Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) hat mit der Erzählung Der Großinquisitor ein literarisches Kleinod geschaffen, das zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur gehört: Es ist eine der ungewöhnlichsten Darstellungen einer Begegnung mit dem auferstandenen Christus. Als Teil des Romans Die Brüder Karamasow und als eigenständiger Text hat es über hundert Jahre die Leser der Welt begeistert und zu neuen Interpretationen veranlaßt.
Die neue Übersetzung von Wolfgang Kasack ermöglicht als erste den leichten Vergleich mit den Bibelstellen, die im Text erwähnt werden. Ihre Kenntnis, die Dostojewski bei seinen Lesern voraussetzte, trägt wesentlich zum Verständnis bei, da der Großinquisitor in seiner Anklage Christi den biblischen Text verfälscht. Wolfgang Kasacks Nachwort erläutert sowohl diese religiöse als auch die politische Ebene der Erzählung und zeigt damit die bleibende Aktualität des Großinquisitors.
Von Wolfgang Kasack liegt im insel taschenbuch außerdem vor: Dostojewski. Leben und Werk. Mit Abbildungen (insel taschenbuch 2267).
DER GROSSINQUISITOR
Aus dem Russischen übersetzt
und herausgegeben
von Wolfgang Kasack
Insel Verlag
Originaltitel: Fedor Dostoevskij, Velikij inkvizitor
Aus: Brat’ja Karamazovy.
Teil 1 · Buch 5 · Ende Kapitel 4 und Kapitel 5
Umschlagabbildung: Diego Velázquez, Innozenz X., 1649
Galleria Doria-Pamphili, Rom
eBook Insel Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 2940.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2003
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-73539-7
www.insel-verlag.de
Die unter dem Titel Der Großinquisitor bekannte Erzählung Fjodor Dostojewskis ist ein Teil seines bedeutendsten Romans Die Brüder Karamasow (1878-80). Sie ist eingebettet in einen Dialog der beiden Brüder Iwan Karamásow und Alexej, genannt Aljóscha. Iwan ist dem Leser des Romans an dieser Stelle als der vierundzwanzigjährige vom Verstand her Bestimmte vertraut, einer, der sich gegen die von Gott geschaffene Welt auflehnt, zugleich aber Gott sucht, der neunzehnjährige Aljoscha als der vom Herzen her geleitete jüngste der drei Brüder, eine der lichten Figuren des großen russischen Schriftstellers, die ihren Halt im Christentum haben.
Für das Verständnis der Erzählung von der Begegnung des Großinquisitors mit dem in Spanien zur Zeit der Inquisition erschienenen Christus ist die genaue Kenntnis der Bibelstellen hilfreich, denn der Großinquisitor entstellt sie Christus gegenüber, Iwan aber gibt in den einbezogenen Gesprächen mit Aljoscha Bibelstellen inhaltlich richtig und nur nicht wörtlich wieder. In dieser Ausgabe sind die wichtigsten in Anmerkungen jeweils im Wortlaut der Übersetzung Martin Luthers nach der revidieren Fassung von 1984 zitiert.
Iwan wendet sich an seinen Bruder:
»Weißt du was, Aljoscha, aber lache nicht, ich habe da einmal ein Poem verfaßt, etwa vor einem Jahr. Wenn du mir noch etwa zehn Minuten schenken kannst – ich hätte gern, du würdest es kennenlernen.«
»Du hast ein Poem, so eine lange erzählende Dichtung, geschrieben?«
»O nein, geschrieben nicht«, Iwan lachte. »Nie im Leben habe ich auch nur zwei Verse zustande gebracht. Aber dieses Poem habe ich mir ausgedacht und im Gedächtnis behalten. Mit Hingabe ausgedacht. Du wirst mein erster Leser oder vielmehr Hörer sein. Warum soll sich ein Autor einen Hörer entgehen lassen, vielleicht den einzigen?« Iwan lächelte ein bißchen. »Darf ich anfangen?«
»Ich bin ganz Ohr«, antwortete Aljoscha.
»Mein Poem heißt ›Der Großinquisitor‹, ziemlicher Blödsinn, aber ich möchte, daß du es kennenlernst. Ohne ein Vorwort geht es auch hier nicht, ich meine, ohne so ein literarisches Vorwort. Scheußlich!« begann Iwan lachend, »was bin ich schon für ein Schriftsteller.
Siehst du, die Handlung spielt bei mir im sechzehnten Jahrhundert, und damals – das dürfte dir noch von der Schule her vertraut sein – damals war es gerade üblich, in literarischen Werken Himmelskräfte auf die Erde niederkommen zu lassen. Von Dante will ich da gar nicht reden. In Frankreich haben Gerichtsschreiber und auch Mönche in manchen Klöstern richtige szenische Aufführungen veranstaltet, in denen sie die Madonna, Engel, Heilige, Christus und Gott selber auf die Bühne brachten. Man hat das damals alles in großer Herzenseinfalt aufgeführt. In Victor Hugos Notre Dame de Paris wird zu Ehren der Geburt des französischen Dauphins in Paris unter Ludwig XI. dem Volk im Rathaussaal eine kostenlose erbauliche Vorstellung unter dem Titel Le bon jugement de la très sainte et gracieuse Vierge Marie gegeben, in der Sie auch höchstpersönlich auftritt und Ihr bon jugement verkündet.
Bei uns in Moskau, in der alten vorpetrinischen Zeit, gab es ab und an ganz ähnliche Theateraufführungen, besonders welche nach dem Alten Testament; aber neben solchen Theateraufführungen waren damals überall im Land viele Erzählungen und geistliche Lieder üblich, in denen, je nach Bedarf, Heilige, Engel und all die himmlischen Heerscharen in die Handlung einbezogen wurden. In den Klöstern befaßte man sich bei uns auch mit Übersetzungen dieser Werke, mit der Abschrift und sogar dem Abfassen solcher Poeme, ja und das sogar während der Tatarenherrschaft.
Da gibt es zum Beispiel das kleine nette Klosterpoem (natürlich eine Übersetzung aus dem Griechischen) Der Gang der Muttergottes durch die Qualen mit Bildern und von einer Kühnheit, nicht schwächer als bei Dante. Die Gottesmutter besucht die Hölle, und der Erzengel Michael führt Sie ›durch die Qualen‹. Sie sieht die Sünder und wie sie gequält werden. Dort gibt es übrigens eine höchst interessante Abteilung mit Sündern in einem brennenden See: Einige von ihnen versinken in dem See so tief, daß sie schon nicht mehr auftauchen können, die Formulierung: ›jene vergißt Gott bereits‹ hat schon außerordentliche Tiefe und Kraft. Und da fällt die erschütterte Gottesmutter weinend vor Gottes Thron nieder und bittet um Vergebung für alle ohne Unterschied, die Sie da in der Hölle gesehen hat. Ihr Gespräch mit Gott ist kolossal interessant. Sie fleht, Sie weicht nicht von der Stelle, und als Gott Sie auf die durchnagelten Hände und Füße Ihres Sohnes hinweist und fragt: ›Wie kann ich denen vergeben, die Ihn peinigten?‹, da läßt Sie alle Heiligen, alle Märtyrer, alle Engel und Erzengel zusammen mit Ihr niederfallen und für alle ohne Ausnahme um Vergebung bitten. Es endet damit, daß Sie mit Ihrem Flehen bei Gott eine alljährliche Unterbrechung der Qualen von Karfreitag bis zum Pfingstsonntag erreicht. Sogleich danken die Sünder aus der Hölle dem Herrn und rufen ihm freudig zu: ›Gerecht bist Du, Herr, gerecht war Dein Gericht.‹ Siehst du, mein kleines Poem wäre eines von dieser Art gewesen, wenn es in jener Zeit entstanden wäre.
Bei mir ist Er es Selbst, der den Schauplatz der Handlung betritt; indessen, Er spricht in dem Poem nichts, Er erscheint nur und geht wieder. Fünfzehn Jahrhunderte sind schon seit Seiner Verheißung, Er werde kommen und Seine Herrschaft sichtbar machen, vergangen,1 fünfzehn Jahrhunderte, seit der Prophet Seine Worte aufgezeichnet hat: ›Siehe, ich komme bald.‹2 ›Von dem Tag aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater‹,3 wie er ja selbst auf Erden gesagt hat. Doch wartet die Menschheit auf Ihn mit demselben Glauben wie damals und mit derselben liebenden Bereitschaft. Ja, sogar mit größerem Glauben, denn es sind schon fünfzehn Jahrhunderte seit jener Zeit verflossen, seitdem der Mensch vom Himmel kein Unterpfand mehr erhält:
Glaube deines Herzens Worten,
Der Himmel gibt kein Unterpfand.4
Und einzig und allein der Glaube an die Worte des Herzens! Allerdings gab es damals auch viele Wunder. Es gab Heilige, die wundersame Heilungen vollbrachten; zu manchen Gerechten stieg, wie es in ihren Vitae heißt, die Himmelskönigin Selber herab. Doch der Teufel schläft nicht, und in der Menschheit regten sich schon Zweifel an der Wahrheit der Wunder. Gerade damals tauchte im Norden, in Deutschland, eine schreckliche neue Ketzerei auf. Ein gewaltiger Stern, ›wie eine Fackel‹ (damit ist die Kirche gemeint) ›fiel auf die Wasserquellen und sie wurden bitter‹.5 Diese Ketzereien fingen an, die Wunder gotteslästerlich zu bestreiten. Aber um so glühender glauben die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschheit steigen zu Ihm nach wie vor empor, man wartet auf Ihn, liebt Ihn, hofft auf Ihn, dürstet danach, für Ihn zu leiden und zu sterben, alles wie einst und je …
Ja, so viele Jahrhunderte hat die Menschheit voller Glauben und Inbrunst gefleht: ›O Herr, erscheine uns.‹ So viele Jahrhunderte hat sie Ihn angerufen, Sein unermeßliches Mitleid möge in Ihm den Wunsch aufkommen lassen, zu den Flehenden herabzusteigen. Von Zeit zu Zeit war Er ja schon herabgestiegen, war manchen Gerechten, Märtyrern und heiligen Einsiedlern, erschienen, als sie noch auf Erden weilten – so steht es ja in ihren Vitae geschrieben. Bei uns hat Tjuttschew, tief von der Wahrheit seiner Worte überzeugt, von unserem Rußland verkündet:
Er, der für die Welt gelitten,
Seiner Kreuzeslast erlegen,
Hat in Knechtsgestalt durchschritten
Dich mit Seinem Himmelssegen.6
So ist das auch gewesen, bestimmt, das sage ich dir.
Da verlangte es Ihn also, dem Volk wenigstens für einen Augenblick zu erscheinen – dem sich quälenden, leidenden, abgrundtief sündigen, doch Ihn kindlich liebenden Volke. Die Handlung meines Poems spielt in Spanien, in Sevilla, in der schrecklichsten Zeit der Inquisition, als zum Ruhme Gottes tagtäglich Scheiterhaufen loderten, und man