Schon für die Gründerväter des Fachs war es eine zentrale Aufgabe der Soziologie, die moderne Gesellschaft über die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Krisenhaftigkeit aufzuklären. Diesem heute oft vernachlässigten Anliegen fühlen sich die Autoren verpflichtet, wenn sie die Frage nach dem zeitdiagnostischen Potential soziologischer Analyse stellen. Sie vertreten die Überzeugung, dass zeitdiagnostisch fundierte Gesellschaftskritik zum Kerngeschäft der Soziologie gehört – und dass jede Gesellschaftskritik der Gegenwart notwendig auch Kapitalismuskritik sein muss. Ihre drei komplementären Perspektiven, die die aktuellen Prozesse der Landnahme, der Aktivierung und der Beschleunigung in den Mittelpunkt stellen, verknüpfen die Autoren zu einer soziologischen Kritik der Gegenwartsgesellschaft, die sich der Suche nach Ansatzpunkten politischen Handelns nicht verschließt.
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Suhrkamp Verlag ist von ihm erschienen: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (stw 1760).
Soziologie − Kapitalismus − Kritik
Eine Debatte
unter Mitarbeit von
Thomas Barth
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
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eISBN 978-3-518-73234-2
www.suhrkamp.de
Einleitung
I. Soziologie – Kapitalismus – Kritik: Zur Wiederbelebung einer Wahlverwandtschaft
Positionen
II. Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus (Klaus Dörre)
III. Kapitalismus als Dynamisierungsspirale – Soziologie als Gesellschaftskritik (Hartmut Rosa)
IV. Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft (Stephan Lessenich)
Kritiken
V. Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung – eine Kritik (Klaus Dörre)
VI. Leiharbeiter und Aktivbürger: Was stimmt nicht mit dem spätmodernen Kapitalismus? (Hartmut Rosa)
VII. Künstler- oder Sozialkritik? Zur Problematisierung einer falschen Alternative (Stephan Lessenich)
Repliken
VIII. Landnahme, sozialer Konflikt, Alternativen – (mehr als) eine Replik (Klaus Dörre)
IX. Antagonisten und kritische Integrationisten oder: Wie gehen wir mit dem verdorbenen Kuchen um? (Hartmut Rosa)
X. Das System im/am Subjekt oder: Wenn drei sich streiten, freut sich die (kritische) Soziologie (Stephan Lessenich)
6Schluss
XI. Landnahme – Beschleunigung – Aktivierung: Eine Zwischenbetrachtung im Prozess der gesellschaftlichen Transformation
Literatur
We Are All Socialists Now.
Newsweek vom 16. Februar 2009
Wohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden. Gegenwärtig könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kritik am »System«, die ihren Platz lange Zeit nur in Randsegmenten studentischer, gewerkschaftlicher oder altlibertärer Sozialmilieus hatte und zuletzt in der globalisierungskritischen Bewegung ihren (anti-)institutionellen Ort gefunden zu haben schien, nunmehr den Weg in die gesellschaftliche Mitte angetreten hat. Ob in den Feuilletons der großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen oder in den Verlagsprogrammen renommierter Sachbuchverlage, von den globalisierungskritischen Invektiven Heiner Geißlers bis zu den öffentlichen Selbstbezichtigungsreden Josef Ackermanns: Wer hierzulande etwas auf sich hält, distanziert sich derzeit offensiv vom Kapitalismus – zumindest moralisch, und jedenfalls von den Funktionsirrungen und Krisenwirrungen seiner jüngsten, »neoliberalen« Entwicklungsphase. Warum also, so dürfen sich der Leser und die Leserin dieses Bandes am Beginn ihrer intellektuellen Anstrengungen durchaus gerechtfertigterweise fragen, noch eine weitere Suada gegen den Kapitalismus, warum ein weiteres Buch zu dessen mittlerweile doch offenkundiger Krise? Wollen nun, wo offensichtlich gerade jede/r dem gestürzten Riesen eins auswischen darf, auch drei Jenaer Professoren einfach noch einmal lustvoll nachtreten?
Als vor gut zwei Jahren, im Sommer des Jahres 2007, unter uns die Idee zu reifen begann, als professionelle Soziologen gemeinsam wissenschaftlich-politisch Position zu beziehen zum Kapitalismus als der – immer noch – »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens«,[1] da war noch keineswegs abzusehen und ausgemacht, 10dass dieser so bald wieder und so massiv auch in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung geraten würde. Zwar begann sich zu dieser Zeit die bevorstehende Krise des finanzmarktdominierten Akkumulationsmodells der vergangenen Jahrzehnte bereits abzuzeichnen. Doch die Initiative zur nunmehr vorliegenden Veröffentlichung hatte andere, tiefer liegende Gründe – Gründe, die durch die zwischenzeitlich erfolgte, jähe Zunahme öffentlicher Kapitalismuskritik keineswegs überholt sind. Bis heute nämlich ist es unseres Erachtens der Soziologie, von einigen Beobachtern schon voreilig als glückliche »Krisengewinnlerin« identifiziert,[2] als akademischer Disziplin nicht gelungen, sich mit dem gegenwärtigen, zuletzt offen krisenhaften Wandel der kapitalistischen Gesellschaftsformation in einer Weise auseinanderzusetzen, die einem kritisch-aufklärerischen Selbstverständnis gerecht würde.
Dies aber liegt vorrangig daran, dass ein derartiges Selbstverständnis der Disziplin – jedenfalls in Deutschland und im deutschsprachigen Raum – in der jüngeren Vergangenheit vollkommen randständig geworden ist. Dass Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft immer auch die kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit beinhaltet und ihr dabei die kapitalistische Verfasstheit »ihrer« Gesellschaft zum zentralen Gegenstand der Kritik geraten muss, galt zuletzt nur noch einer kleinen Minderheit von Soziologinnen und Soziologen als selbstverständlich. Der die vergangenen beiden Jahrzehnte bestimmende, postkommunistische Siegeszug des Marktliberalismus ging auch und gerade in der akademischen Sozialwissenschaft mit einer nachhaltigen »Erschöpfung utopischer Energien«[3] und einer faktischen Desavouierung des Denkens von und in gesellschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus einher. Die Soziologie mutierte in diesem Kontext in ihrem übergroßen Mainstream zu einer (mal mehr, meist weniger »kritischen«) Begleitwissenschaft eines Zeitalters, in welchem eine offensiv zur Schau getragene Marktfreundlichkeit in praktisch allen gesellschaftlichen Lebensbereichen hegemonial wurde und eine politische Programmatik der Befähigung bzw. Erziehung der Men11schen zur »Marktlichkeit«[4] zunehmend fraglos und überzeugt als Ausweis von »Modernität« galt.
Vom »Kapitalismus«, einem in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit öffentlich verpönten Begriff, zu sprechen, wurde zwar nach seinem Sieg in der »Systemkonkurrenz« auch in der hiesigen Sozialwissenschaft analytisch wieder hoffähig – soweit es um die Unterscheidung unterschiedlicher institutioneller Regime (markt-)wirtschaftlichen Handelns in spätindustriellen Gesellschaften ging. Schon diese Diskussion um die zeitgenössischen »varieties of capitalism«[5] war hierzulande tendenziell durch das Lob der sozial-koordinierten »rheinischen« gegenüber der liberal-kompetitiven »amerikanischen« Variante gekennzeichnet. Und sobald die deutschsprachige Sozialwissenschaft öffentlich (oder öffentlich wahrgenommen) wurde, stimmte sie dezidiert das Lob der »sozialen Marktwirtschaft« an, die eben – recht besehen – gar kein »Kapitalismus« sei. Sie fügte sich damit faktisch in eine spezifische Diskursformation[6] ein, die von den Wissensbeständen und Interpretamenten der akademischen Ökonomik durchdrungen ist und im Rahmen derer professionelle Ökonomen die wissenschaftliche Hoheit über die Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit errungen haben. Noch im Angesicht der aufziehenden Finanzmarktkrise, zu ihrem »60. Geburtstag« im Juni 2008, konnte sich die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der »sozialen Marktwirtschaft« politisch als über alle Zweifel erhabenes Erfolgsmodell gesellschaftlicher Gestaltung inszenieren. Im sogenannten »Jenaer Aufruf«[7] feierten Propagandisten der neoliberalen »Ordnungspolitik« aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die »soziale Marktwirtschaft« als alternativlose Ordnung eines Lebens in Wohlstand und Freiheit – und beklagten deren immerwährende Gefährdung durch einen hypertrophen, die Bürgerinnen und Bürger bevormundenden, ihre wirtschaftliche Initiative lähmenden und ihre Freiheitsbestrebungen durchkreuzenden Interventionsstaat, dem durch eine ebenso 12unabschließbare gesellschaftliche »Erneuerung« Einhalt geboten werden müsse.
Dass der politisch so weit wie möglich ungebändigte (und dafür aber christlich-ethisch moderierte) Kapitalismus gewissermaßen vor unserer Haustür mit viel pomp and circumstance – mit einem massiven Einsatz öffentlicher Ressourcen, einer geradezu entwaffnenden Selbstgewissheit und einer an Realitätsverweigerung grenzenden kontrafaktischen Energie – als das einzig und ewig Wahre, Gute und Schöne gefeiert wurde, mag der letzte Anlass für die Initiative zu einer wissenschaftlich-politischen Gegenpositionierung aus Jena gewesen sein. Unser gemeinsamer Wille zu einer solchen öffentlichen Positionierung begann sich aber schon früher abzuzeichnen, und die institutionellen Möglichkeiten dazu waren seit dem Winter 2004 durch die – historisch kontingente – Rekonstitution der Jenaer Soziologie als ein Ort kritischer Analyse der Gegenwartsgesellschaft gegeben.
Worin besteht nun der gemeinsame Ausgangspunkt unserer Überlegungen, worin das Gemeinschaftliche unserer Bestrebungen? Gemeinsam teilen wir die Überzeugung, dass in der Tat ein großer Akt der »Erneuerung« ansteht, eine kollektive wissenschaftliche Anstrengung, die wir mit diesem Buch befördern wollen: die Rückkehr der Kritik in die Soziologie. Unser Anliegen einer Wiederbelebung des kritischen Impetus der akademischen Soziologie verorten wir in der Tradition der kritischen Theorie – einer Tradition, die eine wesentliche Quelle der Inspiration aus der Marx’schen bzw. marxistischen Theorie bezieht, Kritik als eine der Hauptaufgaben soziologischer Theoriebildung begreift und die Emanzipation von nicht zu rechtfertigender Herrschaft bzw. von sozial erzeugten, gesellschaftlich aber nicht kontrollierten Systemzwängen als den Maßstab dieser Kritik versteht. Unser kritischer Impuls beruht auf der Einsicht, dass es in der »modernen« Gesellschaft – und auch noch in ihrer gegenwärtigen, »spätmodernen« Formation – vor allem der Kapitalismus als verselbstständigte Form privater Profitakkumulation ist, auf den bzw. auf dessen soziale Bedingungen und Konsequenzen soziologische Gesellschaftsdiagnostik und Gesellschaftskritik zu zielen haben. Damit ist auch unsere gemeinsame Überzeugung benannt, dass eine Kritische Theorie der (kapitalistischen) Gesellschaft systematisch an eine empirisch fundierte sozio13logische Zeitdiagnose rückgebunden werden muss. Darüber hinaus sind wir uns darin einig, dass es für eine erfolgreiche Wiederbelebung der Soziologie als Ort der Gesellschaftskritik einer zwar durchaus differenzbewussten, aber gleichwohl verständigungsorientierten Zusammenführung unterschiedlicher Traditionslinien und Entwicklungsstränge kritischer Theoriebildung – etwa (neo-)materialistischer und poststrukturalistischer Ansätze – bedarf, sodass Fragen ökonomischer Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ebenso zur Sprache kommen wie politische Subjektivierungsweisen und kulturelle Formierungspraktiken.
Ganz in diesem Sinne einer kritischen Soziologie des Gegenwartskapitalismus sind unsere drei einleitenden Beiträge zu dem vorliegenden Band zu verstehen. Sie diagnostizieren eine dreifache Dynamik historisch-strukturellen Wandels der kapitalistischen Gesellschaftsformation, die begrifflich mit den Prozesskategorien der »Landnahme«, der »Beschleunigung« und der »Aktivierung« zu fassen versucht werden. Die Grundidee des Bandes liegt zum einen in der Vermutung, dass keiner der drei hinter diesen kategorialen Etiketten sich verbergenden Ansätze – so triftig sie auch je für sich sein mögen – die kritikwürdige Realität des gegenwärtigen Kapitalismus in ihrer ganzen Komplexität zu fassen und zu »treffen« vermag. Zum anderen wollen wir zeigen, dass auf dem Wege der in diesem Band praktizierten wechselseitigen Kritik und Rekapitulation unserer Thesen und Theoreme nicht nur deren je individuellen Stärken und Schwächen aufgezeigt werden können, sondern auch – im Sinne des diskursiven Prinzips dialogischer Wissensentwicklung[8] – ihre produktive Komplementarität mit Blick auf die soziologische Analyse und Kritik des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus unserer Zeit. Damit soll selbstverständlich nicht suggeriert werden, dass schon die Zusammenführung der drei hier zu entwickelnden Ansätze eine »Globalanalyse« der Gesellschaftsformation der Gegenwart leisten könnte: Nichts wäre vermessener und nichts läge uns ferner. Aber wir sind durchaus der Überzeugung, dass nur in der wissenschaftlich-kollegialen Ergänzung und Kooperation die Chance zu einer Erneuerung der Soziologie im Geiste der Gesellschaftskritik liegt, und wir haben auf dem Weg zu diesem Buch die wertvolle Erfahrung gemacht, dass die wechselseitige Perspek14tivenübernahme unsere Sensibilität für die jeweils ausgeblendeten Aspekte spürbar erhöhte.
Gemeinsam ist den von uns diagnostizierten Prozessen der Landnahme, der Beschleunigung und der Aktivierung, dass sich in ihnen die immanente Krisenhaftigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung widerspiegelt. In seinen Krisen – auch in der gegenwärtigen, finanzmarktgetriebenen Krise, die sich möglicherweise als die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression erweisen wird – offenbart der Kapitalismus immer wieder sein ansonsten systemisch unterdrücktes, politisch stillgestelltes oder gesellschaftlich marginalisiertes sozialdestruktives Potential. Schon die vermeintlich – glaubt man seinen Apologeten – unüberbietbare ökonomische Effizienz des spätmodernen Überfluss- und Wegwerfkapitalismus lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Ganz offenkundig aber und nicht zu ignorieren sind die sozialen »Ineffizienzen« jener Gesellschaftsformation, die wir in diesem Band in ihrer aktuellen Entwicklungsdynamik beschreiben wollen. Nur um den Preis der Verleugnung der Wertmaßstäbe, die sich die »bürgerliche Gesellschaft« in ihren politischen Revolutionen selbst gesetzt hat, lassen sich die durch diese Formation fortwährend produzierten sozialen Verletzungen, Verwerfungen und Verwüstungen verschweigen. Im Sinne jener normativen Kritikmaßstäbe der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – können unsere Analysen als Kritik an der Selbstentwertung, Selbstentmächtigung und Selbstzerstörung der Gesellschaft im Kapitalismus gelesen werden. Zugleich aber gilt es auch, den Sinn zu schärfen für die historische Gebundenheit und Kontextualität dieser Wertmaßstäbe, für ihre ideelle und materielle Verankerung in einer Gesellschaftsformation, deren Überwindung sich eine ernst gemeinte Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat und schreiben muss.
Im Lichte der gegenwärtigen Renaissance der Kapitalismuskritik ist dies – die gute (bzw. böse) alte »Systemfrage« – wohl auch der Punkt, an dem sich die Geister der Kritiker und Kritikerinnen scheiden. Für uns selbst nehmen wir in Anspruch, die Perspektive einer notwendigen Systemüberwindung in den Mittelpunkt unserer Kritik zu rücken – auch wenn wir uns durchaus uneinig sind in der Frage, wie dieses Ziel zu erreichen ist bzw. wie der Weg, an dem dieses Ziel liegt, zu finden sein mag. Nicht, dass wir uns als Sozialwissenschaftler die Aufgabe setzen würden, konkret-uto15pische Gegenentwürfe zur herrschenden Gesellschaftsformation zu entwickeln und zu propagieren. Aber gemeinsam – in der wechselseitigen kritischen Auseinandersetzung mit unseren Ansätzen – möchten wir versuchen, analytisch-diagnostisch belastbare und damit zumindest potentiell auch politisch anschlussfähige Maßstäbe der Kritik am Kapitalismus zu entwickeln. Gemeinsam gehen wir damit in unserer Positionierung zugunsten einer kritischen Soziologie über eine das Kritikgeschehen reflektierende »Soziologie der Kritik«[9] hinaus – und grenzen uns insbesondere ab von all jenen Spielarten wohlfeiler Kapitalismuskritik und ihren Vertretern, die sich entweder in der Polemik gegen einzelne Systemakteure (zur Zeit vorzugsweise die »Manager«) erschöpfen oder aber eine weichgespült-kritische Attitüde als vorübergehend karriereförderliche Konzession an den Zeitgeist meinen annehmen zu müssen. Beiden Varianten der Kritik ist keine große Zukunft beschieden (und auch nicht zu wünschen), denn beide würden im Sog einer den gegenwärtigen Krisenerscheinungen zum Trotz nicht auszuschließenden Wiederbelebung des neoliberalen Paradigmas sang- und klanglos untergehen. Nur kurzzeitig nämlich wollte es so scheinen, als seien die Marktpropagandisten der beiden vergangenen Jahrzehnte nachhaltig getroffen und als würden sie sich zurückziehen – ebenso wie man nur kurze Zeit dem Trugschluss anhängen konnte, der Neoliberalismus habe bereits abgedankt, ja das Primat der Ökonomie sei an ein historisches Ende gekommen. Mittlerweile nämlich beginnen sich die markttreuen Truppen schon wieder zu sammeln und zu formieren: sei es in Gestalt der Sprachregelung, dass der Neo- als guter deutscher Ordoliberalismus immer schon den starken, regelsetzenden Staat gefordert habe (so etwa der amtierende Bundespräsident: »Die Deutschen haben etwas anzubieten beim Aufarbeiten der Krise«[10]); sei es mit dem diskursiven Versuch, die jüngste Krise als einen weiteren Akt in der Geschichte des Staatsversagens zu inszenieren.
Wie aber muss eine soziologische Kapitalismuskritik beschaffen sein, die einen radikalen Anspruch vertritt und sich diesen auch 16über den Tag hinaus zu bewahren vermag? Sie muss – so meinen wir – drei Merkmale aufweisen: Sie muss klar, komplex und kollektiv sein. Was ist damit gemeint? Der Kapitalismus ist von der neueren politischen Soziologie als ein System mit scheinbar unendlicher Kraft zur Absorption gesellschaftlicher Systemalternativenergien beschrieben worden;[11] unvergleichlich effizient ist dieses System – so könnte man in diesem Sinne sagen – nur darin, keine realen oder idealen Systemalternativen auf Dauer bestehen zu lassen. Auch wir selbst können uns, als politisch denkende Wissenschaftler im universitären Feld des real existierenden Kapitalismus, den systemischen Inkorporierungsdynamiken und institutionellen Vereinnahmungspraktiken unserer Zeit nicht ohne Weiteres widersetzen oder entziehen. Die soziologische Kapitalismuskritik der (bzw. eine soziologische Kapitalismuskritik mit) Zukunft muss insofern, soll sie nicht ungehört verhallen und folgenlos verpuffen, mit Begriffen operieren, die in ihrer analytischen Substanz ebenso wie in ihrem kritischen Gehalt klar sind; diese Begriffe müssen es ermöglichen, die Welt kapitalistischer Vergesellschaftung in ihrer komplexen Realität zu erschließen, und als solche müssen diese Begriffe in einer kollektiven wissenschaftlich-politischen Anstrengung veröffentlicht und popularisiert werden. Idealerweise stehen solche Begriffe dann – jenseits des wissenschaftlichen Feldes – für soziale Praktiken der Politisierung offen und zur Verfügung, die ihrerseits auf eine Weitung des Horizonts gesellschaftlicher Gestaltungsoptionen und damit auf eine alternative Praxis der Vergesellschaftung zielen.
Für eine Wissenschaft von der Gesellschaft, die sich – auf welch vermittelte Weise und auf wie verschlungenen Wegen auch immer – in ihrer Arbeit zu derartigen sozialen Praktiken und Dynamiken in Beziehung setzt, ist das »Kritische« ihres Anspruchs keine bloße Etikette. Auch eine solche kritische Soziologie hat ihre intellektuellen und materiellen, individuellen und institutionellen Grenzen. Die Kritik, die wir üben, ist die Kritik der Inkorporierten: die Kapitalismuskritik dreier landgenommener, beschleunigter, aktivierter Professoren. Die Gefahr besteht, dass eine solche Kritik nur die eigene Lebenssituation reflektiert, einen rein persönlichen Betrof17fenheitsgestus kultiviert. Dieser Gefahr ist nicht allein durch individuelle Selbstreflexion zu begegnen, sie muss durch kollegiale Kritik und professionelle Supervision zunächst im engeren Kreis der heimischen akademischen Institution, sodann im weiteren Kreis der scientific community gebändigt werden. Die Jenaer Soziologie bringt – die heutigen Rahmenbedingungen kritischer Wissenschaft in Rechnung gestellt – beste institutionelle und personelle, intellektuelle und soziale Voraussetzungen für den Versuch mit, die eigene Disziplin zunächst vor Ort als eine gesellschaftskritische zu (re-) positionieren und aus dieser Dynamik heraus nach kritisch-dialogischen Anschlussmöglichkeiten an entsprechende Aktivitäten an anderen Orten des akademischen Geschehens zu suchen. Von hier aus aber wird und muss es für eine erneuerte kritische Soziologie darum gehen, das Licht der außerakademischen, medialen und alltagspraktischen Welt zu suchen. Denn dort – und nur dort – wird letzten Endes entschieden, ob Soziologie und Kapitalismuskritik wieder zueinanderfinden – und ob »die Gesellschaft« es merkt.
*
Die Arbeit an diesem Buch war ein wirklich kollektives, kooperatives, kollegiales Unterfangen. Entsprechend vielfachen und vielfältigen Dank haben wir an dieser Stelle auszusprechen – wollen uns aber gleichwohl so kurz wie möglich halten. Unser Dank gilt zuallererst unseren beiden jeweiligen Koautoren, die es against all odds geschafft haben, dieses wissenschaftlich-soziale Experiment (vorerst) erfolgreich abzuschließen. Wir danken sodann Thomas Barth, der die Entstehung des Bandes mit bemerkenswerter intellektueller und organisatorischer Energie begleitet und ermöglicht hat. Viele wichtige Ideen zu unseren Texten haben wir bei zwei Institutsklausuren in der Toskana im März 2008 und 2009 gesammelt, ohne die dieser Band sicher nicht das Licht der Welt erblickt hätte. Wir bedanken uns ganz herzlich bei dem Team der Villa Palagione und bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beider Reisen: Thomas Barth, Karina Becker, Michael Behr, Michael Beetz, Peter Bescherer, Tanja Bogusz, Melanie Booth, Uli Brinkmann, Michael Corsten, Susanne Draheim, Silke van Dyk, Margrit Elsner, Dennis Eversberg, Jan Freitag, Lars Gertenbach, Stefanie Graefe, Jannett Grosser, Jens Hälterlein, Tine Haubner, Hajo Holst, Ute Kalbit18zer, Christoph Köhler, Cornelia Koppetsch, Martin Langbein, Henning Laux, Diana Lehmann, Oliver Nachtwey, Matthias Neis, Jörg Oberthür, Tilman Reitz, Alexandra Schauer, Karen Schierhorn, Steffen Schmidt, Olaf Struck, Vera Trappmann, Alexandra Wagner, Angela Wenning-Dörre, Torsten Winkler und Franziska Wolf. Ganz besonders möchten wir uns darüber hinaus bei unseren Institutskollegen Christoph Köhler, der uns aktiv mit Rat und Tat und vielen kritischen Anregungen zur Seite stand, sowie Heinrich Best und Bruno Hildenbrand bedanken, die unser Treiben mit Nachsicht und Großmut und in überaus solidarischer Kollegialität beobachteten. Es ist uns eine Freude, mit Euch am Institut zusammenzuarbeiten – und nach getaner Arbeit auch einmal die Rockbühne zu teilen! Special thanks der Autoren gehen an Hans Jürgen Bieling, Frank Deppe, Werner Fricke, Janett Grosser, Oliver Nachtwey, Hans Jürgen Urban, Klaus Peter Wittemann und Volker Wittke (Klaus Dörre); an Thomas Barth, Evi Bunke, Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Ute Kalbitzer (Stephan Lessenich); sowie an Stefan Amann, Ulf Bohmann, Sigrid Engelhardt, Andreas Klinger und David Strecker (Hartmut Rosa). Schließlich danken wir dem Suhrkamp Verlag, insbesondere Eva Gilmer, Christine Göhring und Andreas Gelhard, für ihr Vertrauen in unsere Arbeit sowie Daniela Neumann für die letzten Korrekturen am Manuskript. Und natürlich Jena und dem genius loci.
Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa
Jena, im April 2009
Klaus Dörre
[…] Ich arbeite in einem großen Unternehmen als Zeitarbeiter und gehöre damit nicht zum Kernpersonal. Eingestellt wird sowieso nicht mehr. […] Überall nur Zeitarbeit. Diese Form des Kapitalismus hat nun freie Bahn, leider. […] Nachdem 2004 die Gesetze für Zeitarbeit von der Bundesregierung gelockert wurden […], wird nur noch über Zeitarbeit hier beschäftigt. Von der Sekretärin bis zum Administrator, das ist das Einzige, was boomt. Eingestellt wird über sogenannte BZA-Tarifverträge, die aber viel niedriger sind als ein normaler Lohn eines Angestellten. Die Verpflichtung, einen ähnlichen Lohn zu zahlen wie der von Festangestellten, besteht also nicht mehr bzw. wird so umgangen. […] Ich bekomme im Vergleich zu meinem Kollegen ein Drittel weniger Lohn, fünf Tage weniger Urlaub, keine Boni, halb so hohe Zuschläge, keine Essenszuschläge, keine Altersvorsorge, keine Betriebsrente, keine Lohnerhöhungen, keinen Parkplatz und darf nicht an firmeninternen Feiern […] teilnehmen – und das bei teilweise besserer Qualifikation. Von der psychischen Belastung will ich gar nicht sprechen, diese ist furchtbar, denn man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Man hat ja auch allen Grund dazu. Wohin soll diese Entwicklung denn noch führen? Welchen Ausweg sollte ich denn finden? Was raten Sie mir? Ich bin mittlerweile sehr, sehr ratlos. […]
Der zitierte Auszug aus der elektronischen Post eines Leiharbeiters beinhaltet eine Klage, wie sie in der Arbeitswelt alltäglich geworden ist. Offenbart wird nicht physische Not, nicht Verelendung in einem absoluten Sinne, und doch sind die geschilderten Erfahrungen existenziell. Vordergründig betrachtet hat der Betroffene alles richtig gemacht. Beruflich in einer modernen Leitbranche, der IT-Industrie, beschäftigt, hat er sich weitergebildet, um schließlich festzustellen, dass trotz Abitur kein Weg zurück in die Stammbelegschaft führt. Schmerzhafte Diskriminierungen und Ratlosigkeit sind alles, was bleibt.
22Wie kann, wie soll ein Soziologe auf solche Klagen reagieren? Natürlich besteht an einem wissenschaftlichen Instrumentarium, das sich billigem Mitleid verweigert, kein Mangel. Man könnte den fragenden Leiharbeiter darüber informieren, dass er zum Opfer einer riskanten Entscheidung geworden ist – persönlich ärgerlich, in einer individualisierten Moderne aber immer auch selbst gewähltes Schicksal vieler. Man könnte ihn, hermeneutisch geschult, mit der Nase darauf stoßen, dass er sich mittels des Sündenbocks Kapitalismus selbst von Verantwortung entlastet, statt entschlossen ein Studium zu absolvieren, um so die statistisch nachweisbare Bildungschance zu nutzen. Von systemtheoretisch bewanderten Beobachtern würde der E-Mail-Schreiber vielleicht mit dem Umstand konfrontiert, dass seine Klage allenfalls ein Rauschen im System verursacht, in dessen Substrukturen er dennoch unweigerlich inkludiert bleibt. Man könnte aber auch etwas Überraschendes tun: den Zeitarbeiter ernst nehmen und eine Spur verfolgen, die er in seiner elektronischen Post selbst legt. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der prekären Lebenssituation eines Einzelnen und einer besonderen Variante des Kapitalismus? Wie lässt sich dieser Kapitalismus kritisieren und verändern? Welche Alternativen gibt es?
Nachfolgendem Versuch, einem fragenden Zeitarbeiter zu antworten, liegt die These zugrunde, dass sich seit den 1970er Jahren Konturen einer neuen kapitalistischen Formation herausgebildet haben, die hier – vorläufig – als Finanzmarktkapitalismus bezeichnet wird. Ein Grundmerkmal dieser fragilen Formation ist, dass sie marktbegrenzende Institutionen zum Objekt einer neuen Landnahme macht. Dieser Prozess erzeugt inzwischen dramatische Krisen. Grenzen der finanzgetriebenen Landnahme werden sichtbar und lassen Spielräume für Veränderungen entstehen. Um diese Sichtweise zu begründen, soll zunächst (1.) die sozioökonomische Kernstruktur des Kapitalismus beleuchtet werden. Anschließend (2.) wird das Konzept der Landnahme eingeführt. Sodann sind die markanten Züge des Finanzmarktkapitalismus (3.) sowie dessen Krisen (4.) Thema. Abschließend geht es um die Frage, wie alltägliche Klagen in eine zeitgemäße soziologische Kapitalismuskritik übersetzt werden können (5.).
Wer nach der sozioökonomischen Kernstruktur des Kapitalismus fragt, wird häufig auf die Vergesellschaftung durch Märkte verwiesen. Für den, verkürzt als neoliberal bezeichneten, ökonomischen Mainstream ist der ideale Kapitalismus identisch mit einer Marktgesellschaft, die durch einen schlanken Staat reguliert und zusätzlich allenfalls von einer sittlichen Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder zusammengehalten wird. Zahlreiche Zeitdiagnosen, in denen der Übergang zu einer neuen kapitalistischen Formation als »Ökonomisierung des Sozialen«, als »Vermarktlichung« oder gar als »Markttotalitarismus« verhandelt wird,[1] knüpfen – zwar kritisch, aber eben doch – an dieses Leitbild an. Gleich, ob affin oder gegenhegemonial, ein Problem solcher Paradigmen ist, dass sie den Kapitalismus zu sehr mit der Verallgemeinerung von Warenform und Wettbewerb identifizieren. Wie sich zeigen wird, genügen jedoch weder das Postulat noch die Kritik des »reinen« Wettbewerbskapitalismus für ein Verständnis der neuen Gesellschaftsformation. Daher sei zunächst klargestellt, was Kapitalismus nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich ist.
Grundlegend für das wirtschaftsliberale Denksystem und dessen methodologischen Individualismus ist die »Forderung nach einer strengen Begrenzung jedweder Zwangs- und Ausschließungsgewalt«.[2] Freiheit wird primär als Abwesenheit von Zwang und Regulierung definiert. Marktbeziehungen, die auf dem Streben nach Eigennutz beruhen und den Marktteilnehmern größtmögliche Entscheidungsspielräume lassen, gelten als Idealfall freier Interaktion. Dementsprechend betrachtet die zeitgenössische Marktorthodoxie den entfalteten Wettbewerbskapitalismus als Voraussetzung für po24litische Freiheit. In diesem idealen Kapitalismus ist das Gewinnstreben zentrales Motiv des Wirtschaftshandelns. Alles, was dieses Motiv schwächt, muss folgerichtig zu Verzerrungen des Wettbewerbs und damit zu gesellschaftlichen Deformationen führen. Das Ideal eines Unternehmers mit sozialer Verantwortung stellt, so jedenfalls Milton Friedman, eine besonders problematische Verzerrung dar.[3]
Allerdings, so muss hinzugefügt werden, ist das marktorthodoxe Paradigma in sich vielgestaltig: es umfasst unterschiedliche Schulen und Denksysteme.[4] Selbst seine radikalsten Verfechter geben vor, aus dem Scheitern des Laissez-faire gelernt zu haben, und erkennen Grenzen der Marktkoordination an. Nicht nur für Ordoliberale, auch für Anhänger der Chicago School sind Staat und Regierung wichtig als »Forum, das die ›Spielregeln‹ bestimmt«, aber auch als »Schiedsrichter, der über die Regeln wacht und sagt, ob sie richtig ausgelegt wurden«.[5] Dementsprechend richtet sich die Marktorthodoxie nicht generell gegen gesellschaftliche Assoziationen und Organisationen. Sie pocht aber auf das Prinzip der Vertragsfreiheit, das für jede Spielart von Organisationen Bestand haben müsse. Ihre Gegnerschaft richtet sich »nur gegen die Anwendung von Zwang bei der Bildung einer Organisation oder Gesellschaft, nicht gegen die Gesellschaftsbildung als solche«.[6] Da der Arbeitsmarkt nach dieser paradigmatischen Setzung ein Markt wie jeder andere ist, wird die Vertragsfreiheit auch und gerade gegenüber den Organisationen der lohnabhängigen Bevölkerung eingeklagt.
Vorausgesetzt wird ein Markt, der Ungleichheiten und Machtasymmetrien nicht beseitigt, sondern optimal nutzt. Ungleichheit an sich gilt als »höchst erfreulich«,[7] weil sie die Leistungsbe25reitschaft der Individuen fördert. Sieht man von unabdingbaren Staatseingriffen ab, funktioniert das Marktgeschehen auch für die moderne Marktorthodoxie nach dem Prinzip des »survival of the fittest«. Ihre Majestät die ökonomische Effizienz entscheidet, und nur die Stärksten überleben! Gewiss gibt es Spielregeln, an die sich Tauschpartner zu halten haben. Doch diese Regeln müssen nur aus einem Grund akzeptiert werden: Nicht, weil sie gottgegeben oder vernünftig begründbar wären, sondern ausschließlich, weil sie sich durchgesetzt haben. Kapitalismus lässt sich demnach in die Formel »Markt plus funktionierender Wettbewerb plus Vertragsfreiheit gleich Effizienz (maximaler Warenausstoß zu möglichst niedrigen Preisen) übersetzen. Vor allem im Ordoliberalismus erhält die Formel allerdings einen Zusatz. Dieser besagt, dass Märkte einen handlungsfähigen Staat benötigen, der aber nur stark sein kann, wenn er sich auf wenige Kernfunktionen beschränkt. Die »große Leistung des Marktes« besteht dann darin, die Anzahl der Probleme zu reduzieren, die »mithilfe politischer Maßnahmen entschieden werden müssen«.[8] Werden Staat und Regierung zunächst als Wächter über die Spielregeln des Marktes eingeführt, ist es letztendlich doch wieder die Ökonomie, die über die Effizienz und Marktkompatibilität der Politik entscheidet.
Der Wirtschaftsliberalismus hält auch eine Antwort an unseren E-Mail-Schreiber parat. Nach Auffassung der Marktorthodoxie entsteht der Outsider-Status von Zeitarbeitern als Folge überregulierter Arbeitsmärkte. Während ein Teil der Beschäftigten wegen der Kartellmacht der Gewerkschaften über Marktniveau bezahlt und in dieser Position besonders geschützt wird, bleibt den Outsidergruppen der Zugang zu gut entlohnten, sicheren Arbeitsplätzen verwehrt.[9] Um die Stellung von Outsidern am Arbeitsmarkt zu verbessern, ist es demnach nötig, die Gewerkschaftsmacht zu schwächen, das Lohnniveau zu senken, den Kündigungsschutz zu lockern, flexible Beschäftigungsformen wie Leiharbeit zu fördern und betrieblichen Aushandlungen den Vorrang vor branchenbezogenen Kollektivabkommen einzuräumen. Die Botschaft lautet: Dem klagenden Leiharbeiter kann geholfen werden, aber nur, wenn der »Markt für die Ware Arbeitskraft« weiter dereguliert 26wird, sodass er schließlich wieder dem Markt für Äpfel oder Birnen[10] gleicht.
Die Vorstellung, eine Trias aus Maximierung von Eigennutz, Wettbewerb und Vertragsfreiheit führe zu optimaler Wirtschaftsleistung und so letztendlich zu mehr Wohlstand für alle, ist seit jeher Gegenstand soziologischer Kritik. Eine Spielart dieser Kritik moniert, dass der Wirtschaftsliberalismus einen homo oeconomicus konstruiere, der in idealen, jederzeit transparenten, von vollständig informierten Tauschpartnern frequentierten und sich daher selbst regulierenden Gleichgewichtsmärkten agiere – in Märkten, die in der Realität nicht existierten. Diese Kritik trifft den neuen Wirtschaftsliberalismus aber nur zum Teil, weil der zugrunde liegende methodologische Individualismus gerade von »der Begrenztheit des individuellen Wissens« ausgeht und aus der Tatsache, »dass keine Einzelperson oder keine kleine Gruppe von Personen alles wissen kann, was irgendjemand weiß«,[11] die Überlegenheit der Marktkoordination gegenüber anderen Koordinationsmechanismen ableitet.
Grundlegender argumentiert eine Kritikvariante, die den naiven Effizienzbegriff des Marktfundamentalismus bloßstellt. Effizienz lässt sich z. B. durch eine Minimierung von Transaktions- oder Agency-Kosten erreichen, die in den neoklassischen Überlegungen meist gar nicht vorkommen. Transaktionskosten werden durch »Reibungen beim Leistungsaustausch auf Märkten wie auch bei der innerbetrieblichen Kooperation« verursacht. Solche Reibungen entstehen aufgrund »unterschiedlichen Wissens und Könnens, unterschiedlicher Interessen, begrenzter Erkenntnismöglichkeiten und potentiell opportunistischer Verhaltensweisen«[12] der Marktakteure. Aus transaktionskostentheoretischen Überlegungen lässt sich lernen, dass Effizienz schon auf der betriebswirtschaftlichen Ebene nicht allein, ja nicht einmal primär über im Preiswettbewerb stehende Unternehmen, sondern vor allem durch Institutionen beeinflusst wird, die den marktförmigen Tausch regulieren. Noch weiter 27gehen Ansätze, für die Institutionen das Resultat relativ autonomer politischer und historischer Prozesse sind, nicht jedoch Ausdruck effizienter Lösungen für Kapitalbesitzer, die ihren Profit maximieren wollen. Ökonomische Effizienz gründet demnach auf hochkomplexen Beziehungssystemen zwischen Marktteilnehmern und regulierenden Institutionen, weshalb wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ohne die Identifikation struktureller Machtasymmetrien und Interessensgegensätze nicht zureichend analysiert werden kann.
Hier setzt eine grundlegende Kritik des Wirtschaftsliberalismus an, wie sie Karl Polanyi in unvergleichlicher Weise formuliert hat. Polanyi destruiert die zentrale Vorstellung des Marktfundamentalismus, Arbeitskraft, Boden und Geld seien Waren wie jede andere. Schon weil die Arbeitskraft in einem menschlichen Behälter wohne, damit einem Biorhythmus unterliege und zur eigenen Reproduktion die Integration in Familienstrukturen und soziale Netze benötige, sei sie nur begrenzt flexibel. Die Verwandlung endlicher Naturressourcen in Waren stoße an physische Grenzen. Und die Nutzung des Kommunikationsmediums Geld als Spekulationsobjekt werde früher oder später zu ökonomischen Instabilitäten führen. Aufgrund dieser Ignoranz gegenüber den Besonderheiten von Arbeitskraft, Boden und Geld sei die Vorstellung einer reinen Marktwirtschaft »eine krasse Utopie«. Ein sich selbst regulierender Marktkapitalismus könne »über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen psychisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt«.[13]
Dementsprechend definiert Polanyi das Verhältnis von Freiheit und Kapitalismus in diametralem Gegensatz zum marktorthodoxen Paradigma. Positive Freiheit kann nach seinem Verständnis erst und ausschließlich durch Einschränkung und Regulierung der Marktkräfte entstehen. Den »besser situierten Klassen«, die sich »der durch Muße in Sicherheit gebotenen Freiheit« erfreuten, liege »naturgemäß wenig daran, die Freiheit innerhalb der Gesellschaft auszuweiten«. Elementare Bürgerrechte, einschließlich eines »Rechts auf Nonkonformismus«, müssten jedoch auch »um den Preis der Effizienz in der Produktion, der Wirtschaftlichkeit in der Konsumption oder der Zweckmäßigkeit in der Verwaltung« garan28tiert werden. Dies schließe ein, negative Freiheiten, die auf Kosten der Schwächeren genutzt würden, zugunsten positiver Freiheiten einzuschränken. Erst das Ende der reinen Marktwirtschaft könne »den Anfang einer Ära nie dagewesener Freiheit«[14] bedeuten.
Dem wirtschaftsliberalen Mainstream mögen solche Überlegungen als reine Ketzerei erscheinen. Und doch haben sie nach 1945 das Denken der ökonomischen und politischen Eliten geprägt. Der Wirtschaftsliberalismus schien tot, bis er, gleichsam als Angriffsideologie gegen die Resultate einer kurzzeitig wiedererwachten »Arbeitermilitanz«, in den 1970er Jahren neues Leben eingehaucht bekam. Weil er primär auf Marktöffnung zielte, ließ sich die staatlich-politische Dimension des neuen Marktfundamentalismus trefflich maskieren. Dazu haben auch Kritikvarianten beigetragen, die die Negativutopie eines »reinen« Wettbewerbskapitalismus beim Wort nahmen. Was die Marktorthodoxie – vermeintlich – als ihr Leitbild anpries, machte der »Anti-Markttotalitarismus« tendenziell zum Gegenstand seiner Kritik. Gewiss ist es auf diese Weise gelungen, markante Züge der Transformation des zeitgenössischen Kapitalismus zu erfassen. Dies, zumal die konzeptionelle Sorge um den Markt, die die Hayeks und Friedmans begrenzte Staatseingriffe akzeptieren lässt, im alltäglichen Handgemenge zumeist simpleren Deutungen und Rezepten weicht. In einem entscheidenden Punkt verfehlt die Kritik am »Turbokapitalismus« mit seinen »entfesselten Märkten« indessen ihren Gegenstand. Der Kapitalismus, auch der aktuelle, ist keine reine Marktgesellschaft, kein reiner Wettbewerbskapitalismus, und er kann es auch niemals werden. Seine Dynamik und Überlebensfähigkeit wurzelt gerade darin, dass er in einem krisenhaften, teilweise katastrophischen Prozess bislang immer wieder in der Lage war, Selbststabilisatoren hervorzubringen, die sein Überleben sicherstellen. Schon deshalb lässt sich Kapitalismus nicht auf Wettbewerb reduzieren. Ohne marktvermittelte Konkurrenz kann Kapitalismus nicht funktionieren. Um sich im Wettbewerb betätigen zu können, sind bei individuellen wie kollektiven Akteuren jedoch Verhaltensweisen vonnöten, die auf Kooperation, mitunter gar auf Solidarität beruhen und damit in gewisser Weise das Gegenteil marktvermittelter Konkurrenz voraussetzen.
Ein Kapitalismusverständnis, das diese Widersprüchlichkeit auf29greift, soll hier zum Ausgangspunkt eigener konzeptioneller Überlegungen gemacht werden. Dabei lässt sich an eine frühe Studie Pierre Bourdieus zur algerischen Übergangsgesellschaft anknüpfen.[15] Darin Weber[16] und Sombart[17] ähnlich, verknüpft Bourdieu den Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaftsweise mit dem Problem der Aneignung einer rationalen, auf kalkulierendem Denken beruhenden Lebensführung. Was der Marktfundamentalismus gleichsam als überhistorische, naturwüchsig gegebene Eigenschaften des homo oeconomicus betrachtet – die Ausbildung einer von bloßen Bedarfen abgelösten rational-kalkulierenden Denkweise – kann überhaupt erst aufgrund spezifischer historischer Gegebenheiten entstehen. Entsprechende Denk- und Handlungsschemata sind Teil eines, wie Bourdieu es nennt, »ökonomischen Habitus«. Anders als Weber und Sombart koppelt Bourdieu die Chancen zur Aneignung und Habitualisierung kalkulierenden Denkens allerdings an die Erfahrung elementarer sozialer Stabilität. Nur auf der Basis wenigstens eines Minimums an Arbeitsplatz- und Einkommenssicherheit ist für den französischen Soziologen die Entwicklung eines in die Zukunft gerichteten Bewusstseins möglich. Und erst dieses Zukunftsbewusstsein, das individuelle Planungsfähigkeit voraussetzt, lässt rational-kalkulierendes Verhalten real werden. Selbst innovative Unternehmer, die strukturell mit Unsicherheiten konfrontiert werden, benötigen ein Minimum an Planungssicherheit. In ihrem ureigensten (Gewinn-)Interesse streben sie danach, die Willkür der Marktkonkurrenz wenigstens zeitweilig zu begrenzen. Dafür setzen sie ihre Machtressourcen ein. Marktvergesellschaftung beruht somit auf widersprüchlichen, ja gegensätzlichen Handlungslogiken. Jeder über Preise regulierte Tauschakt verlangt, sofern er nicht als isolierter betrachtet wird, nach sozialer Einbettung, vor allem nach einem Zeitregime, das den Horizont marktgesteuerter Tauschakte überschreitet. Dieser Zwangsläufigkeit können sich gerade die entwickelten Kapitalismen mit ihren ausdifferenzierten Subsystemen nicht entziehen.
Das wissen im Grunde auch die marktorthodoxen Kritiker des 30»sozialen Kapitalismus«.[18] Ihr Leitbild eines sich innerhalb gewisser Grenzen selbst regulierenden Wettbewerbskapitalismus ist noch im Falle der radikalsten Umsetzungsversuche – in Chile, Mexiko, den USA oder Großbritannien – Fiktion geblieben. Überall hat die Stärkung der Marktvergesellschaftung auf ihrer Kehrseite einen bürokratischen Überwachungsstaat hervorgebracht, der selbst manch basale wirtschaftliche Aktivitäten bis ins Kleinste kontrolliert. Im Grunde geht bereits die universalistische Grundidee des Wirtschaftsliberalismus, wenn schon nicht mit ihrem Gegenteil, so doch mit diversen Partikularismen schwanger. Wo der Wirtschaftsliberalismus die Offenheit von Märkten propagiert, benötigt der Bürgerrechtsliberalismus ein funktionierendes Staatswesen, das Rechtsgarantien abzugeben im Stande ist. Der gar nicht so minimale Wettbewerbsstaat der Gegenwart generiert eine Fülle von Regelungen, die das Marktprinzip einschränken. Doch just das macht für seine Verfechter den zynischen Charme des marktradikalen Paradigmas aus. Marktfundamentalisten wissen sehr genau, dass sie eine Angriffsideologie proklamieren, die nie vollständig zum Ziel kommt.[19] Auf diese Weise wird die transportierte Botschaft unerschöpflich. Wo immer die marktradikale Doktrin scheitert, können ihre Anhänger geltend machen, dass nach wie vor marktbegrenzende Institutionen wirken, die den Wettbewerb verzerren und daher Fehlallokationen provozieren. Erfolgt im Krisenfall die Staatsintervention, sagen wir zugunsten angeschlagener Kreditinstitute, kann das mit der notwendigen Ordnungsfunktion der Regierung begründet werden. Insofern hat der Marktfundamentalismus immer Recht. Einer Theodizee gleich, geriert sich das marktorthodoxe Paradigma als Kompendium ewiger Wahrheiten, die kritisch zu hinterfragen zumindest unter deutschen Ökonomen noch immer einem Sakrileg gleichkommt.
Dies festzustellen heißt zugleich, dass der fundamentalistische Wirtschaftsliberalismus eine reduzierte, unrealistische Kapitalismusvorstellung transportiert. Um solche Engführungen zu vermeiden, ist es sinnvoll, eine Kritikvariante zu reaktualisieren, die den 31Kapitalismus als eine sich beständig negierende Marktwirtschaft begreift. Von Kapitalismus kann nach Marx erst gesprochen werden, sofern eine Wirtschaftsweise entsteht, in der angehäuftes Geld in Waren investiert wird mit dem Ziel, mehr Geld zu hecken, eine Entdeckung, die sich auf die knappe Formel G-W-G’ bringen lässt. Die Verwandlung von Arbeitskraft und natürlichem Reichtum in Kapital, das »mit dem Ziel der Profitmaximierung, der Mehrung des erneut investierten Kapitals, immer wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeleitet wird«,[20] macht die besondere Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus.
Das Zerrbild einer reinen Marktwirtschaft wird von Marx gleich dreifach negiert. Erstens 32die umstrittenen werttheoretischen Grundlagen der Marx’schen Ausbeutungsdiagnose nicht teilen, um anzuerkennen, dass sich hinter dem Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn eine grundlegende Machtasymmetrie verbirgt. Um ihre Ziele durchzusetzen, können die Kapitaleigner zunächst als Einzelne auf ihre Marktmacht vertrauen. Aus sich heraus bietet das Kapitalverhältnis keinerlei Organisationsanreiz. Die Lohnarbeiter hingegen können die Bedingungen, zu denen sie ihre Arbeitskraft verkaufen, letztendlich nur beeinflussen, wenn sie ihre Konkurrenz überwinden und damit beginnen, »Koalitionen gegen die Bourgeoisie zu bilden«. Assoziationen wie die Gewerkschaften sind zunächst defensive Vereinigungen, die als »Preisfechter« dafür sorgen, dass der Lohn dem vollen Wert der Arbeitskraft entspricht. Nach Marx würden sie ihren Zweck jedoch verfehlen, sofern sie lediglich einen »Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems« führten, »statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern«.