Der Romancier Christoph Hein, der unbestechliche Chronist der Gegenwart, der genaue Registrator der Widersprüche innerhalb der DDR, der Aufdecker der Schwachstellen der gesamtdeutschen Entwicklungen, wendet sich in seinem neuen Erzählwerk den Mythen, den Göttern, den Erzählungen von den Taten und Untaten der alten Welt zu. Dabei entdeckt er Hochspannendes: Kleine Korrekturen an den für unveränderlich geltenden Berichten über die Taten und Niederlagen der Götter und Titanen können deren Leistungen in ihr Gegenteil verkehren; sie zeigen, dass alles auch ganz anders hätte vonstattengehen können, Sieger zu Verlierern werden können, gute Absichten sich in ihr Gegenteil verkehren, völlig neue Bedeutungen sich herauskristallisieren.

Damit ist klar, dass die neuen Erzählungen von Christoph Hein ins Herz der Gegenwart zielen: Der Gang der Ereignisse lässt sich durch kleine Modifikationen in völlig andere Richtungen lenken. Und auch die Vergangenheit, als Fixpunkt der Gegenwart, verändert durch diese Neuerzählungen ihr Gesicht.

Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, lebt in Berlin. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman Weiskerns Nachlass.

Christoph Hein

Vor der Zeit

Korrekturen

Insel Verlag

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2013

eBook Insel Verlag Berlin 2013

© Insel Verlag Berlin 2013

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Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Kriegerkopf aus dem Ostgiebel des Aphaiatempels zu Aigina, Glyptothek München, um 480 v. Chr. (Arbeit an der Farbrekonstruktion)

Foto: Ulrike Koch-Brinkmann/Stiftung Archäologie

eISBN 978-3-458-73049-1

www.insel-verlag.de

Inhalt

Das Paradies der Paradiese

Das goldene Vlies

Windsbräute und Wasserweiber

Die dreizehnte Arbeit

Echo, die Nymphe

Der dreijährige Eros

Hades klagt an

Auf dem Stuhl des Vergessens

Väter und Söhne

Die Eisernen

Prometheus

Die Schönste und der Krieg

Die Göttin des Vergessens

Niemand rettet

Der Drosselkönig

Die Heimkehr

Die schöne Helena

Das Geschenk der Phyllis

Dendritis, genannt Dionysos

Der göttliche Verführer

Die Weiber von Xanthos

Eine Verbesserung der Sitten

Die Geburt der Demokratie

Die Bibliotheke des Apollodor

Das erste Buch Homers

Das Paradies der Paradiese

Am 20. Dezember 1894 gegen neun Uhr morgens stand Frank Calvert auf dem Waffendeck einer kleinen rumänischen Militärfregatte und erblickte die ersehnte Insel. Als vor ihm der weiße Felsen von Leuke aus dem Meer stieg, er die überhängenden Klippen und die aufsteigenden Schwärme weißer Vögel sah, glaubte er den Gipfel seines Lebens und seiner Forschungen erreicht zu haben. In wenigen Minuten würde er Leuke betreten und bald darauf einer erstaunenden Welt mitteilen können, er habe jenen Ort gefunden, der schöner und glücklicher sei als das gepriesene Elysium.

Er wandte sich an die zwei Offiziere, die neben ihm standen. Er fragte sie, ob dies Serpilor sei, Insula Serpilor, die Schlangeninsel. Die beiden, die bislang kein Wort mit ihm gewechselt hatten, bestätigten es mit einem knappen Nicken des Kopfes.

Frank Calvert hatte wenige Monate zuvor seinen sechsundsechzigsten Geburtstag in Washington gefeiert, wo er als britischer Konsul residierte. Sein Leben lang waren er und seine Brüder Frederick und James neben ihren geschäftlichen Tätigkeiten im diplomatischen Dienst, doch ebenso lange hatte Frank Calvert als Archäologe gearbeitet, als Amateurarchäologe, wie seine Brüder anzumerken beliebten. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er davon überzeugt, dass die Bücher des Homer keine Dichtungen seien, sondern zwar ausgeschmückte, doch wahrheitsgemäße Berichte über die hellenische Frühzeit. Troja, so seine unumstößliche Ansicht, hat existiert und folglich müssen Reste der umkämpften, sagenhaften Stadt und ihrer Mauer aufzufinden sein.

Er war neunzehn Jahre alt, als er seinen Bruder Frederick überreden konnte, ein Gut bei Akca Köy zu erwerben, das Teile des Hügels Hisarlik einschloss, unter dem er die sagenhafte Stadt Troja vermutete. Aufmerksam verfolgte er die Bemühungen der anderen Amateurarchäologen bei ihrer Suche nach Troja und korrespondierte mit ihnen, mit Robert Wood und Jean Baptiste LeChevalier, mit Graf Choiseul-Gouffier und Charles Maclaren. Er bemühte sich vergeblich, den gesamten Hügel von der türkischen Regierung zu erwerben, und machte auf dem Besitz der Familie erste Probegrabungen. Das British Museum bat er, ihn dabei finanziell zu unterstützen, was man ihm, dem Dilettanten, jedoch abschlug.

Er war vierzig Jahre alt, als er in der Troas einen Deutschen namens Schliemann traf. Heinrich Schliemann war ein Kaufmann, der in St. Petersburg und in Sacramento im Goldhandel tätig war, mit Kolonialwaren und Munitionsrohstoffen sein Geld verdient hatte und zum vielfachen Millionär geworden war. Er interessierte sich ebenfalls für das antike Troja, war nach Ithaka und Korfu gereist und hatte auch in der Troas graben lassen. Da seine fünf Arbeiter nach einer Woche keinerlei Funde vorweisen konnten, brach er die Grabungen ab und wollte nach Europa zurückkehren. Seinem Bericht zufolge hatte er das Schiff verpasst und zufällig Frank Calvert getroffen, mit dem ihn eine gemeinsame Leidenschaft verband. Die Gespräche mit dem vom antiken Troja begeisterten Calvert erregten die Fantasie des Deutschen. Er entschloss sich, nicht abzureisen, sondern von der türkischen Regierung die Lizenz für Grabungen in jenem Teil des Hisarlikhügels zu erwerben, der nicht Calvert gehörte.

Schliemann begann umgehend mit der Arbeit. Er forderte weitere Hilfskräfte an, und das Glück begünstigte ihn. Er konnte das Skäische Stadttor von Troja ausheben lassen, den Triglyphenfries des Athenatempels und die breite Straße zum Königspalast. Er grub eine umfangreiche Sammlung von Artefakten aus und schließlich auch den Schatz des Priamos.

Schliemann galt seitdem als Wiederentdecker Trojas und wurde weltweit hoch geehrt. An Calverts Verdienste und Forschungen, ohne die seine Ausgrabungen undenkbar waren, erinnerte der Deutsche nur mit zwei schmallippigen Fußnoten.

Calvert verweifelte. Er gab seine Forschungen vorübergehend auf und wurde britischer Konsul und Botschafter in Nordamerika. Er fühlte sich von dem Deutschen um sein Lebenswerk betrogen.

Die alte Leidenschaft für die Archäologie war jedoch nicht für immer erloschen. Vier Jahre nach dem Tod von Schliemann machte sich Calvert daran, die mythische Insel Leuke zu entdecken, von der die Autoren der Antike berichten, sie sei noch schöner als die Elysischen Gefilde und die Glücklichen Inseln, sie sei voll wilder und zahmer Tiere und die Götter selbst und die Heroen wandeln des Nachts durch Leukes Wälder und erinnern sich der ruhmreichen Kämpfe, wobei sie die Gesänge des Homer zitieren.

Calvert war überzeugt, dass Leuke eine irdische Insel ist, zu genau waren die Beschreibungen der Landschaft, die Angaben zur Größe und zum Klima. Er studierte die alten Texte, entzifferte Pergamente und Buchrollen und schließlich glaubte er, die Insel entdeckt zu haben. Das kleine Eiland, 600 Meter im Durchmesser, gehörte mittlerweile zu Rumänien, lag zwölf Meilen vor der Küste und bestand nur aus einem weißen Felsen.

Er brach nach Rumänien auf, um Leuke zu sehen, die die Rumänen Insula Serpilor nennen, die Schlangeninsel. In Bukarest erfuhr er, dass kein Mensch die Insel betreten dürfe, da sie militärischer Sperrbezirk sei, und aus diesem Grund gab es auch keine Bilder und Karten von ihr. Ein ganzes Jahr hindurch bemühte er sich, eine Erlaubnis zu bekommen, die Insel zu betreten. Er reiste wiederholt nach Bukarest, nutzte die Sonderrechte, die ihm sein diplomatischer Status einräumte, um mit dem Großsekretär des rumänischen Königs zu sprechen, verhandelte mit vier Ministern und zahlte mehr als fünftausend Dollar an Bestechungsgeldern, damit man ihm Zutritt zur Schlangeninsel gewährt.

Belehrt von den bitteren Erfahrungen mit dem Deutschen Schliemann sprach er nicht über die von ihm vermutete Entdeckung und erwähnte niemals den Namen Leuke, vielmehr schützte er ein historisches Interesse vor, da diese Insel einst zur Walachei gehörte und in einer späteren Zeit zur Hohen Pforte in Istanbul.

In Bukarest lernte er einen Professor kennen, Vladimir Carol Karpati, der als Einziger in Bukarest den alten Namen Leuke in den Mund nahm, als er ihm von seinem geplanten Besuch der Schlangeninsel erzählte. Dieser alte Mann wusste, dass es das alte Paradies sein soll, dass nächtens die Götter auf Leuke weilen und Achill dort begraben liege.

Die Verständigung mit Professor Karpati, einem etwas skurrilen älteren Herrn, der in einem einzigen mit Büchern vollgestopften Zimmer hauste, war schwierig, da er zwar elf Sprachen perfekt beherrschte, von Aramäisch bis Kuschitisch, aber die geläufigen Verkehrssprachen verachtete, so dass sich die beiden in Latein oder Altgriechisch verständigen mussten.

Karpati war nie auf Leuke. Scheu habe ihn davor zurückgehalten, sagte er.

»Heilige Scheu?«, fragte Calvert. Er glaubte ihn zu verstehen und nickte. Er wusste aus den alten Manuskripten, dass die Sterblichen die Insel nicht betreten sollten und keinesfalls über Nacht auf ihr bleiben dürfen, da sie den Göttern gehört.

Der Professor verneinte heftig: »Nein, ängstliche Scheu. Wer auf Leuke lebt, wird seines Lebens nicht mehr froh, sagt man bei uns.«

»Die Sterblichen, ja«, stimmte Calvert ihm zu, »doch nicht die Götter.«

Der Professor lachte heftig, als Calvert das sagte, und nickte zustimmend. Über das moderne Leuke, die Schlangeninsel, konnte oder wollte er nichts erzählen, er sprach mit Calvert nur über das antike Leuke, das mythische Paradies.

Nach sechzehn Monaten erhielt Calvert die Genehmigung, die Schlangeninsel für acht Stunden zu betreten. Es gab Auflagen für die Reise. Er sollte mit einem Boot der Armee zur Insel gebracht werden und hatte eine ständige Begleitung zu akzeptieren. Er hatte sich an vorgegebene Routen bei dem Spaziergang über die Insel zu halten und durfte keinen der neuerdings beliebten Apparate mit sich führen, um Daguerreotypien oder Fotografien herzustellen. Die gesamten Kosten der Expedition hatte er aufzubringen. Calvert erklärte sich mit allen Bedingungen einverstanden.

Am Morgen des 20. Dezembers 1894 fand er sich an dem ihm genannten Metalltor des Marinestützpunkts ein. Zwei Offiziere begrüßten ihn schweigend und führten ihn zu der Fregatte, die ihn zur Schlangeninsel bringen sollte. Auf der ganzen Fahrt wechselten sie kein Wort mit ihm, ließen ihn nicht für einen Moment aus den Augen, und Calvert hatte den Eindruck, dass sie auch einander misstrauisch beobachteten.

Da die Schlangeninsel keine Hafenanlage besaß, musste er mit den beiden Offizieren in ein mitgeführtes kleines Boot umsteigen, das die drei Männer an Land brachte. An einem behelfsmäßigen Landeplatz wurden sie von einem weiteren Offizier erwartet, der sie in Begleitung zweier bewaffneter Soldaten mit militärischen Ehren empfing. Calvert reichte ihm die Hand, doch der Offizier übersah sie, trat mit den begleitenden Offizieren beiseite und sprach mit ihnen. Offenbar unterhielten sie sich über den Engländer, sie lachten viel und sahen sich gelegentlich höhnisch nach ihm um.

Mit den drei Offizieren und den beiden Bewaffneten umrundete Calvert zu Fuß die gesamte Insel, was weniger als eine Stunde beanspruchte, und querte sie dann auf den zwei ihm vorgegebenen Wegen.

Die Insel war ein einziger Felsen, so wie es die alten Textrollen berichteten. Auch entsprachen die Lage der Insel und ihre Ausmaße den antiken Angaben. Calvert konnte selbst die erwähnten bizarren Höhlungen über dem südlichen Strand entdecken, jedoch sah er auf der gesamten Insel keinen Baum und keinen Strauch. Die Vegetation war spärlich, der Boden hart, und nichts deutete auf dichte, lauschige Wälder und einladende, fruchtbare Auen, in denen die Götter wandeln, wie die antiken Quellen berichten. Auf den Steinen wuchs keine Frucht und keine einzige Blume, im Überfluss gab es nur Schlangen, die von den beiden Soldaten verscheucht wurden, indem sie mit Holzstöcken unentwegt auf die Felsbrocken schlugen. Nirgends erblickte Calvert eine Quelle, auch keinen Brunnen, doch konnte er im südlichen Teil ein Steinhaus und mehrere hölzerne Baracken erkennen, die mit Stacheldraht eingezäunt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Arbeiter in einem Steinbruch tätig, bewacht von Uniformierten. Auf den beiden vorgeschriebenen Routen konnte er sich weder den Unterkünften noch dem Steinbruch nähern, und die Offiziere erlaubten ihm nicht, den Weg zu verlassen, noch wollten sie ihm Auskunft über die Bewohner geben. Alte Grabanlagen entdeckte er nicht. Für die letzte Ruhestätte Achills, der auf Leuke begraben sein soll, fand er keinerlei Anzeichen.

Bereits nach zwei Stunden brach er den Besuch ab und ließ sich von der Fregatte aufs Festland bringen. Er war nach wie vor überzeugt, dass diese Insel das mythische Leuke sei, aber von dem Paradies war nichts erhalten, und er würde nichts auf ihr finden, kein Grab und keinen antiken Schatz, um die Welt von seinem Fund zu überzeugen.

Die Rückreise verlief ebenso schweigend wie die Fahrt zur Insel. Er wusste nicht, ob die beiden Offiziere kein Wort mit ihm wechselten, weil sie seiner Sprachen nicht mächtig waren oder weil ihnen verboten war, mit ihm zu sprechen.

Als er Bukarest verließ, verabschiedete er sich von Professor Karpati. Er erzählte ihm von seinem Besuch auf Leuke, dieser trostlosen, unwirtlichen, von den Göttern verlassenen Insel. Der Professor lachte und nickte.

»Du hast mich nicht verstehen wollen«, sagte er, »auf Leuke leben Banditen.«

Er benutzte das Wort nefarius, womit einst ruchlose, gotteslästerliche Verbrecher bezeichnet wurden.

»Leuke ist heute ein Gefangenenlager«, erzählte ihm der alte Professor, »eine Strafkolonie. Keiner der dort Lebenden wird diese Insel je wieder verlassen. Das vermögen allein die neuen Götter. Doch Unheil droht noch immer den Sterblichen, die Leuke aufsuchen oder von ihr sprechen. Du konntest und wolltest mich zuvor nicht verstehen. Mögen dir das Schicksal und die Götter gnädig sein.«

Er kicherte und fügte hinzu: »Vielleicht solltest du vorsorglich einen Hammel opfern, um die Götter zu besänftigen.«

»Ich habe geopfert«, erwiderte Calvert, »ich habe reichlich gegeben. Mehr als eine Hammelherde hatte ich zu bezahlen.«

Der Professor lachte vergnügt auf: »Ja, die neuen Götter sind nicht weniger gierig als die olympischen.«

Vierzehn Jahre später starb Frank Calvert. In der Welt und der Welt der Wissenschaft blieb sein Name sprachlos. Nur Anmerkungen des namhaften Feldarchäologen Schliemann erinnern noch an ihn.

Seiner testamentarischen Verfügung, wonach er auf der Schlangeninsel Leuke beigesetzt werden solle, konnte nicht nachgekommen werden.

Das goldene Vlies

Phrixos war noch ein Kind und keine vierzehn Jahre alt, doch alle, die ihn sahen, glaubten einen menschgewordenen Gott zu sehen, so vollkommen erschien er einem jeden. Er war größer als die Kinder in seinem Alter, und seine Glieder waren ebenmäßig, kräftig und gut trainiert. Der Kopf schien von einem Bildhauer der Tempelschule modelliert zu sein, derart gleichmäßig ausgebildet waren alle Züge. Die Stirn war hoch und wirkte männlich, die Nase erinnerte einen jeden an die Statue des jugendlichen Zeus in Phokis, und ebenso wohlgeformt waren die Wangenknochen, das Kinn und die Lippen. Gekräuseltes schwarzes Haar umrahmte und krönte das Haupt, und da es lang und ungeschnitten war, verlieh es dem schönen Gesicht einen Anhauch von nachlässiger, ungebändigter Eleganz. Die Brust war muskulös, die Hüfte schmal, und die Haut besaß einen so bronzenen Ton, dass man vermeinte, einen Flaum darauf wahrzunehmen. Wie bei einem kleinen Kind streckte ein jeder unwillkürlich die Hand aus, um diese Haut zu streicheln. Wenn er durch Megara lief oder mit seinen Freunden am Ufer des Korinthischen Meeres spielte, waren seine Bewegungen geschmeidig und von spielerischer Vollkommenheit, denn sein Blut kannte noch nicht den Stachel der Lust und wusste nichts von der verzehrenden Gier, die eines Tages auch seine Ruhe zerstören würde.

Die Maler und Bildhauer in Megara und ganz Megaris schienen in einem Wettstreit miteinander zu liegen, den Königssohn darzustellen, derart viele Bilder und Statuen gab es von Phrixos. Der Knabe wurde stehend abgebildet und laufend, im sportlichen Kampf und beim Baden, mit Tieren und Blumen wurde er gemalt, und auch vom Schlafenden gab es einen Marmorstein. Über Megaris hinaus wurde eine Plastik bekannt und berühmt, die Phrixos nachbildete, wie er sich einen Dorn aus dem Fuß zog.

Der Knabe bezauberte einen jeden. Die Männer, die Phrixos sahen, hielten unwillkürlich inne, schauten ihm hinterher und lächelten. Die Frauen blickten ihm lange nach, aber in ihrem Lächeln glitzerte der Schimmer eines verzehrenden Fiebers, und die Brüste und die Scham schmerzten, als habe ein heißer Hauch des erosgebärenden Westwindes diese berührt oder als seien sie von der zweiflügligen Plage der Hera gestochen worden. Selbst Nephele, seine Mutter, konnte ihn nicht ansehen, ohne dass sie ein ihr unerklärliches Zittern befiel und sie in ihrem Blut ein Rauschen verspürte, das nicht von Sohnesliebe zu ihr sprach und das im Schlaf sie mit Träumen verfolgte, die sie beim Erwachen erschreckten.

Phrixos aber nahm sämtliche Freundlichkeiten mit der Unschuld und Selbstverständlichkeit eines Kindes hin, was alle noch mehr entzückte und für ihn einnahm.

Seine Tante Biadike, die Frau des Kretheus, in deren Haus Phrixos häufig zu Gast war und mit deren Kindern er spielte, war wie jede Frau in Megaris von seinem Anblick betört und konnte die Augen nicht von dem Jüngling wenden, der noch immer ein Kind war. Als er eines Tags, da ein lang anhaltendes Gewitter ihm den Heimweg verwehrte, in ihrem Haus übernachtete, stand sie, mitten in der Nacht von einem Blitz geweckt und schlaftrunken, halb im Traum, von ihrem Bett auf und lief in das Zimmer, in dem der Jüngling schlief, zog sich ihr Nachthemd aus, legte sich neben Phrixos, entkleidete ihn und begann, das Kind gierig zu streicheln und zu küssen. Phrixos fuhr aus dem Schlaf hoch, schrie auf und schlug in der Dunkelheit um sich, da ihm die Zärtlichkeiten der Frauen noch unvertraut und lästig waren. Biadike, durch sein Geschrei erst vollständig geweckt, denn sie war schlaftrunken zu ihm gegangen, sah sich entblößt neben dem nackten Phrixos liegen. Nun schrie auch sie, rannte, mit einem Hemd notdürftig ihre Brüste und ihr Geschlecht bedeckend, durch das Haus, weckte mit wildem Wehklagen ihren Mann, die beiden Dienerinnen und ihre Kinder und beschuldigte Phrixos der versuchten Vergewaltigung. Kretheus ließ den jungen Phrixos von den Knechten fesseln und im Stall anbinden, wo er bis zum Morgen im Kot der Schafe und Ziegen lag.

Als der neue Tag angebrochen war, ging Kretheus zu König Athamas und Nephele, den Eltern von Phrixos, und berichtete ihnen, was in seinem Haus vorgefallen war, oder vielmehr das, was ihm seine Frau erzählt hatte. Noch am selben Vormittag kam das Gericht der großen Familien von Megaris zusammen, und das, was Phrixos zuvor ausgezeichnet und vor allen herausgehoben hatte, seine Schönheit und seine Unschuld, verurteilte ihn nun zum Tod, denn nicht einer zweifelte an dem Vergehen des Königssohns. Man sah die weinende und klagende Biadike, die umso überzeugender ihre Anklage vorbrachte, da sie von ihrem schlaftrunkenen Tun wenig wusste. Phrixos dagegen, der sich nicht zu verteidigen verstand, da ihm das nächtliche Geschehen so unklar war wie die ihm zur Last gelegte Tat, bejahte die entscheidende Frage, ob er seine Tante liebe, einfältig und heftig.

Die Augen aller im Ratssaal Sitzenden waren beständig auf Phrixos gerichtet, und obwohl dieser auf dem schmählichen und niedrigen Sitz des Angeklagten hocken musste, verspürte ein jeder die erotische Gewalt, die von ihm ausstrahlte, und keiner zweifelte daher an dem ihm unterstellten Vergehen. Schließlich wussten selbst König Athamas und Nephele nichts mehr zu seinen Gunsten vorzubringen und mussten schweigend und schmerzerfüllt seine Verurteilung hinnehmen.

Sein Vater ging in der folgenden Nacht mit einem Knecht in das verschlossene Gewölbe, in dem Phrixos gefangen gehalten wurde, löste ihm die Fessel, sagte sich für immer von ihm los und hieß ihn zu fliehen. Er glaubte nicht an dessen Unschuld, wollte aber seinem Haus und seiner Herrschaft die Schande einer öffentlichen Hinrichtung des Sohnes eines Königs ersparen.

Phrixos, der weder die Gerichtsverhandlung und das Urteil noch den Hass seiner Eltern, Verwandten und Freunde verstand, rannte, ohne zu fragen und innezuhalten, aus der Stadt, er rannte Tag und Nacht, denn er hatte begriffen, dass er um sein Leben lief.

Nach einer Woche kam er, erschöpft und abgezehrt, an die Quellen des Kephisos bei Phokis und traf dort auf zwei Männer, die in einer Felsenhöhle lebten. Es waren Bauern, die ihre Gehöfte durch Missernten verloren hatten und nun hofften, durch das Gold im Kephisos, von dem ihnen Reisende erzählt hatten, wieder zu Geld, Ansehen und Besitz zu gelangen. Als Phrixos plötzlich bei ihnen erschien, fürchteten sie, er hätte gesehen, wie sie nach Gold suchten, oder andere, denen er auf seiner Reise von den Männern an der Quelle