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Die repräsentative Demokratie steckt in einer schweren Krise, angesichts von Ökonomisierung und privatistischen Tendenzen geht der Glaube an die politische Gestaltbarkeit der Gesellschaft verloren. Diverse Vorschläge stehen im Raum: deliberativ, transparent, »flüssig« und überhaupt weniger staatszentriert soll sie sein, die künftige Politik. Doch wie vielversprechend sind diese Therapien? Die Autoren wagen einen Rundumblick und zeigen, dass nicht nur Technokratie und neoliberaler Konsens, sondern auch viele der aufgebotenen Gegenrezepturen das Politische der Politik unterminieren.

 

Danny Michelsen ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Franz Walter lehrt Politikwissenschaft an der Universität Göttingen und ist Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

Danny Michelsen/Franz Walter

Unpolitische Demokratie

Zur Krise der Repräsentation

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

edition suhrkamp 2668

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73119-2

www.suhrkamp.de

Inhalt

1.

»Verschwinden« oder »Neuerfindung« der Politik?

2.

Erleben wir das Ende der liberalen Demokratie?

3.

Entparlamentarisierung und deliberative Surrogatdemokratie

4.

(Post-)Politik im Netz? Der (Alb-)Traum von der digitalen Demokratie

5.

Die Ratlosigkeit der Radikaldemokraten

6.

It’s representation, stupid!

7.

Die unpolitische Union

8.

Narrative Leere

 

Nachbemerkung

Literatur

1. »Verschwinden« oder »Neuerfindung« der Politik?

Wir leben wirklich in paradoxen Zeiten. Einerseits ist die neuzeitliche Geschichte im Wesentlichen eine der Re-Emanzipation der Politik von der Religion und sakral legitimierten Autoritäten, von der »Heiligkeit altüberkommener (›von jeher bestehender‹) Ordnungen und Herrengewalten«,1 in deren Verlauf öffentliche Handlungsräume sich nach und nach zu öffnen beginnen. Vorpolitische Begründungsressourcen gehen rasant zur Neige, es gibt schlichtweg keine öffentlichen Angelegenheiten mehr, die ohne breiten Diskurs allein auf der Grundlage transzendenter Prämissen entscheidbar wären. Der im Juli 2012 jäh verstorbene Politologe Michael Th. Greven hat den kontingenten Charakter dieser unserer »fundamentalpolitisierten« Gesellschaft ausführlich beschrieben. Demzufolge erleben wir augenblicklich den »Schlussstein« eines langen Politisierungsprozesses, der in der frühen europäischen Neuzeit zunächst von »oben« einsetzte, als allmählich sich herausbildende Zentralstaaten damit begannen, in die Wirtschaft einzugreifen, bis dann im 19. Jahrhundert expandierende Verwaltungsapparate die Nebenfolgen einer nunmehr kapitalistischen Produktionsweise durch wohlfahrtsstaatliche Inklusionsmaßnahmen zu entschärfen suchten und so immer tiefer in das gesellschaftliche Leben eindrangen.2 Damit waren zugleich die Samen gelegt für eine erst später einsetzende »Politisierung von unten«, in deren Verlauf Teile der unterprivilegierten Schichten begannen, sich als mündige Subjekte wahrzunehmen und soziale und politische Rechte einzufordern. In den Wohlstandsgesellschaften des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts schließlich richten zunehmend selbstbewusste Bürger gesteigerte Partizipationserwartungen an immer kritischer beäugte Regierungsinstitutionen. Der Niedergang traditioneller Hierarchien korrespondiert mit einem sukzessiven Zugewinn an individueller Entscheidungsfreiheit. Vielfältige Formen sozialen Protests, auch ziviler Ungehorsam, werden als Supplement zu tradierten Wegen der Einflussnahme qua Abstimmung von allen Seiten geschätzt. Essentialistisch definierte Gemeinwohlbegriffe und Argumente, die das Bestehende damit begründen wollen, dass es schon immer existierte, können nicht mehr überzeugen. Externe Kriterien stehen für die Bewertung von Geltungsgründen nicht zur Verfügung, die Gesellschaft muss sich aus sich selbst hervorbringen. Politik ist, kurz gesagt, die »einzige Quelle von Normierungen«, und alles ist politisch entscheidbar geworden.3

Zeitlebens hatte Greven diesen Punkt immer etwas überspannt, was vor allem seinem extensiven dezisionistischen Politikbegriff geschuldet war. Am Machtrealismus Max Webers geschult und in Abgrenzung zu einem strikt intersubjektiven handlungstheoretischen Ansatz, wie wir ihn zum Beispiel bei Hannah Arendt finden, sieht er das Politische im absolutistischen Fürstenstaat ebenso wie in der liberalen Demokratie verwirklicht und erst recht, in einem nie mehr erreichten Ausmaß, in der totalen Herrschaft (laut Arendt der Tod des Politischen) – überall dort, wo Kontingenz verfügbar ist, wo also etwas politisch wirksam, das heißt für größere Verbände autoritativ verbindlich, aber nicht notwendig entscheidbar ist. Nicht zu Unrecht wurde ihm deshalb vorgeworfen, einer »herrschaftskategorialen und gewaltnahen Konzeption des Politischen« das Wort zu reden, die, ganz weberianisch, die »zweckrationale Verwirklichung subjektiver Präferenzen« normativ nicht höher bewerte als ein antiinstrumentelles Verständnis politischen Handelns, als ein »acting in concert«, wie Arendt es mit Bezug auf Edmund Burke favorisierte, und somit nicht dem Anspruch eines explizit demokratischen Dezisionismus gerecht werde, da ein solcher, um auf eine moderne, pluralistische Gesellschaft anwendbar zu sein, obligatorisch mit einem egalitären Deliberationsideal verknüpft werden müsste.4 Wie immer man zu diesem Vorwurf stehen mag:5 Das im Kontingenzbegriff enthaltene Kriterium der Gestaltungsfreiheit, welches in beiden Deutungen des Politischen eine zentrale Rolle spielt, ist zweifellos eine konstitutive Bedingung, und ihr Verlust heute eine der größten Bedrohungen für demokratisches Regieren. Auf dieses Problem hat auch Greven stets hingewiesen, wenn er auf eine »immer tiefere Kluft zwischen der sich tendenziell radikalisierenden gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und der Wahrnehmung der politischen Entscheidungsroutinen« aufmerksam machte, »die in der Paradoxie mündet, dass niemand mehr der Politik zutraut, was doch allein politisch gelöst werden könnte«.6

Damit kommen wir zur paradoxen Wendung der These von der politisierten Demokratie der Spätmoderne.7 Der einerseits durchaus plausible Befund einer von Politik durchdrungenen Gesellschaft wird nicht nur durch eine seit vielen Jahrzehnten mit großer Sorge beschriebene Ohnmacht der einst aus langen politischen Konflikten hervorgegangenen, politisch instituierten Verfassungsorgane kontrastiert. Da der (National-)Staat in der Berichterstattung noch immer als das eigentlich relevante politische Entscheidungszentrum und der Wettbewerb der um die Macht in dessen »Schaltzentralen« konkurrierenden Gruppen von den meisten Bürgern – ungeachtet der akademischen Trennungen zwischen Staat und Politik, Politik und dem Politischen – noch immer als der Kern dessen, was Politik ausmacht, betrachtet werden und weil auch die meisten »subpolitischen« Akteure außerhalb der tradierten staatlichen und korporatistischen Arrangements mit ihren Aktivitäten versuchen, ihre politischen Forderungen an die zumeist durch Wahl autorisierten national- oder suprastaatlichen Repräsentanten zu richten, stehen die politisierten Bürger, mit der plausiblen Diagnose vom »Ende der Handlungsfähigkeit des Staates« konfrontiert,8 dem zunehmend machtlosen Adressaten ihrer zahlreichen Anliegen rat- und politisch perspektivlos gegenüber.

Denn während die neuen Formen des politischen Engagements vor allem durch zwei Trends gekennzeichnet sind – Individualisierung und Distanzierung der Bürger von der »offiziellen Politik« –, nehmen die Erwartungen an die Regelungskapazitäten der staatlichen Institutionen keineswegs ab. Im Gegenteil: An der Einsicht, dass angesichts schmelzender Polkappen, globaler Armutsmigration und einer ernsthaft gestörten Beziehung zwischen Finanz- und Realökonomie »etwas getan werden muss«, fehlt es offensichtlich nicht. Die Ansprüche der Bürger an eine heute primär als Dienstleistungsunternehmen perzipierte Politik wachsen weiter an. Das »Könnens-Bewusstsein«, mit dem der Althistoriker Christian Meier den diesseitsorientierten Fortschrittsoptimismus der Griechen charakterisierte, politischen Wandel in gefestigten institutionellen Bahnen und ohne Bezugnahme auf transzendente Prämissen erreichen zu können,9 nimmt dagegen ab, weil der vermeintliche Kontingenzüberschuss nicht in die tradierten und konstitutionell vorgegebenen Verfahren übersetzt werden kann und insofern gar kein realer ist: In der Epoche der Kontingenz schafft die Befreiung von organisch legitimierten Herrschaftsnormen zwar ein Gefühl dafür, dass nicht nur in der Technik, sondern auch im politischen Raum prinzipiell nichts unmöglich ist (was nicht allein in den großen Revolutionen, sondern ebenso in den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts eine extreme Bestätigung fand). Jüngst aber schwebt über Europa eine Aura der Alternativlosigkeit: Angesichts »multipler Krisen«10 sind wir im öffentlichen Raum mit der Notwendigkeit einer wesentlich von den »Sachzwängen« des ökonomischen Sektors bestimmten Politik konfrontiert, die sich bei der Rechtfertigung ihrer Entscheidungen gern der sogenannten TINA-Rhetorik (»There is no alternative«) bedient. Dazu passt, dass das Wort »alternativlos« 2010 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gewählt wurde. Der Streit um fundamentale Ordnungsfragen ist längst einer Art Placebo-Politik gewichen, die diffuse, weil nur noch selten bipolar verlaufende Konflikte durch simulative Verfahren wie die Reaktivierung überkommener, auf nationalstaatliche Politikmuster rekurrierender Erzählungen aufzulösen versucht. Solche Erzählungen vermitteln zwar ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, zeichnen aber das fiktive Bild einer staatszentrierten Politik, die sich in Wirklichkeit längst in Auflösung befindet und in der globalen Welt schwerlich funktionieren kann. Staatlich-politische Institutionen, die ehemals nicht nur als ausführende Organe, sondern auch als Impulsgeber fungierten, verwandeln sich in »Zombie-Institutionen, die historisch längst tot sind, aber doch nicht sterben können«,11 die dem Modernisierungsprozess wankend hinterherschlurfen und gegenüber der ökonomischen Globalisierung immer mehr in Verzug geraten. Um die eigene Machtlosigkeit gegenüber den Dynamiken der Weltökonomie, aber auch um die hässlichen, machtzentrierten Seiten politischen Handelns in einem relativ herrschaftskritischen »Zeitalter des Misstrauens«12 zu überblenden, bedient sich die Politik harmonistischer Wohlfühlrhetorik und überschwänglicher Moralisierung.13 Sie überdeckt das graue Porträt der konsoziativen, durch die Dispersion politischer Verantwortlichkeiten geprägten Gegenwartsdemokratie mit den bunten Farben inhaltsleerer Ästhetisierung und einer dialogischen Drapierung des Alternativlosen, wodurch es ihr bislang tatsächlich gelingt, nach wie vor bestehende gesellschaftliche Konfliktpotenziale vorsorglich zu entschärfen.

Zugleich fällt auf, wie schlaff und uninspiriert die meisten politischen Debatten heute verlaufen. Sicher, Sozialdemokraten können sich an Wahlabenden hämisch freuen, wenn CDU-Anhänger aufgrund gravierender Verluste ihrer Partei tieftraurig in die Kamera schauen. Grüne gönnen den Freidemokraten die heftigsten Einbrüche; Liberale jauchzen bei Verlusten der Öko-Partei. In der Schadenfreude sind die alten politischen Lager noch ordentlich sortiert. Aber sonst? Kann man noch irgendeinen Sozialdemokraten erhitzt mit einem Christdemokraten disputieren sehen? Worüber sollten sie sich auch streiten? Über den Atomausstieg? Über Steuer- oder Sparpolitik? Über vorschulische Kinderbetreuungseinrichtungen? Über den Mindestlohn? Über den Erhalt des Sozialstaats? Gar über Europa? Eine grundsätzliche Differenz gibt es in all diesen Fragen nicht mehr. Zugespitzt: Auf der öffentlichen Bühne finden wir heute überwiegend Darsteller des Politischen, die von Fall zu Fall und bevorzugt vor Fernsehpublikum mit theatralischer Stimme irgendeinen Vertreter einer anderen Partei andonnern, ohne im Inneren auch nur im Geringsten erregt, aufgewühlt oder wirklich empört zu sein.

Haben wir noch die Wahl?

So wird ein zentrales Versprechen der repräsentativen Demokratie ins Wanken gebracht: dass sich den gesellschaftlichen Akteuren mehr als eine politische Option bieten sollte, die in der gesellschaftlichen Sphäre waltenden Prozesse wenigstens mitzugestalten oder – negativ formuliert – den Notwendigkeiten des ökonomischen Lebens zu trotzen, und dass die verschiedenen im gesellschaftlichen Diskurs vorgebrachten Möglichkeiten, die soziale Welt zu gestalten, im politischen Raum, im Parlament eine Stimme finden und auch real verfügbar sein müssen. Andernfalls wird der dauerhafte Akt der Repräsentation, also das Sichtbar-Machen von divergierenden Standpunkten, marginalisiert, denn »eine repräsentative Körperschaft, die nicht geteilt ist, ist ein Widerspruch in sich«.14 Zumindest würde das Moment der Wahl, dem politische Repräsentanten in demokratischen Systemen immer noch ihre Legitimation verdanken, ins Leere laufen. Dann schwindet der Glaube der Menschen daran, an den gesellschaftlichen Verhältnissen gemeinsam noch etwas ändern zu können. Es fehlt, wie in jüngerer Zeit zu Recht betont wird, der gemeinsame narrative Zusammenhang, der einen solchen Glauben plausibel revitalisieren könnte. Gleichzeitig wird die demokratische Programmierung des Staatshandelns durch die weit größere Wirkmacht weltwirtschaftlicher Akteure immens relativiert. Wenn sich die parlamentarischen Mehrheitsfraktionen, wie in jüngerer Zeit in Italien und Griechenland, für die Einsetzung von Technokratenkabinetten entscheiden, um der Verantwortlichkeit für das wirtschaftspolitisch Unvermeidliche zu entgehen, fällt die institutionalisierte Politik als Adressat politischer Unmutsbekundungen aus. Die unmissverständliche Botschaft an das Volk ist dann eine längst bekannte, nun aber mehr oder weniger offen bekundete Einsicht: dass man innerhalb nationaler Demokratien eben »nicht gegen die internationalen Finanzmärkte regieren kann« (Joschka Fischer).

Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 hatten viele Beobachter zunächst auf einen irgendwie gearteten Paradigmenwechsel gehofft. In der Tat kann man, schaut man in die Kommentarspalten auch der eher konservativ-liberalen Tageszeitungen,15 einen Trend hin zu einer Grundstimmung erkennen, die auf die fortgesetzte Unterordnung der Demokratie unter die Logik des Marktes, auf ihre Transformation in eine »marktkonforme Fassadendemokratie«16 mit erfrischender Polemik reagiert. Nicht nur die Linke, sondern eine weit in die rechte Mitte hineinreichende gesellschaftliche Teilgruppe sieht die größte Gefahr für eine vitale Demokratie momentan nicht, wie noch vor einigen Jahrzehnten, primär von einem »krakenhaften Staat«, von legislatorischer Regelungswut und der Erstickung sozialer Autonomie durch Bürokratie ausgehen, sondern von der Determinierung des politischen Lebens durch sich selbst überlassene Kapitalmärkte, oder von privaten Ratingagenturen, deren Verdikte ganze Volkswirtschaften lähmen und immer häufiger über das Schicksal von Regierungen entscheiden. Auch gegen abstrakte Dinge wie »soziale Kälte« und »neoliberale Dogmen« zu sein, gehört nachgerade wieder zum guten Ton; schwieriger wird es aber, wenn man konkrete Fragen stellt: nach der Legitimität der Bankenrettungen 2008/09 zum Beispiel oder nach Alternativen zu den im Zuge der südeuropäischen Staatsschuldenkrisen von Brüssel oktroyierten Austeritätsprogrammen, unter denen – mal wieder – vor allem die Ärmsten zu leiden haben, obwohl ein guter Teil der angehäuften Haushaltsdefizite allem Anschein nach nicht zuletzt auf die vorangegangene, durch einen seit den achtziger Jahren forcierten Deregulierungswettlauf hervorgerufene Weltfinanzkrise zurückzuführen ist.17

Man gewinnt jedoch den Eindruck, dass es bei den zentralen politischen Fragen, die uns derzeit umtreiben, für die Bildung einer reflektierten Meinung längst nicht mehr ausreicht, die Zeitung zu lesen und mit anderen Bürgern ins Gespräch zu kommen – ein Ökonomiestudium wäre in vielen Fällen eine Grundvoraussetzung: »Überall regiert das Nichtwissen. Niemand weiß, was ist und was die im Nullenrausch verordnete Therapie tatsächlich bewirkt«, ob der inzwischen in Mode gekommene »Staatssozialismus für Reiche«18 am Ende überhaupt Früchte trägt. Letztlich sind es doch wieder die Experten, auf deren Antworten wir zwangsläufig vertrauen müssen, wenn es um Handlungs- und sogar Wahlempfehlungen geht, denn immerhin: Die Experten konfrontieren uns, trotz aller Differenzen untereinander im Detail, sehr dezidiert mit den möglichen katastrophalen Folgen unseres Handelns. Eines sollten wir nicht unterschätzen: »Echte« Demokratie (was auch immer das sein mag), wie sie das spanische Movimiento 15-M im Sommer 2011 einforderte, ist, wie alle unbestimmbaren Größen, in einer hochgradig interdependenten Währungs- und Wirtschaftsordnung zu einer gefährlichen Angelegenheit geworden. Grundsätzliche Alternativen scheinen unter den gegebenen Bedingungen oft nur noch zusammen mit einem drohenden Kollaps des Systems denkbar, der befürchtete Schmetterlingseffekt ist ein permanentes Risiko: Ein Nein bei einem vom damaligen griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou zunächst für den Herbst 2011 angekündigten Euro-Referendum seines Landes, das am Ende – zur Erleichterung der übrigen Staaten der Europäischen Währungsunion (EWU) – doch nicht stattfand, oder die Wahl einer falschen Partei bei den griechischen und italienischen Parlamentswahlen vom Juni 2012 und Februar 2013 hätte, so sagte man uns zu jener Zeit, einen Tsunami im Innersten der Euro-Zone auslösen können. Die Politik der Angst delegitimiert das Nein-Sagen, die Alternative, als eine verantwortungslose Inkaufnahme untragbarer Risiken, die von den Experten selbst nur vage kalkuliert und von den Medien je nach Bedarf genüsslich zugespitzt werden. Auf diese Weise werden die Bedingungen politischen Handelns geschwächt, denn Politik ist ja, um mit Hannah Arendt zu sprechen, nur unter der Voraussetzung einer dem »Medium der Pluralität« geschuldeten »Unabsehbarkeit der Taten«, eben radikaler Kontingenz, denkbar. Um mit diesem chaotischen Zustand fertigzuwerden, braucht es die bindende »Kraft gegenseitiger Versprechen«, Vertrauen in die anderen, die Mit-Handelnden.19 Da der »flexible Mensch« (Richard Sennett) im »Zeitalter des Narzißmus« (Christopher Lasch) aber gerade die Zurückweisung aller Bindungen und eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Versprechungen als Überlebens- und Emanzipationsstrategie zu verinnerlichen hat, wirkt die Kontingenz des Politischen in der Tat nur noch bedrohlich. Immerhin: Der »Experte« reduziert – wie in unseren übrigen Lebensbereichen auch – die unerträgliche Freiheit der Wahl, sagt uns, wie wir handeln sollen, wodurch allerdings das politische Handeln seine spezifische Qualität verliert, da es auf der perspektivischen Relativität von Meinungen beruht, während in einem Expertendiskurs technische Lösungen und Tatsachenwahrheiten dominieren, die, wie es bei Arendt unmissverständlich heißt, »vom Standpunkt der Politik aus gesehen […] despotisch« sind.20

Folgt man hingegen dem italienischen Politologen Norberto Bobbio, dann ist die unvermeidliche Tendenz der Demokratie zur Technokratie, zur Expertenherrschaft eines jener unüberwindlichen »Hindernisse der Demokratie«, die dazu führen, dass eine Reihe nicht eingelöster Versprechen demokratischen Regierens (»echte« Volkssouveränität, Auflösung oligarchischer Strukturen usw.) zu uneinlösbaren Versprechen werden, die den Weg zu einer mehr als minimalistischen Demokratie versperren. Die Gründe dafür sind bekannt: Technokratie und Demokratie stehen zwar im Gegensatz zueinander, weil Letztere gerade auf der Hypothese basiert, dass alle über alles entscheiden können. Doch die Ausweitung des Wahlrechts ging stets mit einem Ausbau des Dienstleistungsstaates einher, denn: Je mehr Wählerinteressen öffentlich artikuliert werden, desto komplexer gestalten sich die politischen Steuerungsprozesse.21 Dieser Trend zur Expertokratie qua Demokratisierung nimmt indes weit weniger apokalyptische Züge an, sofern man, wie Ulrich Beck, für die »reflexive Moderne« gleichzeitig eine »Subpolitisierung der Experten« diagnostiziert und diese als Symptom einer »Entkernung« und »Entgrenzung« des Politischen deutet, mithin auf die Chancen fokussiert, die eine Ausweitung alternativer Handlungsmöglichkeiten und deren potenziell politische Bedeutung im beruflichen Leben mit sich bringt.22

Umgekehrt ist doch aber die Gefahr, dass Bürger, die sich nicht für Experten halten, sich selbst die »Kompetenzen« und die Fähigkeit absprechen, noch an der res publica teilzuhaben, ungleich höher zu veranschlagen. Und dass das Vertrauen der Bürger in ihre Experten, vor allem in die Ökonomen und in die EU-Komitologie, infolge der Finanz- und Währungskrisen der letzten Jahre nachhaltig erschüttert wurde, lässt wiederum das Vertrauen der Regierenden in die Bürger schwinden. In der Folge versucht die Politik umso entschiedener, die arcana imperii von der unberechenbaren Bürgerschaft fernzuhalten. So stehen beide Seiten einander zunehmend misstrauisch, fast schon feindselig, aber dennoch erwartungsvoll gegenüber – keine gute Basis für ein auf Dauer angelegtes Zusammenwirken.

In Deutschland wurde ein von der Mehrheit der befragten Bürger gefordertes Referendum über den künftigen Kurs in der europäischen Währungspolitik nie wirklich in Betracht gezogen; auch ein Konvent zur Ausarbeitung eines neuen EU-Vertrages, bei dem die nationalen Parlamente mitreden dürften, wurde von der Bundesregierung von vornherein abgelehnt. Das Herz des europäischen Zukunftsdiskurses liegt augenblicklich und wohl auch weiterhin in den abgeschiedenen Sphären nationaler Exekutivorgane und der intergouvernementalen Institutionen der EU (dazu mehr im achten Kapitel). In so einer Lage von einem »Primat des Politischen« zu sprechen, das es – wie es in keynote speeches von Politikern auf Symposien von Stiftungen und Akademien immer so schön heißt – zu verteidigen gelte, erscheint illusionär. Eher gewinnen Diagnosen an Plausibilität, die seit Jahrzehnten ein »Absterben des öffentlichen politischen Bereiches«,23 eine »wachsende Ohnmacht der verbliebenen Organe des kollektiven politischen Handelns«,24 gar ein »Verschwinden der Politik«25 in der modernen Demokratie konstatieren.


1

  

Weber, Max 1980, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, S. 130.

2

  

Greven, Michael Th. 2009a, Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

3

  

Greven, Michael Th. 1992, »Über demokratischen Dezisionismus«, in: Emig, Dieter/Christop Huttig/Lutz Raphael (Hg.), Sprache und politische Kultur, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 193-206, hier S. 195.

4

  

Thaa, Winfried 2011, Politisches Handeln. Demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Hannah Arendt, Baden-Baden: Nomos, S. 71.

5

  

Auch wenn Grevens Dehnung des Politikbegriffs problematisch ist, spricht doch eigentlich nur wenig dagegen, für die deskriptive Analyse politischer Prozesse einen instrumentellen und gleichzeitig für die normative Betrachtung einen kommunikativen Machtbegriff zugrunde zu legen.

6

  

Greven, »Über demokratischen Dezisionismus«, S. 202.

7

  

Auer, Dirk 2004, Politisierte Demokratie. Richard Rortys politischer Antiessentialismus, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 74ff.

8

  

Streeck, Wolfgang 2009a, »Eine Last für Generationen«, in: Handelsblatt (20. März 2009).

9

  

Vgl. Meier, Christian 1980, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 435ff., und ders. 1993, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin: Siedler, S. 470ff.

10

  

Auf postmarxistischer Seite machte nach dem großen Crash von 2007/08 das Wort von der »multiplen Krise« oder auch: von der »Vielfachkrise« die Runde, das auf die gleichzeitige Vervielfachung der krisenhaften Entwicklungen in der Wirtschaft, im Sozialwesen, im Umweltschutz und bei der globalen Ressourcenverteilung, auf die Krise der parlamentarischen Demokratie etc. und auf deren Interdependenz aufmerksam machen soll. Vgl. dazu Brand, Ulrich 2011, Post-Neoliberalismus? Aktuelle Konflikte, gegen-hegemoniale Strategien, Hamburg: VSA. Vgl. auch Demirovic, Alex et al. (Hg.) 2011, Vielfachkrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg: VSA.

11

  

Beck, Ulrich 1993, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 217.

12

  

Vgl. Rosanvallon, Pierre 2008, Counter-Democracy. Politics in an Age of Distrust, Cambridge: Cambridge University Press.

13

  

Vgl. dazu Fach, Wolfgang 2008, Das Verschwinden der Politik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

14

  

Ankersmit, Frank 1996, Aesthetic Politics. Political Philosophy Beyond Fact and Value, Stanford: Stanford University Press, S. 23ff.

15

  

Viel beachtete publizistische Offerten in letzter Zeit waren z.B. Moore, Charles 2011, »I’m starting to think that the left might actually be right«, in: The Daily Telegraph (22. Juli 2011), oder Schirrmacher, Frank 2011, »Demokratie ist Ramsch«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. November 2011).

16

  

Vgl. Bofinger, Peter/Jürgen Habermas/Julian Nida-Rümelin, »Einspruch gegen die Fassadendemokratie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. August 2012).

17

  

Vgl. dazu Schulmeister, Stephan 2010, Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa, Wien: Picus Verlag.

18

  

Beck, Ulrich 2011, »Ohnmächtig, aber legitim«, in: die tageszeitung (28. Oktober 2011).

19

  

Arendt, Hannah 1981, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 6. Aufl., München: Piper, S. 240.

20

  

Arendt, Hannah 1994b, »Wahrheit und Politik«, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München: Piper, S. 327-370, hier S. 341. Arendts Polemik gegen die platonische Abwertung der doxa gegenüber der episteme und deren antipolitische Folgen in der abendländischen Ideengeschichte ist heute aktueller und lesenswerter denn je.

21

  

Bobbio, Norberto 1988, Die Zukunft der Demokratie, Berlin: Rotbuch, S. 26.

22

  

Beck, Die Erfindung des Politischen, S. 242.

23

  

Arendt, Vita activa, S. 55.

24

  

Bauman, Zygmunt 2003, »The great separation mark two or politics in the globalising and individualising society«, in: Nassehi, Armin/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen, Baden-Baden: Nomos, S. 17-43, hier S. 35.

25

  

Rancière, Jacques 2002, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 112, und Fach, Das Verschwinden der Politik.

Das Unbehagen an der pluralistischen Demokratie

Tragisch ist nun, dass gerade in Momenten, in denen sich das Politische in einer spontanen Demonstration gesteigerter Partizipation Bahn bricht, in denen sich der Widerspruch der Bürger gegen die Beschlüsse einer mal als entscheidungsarm, mal als wenig responsiv und autoritär rezipierten Politik erhebt, dieser qua intentione eine zusätzliche Hemmung der Entscheidungsprozesse bewirkt – in einer Zeit zumal, in der die Macht des Privatsektors scheinbar so groß geworden ist, dass Parlamente und Regierungen bei richtungsweisenden Entscheidungen von Konjunkturdaten sowie den Stimmungen an der Börse regelmäßig vorangepeitscht werden.26 In einer Epoche der dynamischen Beschleunigung von Informationsvermittlung, Datenübertragung, Finanztransfers etc. bleibt kaum noch Zeit für ausführliche Diskussionen, für pluralismusorientierte Abwägungen, für Transparenz.

»Die Politik wird somit in die Defensive gedrängt. Entscheidungen stehen unter einem immer höheren Zeitdruck, der mit den zeitintensiven Willensbildungsprozessen in den Parlamenten nicht vereinbar ist. […] So wusste im August 2008 vermutlich nur ein Bruchteil der Parlamentarier (und Bürger), was ein Leerverkauf überhaupt ist. Es ist daher nicht überraschend, dass sich zur politischen Bearbeitung der Finanzkrise in Deutschland nur ein äußerst kleiner Zirkel in Berlin zusammengefunden hat.«27

In diesem Szenario verliert das Parlament das, was Herfried Münkler als die »Moratoriumsfähigkeit« der parlamentarischen Demokratie bezeichnet, die Kompetenz also, selbst bei drängenden Problemen den systemischen Entscheidungszwängen, denen die Exekutive täglich ausgesetzt ist, so lange zu trotzen, bis eine möglichst umfassende – das heißt: alle, auch vermeintlich »radikale«, Alternativen berücksichtigende – Debatte stattgefunden hat. Nur so kann verhindert werden, dass »sich die deliberative Demokratie unter der Hand in eine dezisive Demokratie« verwandelt, in der das Parlament Kabinettsbeschlüsse allenfalls noch akklamieren darf.28

Der Handlungsdruck auf gewählte Repräsentanten wächst von zwei Seiten her und wirkt in unterschiedliche Richtungen: Während die Probleme, die eine von der Politik selbst deregulierte Finanzwirtschaft produziert, schnelle und koordinierte Reaktionen auf nationaler und intergouvernementaler Ebene erfordern, verlangen die zahlreichen, zwischen den Wahlgängen vonseiten der kritischen Bürgerschaft artikulierten Forderungen nach zeitintensiven Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung. Erschwert wird dies allerdings noch dadurch, dass die unversammelten Bürger allenfalls diffuse Signale aussenden, die von der Politik nicht mehr angemessen verarbeitet und repräsentiert werden können, auch weil es immer schwieriger wird, die politischen Lager klar voneinander abzugrenzen. Je pluralistischer, misstrauischer, weniger milieugebunden eine Gesellschaft ist, desto schwerer fällt den politischen Akteuren die Zusammenführung und Repräsentation bestimmter Wählerschichten bei der Formulierung von Kompromissen und desto langsamer arbeiten auch die Räder des politischen Tagesgeschäfts. Da Demokratie von allen Regierungsformen die mit Abstand zeitaufwendigste ist und im Gegensatz zu anderen Regimetypen Rücksicht auf die (in modernen liberalen Gesellschaften sich ständig vervielfachenden) Interessen der Bürger nehmen muss, gewinnen die Probleme des politischen Systems bei der Bearbeitung des demokratischen Inputs im »Zeitalter der Beschleunigung«29 unweigerlich Überhand. Denn unüberschaubare Interdependenzen, die die kooperativen Verhandlungsformen jenseits des Nationalstaates bestimmen, verlangen heute nach informellen und »weichen« Formen der Rechtsetzung, der Abtretung von Kompetenzen an Expertengremien, die zwar angesichts des riesigen Rückstands, den die politisch-rechtliche gegenüber der ökonomischen Globalisierung bislang einnimmt, wichtige Instrumente zur Lösung grenzüberschreitender Probleme darstellen, aber zugleich die Bedeutung von Wahlen und damit die Äquidistanz der Bürger zu den Machtzentren der Republik, die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen unterminieren. Geht nämlich die Funktion der Parlamente als Motor der gesellschaftlichen Regulierung und politischen Integration verloren, dann wird diese Aufgabe mehr und mehr den Regierungen und Administrationen übertragen, die gerade auf internationale Krisen schneller und effizienter reagieren können, die sich jedoch, sofern die Parlamente dabei meist außen vor bleiben, auf weniger demokratische Legitimität stützen können.

Das Fazit ist grausam: Je ernster wir das formale demokratische Versprechen einer möglichst umfassenden Inklusion aller sozialen Gruppen nehmen und daher die Tore der parlamentarischen Komplexe für quantitativ auch noch so geringfügig vertretene Meinungen und Interessen öffnen, je stärker wir auf Partizipation und Responsivität setzen, desto mehr gerät auch die Reaktionsfähigkeit der Politik gegenüber der Ökonomie in Rückstand und desto mehr offene Flanken bieten sich folglich denjenigen, die für eine Aufweichung der Rechenschaftspflicht der politischen Repräsentanten gegenüber dem Volk, für eine Befreiung von der »Wohlstandsfessel« Demokratie plädieren.

In einer Wettbewerbsdemokratie, die ihr integratives Potenzial aus dem Ideal der aggregativen Responsivität bezieht, führt maximale Inklusivität unter Bedingungen hochgradiger sozialer Pluralität zur Paralyse demokratischer Prozesse und damit zur Entmachtung der Politik. Diese wird, um wenigstens Output-Legitimität herzustellen, in der Folge immer abhängiger von solchen Akteuren, die zwar nach politischem Einfluss streben, deren Interessen aber eigentlich unpolitischer Art sind: ökonomische Akteure, die an Rahmenbedingungen interessiert sind, die hohe Gewinnmargen ermöglichen und somit auch die Wachstumsschübe der heimischen Wirtschaft begünstigen.30 Da gewählte Regierungen (und das Volk im Allgemeinen) selbst Nutznießer der erwirtschafteten Renditen sind, werden sie gezwungen, zu einem gewissen Grad jene Präferenzen zu berücksichtigen, die die Märkte vorgeben, wodurch aber die Autonomie des Politischen schwindet, wenn nicht gar ganz aufgehoben wird. Eminent politische Fragen – wie etwa: welche Instrumente zur Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes angewendet werden sollten – geraten dabei in den Hintergrund. Eine dialogisch vermittelnde Politik, die eher als Mediator zwischen Einzel- und Gruppeninteressen denn selbst als demokratisch legitimierter Initiator von Projekten auftritt, verstetigt die »kleine Politik«, die rar an Konflikten und Ereignissen ist und autoritative Entscheidungsfindungsprozesse in demokratisch nicht autorisierte und konstitutionell nicht vorgesehene Gremien verlagert. Das Resultat ist dann nicht nur, wie es das Unregierbarkeitstheorem seit Jahrzehnten impliziert, Nichtpolitik, sondern eine nichtpolitische Politik. Der Trend zur »kleinen Politik« meint ja zunächst einmal (auf der Output-Ebene des politischen Systems) nur, dass wir den großen Herausforderungen unserer Zeit aufgrund der geschilderten, einerseits aus dem Interessenpluralismus und der Internationalisierung von Politik, andererseits aus der Machtdispersion im föderalen Bundesstaat mit seinen multidimensionalen Politikräumen erwachsenden Handlungsblockaden mit kleinteiligen Reparaturmaßnahmen begegnen müssen, die der Komplexität der anvisierten Problemlagen nicht mehr angemessen sind.31 Man denke nur, um ein konkretes Beispiel zu nennen, an die Bemühungen der amtierenden Bundesregierung, der Misere im öffentlichen Gesundheitswesen mit seinem maroden Budgetierungssystem und seinen Unterversorgungen zu trotzen, die als Ergebnis, wie im Herbst 2012, auch nach monatelangen Verhandlungen und nächtlichen Beratungen im Koalitionsausschuss kaum mehr zeitigten als eine Abschaffung der Praxisgebühr. Überall werden großflächige Wunden nur noch notdürftig verarztet. In der Folge ist die kleine Politik gezwungen, das große Wort, die zuspitzende Geste den Hasardeuren an den populistischen Rändern zu überlassen, die diese unter antipolitischen Vorzeichen reaktivieren, als gegen »die« institutionelle Politik insgesamt gerichtet und als den Willen eines homogenen (ethnisch, klassistisch oder ähnlich definierten) Volkes präsentieren.

Der Trend zur kleinen Politik meint aber auch ein Abgleiten der Politik in einen administrativen Modus der Problemlösung, in eine »Verwaltung der Sachen«, wie Friedrich Engels sich eine ideale (im besten Sinne des Wortes) postpolitische Ära vorgestellt hat, in ein Management wissenschaftlich kalkulierter sozialer Notwendigkeiten anstelle diskursiver Praxis. Besinnen wir uns für einen Moment auf das klassisch-republikanische Verständnis von Politik als einer spezifischen Form des Handelns, als einer Lebens- bzw. Seinsweise, ja als einer »Verschränkung von Leben und Politik«,32 die Politik als (Selbst-)Zweck und nicht als Mittel denkt (also überhaupt nur auf die »Input-Ebene« zielt), dann wird deutlich, warum der Verlust öffentlicher Gestaltungsmacht das Wesen der Politik/des Politischen selbst zum Verschwinden bringt. Das politische Handeln beruht nämlich, wie es bei Arendt heißt, auf der »weltbildenden Fähigkeit des Menschen« und seinem Wunsch, »in einem positiven Sinne frei« zu sein, nach mehr zu verlangen als nur nach den »bürgerlichen«, privaten Grundfreiheiten, auf denen zwar die positive Freiheit des kollektiven Handelns erst aufbauen kann, die aber genauso gut auch als »Freiheit von Politik« ausgelegt und -gelebt werden können.33 Positive bzw. öffentliche Freiheit ist dagegen Ausdruck eines pursuit of public happiness, das die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten voraussetzt und nur in der Gegenwart anderer möglich ist, was aber bedeutet, »daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht«.34 Diese von liberalen Autoren wie Isaiah Berlin vollkommen unterschätzte Grundkategorie des Politischen – kollektive Handlungsmacht – kann sich aber nur dort herausbilden, wo öffentliche Räume bestehen, in denen sich die Autonomie des Politischen entfalten kann. Diese Autonomie ist allerdings gefährdet, wenn die politische Sphäre immer stärker von ökonomischen Determinanten und Verwaltungslogiken durchdrungen wird.

Wenn man politisches Handeln in der Tradition der republikanisch inspirierten Demokratietheorie als kommunikative Interaktion von freien und gleichen Subjekten in einem gemeinsam bewohnten öffentlichen Raum definiert, erhält der Begriff einen sehr emphatischen Beiklang, da er sich normativ von den eher »anwendungsbasierten« Verfahrensmodi nichtpolitischer Politikprozesse abhebt, wie sie etwa von unabhängigen Expertengremien oder normsetzenden rechtsprechenden Instanzen bestimmt werden, die ihre Legitimation und funktionale Existenzberechtigung gerade von ihrer Unparteilichkeit und ihrer Orientierung an objektiven Rechts- oder Nützlichkeitskriterien her ableiten können und deren Relevanz innerhalb der komplexen Mehrebenensysteme, die sich im Rahmen der funktionalen Differenzierung und Transnationalisierung öffentlicher Entscheidungsverfahren herausbilden, in den letzten Jahren und Jahrzehnten gegenüber den politischen Politikprozessen merklich zugenommen hat. In einer »juridischen Demokratie«, in der das formale Recht – ganz nach dem Diktum der Verfassungslehre Hans Kelsens – im Anschluss an das Gründungsereignis über der Idee der Volkssouveränität, die einmal konstituierte über der konstituierenden Macht des Demos gelagert ist, drängen die nichtpolitischen, von unabhängigen Akteuren bestimmten Entscheidungsprozesse in den Vordergrund. In dieser Situation neigt die kommentierende Öffentlichkeit für gewöhnlich dazu, sozialen Bewegungen ihren politischen Charakter abzusprechen, wenn sie ihre Postulate nicht (oder nicht ausdrücklich) im Einvernehmen mit der konkreten repräsentativen Ordnung artikulieren und an die durch Wahl legitimierten Repräsentanten dieser Ordnung richten.35 Man erinnere sich an die lapidaren Kommentare des Bundespräsidenten Joachim Gauck zur Occupy-Bewegung, die von ihm nicht als eine »ernst zu nehmende politische Aktion« betrachtet, sondern als eine der »Darstellung einer empörten Seele« gewidmete »Kunstform« abgetan, gar indirekt als eine von »politische[n] Reaktionäre[n] in Rot« vorgetragene Systemkritik in antidemokratischer Absicht dargestellt wurde.36 Einerseits geschieht diese Abgrenzung von Forderungen nach fundamentalen Systemkorrekturen mit gutem Grund, denn der liberaldemokratische Verfassungsstaat ist zweifellos ein einzigartiger historischer Kompromiss, ein glänzendes Beispiel für eine funktionierende Mischverfassung, die demokratische und »aristokratische« Verfassungselemente in abgewogener Form synthetisiert und so ein relatives Gleichgewicht zwischen Stabilität und Erneuerung schafft. Schon Machiavelli, der sich, bei allen Lobliedern auf die republikanische virtù, der Grenzen der menschlichen Geschicke angesichts der blindwütigen Geschichtskräfte der fortuna und der necessità sehr bewusst war, hat in Polybios’ Modell einer republikanischen Mischverfassung ein wirksames Instrument erkannt, das geeignet sein könnte, die öffentlichen Konflikte zwischen dem Volk und »den Großen«, Plebejern und Patriziern, als Ausdruck politischer Freiheit zu befördern und gleichzeitig zu begrenzen, um den quasinaturgesetzlichen Verlauf des (von ihm so gedeuteten, ebenfalls von Polybios übernommenen) Verfassungskreislaufs zu durchbrechen, das übliche Umschlagen der Republiken in Anarchie und hernach in neue Formen der Despotie zu unterbinden.37 Die Idee, dass die rechtsstaatliche Regulierung der Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie die großen gesellschaftlichen Konflikte präventiv entschärft und neuerlichen Systemtransformationen vorbeugt, liegt letztlich auch den seit den neunziger Jahren wirkmächtigen vulgärhegelianischen Deutungen vom »Ende der Geschichte« zugrunde. Aus dieser Perspektive scheint die Devise »Keine Experimente« durchaus angebracht, um den Rückschritt in ungewisse vordemokratische Zustände zu vermeiden.

Aber natürlich müsste gerade Gauck, dem eine Schlüsselrolle in der DDR-Reformbewegung zukam und der mit Vorliebe Arendt zitiert, wissen, dass viele der genuin politischen Momente in den vergangenen Jahrhunderten – man denke nur an die Revolutionen in Nordamerika und Frankreich, an die Volksaufstände in den Staaten des Warschauer Paktes usw. – sich dort ereignet haben, wo staatliche Institutionen als »Manifestationen und Materialisationen von Macht […] erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt«,38 wo ein großer Teil des Volkes seine Folgebereitschaft aufkündigt und nach grundlegenden, »systemischen« Reformen verlangt. Dies gilt für autoritäre Regime, die sich von der Macht des Volkes systematisch abschotten und keinen Raum für (wirksames) politisches Handeln lassen, die deshalb auch über keine Kanäle verfügen, um politische Unzufriedenheit demokratisch zu »verarbeiten«. Aber auch Republiken, die den Bestand solcher Diskursräume erst garantieren, mithilfe von Wahlen und der Garantie von Freiheitsrechten den Willen des Volkes in geordnete Bahnen lenken, sind nicht gefeit gegen einen Niedergang der Responsivität ihrer Institutionen, gegen die wachsende Dominanz nichtpolitischer Politikmodi in den Entscheidungsprozessen und können mit der Zeit anfällig werden für politische Apathie. Darum Thomas Jeffersons unter Republikanern vielzitiertes Wort, Gott möge das amerikanische Volk davor bewahren, dass nur 20 Jahre ohne eine demokratische Rebellion gegen die auch in Republiken im Laufe der Zeit naturwüchsig einsetzenden oligarchischen Tendenzen vergehen. Hannah Arendt, die solche Gewalt verherrlichenden Entgleisungen Jeffersons zwar aufs Schärfste rügte und seine Ideen von einer regelmäßigen, generationenübergreifenden Neugründung von Republiken für radikalen Irrsinn hielt, gleichzeitig aber mit Vorliebe Jeffersons auf kommunalen wards basierendes, mehrstufiges Repräsentationsmodell als rätedemokratisches Pendant zum westlichen Parlamentarismus in Stellung brachte, hat sich hinsichtlich der depolitisierenden Effekte der repräsentativen Parteiendemokratien nie Illusionen hingegeben. Zwar hat sie sich nicht der Erkenntnis verweigert, dass Meinungen »in der Tat auf das dringendste einer Reinigung und einer Vertretung« bedürfen: Die Aggregation und Filterungen der »Verschiedenheiten und Konflikte«, die der Meinungsaustausch mit sich bringt, könne realistischerweise nur eine repräsentative Körperschaft leisten.39 Arendt, die nach Mechanismen zur Abbildung von Meinungsvielfalt sucht, plädiert eindeutig für ein Prinzip politischer Vertretung als Differenzrepräsentation und gegen die totalitäre Ausdeutung rousseauscher Identitätsrepräsentation in der Tradition von Carl Schmitt, die notfalls eine »Vernichtung des Heterogenen« propagiert.40 Repräsentation wird zum Korrektiv gegen die tyrannische Tendenz der »einmütige[n] öffentliche[n] Meinung«, dient aber zugleich als »technischer Notbehelf«, um »große[n] Bevölkerungsmassen« die Artikulation ihrer Meinungen erst zu erlauben.41 Meinungsrepräsentation ist jedoch nur in föderalistisch organisierten repräsentativen Systemen, in kleinräumigen Strukturen möglich, die diese »Massen« in kommunale Gliederungen aufteilen und ihnen Diskussionsforen zur Verfügung stellen, in denen sie sich eine Meinung bilden können: Denn »um sich eine Meinung zu bilden, muß man dabei sein; und wer nicht dabei ist, hat entweder […] gar keine Meinung oder er macht sich in den Massengesellschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts […] einen Meinungsersatz zurecht«.42 Die Repräsentation des politischen Handelns, das heißt die Vertretung von Meinungen, ist natürlich nur dort möglich, wo es Räume gibt, in denen die Bürger zusammenkommen und qua Deliberation über politische Probleme diskutieren können. An ebendiesen Räumen – das ist Arendts zentraler Vorwurf – fehlt es in den westlichen Demokratien der Gegenwart.43

In jüngster Zeit gewinnt Arendts Diagnose unzweifelhaft an Relevanz. Arendts Werk hat ja gerade deshalb so inspirierend auf die Diskussion um die Verortung des Politischen gewirkt, weil die großen Widersprüche moderner Politik – die Notwendigkeit, den republikanischen Gründungsmoment konservieren und stabilisieren, gleichzeitig aber ständig erneuern und fortschreiben zu müssen; die Unerlässlichkeit einer rechtsstaatlichen Fundierung demokratischer Politik und der daraus eventuell erwachsenden Gefahr der Unterdrückung politischer Handlungsmacht usw. – überall in ihren Schriften Spannungen und Aporien erzeugen, die oft ungelöst bleiben, damit aber einen erfrischenden Kontrast zu den zahlreichen outputorientierten Demokratietheorien bilden, die die politische Beteiligung auf Kosten von Effizienzkriterien vernachlässigen und den politikwissenschaftlichen Diskurs und die Praxis empirischer Sozialforschung heute weitgehend dominieren.44 Dass im politischen Denken der Gegenwart »die Sorge um Stabilität und Dauerhaftigkeit und der Geist des Neuen in Gegensätzliches auseinanderfallen«,45 galt Arendt deshalb als eines der sichtbarsten Symptome für den geringen Stellenwert, der dem politischen Handeln in den gesellschaftlichen Debatten und der modernen Sozialwissenschaft zugemessen wird. Während liberale Konservative wie Gauck einseitig das Systemziel der Stabilität betonen, dabei aber Gefahr laufen, überall dort, wo sich die »lebendige Macht des Volkes« räkelt, voreilig Extremisten zu vermuten und das Ziel der kollektiven Selbstbestimmung unter dem Druck ihrer juridischen Einhegung abzuwerten, verschwenden radikale Demokraten, wie sie in der Occupy-Bewegung anzutreffen waren, nur selten einen ernsthaften Gedanken an die Frage, wie die Macht des Volkes so in institutionelle Bahnen gelenkt werden könnte, dass sie sich am Ende nicht doch wieder gegen sich selbst richtet und einen homogenisierenden Meinungsdruck erzeugt, der zugleich den »Tod aller Meinungen« bedeuten würde (vgl. zu Letzterem ausführlicher Kapitel 5).46 Zwischen beiden Lagern klafft offenbar ein tiefer Graben, der nicht nur einen fruchtbaren Dialog über die Zukunft der Demokratie verhindert, sondern das Politische selbst verschwinden zu lassen droht.