Wilhelm Busch
Der Kuchenteig
Mit einem Essay
herausgegeben von
Andreas Platthaus
Insel Verlag
Insel-Bücherei Nr. 1325
© Insel Verlag Berlin 2010
Der Kuchenteig
Es war en winziger Umschlag mit dem Titelschriftzug Der Kuchenteig, der Johannes Hartmann an einem Februartag des Jahres 2008 in die Augen stach, als er gerade einen Akt mit Korrespondenzen und Korrekturabzügen sichtete. Dieser profane Titel paßte nicht zum Empfänger der sonstigen Schreiben, einem in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts amtierenden Bischof von Regensburg. Hartmann, Leiter des Stadtarchivs von Sulzbach-Rosenberg, war gerade dabei, mehrere Stapel solcher Akten durchzusehen, die in einem Hinterzimmer des Bürotrakts des ehemaligen Verlagshauses J. E. von Seidel zur Erfassung bereitlagen. Seit anderthalb Jahren schon bemühte sich sein Archiv zusammen mit zahlreichen freiwilligen Helfern aus Sulzbach, die Hinterlassenschaft von Ingomar Wotschak zu erschließen, dem im August 2006 verstorbenen letzten Eigentümer der Verlagsbuchhandlung, die Seidels große Tradition fortgesetzt hatte. Die riesigen Holzschränke, in denen sich voluminöse Kopierbände mit sorgfältigen Abschriften der ausgehenden Briefe, Autoren- und Kontobücher sowie etliche vollgestopfte Dokumentenmappen und -schachteln drängten, waren mittlerweile ausgeräumt und ihr Inhalt zur Erfassung auf dem Tisch im kleinen Hinterzimmer gestapelt. Mehr als bloße Durchsicht aber war noch nicht zu schaffen.
Dabei fand Hartmann den kleinen Brief. Es handelte sich um einen nach altem Usus aus einem größeren Papierbogen gefalteten Umschlag im Format 63 auf 98 Millimeter, auf dessen Vorderseite in schwungvoller Schrift mit Bleistift ebenjener Titel Der Kuchenteig geschrieben stand – in klaren Buchstaben, mit weit herabgezogenen Unterlängen und ausladenden Versalien jeweils zu Beginn der beiden Wörter. Dazu ein nahezu geschlossener Kringel über dem »u«, und das Ganze auch noch mit so viel Elan unterstrichen, daß der Schreiber am Ende dieser Linie den Bleistift geradezu zurückgerissen haben muß, so zackig-knapp ist der Strich dort umgebogen. Es muß sich also um einen Rechtshänder gehandelt haben.
Auf solche Details wird Johannes Hartmann nicht geachtet haben, als er das Brieflein zwischen viel größeren Schriftstücken fand. Als er es herausnahm, bemerkte er eine zweite, vom Titelschriftzug deutlich unterscheidbare Handschrift auf dem Umschlag: Unter der Bleistiftnotiz stehen vier weitere, weitaus schwerer lesbare Zeilen in schwarzer Tinte. Um festzustellen, daß hier ein anderer Schreiber tätig geworden war, brauchte man nicht einmal den Text zu entziffern, aber dessen Inhalt bestätigt, daß es sich bei der Tintennotiz um einen späteren Zusatz handelt. Er lautet: »Verlangt nach Hr Küsters Angabe fl 50, stellt dafür d Holzzeichnung her – versichert, daß es noch nicht gedruckt ist.« Was im Klartext heißt, daß ein Herr Küster dem Schreiber mitgeteilt haben muß, daß jemand fünfzig Gulden für eine Arbeit verlangt hat, zu der die Anfertigung von Zeichnungen auf Holzstökken zählte, die als Xylographie-Vorlagen (also zur Anfertigung von Holzstichen) für etwas gedacht waren, das zuvor noch nicht anderswo publiziert worden war. Aber um was ging es dabei?
Der unversiegelte Umschlag gab es schnell preis. Hartmann faltete ihn auseinander und fand darin zehn schmale, jeweils oben rechts durchnumerierte Zeichnungen, deren letzte unten rechts eine Signatur trägt, die sich unschwer als »W. B.« erkennen läßt. Zusammen erzählt das Konvolut eine kurze Geschichte in Einzelbildern über das Mißgeschick eines naschsüchtigen Knaben. Die Höhe der jeweils bis an den Rand vollgezeichneten einzelnen Blätter schwankt zwischen 46 und 53 Millimetern, ihre Breite beträgt zwischen 84 und 96 Millimetern; sie konnten also sämtlich ungefaltet in dem Umschlag aufbewahrt werden. Die jeweils in Bleistift skizzierten Zeichnungen enthalten keine Texte, und auch die Rückseiten der Blättchen sind unbeschrieben. Da jedoch in neun von zehn Bildern ein breiter, flacher Backtrog mit Teig zu sehen ist, ist klar, daß es sich bei der Notiz Der Kuchenteig auf dem Umschlag um den Titel der Geschichte handelt. Da zudem derselbe Bleistift wie bei den Zeichnungen benutzt wurde, darf man wohl Schreiber und Zeichner als identisch ansehen.
Hartmann dachte sofort, daß es sich dabei um Zeichnungen von Wilhelm Busch handeln könnte. Das legten schon die markante Handschrift des Titels und die für den Künstler mehrfach belegte Signatur »W. B.« nahe. Aber auch der Gestus der Zeichnungen ist für Busch charakteristisch, und dann war da noch eine verblüffende inhaltliche Parallele, die sich wohl jedem erschließen dürfte, der Buschs berühmtestes Buch kennt (und wer kennte in Deutschland Max und Moritz nicht?): Die Handlung der kleinen Bildergeschichte variiert ein wohlbekanntes Motiv, nämlich den Sturz in einen Teigtrog. Genau dies widerfährt Max und Moritz, den beiden Lausbuben, in deren sechstem Streich, und auch dort handelt es sich explizit um Kuchenteig. Der Text dazu lautet: »Ganz von Kuchenteig umhüllt / Stehn sie da als Jammerbild.«1 Nicht zuletzt weist der Protagonist der zehn Bilder aus dem Sulzbacher Umschlag große Ähnlichkeit mit Max und Moritz auf; ja, man könnte meinen, mit seiner dunklen Haartolle und dem kreisrunden Gesicht wäre er eine Kreuzung aus beiden Figuren.
Doch wer hätte je von einem solchen Fund gehört? Originalzeichnungen von Busch sind extrem selten, weil er nach Anfertigung der Holzstöcke, mittels deren seine Bildergeschichten und Illustrationen gedruckt wurden, die Vorlagen zu vernichten pflegte. Einzelne Zeichnungen und sogenannte Bilderhandschriften, wie auch die zu Max und Moritz, haben nur deshalb überlebt, weil Busch sie an Freunde und Bewunderer verschenkt hatte. Heute gehören die meisten davon der Wilhelm-Busch-Gesellschaft und werden im Busch-Museum in Hannover aufbewahrt. Seit dem Tod des Künstlers 1908 und der Sichtung seines Nachlasses hatte man trotz intensiver Suche in Archiven und Verlagshäusern keine unbekannte Bildergeschichte aus seiner Feder mehr entdeckt.
Und waren die zehn Sulzbacher Zeichnungen im Vergleich gerade mit Max und Moritz nicht doch etwas statisch, die Gesichter zu puppenhaft, als handele es sich um abgezeichnete Modeln für Lebkuchenfiguren? Der Echtheit der Bildergeschichte konnte man sich also keineswegs sicher sein, zumal Buschs Zeichnungen häufig gefälscht worden sind.2 Hartmann, der an diesem Tag noch zahlreiche weitere Akten zu sichten hatte, steckte die Skizzen wieder in ihren Umschlag und legte diesen an seinen alten Platz zurück, wo er noch lang hätte ruhen können, denn das Verlagsarchiv des Hauses J. E. von Seidel ist gewaltig.
Doch einige Tage später brachte Johannes Hartmann eine Digitalkamera mit, um einige Schriftstücke zu fotografieren. Warum sollte er nicht auch ein paar Bilder von der seltsamen Bildergeschichte machen? Dann konnten sich kenntnisreichere Experten als er wenigstens einen Eindruck von den Zeichnungen verschaffen. Eine Dame, der das zuzutrauen war, gab es sogar in Sulzbach selbst: Elisabeth Vogl, die frühere Leiterin des Stadtmuseums, als Menzel-Forscherin ausgewiesene Kennerin der deutschen Kunst der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Als Vogl die Fotos sah, hielt sie die Zeichnungen sofort für authentisch. Doch die einschlägige Instanz für eine endgültige Überprüfung ist das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover, wo, wie bereits erwähnt, der mit Abstand größte Bestand an Originalen aufbewahrt wird, darunter auch die von Max und Moritz3