Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt: Allen düsteren Prognosen zum Trotz wird der öffentliche Raum neu entdeckt. Mitten im Hyperindividualismus wächst die Sehnsucht nach kollektiver Erfahrung – und findet in der Stadt ihren Ort. Ein ungewohnter Gemeinschaftsgeist erobert Straßen und Plätze, neue Spielformen des Öffentlichen entstehen. Unter Schlagworten wie DIY-Urbanismus, Guerilla Gardening, Urban Gaming oder City Crowdsourcing kündigt sich nichts Geringeres als ein gesellschaftlicher Wandel an: Gegen die Ökonomie der selbstsüchtigen Herzen setzen viele der urbanistischen Bewegungen einen Pragmatismus der Anteilnahme und des Teilens. In seiner thesenreichen Analyse beleuchtet Hanno Rauterberg, warum gerade die Digitalmoderne eine neue, unvermutete Stadtkultur befördert.

Hanno Rauterberg, geboren 1967, ist promovierter Kunsthistoriker und schreibt als Redakteur im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit regelmäßig über Architektur, Kunst und Stadtentwicklung.

Hanno Rauterberg

Wir sind die Stadt!

Urbanes Leben in der
Digitalmoderne

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

edition suhrkamp 2674

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73350-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung
Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt!

I. Stadt und Gesellschaft
Wie neue Lebensideale das urbane Leben prägen

II. Stadt und Technik
Warum Computer das Stadtbewusstsein verändern

III. Stadt und Ich
Über das Bedürfnis, sich im öffentlichen Raum selbst zu erfahren

IV. Stadt und Wir
Von der wachsenden Begeisterung für urbane Kollektive

V. Stadt und Gegenwart
Auf der Suche nach einem anderen Leben

VI. Stadt und Zukunft
Der Urbanismus von unten und die Folgen

Literatur

Weiterführende Literatur und Internetseiten zum Thema

Einleitung
Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt!

Warum nur trägt die Parkuhr neuerdings ein Strickmützchen? Und wozu braucht der dicke Poller einen Ringelschal? Seltsam auch die rote Schaukel, die an der Bushaltestelle hin und her schwingt. Oder die beiden Sessel, aus Paletten gezimmert, die auf der lärmumtosten Verkehrsinsel stehen. Gut möglich, dass sich dort bald ein paar ausgediente Autoreifen niederlassen. Auf dem Bürgersteig gegenüber liegen schon einige, mit Blumenerde gefüllt. Unschuldig wächst der Spitzkohl daraus empor.

Man muss sich über all das nicht wundern. Man kann daran vorbeigehen, gedankenlos. Vermutlich sind Sessel und Schaukel am nächsten Tag ohnehin verschwunden, von der Müllabfuhr entsorgt. Fort auch der Pollerschal und das Parkuhrmützchen, die Kohlköpfe abgeerntet. Dann sieht es aus, als wäre nichts gewesen: die Stadt, ein ewig-stoisches Gebilde, viel Stahl und Stein und nichts, so scheint es, rührt sich. Was sollten Gemüsebeete neben dem Bürgersteig, was selbst gebaute Stadtmöbel und all die anderen surrealistisch anmutenden Dreingaben schon bedeuten. Es sind ephemere Erscheinungen, und wohl nur wenige kämen auf die Idee, sie als Zeichen einer großen Verwandlung zu deuten. Das aber sind sie: In ihnen kündigt sich ein Umschwung an, ein urbaner Neuanfang.

Das Leben, das man so lange aus den Städten vertrieben wähnte, drängt mit Macht in sie zurück, es zieht auf die Promenaden, Plätze, Kreuzungen, auf Parkdecks und selbst unter Autobahnbrücken. Es ist eine unverhoffte Wiederkehr und, wenn nicht alles täuscht, eine Kehrtwende in der windungsreichen Geschichte der urbanen Kultur. Die Gesellschaft ist nicht länger, wie sie war. Die Stadt ist es auch nicht.

Sie lebt, und allein das lässt viele staunen.

Lange schon war sie abgeschrieben, zu sklerotisch wirkte das urbane Leben. Spätestens seit den sechziger Jahren sprachen viele nur noch von der geschundenen, zerfransten, gemeuchelten Stadt. »The city is dead«, befand noch 2002 der einflussreiche Planungstheoretiker John Friedmann und brachte damit die Niedergangsbefunde zahlreicher Architekten und Stadtplaner auf eine bündige Formel.1 Sie beklagten die Verödung der Innenstädte, warnten vor Verarmung, Segregation und vor der Privatisierung des öffentlichen Raums. Und ihre Verlustgeschichten, wie sie auch von prominenten Autoren wie Richard Sennett oder Rem Koolhaas erzählt wurden, handelten nicht allein von sozialer oder ästhetischer Erosion. Gemeint war immer auch das Ende eines großen Ideals, das Ende der Stadt als Freiheitsraum. Erst hier habe der Mensch, so hieß es, seine Abhängigkeit von der Natur überwinden und das entwickeln können, was heute Kultur heißt. Alle gesellschaftlichen Innovationen hätten im urbanen Raum ihren Anfang genommen, alle Moden, Stile, Lebensweisen. Ohne die Stadt sei die Moderne mithin nicht zu denken. Hier habe das freie Subjekt die Welt erblickt und schließlich zu neuen, demokratischen Formen der Öffentlichkeit gefunden, in denen sich das Ich ebenso aufgehoben wusste wie das Wir. Die Krise der Stadt war für viele Kritiker eine Krise der Zivilisation.

Sicherlich gab es für ihre Warnungen gute Gründe, und man muss sagen: Es gibt sie oftmals weiterhin. In vielen Städten bemächtigen sich Shoppingmall-Konzerne der einst öffentlichen Räume und verwandeln sie in Konsumzonen mit Hausrecht. Nicht selten handeln kommunale Verwaltungen gleichfalls nach diesem Muster und lassen einzelne Straßen und Plätze als halbprivate Business-Distrikte betreiben oder verkaufen öffentliche Gebäude an den Meistbietenden. Darüber hinaus kann man die wachsende Zahl der Überwachungskameras oder das rege Interesse an Gated Communities mit einiger Skepsis betrachten. Vieles deutet darauf hin, dass der öffentliche Raum stärker als ehedem kontrolliert, abgeschirmt und von privaten Interessen beherrscht wird; nicht zuletzt die grassierende Groß- und Riesenplakatwerbung ist dafür ein Indiz.

Gleichwohl kann von einem posturbanen Zeitalter, das manche bereits heraufdämmern sahen, keine Rede sein. Nicht im globalen Maßstab, da seit 2008 mehr Menschen in städtischen Gefilden als auf dem Land leben. Und ebenso wenig, wenn man die zumeist wohlhabenden Hemisphären des Nordens betrachtet, jene alten Städte, die im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung zu großen Citys aufbläht wurden und von denen es lange hieß, sie hätten im 20. Jahrhundert alles eingebüßt: ihre Form und Kontur, ihre Bestimmung und auch den Gemeinsinn. Je weiter sich aber das industrielle Zeitalter dem Ende zuneigt und je stärker das zu greifen beginnt, was man Digitalmoderne nennen könnte, desto mehr scheint das Verlangen nach Stadt, nach ihrer Intensität und Dichte zu wachsen. Urbanität gilt nun, im 21. Jahrhundert, als etwas Begehrenswertes, wenngleich nicht immer klar ist, was genau da begehrt wird. Im Zweifel ist es ein Leben im Jetzt, aufregend und voller Optionen.

So steht einer um sich greifenden Privatisierung eine wachsende Lust am Offenen und Öffentlichen entgegen. Die freien, unbestimmten Räume der Stadt gewinnen eine andere, gewichtige Bedeutung. Zum einen ist da das Ich der Digitalmoderne, das nach Selbstverwirklichung strebt und dafür das urbane Gefüge als besonders geeignet erfährt. Zum anderen gibt es ein kollektives Selbst, ein Wir, das nach städtischen Räumen verlangt und sich erst auf Straßen und Plätzen formt und findet. Ohne dass sie jemand gerufen hätte, ohne dass es eine Kampagne gäbe, gar eine Staatsinitiative zur Reurbanisierung, zieht es viele Menschen hinaus in die Räume der Stadt. Dieses Buch erzählt von diesem Urbanismus von unten, der die Stadt wiedererweckt. Es schildert, wie sich viele Bürger den öffentlichen Raum auf mannigfache Weise aneignen und wie sie ihn verändern. In Zeiten des Hyperindividualismus wird er zu einem Raum geteilter Erfahrungen, zu einem Forum, in dem sich die kollektiven Interessen bündeln und neues Gewicht erlangen.

Occupy & Arabellion: die Stadt als Ort des Aufbegehrens

Besonders eindringlich zeigte sich das, als 2010 und 2011 die Menschen in Nordafrika zu Widerstand und Umsturz aufriefen, vielerorts die Revolution wagten und – befeuert von den Kontaktbörsen des Internets – Orte wie der Tahrir-Platz in Kairo zu Synonymen des friedlichen Neubeginns wurden. Fast zeitgleich bildeten sich in New York, Madrid, Frankfurt am Main und vielen anderen Großstädten breite Protestbewegungen, viele von ihnen unter dem Schlagwort Occupy, und wiederum erwies sich der öffentliche Raum als unverzichtbar: Die Demonstranten bauten auf hartem Pflaster und in den Parks ihre Zelte auf, nicht zuletzt als ein Zeichen des realen, greifbaren Protests gegen die ungreifbar-abstrakten Mächte der Finanzwirtschaft.

Dabei verdankte sich die Bewegung selbst jenem System der Datenleitungen, das den sogenannten Informationskapitalismus und die computergetriebene Spekulation an den Börsen erst möglich macht. Ohne das Internet, ohne Verständigungs- und Mitteilungsmöglichkeiten wie Facebook oder Twitter hätten die Proteste nicht so schnell anschwellen können, man bestärkte sich gegenseitig. Zumindest für einen Moment konnte man den Eindruck gewinnen, als habe sich nach der Ökonomie auch die öffentliche Kritik an dieser globalisiert. Sogar eine gemeinsame Ikonographie – zu der die Guy-Fawkes-Maske ebenso gehört wie das Igluzelt – konnte sich binnen weniger Wochen herausbilden. Erstaunlich aber war vor allem, wie einig sich die Demonstranten waren, dass sie für ihren Protest zwingend des öffentlichen Raums bedurften.

Viele Soziologen und Stadtforscher hatten lange etwas anderes prognostiziert: Protest und Debatten, jede Art von Öffentlichkeit, all dies würde sich auf digitale Foren, Chatrooms und Blogs beschränken, so ihre Annahme. Im Zeitalter der oft beschworenen Cybervilles, der Wired Citys, Teletopias komme es auf den einzelnen Ort nicht länger an. Doch ist von diesen Visionen, die manchen bereits sehr konkret vor Augen standen, nur wenig geblieben. Das Netz ist mächtig, aber nicht allmächtig geworden. Und es zeigt sich, dass der städtische Raum weiterhin einige wichtige, unverwechselbare Qualitäten bereithält: für große Bewegungen wie Occupy, für die Aufstände des Arabischen Frühlings oder für Bürgerproteste, die sich gegen Großprojekte wie einen Bahnhof (in Stuttgart) oder die Bebauung eines Parks (in Istanbul) wenden. Der Widerstand wäre nichts ohne die Asphaltwirklichkeit. Erst dort entzündet er sich, tritt medienwirksam in Erscheinung, erst dort wird für den Einzelnen realiter spürbar, was sich in den Foren des Netzes lediglich erahnen lässt: dass er nicht allein ist.

Und so profitiert die Stadt von der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung. Denn während die Bedeutung der Nationalstaaten so rasch schwindet, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden war, erblickt eine wachsende Zahl von Menschen in ihrem urbanen Umfeld einen Handlungsraum, der sich überschauen und gestalten lässt. Sie begegnen der eigenen Hilflosigkeit, den Ohnmachtsgefühlen angesichts weltumspannender Kapitalinteressen, indem sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun und im Lokalen eine Antwort auf globale Probleme suchen, zum Beispiel auf den Klimawandel. Etliche schließen sich der Transition-Town-Bewegung an, 2005 von dem Briten Rob Hopkins ins Leben gerufen, und wollen im Verbund mit anderen ihre Stadt unabhängig vom Öl machen. Manche pflanzen Nussbäume auf öffentlichem Grund, andere bauen Fahrradrikschas, die den öffentlichen Nahverkehr bereichern sollen, dritte versuchen sich am Hausbau mit Strohballen oder entwerfen Dächer, die sich für sogenannte Solarbürgeranlagen eignen. Und stets wissen sich alle Beteiligten über das Internet miteinander verbunden und unterstützen sich gegenseitig mit Anregungen. Auch einige Kommunen lassen sich vom Erfindungsreichtum und Tatendrang anstecken und rühmen sich offiziell, eine Transition Town zu sein. Über 450 haben sich bereits angeschlossen.

In der Stadt, so scheint es, lässt sich die Zukunft noch gewinnen. Sie bietet den Platz für Wut, Protest und für politischen Gestaltungswillen. Sie wird zum Labor für alle, die nicht länger an große Utopien glauben, dafür aber daran, dass sich die Gegenwart zum Besseren verändern lässt. Ob Wohnungsbau oder Altruismus, Verkehrsprobleme, Schönheit oder kollektives Gedächtnis, zahlreiche gesellschaftliche Belange und Fragen lassen sich im Namen der Stadt umwälzen. Sie gilt als der richtige Ort des Räsonnements über alles, was wichtig ist. Die Stadt wird zum Brennpunkt eines erhofften Aufbruchs.

Alltagsurbanismus: die Wiederentdeckung des Öffentlichen

Dass der öffentliche Raum ein Raum des Widerstands und der politischen Neuorientierung sein kann, dass er trotz aller Medialisierung weiterhin gebraucht wird, ist allerdings nur das eine. Fast bemerkenswerter noch ist etwas anderes und soll deshalb in diesem Buch im Mittelpunkt stehen: Auch im Alltag gewinnt die Stadt als vitaler und vitalisierender Raum eine neue Bedeutung. Alle, die wie der Architekt Rem Koolhaas meinten, »Shopping dürfte wohl die letzte noch übrig gebliebene Form öffentlicher Aktivität sein«, werden eines Besseren belehrt.2 Bei vielen Menschen wächst die Bereitschaft, sich auf ungewohnte Spielformen des Öffentlichen einzulassen. Manche begeistern sich für Flash- und Smartmobs, bei denen sich Menschen über das Internet oder per SMS-Mitteilungen zu skurrilen Kurzaktionen verabreden, in München etwa zum Polkatanzen vor der chinesischen Botschaft oder in Köln zu Kissenschlachten auf städtischen Plätzen, so lange, bis wilde Federwolken fliegen. Andere verlegen sich auf das Guerilla Knitting, bei dem sie besagte Parkuhren, Brückengeländer oder Verkehrsschilder bestricken und so dem rauen, abweisenden Körper der Stadt eine zweite, wärmende Haut verleihen. Wieder andere statten den öffentlichen Raum mit selbst gebauten Bänken und Stühlen aus, eine Unternehmung, die in den USA unter dem Namen Chair Bombing bekannt ist. Das sogenannte Planking findet ebenfalls viele Anhänger. Dabei fotografieren sich Menschen, wie sie mit gestrecktem Körper auf Brückengeländern oder U-Bahn-Treppen balancierend liegen, um dann ihre Bilder ins Internet zu stellen. Überhaupt wird der öffentliche Raum von vielen als ein Ort des Abenteuers erfahren, durchaus auch in politaktivistischer Hinsicht: Ob Adbusting (Verfremdung von Werbeplakaten) oder Containern (Durchwühlen von Behältern nach essbaren Supermarktabfällen) – der öffentliche Raum wird als gesellschaftlicher Raum verstanden, der allen gehört und den sich jeder aneignen und gestalten darf.

Eine stille Anarchie scheint viele Menschen zu erfassen, vor allem die jüngeren: Sie begreifen noch die hässlichsten Parkhäuser als Übungsplätze für athletische Kunststücke (Parkour), verwandeln betonierte Straßenränder in kleine Blumenbeete (Guerilla Gardening), machen aus Stromkästen Kunstwerke (Street Art) oder erklären verwaiste Stadtplätze zur neuen Partyzone (Outdoor Clubbing). Und wiederum ist das Internet, sind Facebook und Twitter oft Katalysatoren. Hier gibt es die nötigen Hinweise, hier wird überwunden, was als städtische Anonymität lange gefürchtet war. Von einem Mitmach-Urbanismus ließe sich sprechen, von Kreativ- oder von Wohlfühl-Urbanismus, denn ähnlich wie die Gesellschaft sich pluralisiert hat, bilden sich auf den Straßen und Plätzen höchst diverse Formen und Funktionen von Gemeinschaft. Und wohl gerade deshalb zieht es viele Menschen in die Stadt: Sie erweist sich als Möglichkeitsraum, offen für widerstreitende Interessen.

Bei aller Unterschiedlichkeit wird die Begeisterung für das Urbane gleichwohl von einem gemeinsamen Verlangen getragen: nach Rück- und Anbindung, auch nach neuen Arten der Verbindlichkeit. »Wir sind die Stadt!«, der Titel dieses Buches, ist kein Schlachtruf und keine Werbeparole, er benennt eine von vielen geteilte Empfindung. Häufig ist es nur eine Sehnsucht, in der digitalen, flüchtigen, versprengten Gegenwart einen Ort zu kennen, der auf andere Weise vernetzend wirkt als das Internet. Der reale Raum erscheint als Gegenpol zur virtuellen Sphäre. Hier ist greif- und spürbar, was in der Bildschirmwelt nur vorüberflackert.

Paradoxerweise wäre es aber ohne die digitalen Techniken nicht zu einer Neubelebung der Stadt gekommen. Denn obwohl manche von einer Insel des Realen träumen und diese in der Stadt erblicken mögen, hat sich der klassische Antagonismus zwischen der digitalen und der nichtdigitalen Sphäre längst verflüchtigt. Für die meisten Menschen ist das Leben zwittrig geworden, das Virtuelle durchdringt den öffentlichen Raum, seitdem Smartphones es jedem erlauben, das Internet in der Hosentasche mit sich zu tragen. So gibt es auch für die Denk- und Handlungsweisen vieler Menschen keine festen Grenzen: Das Netz prägt ihr Verhalten im öffentlichen Raum. Ihre Bereitschaft, sich einzumischen, sich mit anderen kurzzuschalten, etwas gemeinsam zu gestalten, ihre Erfahrung, dass sich hier etwas verändern und dort etwas überarbeiten lässt, ihr Verlangen, sich selbst als handelndes Subjekt zu erfahren, all das bestimmt die Kultur des interaktiven Internets – und alldem verdankt die Stadt der Digitalmoderne viel von ihrer wachsenden Vitalität. In schönster Dialektik bestärkt ausgerechnet jene Technik das urbane Leben, von der es einst hieß, sie würde alles Städtische in sich aufsaugen, weil der Mensch fürderhin jegliche Bedürfnisse befriedigen könne, ohne das eigene Heim zu verlassen, einfach per Knopfdruck und Datenleitung.

Von der Öffnung zur Öffentlichkeit – ein Ausblick

Wie tief die geschilderten Veränderungen reichen und tragen, ob sie die conditio urbana dauerhaft bestimmen werden, darüber lässt sich nur spekulieren. Es gehört zu den Rätseln der Stadt, dass sie von Menschen gemacht ist und sich doch ihrer Kontrolle weithin entzieht. Es gibt für alles und jedes Vorschriften, Regeln, Pläne, um die urbane Maschine möglichst reibungslos laufen zu lassen. Wie attraktiv und lebendig am Ende ein Viertel aber ist, darüber entscheidet am wenigsten die blanke Funktionalität. Urbanität lässt sich nicht erzwingen, egal, wie liebevoll die Architektur gestaltet sein mag, wie viele Bänke, Sitzmulden, Freilichttheater von den Planern installiert werden und wie schön oder hässlich die Designerlampen, -mülleimer oder -spielgeräte auch sind. Urbanität wächst aus dem Unbestimmten, sie entspringt einem heiklen Wechselverhältnis aus Intensität und Gelassenheit, einer Spannung aus Vertrautem und Überraschendem, aus einer Mischung gesicherter und unsicherer Räume, freier und vorbestimmter Plätze, aus Bewohnern, die mal reicher, mal ärmer, mal fremd, mal einheimisch sind. Es ist diese nicht programmierbare Balance, die aus einer bloßen Ansammlung von Häusern jenes soziale Zusammenspiel werden lässt, das man Urbanität nennt. Und oft genug beginnt sich just dort etwas zu regen, wo niemand es behördlicherseits vorgesehen hatte.

Von diesen Eigenarten des Urbanen, von dem Leben im öffentlichen Raum, das kein Masterplan erzwingen kann, will dieses Buch erzählen. Es beleuchtet, wie sich durch die neuen Techniken das Bewusstsein für die Stadt wandelt, auf welche Weise sich das Empfinden von Raum und Zeit verändert und auch das Verhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem ein anderes wird. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die europäischen und nordamerikanischen Städte, denn selbst diese sind in vielen Aspekten ihrer Geschichte und Prägung derart verschieden, dass sich allgemeinere Feststellungen nur treffen lassen, wenn man bewusst über die feinen Unterschiede hinwegsieht. Zöge man asiatische oder afrikanische Metropolen hinzu, wie es gern getan wird, wenn vom Jahrhundert der Städte die Rede ist, so vergliche man kulturelle Phänomene, die sich redlicherweise nicht vergleichen lassen. Zumal dem öffentlichen Raum, diesem aus der Antike abgeleiteten Idealbild einer von freien Bürgern geprägten urbs, ohnehin in weiten Teilen der Welt eine andere Bedeutung zugemessen wird. Dort lässt sich von einer neuen Inbesitznahme der Straßen und Plätze schon deswegen nicht sprechen, weil der Besitz nie verloren schien und es an städtischer Lebendigkeit nicht mangelte.

Was aber bedeutet die urbane Neubesinnung in Europa und Nordamerika? Dieses Buch erkundet, welche gesellschaftlichen Ideale neu formuliert werden und welches Glück der je Einzelne im öffentlichen Raum zu finden hofft. Ob die Stadt der Digitalmoderne einen Strukturwandel durchläuft, der auch die diskursive, argumentierende und also politisch handelnde Öffentlichkeit wiederbelebt, diese Frage soll abschließend diskutiert werden. Es ist eine Wanderung über die urbanen Felder und Fluren, ein essayistischer Ausflug ins Unterholz und auf die zugigen Höhen, wo es schon deshalb keine abschließenden Gewissheiten zu besichtigen gibt, weil so vieles im Werden und im Wandel ist. Einiges muss man skeptisch beäugen, anderes kann man rätselnd-erfreut in Augenschein nehmen. Eine lohnende Unternehmung ist diese Wanderung jedoch in jedem Fall, weil im Spiegel der Stadt erkennbar wird, wie ausgeprägt die Bereitschaft vieler Menschen ist, sich auf neues Terrain zu begeben und mit manchen Gewohnheiten zu brechen: um sich selbst besser kennenzulernen und neue Formen der Teilhabe mit anderen zu erproben.

I. Stadt und Gesellschaft
Wie neue Lebensideale das urbane Leben prägen

Seit es Städte gibt, sehen Menschen in ihnen mehr als nur Orte, an denen sie behütet wohnen und sicher einem Gewerbe nachgehen können. Sie sehen mehr als Fassaden und Silhouetten, denn in dem, was einige das größte Artefakt des Menschen nennen, bewahrt sich stets eine petrifizierte Form von Welterfahrung. Nicht nur materielle, auch ideelle Werte werden hier gehandelt und hinterlassen ihre Spuren in der Stadtgestalt. Wie die Häuser zueinander stehen, welche Bedeutung den Alleen, Plätzen und Parks zukommt, kündet stets vom Zueinander der Menschen und von der Geschichte ihrer geteilten Räume. Mehr noch: Die Stadt speichert nicht nur gesellschaftliche Ideale, sie scheint diese ebenso in die Gegenwart hineinzutragen und das Zusammenleben auf unterschwellige Weise mitzubestimmen. Wie weit aber geht diese Art der Mitbestimmung?

Erst prägen Menschen die Stadt, dann prägt die Stadt ihre Menschen – dieses Ideologem erwies sich lange als quicklebendig, vor allem im 20. Jahrhundert, das wie keines vor ihm an die gute Form glauben wollte, an jene Kraft, die einen neuen Menschen möglich machen würde. Entsprechend allergisch reagierten viele Planer auf die alte, nicht so gute Form. Und sie verspürten den verschärften Wunsch, möglichst viel von den gebauten Hinterlassenschaften loszuwerden, um ein eigenes, freies Regiment der architektonischen Dinge zu errichten. Nie zuvor wurde mehr gebaut, nie wurde mehr zerstört. Die Moderne träumte von der Tabula rasa, vom Neuanfang.

In der Digitalmoderne, in der so vieles im Verborgenen der Mikroprozessoren geschieht, Auge und Hand entzogen, verliert der alte Ding-Fetisch, dieser Glaube an die Macht der Form, seine Bedeutung. Und demgemäß hat sich das Verhältnis vieler Planer zur gebauten Umwelt gewandelt: Sie haben gelernt, sich im Bestehenden einzunisten und vorgefundene Bauten der eigenen Zeit und ihren Zwecken anzuverwandeln. Hehre Utopien sind ihnen fremd, und wenn sie Veränderung suchen, dann im Modus des Pragmatismus. Die Welt braucht nicht neu erfunden zu werden, so das Credo; es reicht sie hier zu reformieren, dort zu ergänzen und stets im Kleinen mit dem Großen zu beginnen. War die klassische Moderne von der absoluten Machbarkeit der Welt überzeugt, so träumt die Digitalmoderne nicht von Erlösung und kann sich eine final beglückte Gesellschaft nicht vorstellen. Wenn überhaupt, hofft sie auf eine Welt 2.0 oder 3.0, auf optimierte Versionen des Bestehenden, der selbstverständlich weitere Versionen folgen werden.