestimmte Emotion nie in Reinform auf. Selbst die Verliebtheit, die de Sousa als exemplarisch für eine bestimmte Emotion gilt, weist zugleich Stimmungsqualitäten auf, denn der Verliebte sieht normalerweise nicht nur die auserwählte Person, sondern auch weite Teile der übrigen Welt mit anderen Augen.

Die Meinungsverschiedenheiten in der Frage, ob Schmerzzustände zu den Emotionen zählen, wie dies von Bennett Helm behauptet wird,16 betreffen sowohl deren Intentionalität als auch ihren evaluativen Charakter. Nicht nur ist strittig, ob Schmerzen einen repräsentationalen Inhalt haben, ob etwa der Schmerz in meinem großen Zeh einen Gewebeschaden repräsentiert und diesen als schlecht bewertet.17 Selbst wenn das so wäre, bleibt fraglich, ob es sich hierbei um eine Bewertung in demselben normativen Sinne handelt, wie es die emotionale Bewertung etwa eines kaltblütigen Mörders als verachtenswert oder der Pyramiden von Gizeh als bewundernswert sind.18 So läßt sich in den beiden letztgenannten Beispielen sinnvoll sagen, daß der Mörder Verachtung bzw. die Pyramiden Bewunderung »verdienten« und damit auch die Zuschreibung der entsprechenden Wertprädikate.19 Demgegenüber scheint die Äußerung, der Gewebeschaden »verdiene« Schmerz, kaum sinnvoll zu sein. Diese 20Divergenz legt den Verdacht nahe, daß Schmerzzustände, sofern sie überhaupt repräsentationale Zustände sind, zumindest keine genuin evaluativen Repräsentationen enthalten.

Strittig ist schließlich auch, wie die Erlebnisqualität der Emotionen zu fassen ist. Ich habe unterschieden zwischen nichtemotionalen und emotionalen Gefühlen (Emotionen) und beide als Erlebnisse einer bestimmten Qualität und Intensität charakterisiert. Worin aber besteht die Phänomenologie einer Emotion? Ist sie (oder involviert sie jedenfalls) das Bewußtsein körperlicher Veränderungen (wie etwa Muskelreaktionen, eingeschlossen Änderungen des Gesichtsausdrucks, hormonelle Veränderungen oder Änderungen des vegetativen Nervensystems), so daß emotionale Gefühle wesentlich Körpergefühle sind? Wenig überraschend wird diese Auffassung insbesondere von Theoretikern vertreten, die in der Tradition William James’ stehen.20 Hingegen schreiben andere, wie etwa Helm und Martha Nussbaum, Körpergefühlen in ihrer Analyse der Phänomenologie der Emotionen eine vergleichsweise untergeordnete Rolle zu.21


1

  

Meilensteine in dieser Debatte sind die Arbeiten Amélie Rortys, Paul Griffiths’, Robert C. Roberts’ und Thomas Dixons: Amélie O. Rorty, »Aristotle on the Metaphysical Status of Pathe«, in: Review of Metaphysics 37 (1984), S. 521-546; Paul Griffiths, What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories, Chicago 1997 (Auszug in diesem Band, Teil III, S. 236ff.); Robert C. Roberts, Emotions: An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003, Kap. 1 (Auszug in diesem Band, Teil III, S. 263ff.); Thomas Dixon, From Passions to Emotions: The Creation of a Secular Psychological Category, New York 2003. Im dritten Teil dieses Bandes werden die widerstreitenden Forschungspositionen exemplarisch dokumentiert.

Generell sind die für die Renaissance der Gefühle wegbereitenden Arbeiten größtenteils in englischer Sprache formuliert, zumal sich ja diese Renaissance auf den Britischen Inseln, in Kanada und den USA deutlich früher abgespielt hat als in Deutschland, wo die Gefühle erst um die Jahrtausendwende wieder in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerieten. Einen wichtigen französischsprachigen Beitrag liefert etwa das Buch der Mulligan-Schülerin Christine Tappolet Émotions et valeurs (Paris 2000), aus dem ein Auszug in diesem Band (Teil VI, S. 439ff.) abgedruckt ist. Für die deutsche Sprache zu nennen sind z. B. die Arbeiten Holmer Steinfaths, insbesondere sein Buch Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen (Frankfurt am Main 2001) sowie seine Aufsätze »Gefühle und Werte« (in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 55 [2001], S. 196-220) und »Emotionen, Werte und Moral« (in: Sabine A. Döring/Verena Mayer (Hg.), Die Moralität der Gefühle, Berlin 2002, S. 105-122); ferner Christiane Voss’ Buch Narrative Emotionen (Berlin 2004) sowie Jan Slabys Gefühl und Weltbezug (Paderborn 2008). Davon abgesehen, gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Sammelbänden und Einführungen, die ich hier nicht eigens aufliste, die aber allesamt darin übereinstimmen, daß verantwortlich für die Renaissance des Gefühls in der Gegenwartsphilosophie ebenjene »kognitivistische« Wende gemacht wird, die den angelsächsischen Sprachraum schon seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt (vgl. exemplarisch Martin Hartmann, Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, Frankfurt am Main 2005). Worin diese Wende besteht, wie weit sie sich bis heute entwickelt hat und vor allem welche Konsequenzen sie für die Vernetzung der Philosophie der Gefühle – bzw. der Emotionen – mit anderen philosophischen Disziplinen hat, soll in dieser Einleitung skizziert werden. Empfohlen sei hierzu auch das in Kürze erscheinende Oxford Handbook of the Philosophy of Emotion (Oxford 2009), in dem Peter Goldie die namhaften Protagonisten der philosophischen Emotionsdebatte der Gegenwart mit Beiträgen zu ihren jeweiligen Schwerpunkten versammelt hat.

2

  

Vgl. Sabine A. Döring, »Die Moralität der Gefühle: Eine Art Einleitung«, in: Sabine A. Döring/Verena Mayer (Hg.), Die Moralität der Gefühle, Berlin 2002, S. 15-35, hier S. 30 (wieder in: Achim Stephan/Henrik Walter [Hg.], Moralität, Rationalität und die Emotionen, Ulm 2003, S. 17-50).

3

  

Vgl. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, aus dem Englischen von Theodor Lipps, Hamburg 1978, Bd. II, S. 3ff. (engl: A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects [1739/40], hg. von Lawrence A. Selby-Bigge und Peter H. Nidditch, Oxford 1978). Das soll natürlich nicht heißen, daß Emotionen, wie sie hier verstanden werden, Humesche Eindrücke der Selbstwahrnehmung sind. Ohnehin reichen die Analysen Humescher Gefühle von reinen Erlebnisinhalten, die eine bloß kausale Rolle spielen (etwa bei Anthony Kenny), bis hin zu »propositionalen« Gefühlen, wie sie in rationale Beziehungen eingehen können (bei Donald Davidson); und selbst so wohlwollende Interpreten wie Annette Baier stoßen in Humes gefühlstheoretischen Äußerungen auf offensichtlich inkohärente Passagen. Vgl. Annette Baier, A Progress of Sentiments. Reflections on Hume’s »Treatise«, Cambridge, Mass., 1991, S. 160.

4

  

Damit beziehe ich mich ausdrücklich auf den heutigen Forschungsstand. In der Frühphase der Renaissance des Gefühls in der Gegenwartsphilosophie standen zunächst rein intentionalistische und »propositionale« Theorien emotionaler Gefühle und Feeling-Theorien einander unversöhnlich gegenüber (s. u.). Eine Ausnahme von der genannten These bildet ferner bis heute Roberts. Aber auch er leugnet nicht, daß die Erlebnisqualität, die Emotionen typischerweise aufweisen, eine entscheidende Rolle spielt. Vgl. dazu Robert C. Roberts, »Emotional Consciousness and Personal Relationships«, in: Rainer Reisenzein und Sabine A. Döring (Hg.), Perspectives on Emotional Experience, Sonderband von Emotion Review, der Zeitschrift International Society Research on Emotion, Band 1, Nr. 3 (Juli 2009), S. 281-288.

Daß Emotionen wesentlich eine phänomenale oder affektive Seite aufweisen, entspricht dem Alltagsverständnis. Wer dem widersprechen und die Affektivität der Emotionen leugnen will, frage sich, ob er nicht vielleicht die Emotion mit einem bloßen Disponiertsein zu einer solchen verwechselt. Sicherlich kann jemand etwa als eifersüchtiger Ehemann gelten, ohne sich dazu jahrelang in einem Zustand des Aufruhrs befinden und sich seiner Eifersucht permanent bewußt sein zu müssen. Seine Eifersucht besteht darin, daß er dazu disponiert ist, seiner Frau beim geringsten Anlaß zu mißtrauen und aufzubrausen. Somit setzt aber die Erklärung der Disposition zur Eifersucht die Erklärung des aktualen (d. h. des nicht bloß dispositionell vorliegenden, sondern aktualisierten) und bewußten Zustands des Mißtrauens sowie des aktualen und bewußten affektiven Engagements immer schon voraus. Aufgrund dieses Primats werde ich das Prädikat »Emotion« für aktuale, bewußte Zustände reservieren. In jedem Fall ist der Gebrauch eines Emotionswortes wesentlich darauf zurückzuführen, daß das damit Beschriebene zumindest gelegentlich bestimmte Empfindungszustände ins Leben ruft: Eine Eifersucht, die nie zum Ausbruch käme, hätte ihren Namen nicht verdient. Vgl. analog William Lyons in diesem Band, Teil I, S. 83ff.

5

  

Wie auch etwa Stolz ist Scham eine »reflexive« Emotion, die sich auf das eigene Selbst zurückbezieht. Vgl. Gabriele Taylor, Pride, Shame and Guilt: Emotions of Self-Assessment, Oxford 1985, S. 41 ff.; vgl. auch Bennett Helm, Emotional Reason. Deliberation, Motivation, and the Nature of Value, Cambridge 2001, S. 103f. In der Psychologie findet sich eine analoge Unterscheidung zwischen »reflexiven« und »nichtreflexiven« Emotionen bei Nico H. Frijda, The Emotions, Cambridge 1986.

6

  

Diesem Aspekt tragen auch psychologische »Einschätzungstheorien« (appraisal theories) Rechnung. Vgl. z. B. Rainer Reisenzein, »Denken und Emotionen«, in: Joachim Funke/Peter A. Frensch (Hg.), Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Kognition (Handbuch der Psychologie, Band 4), Göttingen 2006, S. 475-484; Klaus Scherer/Angela Schorr/Tom Johnstone (Hg.), Appraisal Processes in Emotion: Theory, Methods, Research, London 2001; vgl. auch Magda Arnold, Emotion and Personality, 2 Bde., New York 1960.

7

  

Heute ist allerdings strittig, ob es wirklich zu den konstitutiven Eigenschaften von Emotionen gehört, zum Handeln zu motivieren (s. u.).

8

  

Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. IV, S. 1193. Für eine ausführliche Analyse der Gefühlstheorie Musils vgl. Sabine A. Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie, Paderborn 1999; vgl. auch dies., »Indem die Dichtung Erlebnis vermittelt, vermittelt sie Erkenntnis. Zum Erkenntnisanspruch der Kunst«, in: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001, S. 49-67; dies., »Kognitive Theorie des Gefühls und kognitive Ästhetik: Zum Begriff der Gestalt bei Robert Musil«, in: Alex Burri/Wolfgang Huemer (Hg.), Kunst und Kognition, Paderborn 2007, S. 149-171; Kevin Mulligan, »Musils Analyse des Gefühls«, in: Bernhard Böschenstein/Marie-Louise Roth (Hg.), Hommage à Musil, Bern 1995, S. 87-110; Catrin Misselhorn, »Musils Gefühlstheorie im Kontext der neueren emotionstheoretischen Debatte und die Möglichkeit falscher Gefühle«, in: Kevin Mulligan/Armin Westerhoff (Hg.), Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle, Paderborn 2009, S. 33-54.

9

  

Vgl. Michael Smith, »The Humean Theory of Motivation«, in: Mind 96 (1987), S. 36-61; The Moral Problem, Oxford 1994, Kap. 4.

10

  

Vgl. Robert H. Frank, Die Strategie der Emotionen, München 1992 (engl.: Passions within Reason. The Strategic Role of the Emotions, New York 1988). Exemplarisch wird Frank diesbezüglich von Ronald de Sousa kritisiert, der darauf hinweist, daß Franks spieltheoretische Situationen Emotionen nicht essentiell involvierten: Emotionen kämen dort in keinem relevanten Sinn vor, in dem sie nicht einfach auf Präferenzen reduzierbar seien. Vgl. Ronald de Sousa, »Paradoxical Emotions: On sui generis Emotional Irrationality«, in: Christine Tappolet/Sarah Stroud (Hg.), Weakness of Will and Practical Irrationality, Oxford 2003, S. 274-297, hier S. 261.

11

  

Dieser Bezug ist von fast allen Philosophen, die sich mit den Emotionen beschäftigen, gesehen worden. Zu nennen sind hier z. B. Aaron Ben-Ze’ev, John Deigh, Ronald de Sousa, Peter Goldie, Patricia Greenspan, Bennett Helm, Karen Jones, Martha Nussbaum, David Pugmire, Robert C. Roberts, Amélie Rorty, Robert Solomon, Jan Slaby, Holmer Steinfath, Michael Stocker, Christine Tappolet, Gabriele Taylor, David Wiggins, Bernard Williams und Richard Wollheim.

12

  

»Inhaltsreiche« Wertprädikate bzw. die durch sie bezeichneten Begriffe unterscheiden sich von abstrakten dadurch, daß sie neben ihrer evaluativen Komponente zugleich eine mit dieser unauflöslich verbundene deskriptive Komponente aufweisen. Vgl. Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985; vgl. auch Elijah Millgram, »Inhaltsreiche ethische Begriffe und die Unterscheidung zwischen Werten und Tatsachen«, in: Christoph Fehige/Georg Meggle (Hg.), Zum Moralischen Denken, Bd. 1, Frankfurt am Main 1995, S. 354-388.

13

  

Vgl. Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt am Main 1997, S. 31 (engl.: The Rationality of Emotion, Cambridge, Mass., 1987; Auszug in diesem Band, Teil I, S. 110ff.).

14

  

Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. IV, S. 1189ff.; vgl. auch Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen, insb. Kap. 2 (wie Anm. 8).

15

  

Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, wiederabgedruckt nach der zweiten verbesserten Ausgabe von 1922, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt am Main 1984, § 6.43.

16

  

Vgl. Bennett Helm, »Gefühlte Bewertungen: Eine Theorie der Lust und des Schmerzes«, in diesem Band, Teil V, S. 398ff.

17

  

Vgl. z. B. Michael Tye, »Another Look at Representationalism and Pain«, in: Murat Aydede (Hg.), Pain: New Essays on Its Nature and the Methodology of Its Study, Cambridge, Mass., 2006, S. 99-120.

18

  

Hier drängt sich vermutlich vielen die Frage auf, ob eine Emotion wie Verachtung jemals angemessen sein kann. Michelle Mason argumentiert, daß sie das kann und daß Verachtung unter bestimmten Bedingungen sogar moralisch gefordert ist. Vgl. Michelle Mason, »Contempt as a Moral Attitude«, in: Ethics 113 (2003), S. 234-274.

19

  

Vgl. John McDowell, »Values and Secondary Qualities« [1985], wieder in: Stephen Darwall/Allan Gibbard/Peter Railton (Hg.), Moral Discourse and Practice. Some Philosophical Approaches, New York 1997, S. 201-213, hier S. 207.

20

  

Vgl. z. B. Jesse Prinz, Gut Reactions: A Perceptual Theory of Emotion, New York 2004.

21

  

Vgl. Helm, Emotional Reason (wie Anm. 5); Martha Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001.

Die Theorie der Emotionen
im philosophischen Kontext

Obgleich die Renaissance des Gefühls in der Gegenwartsphilosophie nun schon geraume Zeit anhält, sind Meinungsverschiedenheiten wie die soeben skizzierten an der Tagesordnung. Es ist auch nicht abzusehen, wie sie sich beilegen lassen, da ja Dissens vielfach bereits in grundlegenden Fragen besteht. Auch wenn sich heute die Mehrheit der Philosophen darüber einig ist, daß Emotionen intentional sind und einen evaluativ-repräsentationalen Inhalt haben: Welches sind erstens die Gründe, die für diese These sprechen? Die Wahrheit dieser These vorausgesetzt: Wie verhält sich zweitens der intentionale Inhalt der Emotionen zu den intentionalen Inhalten anderer Zustände (wie etwa Urteilen oder sinnlichen Wahrnehmungen)? 21»Borgen« möglicherweise Emotionen ihren intentionalen Inhalt bloß von anderen intentionalen Zuständen und versehen ihn mit einer »affektiven Komponente«; oder verfügen sie über eine Intentionalität sui generis? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, ob man Emotionen als »Kognitionen« begreift und, falls ja, als Kognitionen welcher Art: Sind sie vielleicht affektiv getönte Konglomerate aus »Wünschen« (desires) und »Überzeugungen« (beliefs); oder entsprechen sie (einer spezifischen Art) von Urteilen; ähneln sie eher sinnlichen Wahrnehmungen; oder konstituieren sie eine eigenständige Klasse von Kognitionen? Alle diese Fragen gehen davon aus, daß sich die Emotionen unter eine homogene Kategorie subsumieren lassen. Trifft dies aber drittens überhaupt zu? Kann es eine Theorie der Emotionen geben? Wie verhält sich viertens die philosophische Theoriebildung zur empirischen Wissenschaft? Inwiefern sind etwa psychologische, neurowissenschaftliche oder biologische Ergebnisse fruchtbar und relevant für die Philosophie der Emotionen und umgekehrt?

Im vorliegenden Band werden zunächst klassische Positionen zu diesen Grundsatzfragen der gegenwärtigen Emotionsdebatte vorgestellt. Den vier angeführten Grundsatzfragen korrespondieren in dieser Reihenfolge die ersten vier Teile dieses Buches. Im fünften, vor allem aber im sechsten und siebten Teil geht dieser Band dann deutlich über Grundsatzfragen hinaus, wie sie innerhalb der Philosophie der Emotionen erörtert werden. So soll aufgezeigt werden, wie die Philosophie der Emotionen mit anderen philosophischen Disziplinen stärker vernetzt werden könnte, und zwar insbesondere mit der Theorie der Werte sowie mit der mit dieser systematisch verbundenen Ethik und Theorie der praktischen Rationalität. Zwar reflektieren auch bereits der dritte und vierte Teil einen über die Philosophie der Emotionen weit hinausweisenden Methodenstreit, indem kausale Theorie der Bedeutung und Begriffsanalyse gegeneinander ausgespielt werden. Aber diese methodologische Grundsatzfrage ist zu unterscheiden von der Frage, inwiefern die Philosophie der Emotionen einen konstruktiven und wesentlichen Beitrag zur Lösung klassischer philosophischer Probleme leisten kann.

Trotz des nunmehr seit fast sechzig Jahren wiedererwachten Interesses an den Emotionen steht die dadurch entfachte Diskussion überraschenderweise nach wie vor relativ unverbunden neben der Theorie der Werte. Exemplarisch sei hier Kevin Mulligan zitiert:

22Die Philosophie und Psychologie der Emotionen schenkt der Theorie der Werte wenig Aufmerksamkeit, und die letztere schenkt ersterer nur ein klein wenig mehr Aufmerksamkeit.22

Wie auch Mulligan herausstreicht, muß das angesichts der oben skizzierten offenkundigen Affinität zwischen Emotionen und Werten einigermaßen verwundern. Selbst in der Philosophie des Geistes führt die Philosophie der Emotionen bis heute eine eher randständige Existenz. Obwohl ein zunehmendes Interesse an Fragen des Bewußtseins zu beobachten ist, beschränkt sich die Beschäftigung mit emotionalem Bewußtsein noch immer auf einzelne Arbeiten.23 Ein eher oberflächlicher Grund hierfür mag darin gesehen werden, daß die Philosophie der Emotionen sich zunächst als eigenständige Disziplin etablieren und dazu gleichsam erst einmal im eigenen Hause aufräumen muß. Tiefere Gründe scheinen mir darin zu bestehen, daß zum einen die Philosophie der Emotionen vielfach an heute wenig beachtete Traditionen anknüpft.24 Zum anderen und vor allem aber formuliert die Philosophie der Emotionen in ihrer aktuellen Form einen Angriff auf die gängige Theorie des Geistes.

So werden erstens Emotionen als wesentlich phänomenale Zustände gedeutet, und dabei wird ihre phänomenale Seite in einer mit gängigen Naturalisierungsversuchen des Geistes unvereinbaren Weise unauflöslich an ihre Intentionalität gebunden.25 Diese Analyse steht im Widerspruch zur rein funktionalistischen Analyse von Wünschen, wie sie in der modernen Ethik und Theorie der praktischen Rationalität typischerweise an die Stelle Humescher »Gefühle« (passions bzw. sentiments) gesetzt werden.26 Wie einst Hume 23selbst rechnen heute viele Emotionstheoretiker statt dessen Wünsche wieder den Gefühlen zu, verstehen sie allerdings ausdrücklich als emotionale Gefühle.27 Humes Ansatz ist auch der Ausgangspunkt der heute gängigen »Kognitiv-konativ-Einteilung« (cognitive-conative divide) aller intentionalen mentalen Zustände in zwei distinkte und einander wechselseitig ausschließende Klassen, nämlich »konative« Wünsche und »kognitive« Überzeugungen.28 Auch dieser Einteilung fügt sich die moderne Emotionstheorie zweitens nicht bzw. greift sie sogar offen an.29 Daher kann es kaum verwundern, daß der Emotionstheorie mit einer gewissen Reserviertheit begegnet wird.

Ich werde im folgenden beide der benannten Herausforderungen erläutern. Für die erste stehen exemplarisch sowohl der Beitrag Peter Goldies als auch der Beitrag Bennett Helms im fünften Teil des vorliegenden Bandes. Die zweite Herausforderung formuliert hier Helm und bricht damit endgültig mit dem die Philosophie derzeit dominierenden Bild des menschlichen Geistes, wohingegen dieser Bruch in der Frühphase »kognitivistischer« Emotionsphilosophie noch vermieden wird. Als »kognitivistisch« bezeichne ich dabei eine jede Theorie, die Emotionen einen repräsentationalen Inhalt zuschreibt und so die Möglichkeit eröffnet, daß Emotionen eine kognitive Rolle spielen, das heißt andere Zustände und Handlungen rational machen können.30

24Mithin dient diese Einleitung primär der Einordnung der jüngsten Philosophie der Emotionen im Kontext der Philosophie insgesamt, um so einerseits das Erfordernis einer stärkeren Vernetzung dieser Disziplin mit anderen philosophischen Disziplinen aufzuzeigen, zugleich aber andererseits die hiermit verbundenen Schwierigkeiten aufzudecken. Dementsprechend liegt der Fokus meiner Ausführungen auf den Beiträgen im fünften Teil dieses Bandes sowie den systematisch hieran anschließenden Beiträgen im sechsten und siebten Teil. Knappe Einleitungen zu den klassischen Fragen der Emotionsphilosophie selbst, wie sie im ersten bis vierten Teil vorgestellt werden, finden sich jeweils zu Beginn dieser Teile. Auch dem fünften bis siebten Teil wird jeweils noch eine kurze Einleitung vorangestellt: Die Teileinleitungen dienen sämtlich dem Zweck, die präsentierten Texte einzuordnen und zu verdeutlichen, warum sie in diesen Band aufgenommen wurden.


22

  

Von mir übersetzt aus: Kevin Mulligan, »Emotions and Values«, in: Goldie (Hg.), Oxford Handbook of the Philosophy of Emotion (wie Anm. 1).

23

  

Vgl. dazu ausführlich Reisenzeins und meine Einleitung zu Reisenzein/Döring (Hg.), Perspectives on Emotional Experience (wie Anm. 4), S. 195-205.

24

  

So schlagen etwa Christine Tappolet und Kevin Mulligan im sechsten Teil dieses Bandes jeweils emotionsbasierte Werttheorien vor, die die heute wenig populären Traditionen Max Schelers bzw. Franz Brentanos und seiner Schüler wieder aufgreifen.

25

  

Vgl. insbesondere Peter Goldie, The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2000 (Auszug in diesem Band, Teil V, S. 369ff.); ders., »Getting Feelings into Emotional Experience in the Right Way«, in: Reisenzein/Döring (Hg.), Perspectives on Emotional Experience (wie Anm. 4), S. 232-239.

26

  

Vgl. Michael Smith, The Moral Problem, Oxford 1994. Smith’ Buch gibt einen guten Überblick über die Ethik und Theorie der praktischen Rationalität der Gegenwart.

27

  

Vgl. z. B. Helm, Emotional Reason (wie Anm. 5); vgl. auch Mark Johnston, »The Authority of Affect«, in: Philosophy and Phenomenological Research 63 (2001), S. 181-214. Wie Johnston (S. 183) herausstellt, ist die Analyse von Wünschen als emotionalen Gefühlen bzw. »Affekten« schon in T. M. Scanlons Buch What We Owe to Each Other (Cambridge, Mass., 1998) angelegt; vgl. dementsprechend auch Sabine A. Döring, »Motivation und Rechtfertigung: Zu T. M. Scanlons Theorie der moralischen Motivation«, in: Neil Roughley, Martin Endreß (Hg.), Anthropologie und Ethik. Philosophische und soziologische Perspektiven, Würzburg 2000, S. 271-230.

28

  

Vgl. Smith, The Moral Problem (wie Anm. 26), S. 7ff.

29

  

Vgl. z. B. Helm, Emotional Reason (wie Anm. 5), Kap. 1; vgl. auch Sabine A. Döring, »Explaining Action by Emotion«, in: The Philosophical Quarterly 53 (2003), S. 214-230; dies., »Seeing What to Do: Affective Perception and Rational Motivation«, in: Dialectica 61 (2007), S. 363-394; dies., Gründe und Gefühle. Zur Lösung »des« Problems der Moral, Berlin 2009 (im Erscheinen).

30

  

Diese Bestimmung ist analog zu der These des Kognitivismus in der Metaethik, nach der moralische Urteile aufgrund ihrer Semantik wahrheitsfähig sind, ohne daß dies ausschlösse, daß solche Äußerungen aus anderen (etwa ontologischen oder epistemologischen) Gründen allesamt falsch sein können. Vgl. John L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth, Middlesex, 1977. Allerdings ist damit keine Beschränkung auf eine »Urteilstheorie« der Emotionen und auch nicht auf Wahrheitsfähigkeit impliziert. Vielmehr könnten Emotionen als mentale Zustände, die einen repräsentationalen Inhalt haben und folglich einer Korrektheitsbedingung unterliegen, auch sinnlichen Wahrnehmungen gleichen oder repräsentationale Zustände sui generis sein (s. u.). Anders als Überzeugungen könnten sie ferner einen nichtbegrifflichen Inhalt haben. Vgl. etwa Christopher Peacocke, A Study of Concepts, Cambridge, Mass., 1992, insb. Kap. 3; vgl. auch Tim Crane, »The Nonconceptual Content of Experience«, in: Tim Crane (Hg.), The Contents of Experience: Essays on Perception, Cambridge 1992, S. 136-157; York H. Gunther, Essays on Nonconceptual Content, Cambridge, Mass., 2003. Ohnehin sind selbst dann, wenn man Emotionen als Werturteile versteht, noch viele Fragen offen, wie in diesem Band (Teil II, S. 148ff.) Robert Solomon herausstellt. Denn heute werden Emotionen nicht mehr gewöhnlichen Urteilen subsumiert, sondern bilden eine spezifische Klasse von Urteilen (s. u.).

Geist und Welt nach dem Kriterium
der Passensrichtung

Charakteristisch für das heute gängige Bild des menschlichen Geistes ist die auf Hume zurückgehende Einteilung aller intentionalen mentalen Zustände in zwei distinkte und einander wechselseitig ausschließende Klassen. Die eine Klasse umfaßt die kognitiven Zustän25de, nämlich die Urteile bzw. Überzeugungen,31 während sich in der anderen Klasse die konativen bzw. motivierenden Zustände befinden, die heute »Wünsche« genannt werden. Die zweite Klasse soll dabei die Gesamtheit aller motivierenden Zustände mit einschließen, also auch Interessen, Vorlieben, Neigungen, Präferenzen und was dergleichen mehr ist. »Wunsch« ist hier also ein terminus technicus, der manchmal auch durch »Pro-Einstellung« ersetzt wird.32

Bei Hume selbst heißen die Elemente der zweiten Klasse statt dessen »Affekte« (passions bzw. sentiments), und das ist keineswegs nur ein terminologischer Unterschied. So besteht für Hume der Hauptunterschied zwischen Überzeugungen und Affekten darin, daß nur Überzeugungen sich »auch auf etwas jenseits ihrer selbst« beziehen, und zwar »auf das Urteilsvermögen der Menschen und das in der Außenwelt Gegebene«.33 In moderner Terminologie läßt sich das dergestalt interpretieren, daß eine Überzeugung im Gegensatz zu einem Affekt entweder eine analytische oder eine empirische Tatsache repräsentiert – ohne daß allerdings schon ausgemacht wäre, ob die repräsentierte Tatsache auch in Wahrheit besteht. Vielmehr sind Überzeugungen aufgrund ihrer Fähigkeit, Tatsachen zu repräsentieren, überhaupt erst wahrheitsfähig, insofern nämlich die Repräsentation, die sie jeweils beinhalten, entweder mit der Welt übereinstimmen oder nicht mit ihr übereinstimmen kann.34 Den Affekten 26spricht Hume demgegenüber ab, zur Repräsentation der Welt tauglich zu sein. Ein Gefühl sei nicht auf einen unabhängig von ihm selbst existierenden Gegenstand bezogen und repräsentiere mithin auch keinen solchen als in bestimmter Weise seiend:

Ein Affekt [...] besitzt keine repräsentative Eigenschaft, durch die er als Abbild eines anderen Etwas [...] charakterisiert würde. Bin ich ärgerlich, so hat mich der Affekt tatsächlich ergriffen, und in dieser Gefühlserregung liegt so wenig eine Beziehung zu einem anderen damit gemeinten oder dadurch repräsentierten Gegenstand, als wenn ich durstig oder krank oder über fünf Fuß groß wäre.35

Indem Affekte keine Repräsentationen der Welt beinhalten und sich von vornherein nicht auf die Welt beziehen, sind sie nicht wahrheitsfähig und entziehen sich nach Hume grundsätzlich der rationalen Kritisierbarkeit.36

Von Humeschen Affekten unterscheiden sich moderne Wünsche erstens dadurch, daß sie jedenfalls unter der gängigen funktionalistischen Interpretation keinen phänomenalen Gehalt haben.37 Führt Hume die Affekte als Bewußtseinsinhalte (perceptions) ein, die in einer bestimmten Selbstwahrnehmung des Subjekts bestehen und damit innere Erfahrungen einer bestimmten Qualität und Intensität sind (impressions of reflexion), erscheinen Wünsche in moderner Analyse als rein funktionale Handlungsdispositionen. So heißt nach Michael Smith, den Wunsch zu haben, daß p, dazu disponiert zu sein, unter bestimmten Bedingungen Handlungen auszuführen, die 27p herbeiführen würden.38 Wie sich hieraus bereits ersehen läßt, haben zweitens moderne Wünsche einen Weltbezug: Ihr Unvermögen, wahr oder falsch sein zu können, erklärt sich nicht daraus, daß sie von vornherein nicht auf die Welt bezogen sind, sondern statt dessen aus einem spezifischen Modus des Eingestelltseins zu einer Proposition und einer daraus resultierenden spezifischen »Passensrichtung« (direction of fit). Aufgrund ihrer Passensrichtung wird drittens auch modernen Wünschen die Wahrheitsfähigkeit abgesprochen, nicht aber in jedem Fall die rationale Kritisierbarkeit überhaupt.39

Wie Überzeugungen werden Wünsche heute typischerweise als spezifische Einstellungen zu ihren jeweiligen propositionalen Inhalten – kurz: als propositionale Einstellungen – analysiert. Überzeugungen und Wünsche entsprechen demnach unterschiedlichen Modi des Eingestelltseins zu einer Proposition. Daher können eine Überzeugung und ein Wunsch denselben Inhalt haben, etwa die Proposition »Die Tür zum Gorillakäfig ist sicher verschlossen«, und dennoch unterscheiden sie sich voneinander, und zwar aufgrund der Einstellung, die zu der Proposition jeweils eingenommen wird. Der fraglichen Proposition im Modus des Überzeugtseins zu begegnen bedeutet, sie für wahr zu halten. Im Unterschied dazu heißt, zur Proposition »Die Tür zum Gorillakäfig ist sicher verschlossen« sozusagen pro-eingestellt zu sein, das Ziel zu haben, den durch diese Proposition beschriebenen Weltzustand herbeizuführen.