Dieses Lesebuch vereint die schönsten Gedichte und Prosatexte Rainer Maria Rilkes. Die Sammlung steht unter dem Motto »Hiersein ist herrlich«, jener ebenso gewissen wie beschwörenden Einsicht in den Duineser Elegien, die über Rilkes gesamtem dichterischen Werk stehen könnte.
Wie keinem zweiten ist es Rilke gelungen, »das Schöne und das Schreckliche des Erdendaseins« in einzigartig schönen Bildern und vollendeten Dichtungen festzuhalten.
Daß er dabei die Form der poetischen Bilder wählte, um seinem persönlichen Weltempfinden, aber auch der uns bis heute berührenden Frage, wie man in dieser verheerten Welt leben kann, Ausdruck zu verleihen, brachte ihm die Verehrung und Nachfolge vieler Dichter sowie die Liebe der Leser ein.
»Hiersein ist herrlich«
Gedichte, Erzählungen, Briefe
Ausgewählt von
Vera Hauschild
Mit einem Geleitwort von
Siegfried Unseld
Insel Verlag
Umschlagabbildung: August Macke, St. Germaine bei Tunis, 1914
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-73195-5
www.insel-verlag.de
Siegfried Unseld: »Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?«
Geleitwort
Vorrede Rilkes (1919)
Laß dir Alles geschehn
O Leben Leben, wunderliche Zeit (1913/14)
Das Hiesige recht in die Hand nehmen (1922)
Du mußt das Leben nicht verstehen (1898)
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht (1899)
Leben Sie jetzt die Fragen (1903)
Indem das Leben nimmt und giebt und nimmt (1906)
Oh, sage Dichter, was du tust? – Ich rühme (1921)
Dieses endgültige freie Jasagen (1921)
Berühre ruhig mit dem Zauberstabe (1924)
Singe die Gärten, mein Herz
Nenn ich dich Aufgang oder Untergang? (1898)
Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus (1900)
Abend in Skåne (1904)
Früher Apollo (1906)
In einem fremden Park (1906)
Vergiß, vergiß und laß uns jetzt nur dies (1909)
Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen (1914)
Wie vor dem Einzug, wie in leeren Gemächern (1921)
Vorfrühling (1924)
Frühling ist wiedergekommen. Die Erde (1922)
Dieses Liedchen hier
Singe die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst; wie in Glas (1922)
Rose, du thronende, denen im Altertume (1922)
An Margot Sizzo, 15. 7. 1922
Wilder Rosenbusch (1924)
Empfange nun von manchem Zweig ein Winken (1924)
Die Vogelrufe fangen an zu rühmen (1926)
Wie soll ich meine Seele halten?
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn (1897)
Liebhaben von Mensch zu Mensch (1904)
Die Stille (1900/01)
Liebes-Lied (1907)
Die Liebende (Ja ich sehne mich nach dir) (1907)
Das Mädchen und die Frau (1904)
Ein junges Mädchen: das ist wie ein Stern (1907)
Die Liebende (Das ist mein Fenster) (1907)
Die Entführung (1908)
Schlaflied (1908)
Welche Wiesen duften deine Hände? (1909)
Liebesanfang (1915)
Gegen-Strophen (1912)
Heute will ich dir zu Liebe Rosen (1914)
Weißt Du noch: auf Deinem Wiesenplatze (1914)
Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen (1914)
Drei Gedichte aus dem Umkreis: Spiegelungen (1924)
Das Geschlecht ist schwer (1903)
Leda (1907 oder 1908)
Schwindende, du kennst die Türme nicht (1915)
Wie hat uns der zu weite Raum verdünnt (1915)
Warst Du’s, die ich im starken Traum umfing (1924)
An Rudolf Bodländer, 23. 3. 1922
Mädchen ordnen dem lockigen (1924)
Welt war in dem Antlitz der Geliebten (1924)
Die Einsamkeit ist wie ein Regen
Heb mich aus meines Abfalls Finsternissen (1924)
Wir sind einsam (1904)
Zum Einschlafen zu sagen (1900)
Von den Fontänen (1900)
Ich bin nur einer deiner Ganzgeringen (1901)
Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt (1901)
Einsamkeit (1902)
Es gibt nur eine Einsamkeit (1903)
Fragment von den Einsamen (1903)
Und sagen sie das Leben sei ein Traum: das nicht (1906)
Einmal nahm ich zwischen meine Hände (1913)
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort (1914)
... und du lebtest doch
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort (1898)
Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt (1899)
Menschen bei Nacht (1899)
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen (1899)
Traurigkeiten, an denen man sterben kann (1904)
Vorgefühl (1904)
An Friedrich Westhoff, 29. 4. 1904
Der Gefangene (1906)
Der Auszug des verlorenen Sohnes (1906)
Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht (1909)
An ein junges Mädchen 〈undatiert〉
An Anita Forrer, 19.1. und 2. 2. 1920
Du mußt dein Leben ändern
Mein scheuer Mondschatten spräche gern (1922)
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert (1922)
An Clara Rilke, 3. 10. 1907
An Clara Rilke, 4. 10. 1907
Herbsttag (1902)
Herbst (1902)
Der Panther (1902/03)
An Clara Rilke, 13. 10. 1907
Die Gazelle (1907)
Blaue Hortensie (1906)
Römische Fontäne (1906)
Das Karussell (1906)
Die Flamingos (1907)
Papageien-Park (1907)
Rosa Hortensie (1907)
Archaïscher Torso Apollos (1908)
Wie das Gestirn, der Mond, erhaben, voll Anlaß (1913)
Ur-Geräusch (1919)
Guter Tag. Da prüft man noch: was bringt er? (1913)
Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! (1920)
Jetzt wär es Zeit, daß Götter träten aus (1925)
Von nahendem Regen fast zärtlich verdunkelter Garten (1926)
Das Schöne und das Schreckliche
An Margot Sizzo, 12. 4. 1923
Alles Erworbne bedroht die Maschine, solange (1922)
Der Drachentöter (1901)
An Margot Sizzo, 17. 3. 1922
An Margot Sizzo, 12. 4. 1923
Dich aber will ich nun, Dich, die ich kannte (1922)
So oft du auch die Blumen der vertrauten (1921)
Die siebente Elegie (1922)
An Witold Hulewicz, 13. 11. 1925
Die neunte Elegie (1912/1922)
Neigung: wahrhaftes Wort! Daß wir jede empfänden (1922)
Nein, ich vergesse dich nicht (1924)
Auch noch Verlieren ist unser
Der Tod ist groß (1900/01)
Die Turnstunde (1901/02)
Orpheus. Eurydike. Hermes (1904)
Todes-Erfahrung (1907)
Der Tod der Geliebten (1907)
Der Tod des Kammerherrn (1904/1910)
Heut sah ichs früh, das Graue an den Schläfen (1921)
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter (1922)
Nur wer die Leier schon hob (1922)
An Margot Sizzo, 6. 1. 1923
An Claire Goll, 22. 10. 1923
Irgendwo blüht die Blume des Abschieds und streut (1924)
Für Hans Carossa (1924)
An Clara Rilke, 17. 11. 1925
An Margot Sizzo, 9. 5. 1926
Komm du, du letzter, den ich anerkenne (1926)
Ein Wort Rilkes zum Schluß. Drei Briefe
An Rudolf Bodländer, 13. 3. 1922
An Alfred Schaer, 26. 2. 1924
An Hermann Pongs, 21. 10. 1924
Anhang
Zeittafel zu Rilkes Leben und Werk
Zu dieser Ausgabe
Textnachweise
»Was, wenn Verwandlung nicht,
ist dein drängender Auftrag?«
Geleitwort
In seinem Buch von 1933 »Führung und Geleit« schrieb Hans Carossa: »Rilke litt, wie alle, die nahe der Chaosgrenze wohnen, an einem Gefühl dauernden Bedrohtseins.«
Nahe der Chaosgrenze und Bedrohtsein. Diese Bewußtseinsstimmung gilt auch heute. Rilke war einer der ersten, der dieser modernen Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen in Städten in seinem »Malte« unübertroffenen Ausdruck gegeben hat.
Wir diskutieren allenthalben die Bedingungen einer Neuen Wissenschaft des Bewußtseins, einmal die Wissenschaft der kreativen Intelligenz, andererseits entsteht eine »Biologie der Kognition«, in jedem Fall werden die Biowissenschaften immer mehr zu Leitwissenschaften der Gegenwart. Eine neue Chaos-Forschung macht sich bemerkbar, die meint, nur aus chaotischen Bedingungen könnten neue Ordnungen entstehen. Rilke, dessen Dichten und Trachten es war, die Erfahrungen des Denkens und Fühlens neu zu bestimmen, hat, eben aus der Empfindung der Bedrohtheit heraus, eine große Sensibilität für chaotische Bedingungen entwickelt. Er war sicher, daß er am Ende der Tage des Chaos selber dastehen werde »mit Millionen reifen, feinen, goldenen Formen ... ein ganz und gar ausgegorenes und durchglühtes apollinisches Gebilde«. Im »Malte« war das Konflikthafte vorherrschend, ja es schien so, als wollte Rilke, er sagte es selbst, »den Beweis führen, daß dieses so ins Bodenlose gehängte Leben unmöglich sei«. In den »Duineser Elegien« erweist sich »Lebens- und Todesbejahung als Eines«, hier versucht er, den Widerspruch zwischen Außen und Innen zu lösen, den Widerspruch von Immanenz und Transzendenz.
Niels Bohr hat das Komplementaritätsprinzip formuliert, wonach fundamentale Probleme nur gelöst werden können, wenn sie von zumindest zwei sich gegenseitig ausschließenden Standpunkten aus angegangen werden. Dies versucht Rilke in seinem Aufbruch zum »Weitesten«, zum »Doppelbereich«. In berühmten Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz vom November 1925 schreibt er: »Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, die nach uns kommen. In jener größesten, ›offenen‹ Welt sind alle, man kann nicht sagen ›gleichzeitig‹, denn eben der Fortfall der Zeit, daß sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein.« Und er fährt in diesem Brief fort: »... unsere Aufgabe ist, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.«
Für mich ein hinreißendes Bild. Und gleichzeitig die Begründung für Rilkes Aufruf zur Änderung und Wandlung. Mein Lieblingsgedicht bleibt »Archaïscher Torso Apollos« mit der Zeile: »denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« Erinnern wir uns an das Sonett »Wolle die Wandlung«, dann an jene Stelle im Brief vom 28. Juni 1915 an Thankmar von Münchhausen: »Was ist anderes unser Metier als Anlässe zur Veränderung rein und groß und frei hinzustellen?« Und an die Stelle, die 1922 in der Neunten Elegie dann »Gewaltiger und unerbittlicher« heißt:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Dieser Auftrag zur Verwandlung, zur Veränderung durchzieht Rilkes Werk. Direkt und indirekt ist er dargestellt. So auch in »Spaziergang«, das, Anfang März 1924 niedergeschrieben, eines der letzten Gedichte Rilkes ist:
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an –
und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen ...
Wir aber spüren nur den Gegenwind.
Ich finde unsere Situation von heute und morgen in diesem Gedicht beschrieben. Wenn wir den Weg gehen, den wir uns bestimmen, so sind wir nicht allein, uns hilft das Ferne, das Vergangene, das Mythische, das, was über den Tag hinausreicht, »so faßt uns das, was wir nicht fassen konnten«. Und dies verändert uns. Wir sind nicht ein Fixiertes, Dogmatisches, in uns Abgeschlossenes, Fertiges. »Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte«, heißt es in den »Sonetten an Orpheus«. Manchmal nehmen wir ein Zeichen wahr, aber oft spüren wir die Veränderung nicht. Wir spüren nur, was uns abhält, die Beziehung zum Anderen aufzunehmen, den Gegenwind. Unsere Hoffnung ist aber dadurch ausgedrückt, daß sich nicht nur Worte reimen, sondern Sinngehalte: Wind und sind, Zeichen und erreichen.
In einem großartigen Brief vom 13. März 1922 faßt Rilke, als Antwort auf den Ruf eines jungen Mannes, noch einmal zusammen, was für ihn Kunst ist. Er spricht davon, daß junge Menschen den Schwierigkeiten der Gegenwart »nicht nach auswärts, sondern ins Tiefere auswichen ...«; daß sie den Versuch unternähmen, »die Dinge mit dem Karat des Herzens zu wägen«. Und dann verständigt er sich mit dem jungen Briefschreiber, »daß die Kunst nicht zuletzt wieder Künstler zu stiften vorhat. Sie meint keinen zu sich hinüber zu rufen, ja, es ist immer meine Vermutung, daß es ihr auf eine Wirkung überhaupt nicht ankäme. Indem aber ihre Gestaltungen, aus unerschöpflichem Ursprung ununterdrückbar hervorgegangen, seltsam still und übertrefflich unter den Dingen dastehen, könnte es geschehen, daß sie jeder menschlichen Betätigung unwillkürlich irgendwie vorbildhaft werden durch ihre angeborene Uneigennützigkeit, Freiheit und Intensität.«
Uneigennützigkeit, Freiheit und Intensität – eine bedeutende Trias, die an die andere reicht, an die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In der Verfassung unseres Staates heute ist Freiheit verankert; Gleichheit, als Problem in sich kompliziert, muß weiter reflektiert werden; der Bereich der Brüderlichkeit schien ausgespart. – Weist uns Rilke einen Weg, wenn er von Uneigennützigkeit, Freiheit und Intensität spricht?
Die Arbeiten, von denen ich Ihnen einige werde zeigen dürfen, gehen irgendwie aus der Überzeugung hervor, daß es eine
eigene berechtigte Aufgabe sei, die Weite,
Vielfältigkeit
ja Vollzähligkeit der Welt
in reinen Beweisen vorzuführen.
Denn: ja! zu einem derartigen Zeugnis hoffte ich mir das Gedicht zu erziehen, das mir fähig werden sollte alle Erscheinung,
nicht nur das Gefühlsmäßige allein,
lyrisch zu begreifen – :
Das Tier,
die Pflanze,
jeden Vorgang; –
ein Ding
in seinem eigentümlichen Gefühls-Raum darzustellen.
Lassen Sie sich nicht dadurch beirren, daß ich oft Bilder der Vergangenheit aufrufe. Auch das Gewesene ist noch ein Seiendes in der Fülle des Geschehens, wenn man es nicht nach seinem Inhalte erfaßt, sondern durch seine Intensität, und wir sind als Mitglieder einer Welt, die Bewegung um Bewegung, Kraft um Kraft hervorbringend, unaufhaltsam in weniger und weniger Sichtbares hinzustürzen scheint, auf jene überlegene Sichtbarkeit des Vergangenen angewiesen, wollen wir uns, im Gleichnis, die nun verhaltene Pracht vorstellen, von der wir ja auch heute noch umgeben sind.
Ich werde Sie nun nicht mit Vorbringungen überhäufen. Ich verspreche sparsam zu sein.
Vorrede Rilkes zu einer Lesung
aus eigenen Werken (1919)
O Leben Leben, wunderliche Zeit
von Widerspruch zu Widerspruche reichend
im Gange oft so schlecht so schwer so schleichend
und dann auf einmal, mit unsäglich weit
entspannten Flügeln, einem Engel gleichend:
O unerklärlichste, o Lebenszeit.
Von allen großgewagten Existenzen
kann eine glühender und kühner sein?
Wir stehn und stemmen uns an unsre Grenzen
und reißen ein Unkenntliches herein,
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Welcher Wahnsinn, uns nach einem Jenseits abzulenken, wo wir hier von Aufgaben und Erwartungen und Zukünften umstellt sind. Welcher Betrug, Bilder hiesigen Entzückens zu entwenden, um sie hinter unserm Rücken an den Himmel zu verkaufen! O es wäre längst Zeit, daß die verarmte Erde alle jene Anleihen wieder einzöge, die man bei ihrer Seligkeit gemacht hat, um Überkünftiges damit auszustatten. Wird der Tod wirklich durchsichtiger durch diese hinter ihn verschleppten Lichtquellen? Und wird nicht alles hier Fortgenommene, da nun doch kein Leeres sich halten kann, durch einen Betrug ersetzt, – sind die Städte deshalb von so viel häßlichem Kunstlicht und Lärm erfüllt, weil man den echten Glanz und den Gesang an ein später zu beziehendes Jerusalem ausgeliefert hat? Christus mochte recht haben, wenn er, in einer von abgestandenen und entlaubten Göttern erfüllten Zeit, schlecht vom Irdischen sprach, obwohl es (ich kann es nicht anders denken) auf eine Kränkung Gottes hinauskommt, in dem uns hier Gewährten und Zugestandenen nicht ein, wenn wir es nur genau gebrauchen, vollkommen, bis an den Rand unserer Sinne uns Beglückendes zu sehen! Der rechte Gebrauch, das ists. Das Hiesige recht in die Hand nehmen, herzlich liebevoll, erstaunend, als unser, vorläufig, Einziges: das ist zugleich, es gewöhnlich zu sagen, die große Gebrauchsanweisung Gottes, die meinte der heilige Franz von Assisi aufzuschreiben in seinem Lied an die Sonne, die ihm im Sterben herrlicher war als das Kreuz, das ja nur dazu da stand, in die Sonne zu weisen.
Der Brief des jungen Arbeiters
Du mußt das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken läßt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Mir zur Feier
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gieb mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
daß ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gieb mir die Hand.
Das Stunden-Buch
Wenn Sie sich an die Natur halten, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermeßlichen werden kann; wenn Sie diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als ein Dienender das Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstande vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem innersten Bewußtsein, Wach-sein und Wissen. Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, 〈...〉 Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. Vielleicht tragen Sie ja in sich die Möglichkeit, zu bilden und zu formen, als eine besonders selige und reine Art des Lebens; erziehen Sie sich dazu, – aber nehmen Sie das, was kommt, in großem Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem Willen kommt, aus irgendeiner Not Ihres Innern, so nehmen Sie es auf sich und hassen Sie nichts.
Briefe an einen jungen Dichter,
An Franz Xaver Kappus, 16. Juli 1903
Indem das Leben nimmt und giebt und nimmt
entstehen wir aus Geben und aus Nehmen:
ein Schwankendes, sich Wandelndes, ein Schemen
und doch in unserer Seele so bestimmt
hindurchzugehn durch dieses Sich-verschieben
unangezweifelt, aufrecht, unbeirrt
von Tag zu Nacht, von Nacht zu Tag getrieben,
aus denen unaufhaltsam Leben wird
von unserm Leben, Blut von unserm Blut,
Lust von der unsern, Leid das wir erkennen,
von dem wir uns auf einmal wieder trennen
weil unsre Seele, einsam, schon geruht
vorauszugehn ...
Oh sage, Dichter, was du tust? – Ich rühme.
Aber das Tödliche und Ungetüme,
wie hältst du’s aus, wie nimmst du’s hin? – Ich rühme.
Aber das Namenlose, Anonyme,
wie rufst du’s, Dichter, dennoch an? – Ich rühme.
Woher dein Recht, in jeglichem Kostüme,
in jeder Maske wahr zu sein? – Ich rühme.
Und daß das Stille und das Ungestüme
wie Stern und Sturm dich kennen? : – weil ich rühme.
Dieses endgültige freie Jasagen zur Welt rückt das Herz auf eine andere Ebene des Erlebens. Seine Wahlkugeln heißen nicht mehr Glück und Unglück, seine Pole sind nicht bezeichnet mit Leben und Tod. Sein Maß ist nicht die Spanne zwischen den Gegensätzen.
Wer denkt noch, daß die Kunst das Schöne darstelle, das ein Gegenteil habe; (dieses kleine »schön« stammt aus dem Begriffe des Geschmacks). Sie ist die Leidenschaft zum Ganzen. Ihr Ergebnis: Gleichmut und Gleichgewicht des Vollzähligen.
Das Testament
Berühre ruhig mit dem Zauberstabe
das Ungenaue, das du um mich scharst,
und du wirst wieder wissen, wie du Knabe
und in der Dinge Freundschaft warst.
Berühre nochmals, und es wird sich zeigen,
daß dich die Liebende empfing,
weil aller Glanz, den Himmlische verschweigen,
aus deinem Neigen in sie überging.
Ein drittes Mal berühr, um zu erfahren,
daß Macht sich giebt und sich entzieht,
und nun sei rein in deinem Offenbaren
und sage dienend, was geschieht.
Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?
Denn manchmal bin ich vor dem Morgen bang
und greife scheu nach seiner Rosen Röte –
und ahne eine Angst in seiner Flöte
vor Tagen, welche liedlos sind und lang.
Aber die Abende sind mild und mein,
von meinem Schauen sind sie still beschienen;
in meinen Armen schlafen Wälder ein, –
und ich bin selbst das Klingen über ihnen,
und mit dem Dunkel in den Violinen
verwandt durch all mein Dunkelsein.
Mir zur Feier
Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weißt;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los ...
Das Buch der Bilder
Der Park ist hoch. Und wie aus einem Haus
tret ich aus seiner Dämmerung heraus
in Ebene und Abend. In den Wind,
denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,
die hellen Flüsse und die Flügelmühlen,
die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.
Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand,
das kleinste unter diesen Himmeln. – Schau:
Ist das Ein Himmel?: Selig lichtes Blau,
in das sich immer reinere Wolken drängen,
und drunter alle Weiß in Übergängen,
und drüber jenes dünne, große Grau,
warmwallend wie auf roter Untermalung,
und über allem diese stille Strahlung
sinkender Sonne.
Wunderlicher Bau, in sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
Das Buch der Bilder
Wie manches Mal durch das noch unbelaubte
Gezweig ein Morgen durchsieht, der schon ganz
im Frühling ist: so ist in seinem Haupte
nichts was verhindern könnte, daß der Glanz
aller Gedichte uns fast tödlich träfe;
denn noch kein Schatten ist in seinem Schaun,
zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe
und später erst wird aus den Augenbraun
hochstämmig sich der Rosengarten heben,
aus welchem Blätter, einzeln, ausgelöst
hintreiben werden auf des Mundes Beben,
der jetzt noch still ist, niegebraucht und blinkend
und nur mit seinem Lächeln etwas trinkend
als würde ihm sein Singen eingeflößt.
Neue Gedichte
Borgeby-Gård
Zwei Wege sinds. Sie führen keinen hin.
Doch manchmal, in Gedanken, läßt der eine
dich weitergehn. Es ist, als gingst du fehl;
aber auf einmal bist du im Rondel
alleingelassen wieder mit dem Steine
und wieder auf ihm lesend: Freiherrin
Brite Sophie – und wieder mit dem Finger
abfühlend die zerfallne Jahreszahl –
Warum wird dieses Finden nicht geringer?
Was zögerst du ganz wie zum ersten Mal
erwartungsvoll auf diesem Ulmenplatz,
der feucht und dunkel ist und niebetreten?
Und was verlockt dich für ein Gegensatz,
etwas zu suchen in den sonnigen Beeten,
als wärs der Name eines Rosenstocks?
Was stehst du oft? Was hören deine Ohren?
Und warum siehst du schließlich, wie verloren,
die Falter flimmern um den hohen Phlox.
Neue Gedichte
Vergiß, vergiß und laß uns jetzt nur dies
erleben, wie die Sterne durch geklärten
Nachthimmel dringen; wie der Mond die Gärten
voll übersteigt. Wir fühlten längst schon, wies
spiegelnder wird im Dunkel; wie ein Schein
entsteht, ein weißer Schatten in dem Glanz
der Dunkelheit. Nun aber laß uns ganz
hinübertreten in die Welt hinein
die monden ist –
Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.
Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als daß sich eins im anderen erkennt?
Als daß an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.