Was passiert, wenn sich ein fünfjähriger Junge in seine amerikanische Tante verliebt? Ganz bestimmt führt die kindliche Schwärmerei nicht zu einem klassischen »Honeymoon« (Honigmond). Und wenn die Puppen in einem englischen Puppenhaus plötzlich zum Leben erwachen und dieses Leben für deren Besitzerin recht erstrebenswert scheint, dann geht es nicht ohne Komplikationen in der Puppenwelt ab (Das englische Puppenhaus). Bei einem Klassenausflug ins Naturkundemuseum wird Elinor der Blick durch ein Fernglas zum Verhängnis. Was hat sie gesehen? Warum hat sie ihre Kleider vor dem Fernrohr abgelegt? Und wo ist sie jetzt? (Der Museumsbesuch).
»Es gibt ein Loch in der Wirklichkeit«, sagt Marie Hermanson. Durch dieses Loch entschlüpfen ihre Protagonisten in eine andere, eine phantastische Welt, eine Welt, in der Träume wahr werden, in der es sich oft angenehmer lebt als in der wirklichen.
Marie Hermanson, geboren 1954. Zuletzt erschienen die Romane Der Mann unter der Treppe (st 3875), Das unbeschriebene Blatt (st 3626), Saubere Verhältnisse (st 3957) und Muschelstrand (st 3390).
Das englische Puppenhaus
Erzählungen
Suhrkamp
Umschlagfoto: Liesa Siegelman
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
Copyright © Marie Hermanson
© der deutschsprachigen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Berlin 2011
Quellennachweise und Übersetzerhinweise am Schluß des Bandes
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73385-1
www.suhrkamp.de
Der Museumsbesuch
Die Tochter des Zauberers
Das englische Puppenhaus
Honigmond
Das nackte Mädchen
Es gibt ein Loch in der Wirklichkeit
Der wandernde Koch
Hundert Teddybären und tausend Engelsgeläute
Das Schloß aus Schnee und Feuer
Quellennachweise
Eigentlich wollte Elinor an diesem Tag gar nicht ins Naturkundemuseum mitkommen. Ihr war nicht gut. Doch der Lehrer überredete sie und hielt sie auf dem ganzen Weg an der Hand.
Ich dagegen hatte, schon tagelang bevor wir dorthin gingen, vom Naturkundemuseum phantasiert. Unser Lehrer hatte extra betont, daß wir nicht ins neue Museum gehen würden, wo viele von uns sicherlich schon gewesen seien, sondern in das alte.
Jetzt standen wir in zwei Reihen draußen auf der Straße, in der einen Reihe die Mädchen und in der anderen wir Jungen. Der Lehrer stand auf der Treppe zum Museum und sprach zu uns, während wir darauf warteten, daß das Museum geöffnet würde.
»Wißt ihr«, sagte er, »das Museum ist für die Allgemeinheit eigentlich nicht mehr geöffnet. Es wurde geschlossen, als man das neue Naturkundemuseum einweihte. Es gibt hier aber immer noch interessante Sammlungen, die man beim Umzug in die neuen Gebäude nicht mitnehmen wollte. Es sind etliche ältere Exemplare, manche in ziemlich schlechtem Zustand.«
Wir waren ungeduldig. Es war Oktober und kühl, und mehrere von uns Jungen hatten nach wie vor kurze Hosen an und bekamen eine Gänsehaut zwischen dem Hosensaum und den Wollstrümpfen. Normalerweise spürten wir keine Kälte, weil wir ständig in Bewegung waren. Einige rangelten ein bißchen herum, um warm zu bleiben, der Lehrer nahm jedoch keine Notiz davon.
»Ich gehöre zu den Freunden des alten Museums«, fuhr er fort, »und ich werde eingelassen, weil ich den Wärter kenne. Ich habe mit ihm verabredet, daß wir um vier Uhr hier sind.«
Genau in diesem Moment hörten wir die Uhr eines nahe gelegenen Kirchturms viermal schlagen, und alle Blicke wandten sich dem Eingang zu, über dem die Inschrift »Naturkundemuseum« fast völlig verwittert war.
Aber niemand öffnete. Der Lehrer, der sehr auf Pünktlichkeit bedacht war, klopfte an die Tür. Zuerst diskret, dann kräftiger. Als sich nichts tat, betätigte er die Klinke, und es stellte sich heraus, daß offen war. Er gab uns ein Zeichen, ihm zu folgen, die Mädchen zuerst, und wir stiegen die Treppe hinauf.
Wir kamen in ein Vestibül mit Marmorsäulen und ausgetretenem Steinfußboden. An einer Theke saß ein Wärter und schlief. Er trug eine Uniform, in der er eher einem General als einem Museumswärter glich. Der Lehrer räusperte sich, und ein paar Mädchen begannen zu kichern. Der Wärter rückte seine Schirmmütze zurecht, und mit einer Geste, als wäre er noch nicht ganz wach, gab er uns zu verstehen, daß wir eintreten könnten.
Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über unseren Lehrer sagen: Er war ein alter Mann, weißhaarig und mager. Er trug einen verschlissenen Anzug, vergilbte Hemden und eine Fliege. Er hatte ein sehr freundliches Gesicht, und wenn wir in der Schule den Segen sprachen und an die Stelle kamen: »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns«, dann dachte ich an das Gesicht des Lehrers. Mild leuchteten seine nußbraunen Augen durch das runde Metallgestell seiner Brille hindurch über uns. Er war uns sehr wohlgesinnt. Manche sagten, er sei ein schlechter Lehrer, andere wiederum, er sei ein wenig verrückt. Möglicherweise waren beide Behauptungen richtig. Doch für uns, seine Schülerinnen und Schüler, die wir damals zehn Jahre alt waren, war das belanglos. Wir kamen gut ohne die Pädagogik aus, wie sie seinerzeit an den Schulen praktiziert wurde. Die Verrücktheit äußerte sich bei unserem Lehrer vor allem in einer gut entwickelten Phantasie, in Einfühlungsvermögen und hin und wieder in einem träumerischen Versinken in eigene Gedanken. Darin sahen wir nichts Ungesundes, im Gegenteil. Wir fanden, daß er uns in vieler Hinsicht näherstand als andere Erwachsene.
»Ihr könnt eure Rucksäcke hier abstellen, behaltet aber eure Mäntel an. Hier ist nicht geheizt. Nehmt ruhig ein Heft und einen Stift mit, falls ihr euch etwas notieren oder etwas abzeichnen wollt«, sagte der Lehrer.
Unser Lehrer wußte, wie zwecklos es war, mit der ganzen Klasse vor einem Objekt zu stehen und zu reden, während alle darauf brannten, zu etwas ganz anderem zu rennen, was sie im Augenwinkel sahen. Deshalb schlug er vor, wir sollten dorthin gehen, wohin wir wollten.
»Wenn ihr Fragen habt, will ich gern versuchen zu antworten. Es gibt jedoch vieles auf der Welt, worüber ich nichts weiß. Das Leben ist so unendlich reich. Verirrt euch nur nicht. Das Museum ist größer, als ihr denkt.«
Als wir im Vestibül standen, begann jemand derart zu husten, daß es zwischen den Steinwänden hallte. Es war Elinor, ein zartes Mädchen mit hoher Stirn und langem, elektrisch geladenem Haar. Meine Mutter meinte, sie werde als Erwachsene schön sein. Falls sie jemals erwachsen werde.
Die Mutter des Mädchens war Schneiderin gewesen und vor kurzem an Lungenschwindsucht gestorben, und Elinor lebte jetzt bei der Inhaberin der Schneiderwerkstatt, wo die Mutter gearbeitet hatte. Jemand hatte mir erzählt, die Frau habe sich Elinors in dem Glauben angenommen, diese Mühe werde nur von kurzer Dauer sein. Es wurde erwartet, daß Elinor ihrer Mutter bald folgte, und ihr Husten war so störend, daß sie manchmal mitten im Unterricht das Klassenzimmer verlassen und auf den Korridor hinausgehen mußte. Ich glaube, die Krankheit als solche war ihr eine geringere Qual als die Aufmerksamkeit, die sie mit ihrem Husten erregte. Oft versuchte sie, ihn zu unterdrücken, mit der Folge, daß sie Atemnot bekam. Wir saßen meist kerzengerade in den Bänken und hörten sie draußen vor der geschlossenen Tür belfern und keuchen. Der Lehrer tat so, als bemerkte er es nicht. Wenn Elinor wieder hereinkam, war sie jedesmal rot im Gesicht und hatte Schweißperlen auf der Stirn. Sie schlich dann für gewöhnlich durch den Klassenraum und setzte sich lautlos auf ihren Platz.
Der Lehrer war sehr darauf bedacht, daß Elinor das Naturkundemuseum zu sehen bekam. Jetzt, da wir endlich drin waren, schien er sie vergessen zu haben und nicht einmal das fürchterliche Husten zu hören, das uns andere erschauern ließ. Ein paar Jungen waren bereits ins Innere des Museums verschwunden. Wir anderen folgten in den ersten Ausstellungssaal nach.
»Seht euch nur um, Kinder«, sagte der Lehrer zu denen, die ihm am nächsten standen. »Aber haltet die Finger im Zaum. Berührt nichts. Besonders nicht die Tiere ein Stockwerk tiefer. Schaut euch die Variationen des Lebens ganz genau an, seine erstaunlichen Formen, seine seltsamen ...«
Seine Stimme verebbte zu einem Gemurmel, und er blieb hingerissen vor einem Regal stehen.
»So oft bin ich nun schon hier gewesen, und jedesmal ist es wieder phantastisch«, hörte ich ihn zu sich selbst sagen, und er schüttelte langsam den Kopf. »Jedesmal wieder phantastisch.«
Der Saal, in dem wir uns befanden, hatte weißgekalkte Wände und einen Fliesenboden. Freistehende, grünspanfarben gestrichene Metallregale waren in dichten Reihen aufgestellt. In diesen Regalen standen staubige numerierte Gläser unterschiedlicher Größe. Einige waren nur gewöhnliche Marmeladen- oder Einmachgläser. Die gelbe Flüssigkeit, von der ich annahm, daß es sich um Spiritus handelte, war in mehreren Gläsern zur Hälfte verdunstet und hatte in deren oberem Teil ringsum Ränder und Ablagerungen hinterlassen. Der Inhalt aber war gut erhalten.
Ich ging langsam durch die Regalreihen und betrachtete verwundert die Geschöpfe, die hinter Glas verewigt waren. Es handelte sich hier offenbar um die Abteilung für die sogenannten niederen Lebewesen. Hier gab es Schnecken, Mollusken, Spinnen und Skorpione, Frösche mit weißen, aufgequollenen Bäuchen und geschlossenen Augen, die eingekerbten Kugeln glichen. Hinter der Beschriftung »Cumi cumi« befand sich etwas, was vielleicht ein fest zusammengepreßter Tintenfisch in einem viel zu engen Glas war. Die Etiketten waren mit handgeschriebenen kleinen, säuberlichen Druckbuchstaben beschriftet.
Durch die kleinen Fenster an der Decke fiel spärlich trübes Oktoberlicht in den Saal. Ich und der Lehrer waren jetzt allein. Meine Klassenkameraden waren in die anderen Säle des Museums verschwunden, und ich hörte ihre Begeisterungsrufe und schnelles Stiefelgetrampel.
Mein Blick wanderte an den Seltsamkeiten entlang: Fledermäuse, an gespreizten Flügeln aufgespießt und spröd wie welkes Laub. Ein Seepferdchen in einem Reagenzglas, das mit schmutziger Watte zugepfropft und mit der Beschriftung »Hippocampus kuda« versehen war. Der abgeschlagene, platte Kopf einer Kobra. Um den prachtvollen Atlasfalter gruppierte Schmetterlinge, deren ursprüngliche Farbe nur zu erahnen war. Ich blieb bei einem Glasbehälter mit der Aufschrift »Muntiacus muntjak« stehen und stellte mich auf die Zehen, um seinen Inhalt besser sehen zu können. War das der Fötus eines Kalbes? Das kleine Geschöpf hatte eine braunlila Greisenhaut, schmale Augenschlitze, einen dünnen Schwanz und halboffene Lippen, die nach einer Zitze zu suchen schienen.
Ich spürte die Hand des Lehrers auf meiner Schulter. Unsere Blicke begegneten sich, und er lächelte still.
»Ich wußte, daß dich das Naturkundemuseum interessieren würde«, sagte er. »Und du hast recht, wenn du zuerst diese Abteilung studierst, bevor du weitergehst. Komm, ich zeige dir etwas.«
Die Hand weiterhin auf meiner Schulter, führte er mich zu einem Regal mit Eidechsen. In einem Glas befand sich eine Echse mit einem extrem langen, peitschenartigen Schwanz. Sie war mit dem Rücken auf eine Platte genietet. Ihr Bauch war geöffnet, die Haut wie zwei Portale aufgeschlagen, und das pistaziengrüne Gedärm lag bloß. Ihre langen Krallen waren wie zu einem rituellen Tanz gespreizt, die blauen Augäpfel mit einem Häutchen überzogen, wodurch sie wie Rauschbeeren aussahen, und der Mund lächelte. Ja, er lächelte tatsächlich, und es war ein unangenehmes Lächeln.
Mir war nicht klar, warum der Lehrer mir diese Echse zeigen wollte. Ich war drauf und dran weiterzugehen, als der Lehrer leicht an das Glas klopfte. Das Klopfen pflanzte sich als eine kaum merkliche Wellenbewegung in der gelben Flüssigkeit fort. Und plötzlich schlug die Echse mit ihrem langen Schwanz! Ein heftiger, blitzschneller Peitschenhieb von einer Seite des Glases zur anderen. Mein Blick konnte ihm nur mit knapper Not folgen, und ich wollte nicht glauben, was ich gesehen hatte.
»Ist sie nicht tot?« flüsterte ich erschrocken.
Der Lehrer war jedoch schon auf dem Weg aus der Abteilung für niedere Lebewesen, und ich eilte ihm nach. Bevor ich ging, warf ich noch einen letzten Blick auf die Echse mit dem geöffneten Bauch, und mir war, als lächelte sie noch mehr.
»Ich muß nach den anderen Jungen und Mädchen sehen. Sie sind so lebhaft und machen mir ein wenig Sorge«, sagte der Lehrer.
Wir kamen in einen großen Saal mit hoher Decke. Dort war es schummrig, beinahe dunkel, denn es gab keine Fenster. Ganz oben verliefen an den Längsseiten und an einer Schmalseite Galerien, die von Säulen getragen wurden. An mehreren Stellen führten Treppen hinauf. In diesem Saal standen Vitrinen mit ausgestopften Tieren. Die Vitrinen waren in Reihen aufgestellt, so daß sie Wände von Gängen bildeten.
In jeder Vitrine gab es Lampen, die das ausgestopfte Tier beleuchteten. Neben der Vitrine befand sich eine mit brauner Tinte in zierlicher Handschrift beschriebene Scheibe, die von einer kleinen Lampe, wie man sie über den Noten auf einem Klavier oder über einem Gemälde findet, beschienen wurde. Das war die einzige Beleuchtung in diesem Raum. Ansonsten war es dunkel.
Meine Mitschüler, die lebhafter waren als ich, rannten zwischen den Vitrinen umher, in die Säulengänge hinein und die Treppen zu den Galerien hinauf. Der Lehrer versuchte, sich streng zu geben, und schimpfte ängstlich ein paar Jungen aus. Dann trat er in einen der Säulengänge, und ich sah, wie er ganz hinten an einem Regal mit alten, in Leder gebundenen Büchern stehenblieb. Er nahm einen Band herunter und schlenderte langsam zurück, das Buch aufgeschlagen vor sich. Er hielt bei zwei Mädchen an, die eine Vitrine mit einer Fuchsfamilie vor ihrem Bau betrachteten, und las ihnen aus dem Buch etwas über das Leben der Füchse vor. Die Mädchen kicherten und aßen irgend etwas aus einer Tüte. Dann rannten sie in die Dunkelheit davon, und der Lehrer blieb allein zurück und schlug, während er den Mädchen lächelnd nachsah, das Buch zu.
Ich stellte mich neben ihn und wünschte mir, der Lehrer würde auch mir etwas vorlesen.
»Ich frage mich, wo die kleine Elinor steckt«, sagte er nur und ging.
Ich wanderte durch das Labyrinth der Vitrinen. Die Tiere waren stümperhaft ausgestopft, hatten deutlich sichtbare Stiche und Anzeichen von Mottenfraß. Trotzdem wirkten sie fast lebendig. Mir fiel die Echse mit dem Peitschenschwanz ein, und ich überlegte, ob ich vielleicht vorsichtig an das Glas der Vitrinen klopfen solle. Doch ich unterließ es.
Statt dessen betrachtete ich lange jedes Tier und entdeckte, daß die Tiere in Wirklichkeit nicht ganz stillstanden. Sie konnten zum Beispiel die Ohren spitzen oder eine Pfote oder einen Huf um ein paar Zentimeter verrücken. Die Bewegung war so geringfügig, daß man sie mehr ahnte als sah, und ich war mir auch nicht ganz sicher.
Im Schummerlicht oben auf den Galerien konnte ich vage erkennen, wie sich einige meiner Mitschüler um etwas drängten. Ich ging zu einer der Treppen, um zu ihnen hinaufzusteigen.
Doch als ich den Fuß der Treppe erreicht hatte, entdeckte ich einen schwachen grünlichen Schein, der von irgendwoher aus dem Säulengang an der Schmalseite des Saales drang. Ich trat unter die Galerie und fand eine offene Tür, von der aus eine Treppe nach unten führte. Ich stellte mich in die Türöffnung und schaute vorsichtig hinunter. Da sah ich, woher das grüne Licht kam. In eine Wand der Treppe war ein großes Aquarium eingelassen. Es war von innen erleuchtet, und die Wasserpflanzen und das Wasser färbten das Licht grün.
Mitten auf der Treppe vor dem Aquarium stand Elinor. Sie stand ganz allein dort, schaute aus großen Augen durch das Glas und merkte nicht, daß ich sie beobachtete.
Ich glaube, ich errötete ein wenig. Ich mochte Elinor. Ebenso wie ich blieb sie oft für sich. Wäre sie kein Mädchen oder ich kein Junge gewesen, hätten wir sicherlich die Gesellschaft des anderen gesucht. So aber hätte eine Freundschaft Hohn und böse Scherze der Mitschülerinnen und Mitschüler hervorgerufen, und wir erlaubten uns deshalb nur hin und wieder, einander anzusehen und ein paar Worte zu wechseln. Sie mußte sich an die Mädchen halten und ich mich an die Jungen, das waren die ungeschriebenen Regeln, und wir befolgten sie, obwohl wir uns beide zwischen denen, die unsere Kameradinnen oder Kameraden sein sollten, fremd fühlten.
Nun stand Elinor hier auf der Treppe zum Kellergeschoß des Museums und betrachtete mit ernstem Blick etwas, was sich im Wasser des Aquariums bewegte.
»Elinor«, sagte ich vorsichtig, um sie in ihrer Versunkenheit nicht zu erschrecken.
Sie schien aber überhaupt nicht erstaunt zu sein, daß ich da war. Sie nickte nur, ohne das Aquarium aus den Augen zu lassen. Ich stieg die Treppe hinunter und stellte mich neben sie, nachdem ich mich mit einem Blick nach hinten vergewissert hatte, daß keines der anderen Kinder da war.
»Ist sie nicht wundervoll?« flüsterte Elinor, und ihre kleine Hand löste sich vom Geländer und zeigte auf das Tier im Aquarium.
Eine Riesenschildkröte schwamm langsam umher, und hinter ihr wirbelten die Algen wie kleine grüne Punkte. Hin und her glitt die Schildkröte, während sie langsam ihre runzligen Beine auf und ab bewegte, als seien es Flügel.
»So groß und schwer. Und trotzdem schwebt sie leicht wie ein Vogel«, fuhr Elinor fort.
»Ja«, sagte ich, betrachtete aber statt dessen Elinors Hände, die auf dem Geländer ruhten. Ist es wahr, daß sie sterben wird? fragte ich mich. Und wie zufällig legte ich meine Hand dicht neben die ihre auf das Geländer, so daß deren Außenseiten sich berührten.
Da standen wir nun, Elinor und ich, Seite an Seite, die Hände dicht aneinander. Ich befand mich eine Treppenstufe höher als sie und schaute auf ihre trockenen, wirren Locken hinunter. Im Haar neben ihrer Wange glänzte ein Speicheltropfen. Die Schildkröte glitt dicht hinter dem Glas vorbei und zwinkerte mit ihren alten, klugen Augen.
Plötzlich zog Elinor ihre Hände zurück und sah zur Tür hinauf. Sie hatte ein scharfes Gehör. Zwei Jungen hatten ihre neugierigen Gesichter durch die Türöffnung gesteckt, und im nächsten Augenblick war Elinor die Treppe hinuntergelaufen. Ich blieb am Aquarium stehen, um Abstand zwischen uns aufkommen zu lassen. Sie verschwand in der Dunkelheit. Ich glaube nicht, daß die Jungen sie bemerkt hatten.
Sie glaubten, sie hätten als erste die Treppe entdeckt. Dann fiel ihr Blick auf mich, und sie fragten, was es dort unten gebe. Ich antwortete, daß ich es nicht wisse, weil ich noch nicht dort gewesen sei. Die Jungen lachten und rannten die Treppe hinunter, und nach einem Weilchen folgte ich ihnen.
Zuerst dachte ich, dort sei es absolut finster. Aber dann gewöhnten sich die Augen an die äußerst spärliche Beleuchtung über jedem Käfig. Hier befanden sich die Tiere nämlich in Käfigen anstatt in Vitrinen.
Es waren sonderbare Geschöpfe. Das merkwürdige Gefühl, das ich beim Anblick der Tiere im Stockwerk darüber verspürt hatte, verstärkte sich noch. Diese Tiere wirkten lebendig, erheblich lebendiger als diejenigen, die ich zuvor gesehen hatte. Aber richtig leben, das taten sie dennoch nicht. Es lag etwas Unwirkliches in ihren Bewegungen, und ihre Augen waren ohne Glanz.
Ich blieb verblüfft vor dem ersten Käfig stehen. Ein großes beigefarbenes Pelztier mit einem Gesicht wie ein Bluthund und Ohren wie ein Hase saß, ans Gitter gelehnt, schwerfällig auf seinem Hinterteil und guckte mit großen, melancholischen Augen geradeaus. Meine beiden Klassenkameraden sahen abwechselnd das Tier und einander an, zuckten die Schultern und grinsten unsicher. Keiner von ihnen wollte seine Verblüffung und seine Unkenntnis darüber, daß ein solches Tier überhaupt existierte, zu erkennen geben.
In einem anderen Käfig befanden sich sechs oder sieben blauschwarze Panther, die langsam und lautlos über-, unter- und umeinander herum glitten, so daß sie, geschmeidig und schimmernd, einem einzigen sich windenden und wälzenden Körper glichen. Ihre Augen hatten etwas Sonderbares an sich. Ihnen fehlte der Blick, und als ich mich ein paar Schritte näher gewagt hatte, entdeckte ich, daß die Tiere Facettenaugen hatten. Sie blitzten wie Schmuckstücke auf Samt.
Jetzt war auf der Treppe das Getrampel von mehreren rennenden Füßen zu hören. Eine Gruppe von Jungen eilte herunter und sah sich mit den wachen Augen Zehnjähriger um, während die beiden ersten sie herumführten, als ob sie sich schon jahrelang und nicht erst seit fünf Minuten an diesem Ort befänden. Die Mädchen, die vorher die Vitrine mit den Füchsen betrachtet hatten, standen oben bei der Schildkröte, unschlüssig, ob sie weitergehen sollten. Immer mehr entdeckten die Treppe, und bald war die ganze Klasse hier unten versammelt. Die beiden Jungen wiederholten unentwegt, daß sie die ersten gewesen seien. Waren sie aber gar nicht. Elinor war die erste gewesen, und ich suchte sie mit dem Blick.
Nach einer Weile entdeckte ich sie im Dunkeln. Hinten an der Wand führten ein paar provisorische Stufen zu einer kleinen Plattform empor, wo eine Art Fernrohr in die Wand montiert war. Elinor stand auf den Zehenspitzen und guckte hindurch.
Ich postierte mich unterhalb von ihr und versuchte ihrem Gesicht abzulesen, was sie sah. Es war jedoch zu dunkel. Ich wünschte, sie würde weitergehen, so daß ich auch schauen könnte, doch sie blieb stehen, und ich wollte sie nicht stören. Als ich nach einer Weile wiederkam, war sie fort.
Da stieg ich auf die Plattform, stellte mich an das Fernrohr und legte neugierig mein Auge daran.