In den Aufsätzen dieses Bandes verfolgt Axel Honneth seine Überlegungen zu einer Theorie der Anerkennung weiter, vertieft klassische Fragestellungen und erschließt neue Forschungsfelder. Im Vordergrund steht dabei die Absicht, die ursprünglich von Hegel entwickelten Ideen für eine zeitgenössische Konzeption der Gerechtigkeit fruchtbar zu machen. Es soll aber auch gezeigt werden, daß von einem normativen Begriff der Anerkennung aus eine Brücke zu sozialwissenschaftlichen Themen zu schlagen ist, wie sie in der soziologischen Gegenwartsdiagnose oder der Psychoanalyse verhandelt werden.

Axel Honneth ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Sozialforschung. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie (2005), Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie (stw 1835).

Axel Honneth

Das Ich im Wir

Studien zur
Anerkennungstheorie

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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eISBN 978-3-518-73238-0

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorbemerkung

I. Hegelsche Wurzeln

Von der Begierde zur Anerkennung.

Hegels Begründung von Selbstbewußtsein

Das Reich der verwirklichten Freiheit.

Hegels Idee einer »Rechtsphilosophie«

II. Systematische Konsequenzen

Das Gewebe der Gerechtigkeit.

Über die Grenzen des zeitgenössischen Prozeduralismus

Arbeit und Anerkennung.

Versuch einer theoretischen Neubestimmung

Anerkennung als Ideologie.

Zum Zusammenhang von Moral und Macht

Verflüssigungen des Sozialen.

Zur Gesellschaftstheorie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot

Philosophie als Sozialforschung.

Zur Gerechtigkeitstheorie von David Miller

III. Sozialtheoretische Anwendungen

Anerkennung zwischen Staaten.

Zum moralischen Untergrund zwischenstaatlicher Beziehungen

6Organisierte Selbstverwirklichung.

Paradoxien der Individualisierung

Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung.

Ein Untersuchungsprogramm (gemeinsam mit Martin Hartmann)

IV. Psychoanalytische Weiterungen

Das Werk der Negativität.

Eine anerkennungstheoretische Revision der Psychoanalyse1

Das Ich im Wir.

Anerkennung als Triebkraft von Gruppen

Facetten des vorsozialen Selbst.

Eine Erwiderung auf Joel Whitebook

Entmächtigungen der Realität.

Säkulare Formen des Trostes

Textnachweise

7Vorbemerkung

Der vorliegende Band vereinigt Aufsätze und Diskussionsbeiträge, die in den letzten Jahren mit dem Ziel entstanden sind, die Grundannahmen einer an Hegel anknüpfenden Anerkennungstheorie weiter auszubuchstabieren. Nachdem ich im Kampf um Anerkennung zum ersten Mal meine eigene Deutung des Hegelschen Ansatzes umrissen hatte, war ich zwar nach meinem subjektiven Eindruck schon genügend damit beschäftigt, die dort entwickelte Position auf Einwände hin entweder zu korrigieren oder zu präzisieren; vor allem die Auseinandersetzung mit Nancy Fraser und die Tanner-Lectures an der Universität Berkeley gaben mir willkommene Gelegenheiten, meinen zunächst noch vagen Überlegungen eine genauere Fassung zu geben.[1] Aber auf dem damit beschrittenen Weg, der auch Versuche einschloß, die Anregungen alternativer Intersubjektivitätstheorien zu verarbeiten,[2] blieben noch viele Fragen ungelöst; immerhin hatte ich ja den Versuch unternehmen wollen, die Hegelsche Anerkennungslehre so zu rekonstruieren, daß daraus Einsichten nicht nur für eine Neufassung des Gerechtigkeitsbegriffs, sondern auch für eine verbesserte Bestimmung des Verhältnisses von Vergesellschaftung und Individuierung, von sozialer Reproduktion und individueller Identitätsbildung folgen sollten. Die vielfältigen Klärungsbemühungen, zu denen mich diese weitgespannten Zielsetzungen in den letzten Jahren genötigt haben, finden sich in dem vorliegenden Band versammelt; mit wenigen Ausnahmen bewegen sie sich an jenen Rändern der Sozialphilosophie, an denen sich normative Fragen nur unter Einbeziehung der empirischen Anstrengungen anderer, benachbarter Disziplinen sinnvoll beantworten lassen.

Den Auftakt macht allerdings ein Teil, in dem zwei Beiträge enthalten sind, in denen ich mich noch einmal auf wesentliche Elemente der praktischen Philosophie Hegels zurückwende. Während 8ich im Kampf um Anerkennung noch von der Prämisse ausgegangen war, daß nur die Jenaer Systementwürfe tragfähige Elemente einer Anerkennungstheorie enthalten, habe ich mich später infolge einer vertieften Beschäftigung mit den reiferen Schriften eines Besseren belehren lassen; inzwischen glaube ich nicht mehr, daß Hegel seinen anfänglichen Intersubjektivismus im Zuge seiner Entwicklung einem monologischen Konzept des Geistes geopfert hat, sondern ich gehe davon aus, daß er zeit seines Lebens den objektiven Geist, also die soziale Realität, als ein Verhältnis aus geschichteten Anerkennungsverhältnissen begreifen wollte. Von dieser Neueinschätzung aus hatte ich mich schon vor einigen Jahren an den Versuch gemacht, nun auch die Hegelsche Rechtsphilosophie für die Ausarbeitung einer Anerkennungstheorie fruchtbar zu machen; viel stärker als in den Frühschriften war hier ja bereits der bahnbrechende Gedanke anzutreffen, daß wir die soziale Gerechtigkeit mit Blick auf die Erfordernisse wechselseitiger Anerkennung bestimmen und dabei von den historisch jeweils gewachsenen, bereits institutionalisierten Anerkennungsverhältnissen ausgehen müssen.[3] In dem Aufsatz zu Hegels Begriff des Selbstbewußtseins, der sich mit einem Schlüsselkapitel der Phänomenologie des Geistes beschäftigt, versuche ich nun zu klären, was wir in diesem Kontext systematisch unter Anerkennung verstehen können; darunter läßt sich beim reifen Hegel, so will ich zeigen, die Art von moralischer Selbstbeschränkung begreifen, die wir angesichts anderer Personen vollziehen können müssen, um überhaupt zu einem Bewußtsein von uns selbst zu gelangen. Der Aufsatz zur Hegelschen Rechtsphilosophie versucht demgegenüber die schwierige Frage zu beantworten, wie wir uns den internen Zusammenhang zwischen einer solchen Form von Anerkennung und der menschlichen Freiheit vorstellen sollen; diese Verknüpfung wird nach meiner Auffassung von Hegel hergestellt, indem er gegenüber dem Liberalismus seiner Zeit vorzuführen versucht, daß wir nur durch Teilnahme an institutionalisierten Praktiken der individuellen Selbstbeschränkung unseren Willen tatsächlich als unbeschränkt frei erfahren können.

Der zweite Teil enthält Aufsätze, in denen ich die soeben skizzierten Ideen Hegels selbständig weiterzuentwickeln versuche, um mit ihrer Hilfe einige zentrale Probleme einer zeitgenössischen Gerech9tigkeitstheorie zu klären. Dabei kann als systematische Rahmung all dieser Vorstöße durchaus der erste hier abgedruckte Beitrag verstanden werden, der die uns heute geläufige Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit dadurch korrigieren soll, daß er sie von der Fixierung auf Prinzipien der Güterverteilung auf Maßnahmen der Schaffung von symmetrischen Anerkennungsverhältnissen umleitet. Eine solche theoretische Umpolung darf freilich, wie ich in den beiden nächsten Aufsätzen zeigen möchte, weder vor der Problematisierung der gegebenen Organisation von Arbeit noch vor der schwierigen Frage haltmachen, welche Formen von sozialer Anerkennung heute indirekt zur Festigung sozialer Herrschaft beitragen; weder die Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit noch die Wirkung von machtstabilisierenden Ideologien lassen sich aus dem Korpus einer Gerechtigkeitstheorie durch begriffliche Vorentscheidungen einfach herausdefinieren. In der Auseinandersetzung mit der höchst instruktiven Studie Über die Rechtfertigung von Luc Boltanski und Laurent Thévenot führe ich einige der zuvor entwickelten Überlegungen noch einmal zusammen, indem ich gegen deren Tendenz zur Entstrukturierung der gesellschaftlichen Moral das normative Gewicht von bereits institutionalisierten Sphären der Anerkennung herausarbeite. Ähnliches unternehme ich in einem Beitrag zur Gerechtigkeitstheorie von David Miller, der ursprünglich als Vorwort zu dessen inzwischen klassischer Monographie über die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit erschienen ist; auch hier versuche ich darzulegen, daß eine im Hegelschen Geist vorgenommene »Rekonstruktion« der historisch bereits etablierten Anerkennungsprinzipien unerläßlich ist, wenn sich die ins Auge gefaßte Gerechtigkeitskonzeption stärker an der sozialen Wirklichkeit orientieren soll.

Im dritten Teil, dem ich mit einem relativ vagen Begriff die Aufgabe der sozialtheoretischen Anwendung zugewiesen habe, geht es mir darum, die zuvor entwickelten Ideen für explanatorische Zwecke nutzbar zu machen; nicht mehr normative Fragen, sondern Probleme der soziologischen Erklärung stehen daher im Mittelpunkt der hier versammelten Aufsätze. Allerdings läßt sich bei derartigen »Anwendungen«, wie sich schnell zeigen wird, keine saubere Abtrennung der sozialen Fakten von normativen Geltungsansprüchen vornehmen; sobald wir mit Hegel Anerkennungsbeziehungen als konstitutiv für alle gesellschaftliche Wirklichkeit begreifen, müssen wir vielmehr feststellen, daß wir bei jeder Erklärung sozialer Prozesse 10auf geltende Normen und Prinzipien Bezug nehmen müssen – diese gehören als Ansprüche oder Forderungen, als Verbindlichkeiten oder Überzeugungsgehalte ebenso zu der zu erklärenden Wirklichkeit wie die angeblich rein »objektiven« Sachverhalte. Der erste der hier abgedruckten Beiträge stellt eine noch sehr tentative Reaktion auf neuere Versuche innerhalb der Politikwissenschaften dar, die Spannungen und Dynamiken innerhalb der internationalen Beziehungen mit Hilfe der Anerkennungsbegrifflichkeit zu erklären; mir geht es dabei um nichts anderes als um eine Klärung des Umfangs, in dem es explanatorisch sinnvoll sein kann, sich die Beziehungen zwischen Staaten als durch Erwartungen der Anerkennung reguliert zu denken. Die beiden anderen Aufsätze dieses Teils verdanken sich Prozessen der theoretischen Selbstverständigung am Institut für Sozialforschung; ich versuche hier, im zweiten Fall gemeinsam mit Martin Hartmann, die von uns dort interdisziplinär untersuchten »Paradoxien« in der Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus dadurch genauer zu erläutern, daß empirisch veranschaulicht wird, inwiefern historisch gewachsene Anerkennungserwartungen heute durch ökonomische Strukturwandlungen in disziplinierende Zumutungen an die Subjekte verkehrt werden. Im Zusammenhang des vorliegenden Buches können diese beiden, im engeren Sinn soziologischen Aufsätze freilich nur erste Hinweise darauf geben, wie eine anerkennungstheoretisch angelegte Gegenwartsdiagnose verfaßt sein müßte.

Der vierte Teil nimmt schließlich einen theoretischen Faden wieder auf, den ich seit meinem Buch über den »Kampf um Anerkennung« beinahe vollständig liegengelassen habe.[4] Von Anfang an war ich davon überzeugt, daß sich soziale Anerkennungsbeziehungen nur unter der Voraussetzung von entsprechenden Strukturbildungen innerhalb der menschlichen Psyche entfalten können, wie sie vorbildhaft von der psychoanalytischen Schule der Objektbeziehungstheorie untersucht werden. Auch wenn mir diese Rückbindung an die Psychoanalyse gelegentlich den Vorwurf eingebracht hat, die Annerkennungstheorie insgesamt zu »psycholo11gisch« anzulegen, sehe ich bis heute keinen Grund dafür, von dem Vorhaben einer Verschränkung von äußerer sozialer Anerkennung und psychischer Strukturbildung abzulassen; natürlich darf man nicht den genetischen Fehlschluß begehen, Anerkennungsforderungen mit Verweis auf die Gefahr psychischer Beeinträchtigungen zu rechtfertigen, aber ansonsten scheinen mir in einer Verzahnung von Anerkennungstheorie und Psychoanalyse nur Vorteile zu liegen. Einige dieser Erkenntnisgewinne habe ich in den beiden hier abgedruckten Aufsätzen zur Bedeutung sozialer Gruppen und zum Stellenwert psychischer Entgrenzungen herausarbeiten wollen; die beiden anderen Beiträge, vor allem die Auseinandersetzung mit meinem Freund Joel Whitebook, stellen Versuche dar, meine eigene, anerkennungstheoretische Interpretation der Psychoanalyse gegen den naheliegenden Einwand einer Vernachlässigung destruktiver, antisozialer Triebe zu verteidigen.

Für die technische Hilfestellung bei der Fertigstellung des Bandes habe ich Stephan Altemeier und Frauke Köhler zu danken, die beide mit großer Ruhe und Umsicht dafür Sorge getragen haben, daß die verstreut erschienenen Aufsätze eine einheitliche und aufeinander abgestimmte Form fanden. Auf seiten des Verlages hat Eva Gilmer mich wie immer vorzüglich beraten; ihr möchte ich für Jahre vertrauensvoller Zusammenarbeit danken.

Frankfurt am Main, im Februar 2010

Axel Honneth

13I. Hegelsche Wurzeln

15Von der Begierde zur Anerkennung

Hegels Begründung von Selbstbewußtsein

Kaum ein Text aus dem Werk Hegels hat von Beginn an größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen als das Kapitel über »Selbstbewußtsein« in der Phänomenologie des Geistes. So schwierig, so unzugänglich das Buch im ganzen auch sein mochte, hier, wo der Geist nach Hegels eigenen Worten »aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart« (145)[1] übertreten sollte, schien dem Verständnis endlich ein Anhaltspunkt gegeben: Die Darstellung der Selbsterfahrung des Geistes nahm mit einem Mal lebhaftere Farben an, dem einsamen Selbstbewußtsein wurden unvermutet Mitsubjekte zur Seite gestellt, das abstrakte, bislang bloß kognitive Geschehen verwandelte sich in das soziale Drama eines »Kampfs auf Leben und Tod« – kurz, es waren alle Elemente versammelt, die dem Wirklichkeitshunger der nachidealistischen Philosophie Stoff für Konkretion und Ausschmückung liefern konnten. Schon die unmittelbaren Schüler Hegels nutzten die Chance dieses einen Kapitels, um seine spekulative Philosophie vom ätherischen Reich der Ideen und Begriffe auf den Boden der sozialen Wirklichkeit zurückzuversetzen; und seither sind von Lukács über Brecht bis zu Kojève die Versuche nicht mehr abgerissen, in der Abfolge von Begierde, Anerkennung und Kampf die Umrisse eines historisch situierbaren, politischen Hergangs zu entdecken.

Allerdings war mit dieser Zuspitzung aufs Konkrete und Handgreifliche stets auch die Gefahr verknüpft, neben all der konflikthaften Interaktion den argumentativen Kern des Kapitels aus den Augen zu verlieren. Hegel ging es ja um anderes und weitaus mehr, als bloß den Nachweis anzutreten, daß die Subjekte untereinander in einen Kampf treten müßten, sobald sie sich die Abhängigkeit von ihrem sozialen Gegenüber klargemacht hatten; er wollte vielmehr mit Hilfe seiner phänomenologischen Methode beweisen, daß ein Subjekt zu einem »Bewußtsein« seines eigenen »Selbst« nur 16dann gelangen könnte, wenn es mit einem anderen Subjekt in ein Verhältnis der »Anerkennung« treten würde. Die Zielsetzungen von Hegel waren von viel grundsätzlicherer Art, als es die historisierende oder soziologisierende Deutung wahrhaben wollte: Nicht an einem geschichtlichen Ereignis, nicht an einem Konfliktgeschehen war ihm primär gelegen, sondern an einem geradezu transzendentalen Faktum, das sich als Voraussetzung aller menschlichen Sozialität erweisen sollte. Wenn es im »Selbstbewußtseins«-Kapitel der Phänomenologie überhaupt die Darstellung eines historisch-sozialen Geschehens gibt, dann setzt es erst ein, nachdem passiert ist, worauf es Hegel eigentlich ankommt: Das Subjekt ist aus der Selbstbezüglichkeit der bloßen Begierde so weit herausgetreten, daß es um die Abhängigkeit weiß, die es an sein menschliches Gegenüber bindet. Den Übergang vom natürlichen zum geistigen Wesen, vom menschlichen Tier zum rationalen Subjekt, nichts Geringeres ist es, was Hegel sich hier darzustellen vorgenommen hat; und alles, was an sozialem Konflikt in seinem Kapitel dann folgt, möchte er nicht anders verstehen als eine prozessuale Artikulation der Implikationen, die jene zuvor freigelegte Geistigkeit für den Menschen besitzt.

Ich will im Folgenden versuchen, den entscheidenden Beweisschritt in Hegels Argumentation, den Übergang von der »Begierde« zur »Anerkennung«, zu rekonstruieren. Daß es sich dabei um kein leichtes Unterfangen handelt, macht schon die lange Reihe von Interpretationen deutlich, die ohne wirkliche Berücksichtigung des Wortlauts zu recht eigenwilligen, ja abwegigen Deutungen des Textes gelangt sind.[2] Eine Ursache für diese Tendenz zum Schwadronieren mag in dem quantitativen Mißverhältnis liegen, das zwischen dem zentralen Beweisgang und dem Rest des Kapitels in der Phänomenologie besteht; von den rund vierzig Seiten, die das Kapitel über das »Selbstbewußtsein« insgesamt umfaßt, sind nur anderthalb Seiten tatsächlich der These gewidmet, daß das Bewußtsein des eigenen Selbst der Anerkennung durch ein anderes Selbst bedarf. Ich will diese wenigen Zeilen in den Mittelpunkt 17meiner Rekonstruktion rücken, indem ich zunächst den Einsatz bei der »Begierde« kläre (I), um dann den internen Übergang zur »Anerkennung« zu erläutern (II). Als Ergebnis dieser sich stark am Wortlaut orientierenden Interpretation wird sich zeigen, daß Hegel mehr als nur ein Argument dafür bereithält, warum die Erlangung von Selbstbewußtsein an die Voraussetzung intersubjektiver Anerkennung gebunden sein soll.

I.

In seiner Phänomenologie stellt Hegel bekanntlich den Prozeß, in dem wir zur Einsicht in die Präsuppositionen all unseres Wissens gelangen, aus den beiden Perspektiven des beobachtenden Philosophen und der involvierten Subjekte dar; jeder Schritt in der Vervollkommnung dieser Einsicht soll so wiedergegeben werden, daß er nicht nur für den überlegenen Beobachter, sondern auch für die an dem Prozeß beteiligten Akteure nachvollziehbar bleibt. Den Einsatzpunkt für das Kapitel, das uns im Folgenden beschäftigen wird, bildet nun die Feststellung, daß die beiden Parteien im Zusammenhang der zuvor geschilderten Schritte bereits gelernt haben, die Abhängigkeit des Erkenntnisgegenstandes von ihrem eigenen Zutun, ihren eigenen Leistungen zu durchschauen; die Welt der Objekte steht ihnen nicht mehr als ein bloß »Gegebenes« gegenüber, dessen sie sich von außen versichern müssen, sondern hat sich als eine »Weise« ihrer eigenen Bezugnahme auf sie erwiesen: »Nunmehr aber ist dies entstanden, was in diesen früheren Verhältnissen (der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung und des Verstandes, A. H.) nicht zustande kam, nämlich eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist: Denn die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtsein ist sich selbst das Wahre« (137). Für Hegel heißt dies zunächst, daß das Subjekt jetzt um sich selbst als autoritative Quelle seines Wissens von der Welt wissen kann: was immer es an »Wahrheit« über die Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen vermag, verdankt sich nicht einer passiven Registrierung, sondern einer aktiven Bewußtseinsleistung, die den vermeintlichen »Gegenstand« vorgängig konstituiert hat. In gewisser Weise sind damit der Beobachter und das von ihm beobachtete Subjekt bereits zu dem erkenntnistheoretischen Standpunkt vorgedrungen, den 18Kant in seiner Transzendentalphilosophie ausgezeichnet hatte; und dementsprechend stellt sich nun für beide Parteien die Frage, von welcher Art wiederum das Wissen ist, das Subjekte von sich selber als solche Urheber wahrer Aussagen besitzen können. Das »Selbst«, um dessen Bewußtsein von sich selbst es Hegel nachfolgend gehen wird, ist mithin das rationale Individuum, das um seine konstitutiven, welterzeugenden Erkenntnisleistungen bereits abstrakt weiß.

Hegel versucht das damit umrissene Problem zu lösen, indem er nach dem bewährten Muster zunächst den phänomenologischen Beobachter die Erfahrungsschritte antizipieren läßt, die das involvierte Subjekt dann erst tatsächlich durchlaufen muß. Aus der Perspektive des Betrachters ist leicht zu sehen, durch welche Mißlichkeit oder Insuffizienz die neue Stufe gleich zu Beginn gekennzeichnet ist, so daß das beobachtete Subjekt sich zum Eintritt in den dann anschließenden Erfahrungsprozeß genötigt sehen muß: das, als was dieses Subjekt sich selbst wissen müßte, um tatsächlich Selbstbewußtsein zu besitzen, wäre es selbst in seiner wirklichkeitserzeugenden, also aktiven Rolle; solange es sich aber nur als das »Bewußtsein« kennt, das nach Kant alle »Vorstellungen« begleiten können muß, erfährt es sich nicht in seiner eigenen, gegenstandskonstitutiven Tätigkeit. Mein Bewußtsein davon, daß alle Wirklichkeit letztlich Gehalt meines mentalen Zustands ist, reicht nicht aus, um mich wirklich meiner synthetisierenden und bestimmenden Aktivität zu versichern; vielmehr stelle ich mir in dieser Position mein Bewußtsein genauso punktuell und passiv vor wie die mentale Aufmerksamkeit, die ich ihm im Augenblick zuwende.[3] Hegel spricht daher hier mit deutlicher Kritik an Kant und Fichte von einer bloßen Doppelung des Bewußtseins: »[A]ber indem es (das Selbstbewußtsein, A.H.) nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied als ein Anderssein aufgehoben; der Unterschied ist nicht, und es nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich; indem ihm der Unterschied nicht auch die Gestalt des Seins hat, ist es nicht Selbstbewußtsein« (138).

Zwischen der Art von Bewußtsein, die ich von meinen mentalen Aktivitäten besitze, und diesen mentalen Aktivitäten selbst muß ein Unterschied bestehen, der auf der Eingangsstufe des Selbst19bewußtseins noch gar nicht präsent sein kann; dazu fehlt es mir an einer Erfahrung, die mir deutlich machen könnte, daß meine Bewußtseinsleistungen im Unterschied zu meiner begleitenden, schwebenden Aufmerksamkeit einen wirklichkeitsverändernden, tätigen Charakter besitzen. Der philosophische Beobachter, der um das damit umrissene Ungenügen der ersten Stufe weiß, skizziert daher im voraus schon einmal die Sorte von Erfahrung, die nötig wäre, um sich jenen Unterschied bewußtzumachen; als Titel für diese zweite Stufe wählt er hier, so früh, noch sehr überraschend klingend, den Begriff der Begierde, also einen Ausdruck, der nicht auf eine mentale, sondern eine leibliche Aktivität verweist. Bevor das involvierte Subjekt allerdings zu einer solchen von Brandom »erotisch«[4] genannten Einstellung gelangen kann, muß es erst von sich aus lernen, die Wirklichkeit als etwas zu begreifen, auf das es sich mit dem Ziel der Befriedigung elementarer Bedürfnisse richten muß. Diesen Zwischenschritt, der erklären soll, warum die beobachteten Subjekte zur Haltung der »Begierde« motiviert werden, erläutert Hegel mit Hilfe des Begriffs des Lebens; ihm kommt insofern eine Schlüsselstellung zu, als wir ohne ihn nicht den Übergang verstehen würden, der die Individuen zur Fortsetzung des Prozesses der Erkundung ihres Selbstbewußtseins nötigt.

Vom »Leben« hatte Hegel schon im vorhergehenden Kapitel gesprochen, in dem der »Verstand« als eine der »Wahrnehmung« überlegene Form des Wissens vom Gegenstand eingeführt wurde (A. III). Die Wirklichkeit im ganzen mit Hilfe des Verstandes als »Leben« zu verstehen heißt nicht nur, den zusammenhangslosen Elementen der Wahrnehmung mit der »Kraft« ein einheitliches Prinzip zu unterstellen, sondern vor allem auch, die synthetisierende Fähigkeit des eigenen Bewußtseins bei dieser neuen Sorte von Wissen begreifen zu lernen. Insofern stellt die Erzeugung der Lebenskategorie den Wendepunkt dar, der die Voraussetzungen für unser Kapitel schafft, denn das Subjekt beginnt nunmehr, die Welt als abhängig von der eigenen Erkenntnis zu deuten und damit »Selbstbewußtsein« zu entwickeln. Überraschenderweise aber taucht nun ebendiese Kategorie des Lebens in diesem neuen Kontext noch einmal auf, und zwar genau an der Stelle, an der der Übergang von der 20ersten, leeren oder bloß gedoppelten Form des Selbstbewußtseins zu einer zweiten, überlegenen Form gebahnt werden soll: Nachdem der Betrachter seine Vorausschau abgeschlossen hat, die besagt, daß das Subjekt nur in der Einstellung der »Begierde« zu einem besseren Bewußtsein seines »Selbst« gelangen kann, wird mit einer Darstellung aller Implikationen des Lebensbegriffs begonnen, die deutlich als ein Akt der Besinnung des involvierten Subjekts markiert ist: »Was das Selbstbewußtsein als seiend von sich unterscheidet, hat auch insofern, als es seiend gesetzt ist, nicht bloß die Weise der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung an ihm, sondern es ist in sich reflektiertes Sein, und der Gegenstand der unmittelbaren Begierde ist ein Lebendiges« (139). Aus diesem Satz ist zu schließen, daß Hegel hier dazu übergeht, uns das beobachtete Subjekt dabei vorzuführen, wie es aus dem zuvor entwickelten Begriff »Leben« die Konsequenzen für sein eigenes Selbstverständnis zu ziehen beginnt: Während es sich bislang dieses »Selbst« nur nach dem Muster vorstellen konnte, das ihm die bloß passive Beobachtung seiner mentalen Aktivitäten, seiner »Vorstellungen«, lieferte, also als ein welt- und körperloses, unsituiertes Ich, hebt es jetzt damit an, sich selbst aus dem Gegensatz zu dem ihm kognitiv bereits verfügbaren Konzept des »Lebendigen« heraus zu verstehen. Was der Beobachter schon weiß, nämlich daß das Subjekt, um zu einem besseren, vollständigeren Selbstbewußtsein zu gelangen, zu einer Haltung der Begierde übergehen muß, bringt dieses Subjekt selbst erst allmählich dadurch in Erfahrung, daß es den Lebensbegriff reflexiv auf seine eigene Stellung zur Welt anwendet: Es lernt kennen, daß sein Selbst nicht ortloses, punktuelles Bewußtsein ist, sondern sich praktisch handelnd auf die organische Wirklichkeit bezieht; denn einer Welt gegenüber, die voller Lebendigkeit ist, kann es sich nicht mehr rein epistemisch, sondern nur aktivisch verhalten, nämlich als sich naturhaft reproduzierendes Lebewesen. Insofern macht das Subjekt hier, so können wir methodologisch mit Fred Neuhouser sagen,[5] eine transzendentale Erfahrung: Es bringt retrospektiv in Erfahrung, daß es zur Konzipierung des Begriffs des »Lebens« nur in der Lage war, weil es dem Gegenstand in der praktischen Einstellung des aktiven Zugriffs begegnet ist.

Bevor Hegel freilich eine solche Erfahrung seinem Subjekt un21terstellen darf, muß er erst den Begriff »Leben« bis zu dem Punkt kategorial entfaltet haben, an dem sich die entsprechenden Konsequenzen für das individuelle Weltverhältnis wie von selbst auftun; denn das, was sich bei der Reflexion auf den Lebensbegriff an Wandel vollzieht, soll ja nicht einfach äußere Bestimmung des Beobachters, sondern interne Schlußfolgerung des beobachteten Subjekts selbst sein. In der Besinnung darauf, was es da in der mit Hilfe der Kategorie des Lebens erzeugten Einheit der Wirklichkeit vor sich hat, kommt das Individuum nicht umhin, zwei Einsichten zugleich zu vollziehen: Es stellt fest, daß die von ihm selbst konstruierte Welt ein sich durch permanenten Wandel erhaltendes Ganzes ist, nämlich eine Totalität von Gattungen, bei denen sich die generischen Eigenschaften durch den Lebenszyklus der Einzelglieder hindurch stets reproduzieren: »Dieser ganze Kreislauf macht das Leben aus, […] das sich entwickelnde und seine Entwicklung auslösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze« (142). Weil von dieser besonderen Eigenart des Lebendigen, seinem Gattungscharakter, aber wiederum nur das individuelle Bewußtsein wissen kann, muß das Subjekt zugleich konstatieren, daß es von jenem Lebensprozeß partiell ausgenommen ist. Als Träger von Bewußtsein scheint es von kategorial anderer Art zu sein als dasjenige, um dessen Eigenschaft als lebendige Gattung es nunmehr weiß: »… in diesem Resultate verweist das Leben auf ein Anderes, als es ist, nämlich auf das Bewußtsein, für welches es als diese Einheit oder als Gattung ist« (143). An der damit erreichten Stelle, dem vorläufigen Resultat der Selbstapplikation des Lebensbegriffs durch das involvierte Subjekt, ist Hegels Text besonders schwer zu verstehen; die bekannte Schwierigkeit, nicht genau unterscheiden zu können, ob die von ihm gewählten Bestimmungen nur erst Charakterisierungen des Beobachters oder schon Erfahrungsresultate des beobachteten Subjekts sein sollen, spitzt sich hier noch einmal zu. Hegels Formulierung lautet: »Das andere Leben aber, für welches die Gattung als solche und welches für sich selbst Gattung ist, das Selbstbewußtsein, ist sich zunächst nur als dieses einfache Wesen und hat sich als reines Ich zum Gegenstand; in seiner Erfahrung, die nun zu betrachten ist, wird sich ihm dieser abstrakte Gegenstand bereichern und die Entfaltung erhalten, welche wir an dem Leben gesehen haben« (143). Ich verstehe den ersten Teil des ersten Satzes dieser kompakten Äußerung so, daß er das gewünschte Erfahrungs22resultat des beobachteten Subjekts vorwegnimmt, während der zweite Satzteil, der mit einem »zunächst« eingeleitet wird, den momentanen Zustand seines Selbstbewußtseins festhält: Noch begreift das involvierte Individuum sein eigenes »Selbst« nach dem Muster eines puren, unsituierten Bewußtseins, aber es muß aus der Sicht des Beobachters dahin gelangen, sich ebenfalls als Einzelglied einer lebendigen Gattung zu verstehen. Hegel will nun sagen, daß das Subjekt zu einem derartigen Übergang vom reinen zum »lebendigen« Selbstbewußtsein insofern genötigt wird, als es an der von ihm konstituieren Lebendigkeit des Wirklichen die eigene Lebendigkeit erkennen muß; es kann gewissermaßen nicht umhin, im Spiegel seines eigenen Begriffs des organischen Lebensprozesses am eigenen Selbst retrospektiv die natürlichen Züge zu entdecken, die es mit der von ihm abhängigen Wirklichkeit teilt. Aber Hegel überspringt diese Zwischenstufe – die, auf der an der Lebendigkeit des selbst erzeugten Gegenstandes die eigene Naturhaftigkeit entdeckt wird – und geht sofort zu der Einstellung über, in der das beobachtete Subjekt seine neugewonnene Einsicht bekräftigt: In der Haltung der »Begierde« vergewissert sich das Individuum seiner selbst als eines lebendigen Bewußtseins, welches zwar mit aller Wirklichkeit die Eigenschaften des Lebens teilt, ihr aber doch darin überlegen ist, daß jene von ihm als Bewußtsein abhängig bleibt. Die Begierde ist, so gesehen, diejenige körperliche Äußerungsform, in der das Subjekt sich versichert, daß es als Bewußtsein lebendige, naturhafte Züge besitzt: »Und das Selbstbewußtsein [ist] hiermit seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben dieses Anderen, das sich ihm als selbständiges Leben darstellt; es ist Begierde« (143).

Mit dem Begriff der »Begierde«, der die zweite Stufe des Selbstbewußtseins umreißt, verknüpft Hegel offenbar eine weitreichende Kritik an der Bewußtseinsphilosophie seiner Zeit. Wenn in der Kantischen Transzendentalphilosophie oder bei Fichte das Selbstbewußtsein in der Weise vorgestellt wird, daß ein Bewußtsein sich einfach nur selbst beobachtet, so gerät dabei nicht allein dessen aktive, synthetisierende Seite aus dem Blick; dem Subjekt wird nicht nur, um es anders zu sagen, die Chance genommen, das eigene Selbst in seiner wahrheitsverbürgenden Aktivität in Erfahrung zu bringen. Vielmehr wird durch eine solche Vorstellung auch die Suggestion erzeugt, als sei jenes rationale Selbst, von dem das Subjekt Kenntnis besitzen soll, frei von allen natürlichen Be23stimmungen und somit ohne jede organische Lebendigkeit; in der Bewußtseinsphilosophie, so scheint Hegel sagen zu wollen, wird dem Subjekt jede direkte, unmittelbare Erfahrung seiner eigenen Leiblichkeit bestritten. Nicht zuletzt, um diesem Antinaturalismus seiner idealistischen Zeitgenossen entgegenzuwirken, sieht Hegel für den Prozeß des Erwerbs von Selbstbewußtsein eine zweite Stufe der »Begierde« vor: In der damit bezeichneten Einstellung versichert sich das Subjekt seiner biologischen Natur in einer Weise, die zugleich seine Überlegenheit gegenüber dem Rest des Lebendigen zum Ausdruck bringt; denn dadurch, daß es an dieser organischen Umwelt zwischen ihm Zu- und ihm Abträglichen zu unterscheiden vermag, bleibt ihm stets auch die ihn auszeichnende Tatsache seines Bewußtseins gewiß. Die Betätigung der Begierde, also die Befriedigung elementarer, organischer Bedürfnisse, leistet für Hegel mithin etwas Doppeltes in bezug auf das Selbstbewußtsein: Das Subjekt erfährt sich sowohl als Teil der Natur, weil es in die bestimmende, heteronome »Bewegung des Lebens« einbezogen ist, wie auch als ihr aktiv-organisierendes Zentrum, weil es an ihr kraft seines Bewußtseins wesentliche Diskriminierungen vornehmen kann. Vielleicht ließe sich sogar sagen, daß Hegel mit seiner Konzeption der Begierde zeigen möchte, inwiefern der Mensch sich vorgängig zunächst stets seiner »exzentrischen Position« (Helmuth Plessner) bewußt ist: Solange er sich als bedürfnisbefriedigendes Wesen versteht, das im Rahmen seiner Begierde tätig ist, besitzt er ein unmittelbares Wissen von seiner Doppelnatur, die ihn zugleich innerhalb wie außerhalb der Natur stehen läßt.

Es ist nicht unwichtig, sich über diese Leistungen der »Begierde« klarzuwerden, weil in der Sekundärliteratur nicht selten die Tendenz besteht, die damit bezeichnete Stufe als etwas bloß Negatives und zu Überwindendes abzutun. Demgegenüber scheint mir Hegel darauf zu bestehen, daß die mit der Triebbefriedigung verknüpfte Erfahrung ein Selbstbewußtsein erzeugt, welches der vorausgegangenen, ersten Form an Gehalt und Komplexität weit voraus ist: Anstatt das Subjekt sich selbst bloß als punktuelles Bewußtsein erfahren zu lassen, das in all seinen mentalen Aktivitäten stets präsent bleibt, liefert ihm die Befriedigung seiner Begierde die unmittelbare Gewißheit eines Selbst, das mit seiner mentalen Aktivität exzentrisch in die Natur versetzt ist. Weil dieses Selbstbewußtsein der Tatsache der biologischen Natur des Menschen gerecht wird, ist 24Hegel auch davon überzeugt, daß dessen grundsätzliche Leistung nicht mehr preisgegeben werden darf: Was immer an weiteren Voraussetzungen nötig ist, um ein Subjekt tatsächlich angemessen sich seiner selbst bewußt sein zu lassen, muß ein Bewußtsein davon umfassen, als »lebendiges Glied« in die Natur einbezogen zu sein. Je stärker allerdings die Leistungen der »Begierde« hervorgekehrt werden, desto dringlicher wird es nun, die Frage zu beantworten, woran Hegel die mit ihr bezeichnete Stufe des »Selbstbewußtseins« eigentlich scheitern läßt. Ein einziger, kurzer Abschnitt genügt ihm an dieser Stelle, um die Notwendigkeit eines solchen weiteren Übergangs zu motivieren (143/144); ihm müssen wir uns jetzt im nächsten Schritt unserer Rekonstruktion zuwenden.

II.

Kaum hat Hegel dargestellt, worin die wesentliche Bedeutung der Begierde für das Selbstbewußtsein besteht, so geht er schon dazu über, die Gründe für das Scheitern der damit verknüpften Erfahrung zu umreißen. Im Unterschied zur Erläuterung des Übergangs zur Begierde, also von der ersten zur zweiten Stufe des Selbstbewußtseins, fehlt an dieser Stelle allerdings eine klare Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive; hier wird nicht, wie zuvor, vom philosophischen Standpunkt aus schon einmal im voraus das Ziel des nächsten Erfahrungsschrittes skizziert, um dann danach das Subjekt selbst jenen Lernprozeß durchlaufen zu lassen, sondern beide Vorgänge scheinen irgendwie beinahe zusammenzufallen. Den Ausgangspunkt der sehr gerafften, geradezu überstürzten Schilderung bildet die Zusammenfassung des Ertrags der Begierde: In dieser Einstellung ist sich das Subjekt der »Nichtigkeit« seines Gegenübers, der lebendigen Wirklichkeit, gewiß, es weiß sich in seiner exzentrischen Position dem Rest der Natur überlegen; die angemessene Weise, dieser Überlegenheit Ausdruck zu verleihen, besteht für es als menschliches Tier darin, den natürlichen Gegenstand in der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu verzehren. In der Begierde, so lautet der Gedanke bei Hegel, gibt sich das Selbst »die Gewißheit seiner selbst als wahre Gewißheit, als solche, welche ihm selbst auf gegenständliche Weise geworden ist« (143). Der Umschlag erfolgt nun aber schon im gleich anschließenden Satz, 25in dem es lakonisch heißt: »In dieser Befriedigung aber macht es die Erfahrung von der Selbständigkeit seines Gegenstandes« (143). Noch deutlicher spricht Hegel vier Zeilen später davon, daß das Selbstbewußtsein »durch seine negative Beziehung« auf den Gegenstand diesen »nicht aufzuheben« vermag: »es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde« (143). Es ist klar, daß Hegel damit an der Einstellung der Begierde ein Element der Selbsttäuschung ausmachen will: Das Subjekt täuscht sich über sich selbst, es operiert, so ließe sich auch sagen, mit falschen Vorstellungen über seine Beziehung zur Welt, wenn es glaubt, in der Bedürfnisbefriedigung, der Sättigung seiner Begierde, den Gegenstand vernichten zu können. Aber warum diese Art von Selbsttäuschung zum Übergang zu einer neuen Stufe motivieren soll, ja, warum die Enttäuschung über die Selbständigkeit des Gegenstandes gar zur Begegnung mit dem Anderen, zur Anerkennung führen soll, das ist eine ungleich schwerer zu beantwortende Frage; fast alle Interpretationen dieser Stelle, die mir bekannt sind, flüchten sich hier zu metaphorischen Überbrückungen oder textfernen Hilfskonstruktionen.[6]

Zunächst bedarf es wohl einer genaueren Klärung, worin nach Hegel das Defizit der Begierde in bezug auf das Selbstbewußtsein bestehen soll; der Hinweis auf die Selbsttäuschung kann hier nur als ein erster Fingerzeig gelten, der zwar die Richtung angibt, in der zu suchen ist, aber noch nicht die Lösung selbst enthält. Als Leser, die wir den Regieanweisungen des philosophischen Beobachters folgen, wissen wir bereits, von welcher Art das Selbst ist, zu dessen Bewußtsein das beobachtete Subjekt über die bislang analysierten Stufen gelangen soll: Dieses Subjekt muß sich tatsächlich selbst zu eigen machen, es muß aus eigener Kraft in Erfahrung bringen, daß es jener rationale, wirklichkeitskonstitutive Aktor ist, um den es ganz zu Beginn unseres Kapitels nur allgemein und abstrakt weiß; wir können auch sagen, das Ich muß dahin gelangen, sich in der konstruktiven Aktivität zu verstehen, in der es eine objektive Welt erzeugt. Gleichzeitig aber ist im Zuge des dargestellten Erfahrungsprozesses auch ein neuer Anspruch an das Selbstbewußtsein herangetreten, von dem das Subjekt zu Beginn noch gar nicht wissen konnte: Dadurch, daß dieses Subjekt sich in »transzendentaler« 26Konsequenz seines eigenen Begriffs der lebendigen Wirklichkeit als konsumierendes Wesen in die Natur hineinversetzt hat, muß es nun seine wirklichkeitserzeugende Tätigkeit nicht mehr nur als Besonderheit seines Selbst, sondern als Grundzug der menschlichen Gattung im ganzen in Erfahrung bringen können; denn mit der Erkenntnis des Gattungscharakters des Lebens, der Tatsache also, daß die natürliche Wirklichkeit unabhängig vom Fortbestand ihrer einzelnen Exemplare existiert, geht der Zwang einher, auch das eigene Selbst als Instantiierung einer ganzen, nämlich der menschlichen Gattung zu begreifen. Auf der ersten Stufe, der des sich begleitend beobachtenden Bewußtseins, war das Subjekt von einer solchen Form des Selbstbewußtseins noch denkbar weit entfernt; dagegen konnte es auf der zweiten Stufe, rational genötigt durch die Implikationen seines eigenen Lebensbegriffs, immerhin bis zu der Schwelle vordringen, auf die es sich mit seinem Bewußtsein als ein überlegenes Wesen in die Natur versetzt sieht: Es begreift sich als ein naturhaftes, organisches Selbst, das sich auf dem Weg der Befriedigung seiner Bedürfnisse die Gewißheit verschafft, den Rest der Natur als sein eigenes Produkt vernichten zu können. Von dieser ontologischen Unterstellung nun behauptet Hegel schroff, daß sie zwangsläufig scheitern muß, weil die natürliche Wirklichkeit trotz all der konsumtiven Akte erhalten bleibt: So rastlos das Subjekt seine Begierde auch befriedigen mag, stets bewahrt sich in der Vernichtung des Einzelglieds doch der »Prozeß des Lebens« im ganzen, so daß der Gegenstand seine »Selbständigkeit« beibehält. Die Insuffizienz der Erfahrung der »Begierde« besteht also, genaugenommen, in etwas Doppeltem, nämlich, daß sie das Subjekt erstens mit der Allmachtsphantasie ausstattet, alle Wirklichkeit sei ein Produkt seiner eigenen, individuellen Bewußtseinsaktivität, und diesem zweitens dadurch verwehrt, sich als Glied einer Gattung begreifen zu können. Trotz all der bewahrenswerten Vorzüge, die diese Stufe für das Selbstbewußtsein mit sich bringt, muß sie doch daran scheitern, daß sie die falsche Vorstellung eines omnipotenten Selbst erzeugt. Das Subjekt kann sich im Rahmen der Begierde weder in seiner wirklichkeitserzeugenden Aktivität noch in seinem Gattungscharakter begreifen, weil die Wirklichkeit in ihrer lebendigen Totalität von jener Aktivität unberührt bleibt, in der es bloß individuell seine Bedürfnisse befriedigt.

Die soeben verwendeten Ausdrücke »Allmachtsphantasie« und 27»Omnipotenz« sind hier mit Bedacht gewählt, um einen Vergleich mit der Ontogenese zu ermöglichen, der an dieser Stelle hilfreich sein mag. Der ingeniöse Psychoanalytiker Donald Winnicott hat die frühkindliche Erlebniswelt als einen Zustand beschrieben, in dem das Kleinkind dem nahezu ontologischen Bedürfnis folgt, sich selbst die Abhängigkeit seiner Umwelt von den eigenen Intentionen zu beweisen; alle Zerstörungsakte, mit denen es die ihm verfügbaren Gegenstände traktiert, sollen dem Beweis dienen, daß die Wirklichkeit seiner allumfassenden Macht gehorcht.[7] Mich interessiert an diesen Beobachtungen nicht die Frage ihrer empirischen Angemessenheit, sondern nur, ob sie in irgendeiner Weise zur Aufklärung des von Hegel Gemeinten beitragen können. Hegel scheint, zwar nicht mit Bezug auf die Ontogenese, aber doch mit Blick auf die Erfahrungsgeschichte des von ihm beobachteten Subjekts, dasselbe sagen zu wollen wie Winnicott: Dieses Subjekt versucht sich durch den triebgesteuerten Verzehr seiner Umwelt die individuelle Gewißheit zu geben, daß die entgegenstehende Wirklichkeit insgesamt ein Produkt seiner eigenen Gedankentätigkeit ist, dabei muß es aber die Erfahrung machen, um mit Hegel zu sprechen, daß die Welt ihre »Selbständigkeit« beibehält, weil sie vom Überleben ihrer einzelnen Elemente unabhängig ist. Bei Winnicott nun findet der Säugling einen Ausweg aus seiner omnipotenten Phase, indem er lernt, in seiner Mutter oder Bezugsperson ein Wesen zu entdecken, das auf seine zerstörerischen Akte mit intentionaler Differenziertheit reagiert; je nach Umstand und Befindlichkeit wird die Mutter oder Bezugsperson auf die Attacken des Kindes einmal mit Verständnis, das andere Mal mit Abwehr antworten, so daß dieses mit der Zeit eine andere Quelle von Intentionalität neben sich zu akzeptieren lernt, von der es seinen Zugriff auf die Welt abhängig machen muß. Dieser Gedankengang Winnicotts kann uns als ein Schlüssel dienen, um die Überlegung zu verstehen, mit der Hegel den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe des Selbstbewußtseins zu motivieren versucht.

Der Satz, den Hegel unmittelbar auf seine Feststellung des Scheiterns der »Begierde« folgen läßt, ist wohl der schwierigste, mit dem das Kapitel über das »Selbstbewußtsein« aufzuwarten hat; ohne Vor28ankündigung durch den wissenden Beobachter wird hier behauptet, daß das Subjekt zur Vervollständigung seines Selbstbewußtseins eines Gegenübers bedarf, das »an ihm« nun jene Negation vollzieht, welche es selbst zuvor an der natürlichen Wirklichkeit ausgeübt hat: »Um der Selbständigkeit des Gegenstandes willen kann es daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser selbst die Negation an ihm vollzieht; und er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist an sich das Negative, und muß für das Andere sein, was er ist« (144). Vielleicht ist es sinnvoll, sich zunächst zu fragen, welches Bedürfnis hier gemeint sein kann, von dem Hegel behauptet, daß es nur unter den dann genannten Bedingungen einer wechselseitigen Negation befriedigt zu werden vermag. Von jenem organischen Trieb, der in der zuvor behandelten »Begierde« zum Ausdruck kam, kann dabei nicht mehr die Rede sein, weil dieser ja in der Konsumtion der natürlichen Welt bereits zur Sättigung gelangte; bei aller selbstverschuldeten Enttäuschung war das Subjekt doch immerhin darin erfolgreich, sich von der Wirklichkeit gemäß der eigenen Diskriminierungen die Stoffe anzueignen, die seine animalischen oder »erotischen« Bedürfnisse erfüllen konnten. Insofern muß Hegel hier ein tieferliegendes, in der »Begierde« ebenfalls enthaltenes Bedürfnis vor Augen haben, das wir »ontologisch« nennen können, weil es auf die Bestätigung einer bestimmten Vorstellung vom Seinscharakter der Wirklichkeit gerichtet ist: In der zerstörerischen Aktivität, die seine Begierde befriedigen sollte, war das Subjekt darauf aus, sich in seiner Gewißheit über die »Nichtigkeit« der Welt, ihrer bloßen Produktartigkeit, zu bestätigen. Von diesem ontologischen Bedürfnis also, welches zuvor enttäuscht worden ist, behauptet Hegel nun, daß es nur unter den folgenden zwei Bedingungen zur Erfüllung gelangen kann: Das von ihm erfüllte Subjekt muß einerseits auf ein Element der Wirklichkeit stoßen, welches von sich aus die zuvor geleistete Negation an ihm selbst ausübt, und umgekehrt muß jenes Subjekt andererseits eine derartige Negation an oder gegenüber sich selbst vollziehen.[8]

29Es ist nicht schwer, in diesem komplizierten Gedanken einen Hinweis auf die Notwendigkeit zu sehen, daß das beobachtete Subjekt nun auf ein anderes Subjekt, ein zweites Bewußtsein, treffen muß; denn der einzige »Gegenstand«, der dazu in der Lage ist, von sich aus eine Negation zu leisten, kann nur ein ebenfalls mit Bewußtsein ausgestattetes Wesen sein. Insofern eröffnet der Satz, mit dem Hegel seine Charakterisierung der dritten Stufe des Selbstbewußtseins beginnt, unzweideutig einen neuen Rahmen im Erfahrungsprozeß des Subjekts: Dieses sieht sich jetzt nicht nur der lebendigen Wirklichkeit gegenübergestellt, sondern begegnet in ihr einem Aktor, der ebenfalls zur bewußten Negierung seiner Welt befähigt ist. Schwieriger zu verstehen als eine solche Wendung zur Intersubjektivität ist allerdings die Bemerkung Hegels, nach der jenes zweite Subjekt offenbar eine Negation an ihm, dem ersten beobachteten Subjekt vollziehen können muß, damit die erwünschte Befriedigung des ontologischen Bedürfnisses zustande kommen kann – so jedenfalls lautet die herkömmliche Deutung der Formulierung, nach der der neue »Gegenstand« eine »Negation an ihm« vollzieht. Wir tun aber wohl besser daran, diesen Gedanken hier nicht in dem Sinn wörtlich zu verstehen, daß damit ein Akt der Zerstörung oder der triebgesteuerten Konsumtion gemeint ist; vielmehr sollte das »an ihm« als ein »an sich selbst« verstanden werden, so daß Hegels Formulierung dahin gehend zu deuten ist, dem zweiten Subjekt eine auf sich selbst gerichtete, eine Art von Selbstnegation zuzuschreiben: Das erste Subjekt begegnet im zweiten einem Wesen, welches aufgrund oder angesichts seiner eine Negation an sich selbst vollzieht. Auf jeden Fall sichert eine derartige Interpretation, daß zu verstehen ist, warum das ontologische Bedürfnis des beobachteten Subjekts nur in der Begegnung mit dem anderen zur Befriedigung gelangen soll: Wenn nämlich jenes zweite Subjekt eine Selbstnegation, eine Dezentrierung nur deswegen vollzieht, weil es des ersten Subjekts gewahr wird, dann tut sich diesem darin ein Element der Wirklichkeit auf, welches nur aufgrund seiner Präsenz den eigenen Zustand verändert. Zurückbe30zogen auf den Vergleich mit Winnicotts These können wir sagen, daß dem Subjekt im Anderen ein Wesen begegnet, das ihm durch den Akt der Selbstbeschränkung seine »ontologische« Abhängigkeit zu erkennen gibt.