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Sind Proteste wie die der sogenannten »Wutbürger« oder internationale Bewegungen wie Occupy Wall Street ein weiterer Beleg für die Krise der Demokratie? Oder doch eher für ihre Lebendigkeit? Ist »Krise« überhaupt das richtige Wort? Immerhin bezeichnet der Begriff einen vorübergehenden Zustand, aber über Politikverdrossenheit oder gar »Postdemokratie« wird nun schon seit Jahren diskutiert. Ingolfur Blühdorn schlägt eine andere Lesart vor: Wir erleben, so seine These, einen schleichenden Formwandel des Politischen, den Übergang zur »simulativen Demokratie«, in der demokratische Werte, demokratische Verfahren, ja sogar die Idee des demokratischen Souveräns selbst sich gewissermaßen überlebt haben, gleichzeitig aber mehr öffentliche Zustimmung finden denn je – und deshalb als »Simulationen« sorgfältig kultiviert werden.

 

Ingolfur Blühdorn, geboren 1964, lehrt politische Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Bath (GB). Er befasst sich seit Jahren mit dem politischen Erbe der sozialen Bewegungen der Siebziger und Achtziger.

Ingolfur Blühdorn
Simulative Demokratie

Neue Politik nach derI
postdemokratischen Wende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

edition suhrkamp 2634

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73308-0

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

1.

Demokratie in der (Dauer-)Krise

1.1

Wutbürger, Indignados und Occupy

1.2

Erfüllung einer Vorhersage?

1.3

Das demokratische Paradox

1.4

Der modernisierungstheoretische Ansatz

1.5

Fahrplan

 

2.

Die Gegenposition: Demokratischer Optimismus

2.1

Modernisierung und Demokratisierung

2.2

Nachhaltige Demokratie

2.3

Demokratische Innovationen

2.4

Überzogene Erwartungen?

2.5

Demokratische Selbstillusionierung

 

3.

Die postdemokratische Wende

3.1

Postdemokratie als Kampfbegriff

3.2

Vom schwachen zum starken Begriff

3.3

Kritische Zwischenfragen

3.4

Emanzipation vom demokratischen Projekt?

3.5

Das postdemokratische Paradox

 

4.

New Politics 2.0

4.1

Postdemokratische Performanz

4.2

Symbolische und simulative Politik

4.3

Postdemokratische Partizipation

4.4

Postdemokratische Repräsentation

4.5

Postdemokratische Legitimation

 

5.

Demokratie und Ökologie

5.1

Ökologische Demokratieskepsis in den Siebzigern

5.2

Jenseits der politischen Ökologie

5.3

Das Paradox der modernen Nachhaltigkeitspolitik

5.4

Postdemokratische Politik der Nicht-Nachhaltigkeit

5.5

Zum Schluss

 

Literaturverzeichnis

 

 

 

für Annette

 

 

 

 

 

Ich bin der Burli;
Ich bin grün;
Mein Herz schlägt links;
Atomkraft? Nein Danke!

1. Demokratie in der (Dauer-)Krise

Könnte es eigentlich sein, dass das demokratische Projekt sich irgendwann erschöpft? Wäre es denkbar, dass die Demokratie einmal ihren progressiven Charakter verliert, ja vielleicht sogar reaktionär wird? Könnte der Schlachtruf »Mehr Demokratie wagen!« einmal seine Attraktivität einbüßen oder gar einen bedrohlichen Klang annehmen?

Längst ist in den westlichen Stammländern der Demokratie offensichtlich, dass die Versprechen, die in diesem Begriff liegen, wohl unerfüllt bleiben werden: Die Politik verliert gegenüber der Macht der Märkte dramatisch an Boden; vermeintlich demokratische Systeme sind fest in der Hand machtvoll organisierter Interessen und haben mit Volkssouveränität – wenn es die je irgendwo gab – immer weniger zu tun. Unaufhaltsam schreiten soziale Ungleichheit sowie die Entmündigung und Verdinglichung der Bürger als bloße Verwaltungsgegenstände oder human resources voran – wobei freilich jeder Schritt der Entmündigung als emanzipatorischer Gewinn kommuniziert wird.

Doch können wir uns vorstellen, dass auch die Idee der Demokratie, ebenso wie sie einst aus bestimmten historischen Bedingungen heraus entstanden ist, sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder überlebt? Viel scheint einstweilen dagegen zu sprechen. In modernen Gesellschaften steht alles zur Diskussion, aber nicht die Demokratie. Sie ist über jeden Zweifel erhaben. Skeptische Fragen überhaupt nur zu stellen, widerspricht fundamental unseren etablierten Denkmustern und jeder politischen Korrektheit. Die normative Selbstverpflichtung der Politik- und Sozialwissenschaften scheint demokratiekritische Überlegungen grundsätzlich zu verbieten, da sie jenen in die Hände spielen könnten, die immer schon antidemokratische Interessen hegten – seien es diejenigen, die mit nicht zu überbietender Unverschämtheit auf Kosten der Ausgeschlossenen und »Überflüssigen« (Bude und Willisch 2008) immer mehr Reichtum anhäufen, oder die Anhänger nationalistischer, antilibertärer und neoautoritärer Populismen. Und doch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass derzeit so etwas wie eine postdemokratische Wende die Qualität der Demokratie und unser Verhältnis zu ihr gründlich verändert. Die bisher unumstößliche Annahme, dass die liberale Demokratie allen konkurrierenden Modellen überlegen sei und in alle Zukunft unsere bevorzugte Form der politischen Organisation und Kultur bleiben wird, ist ins Wanken geraten. Schlagworte wie Demokratieversagen (Shearman und Smith 2007), Demokratieverdruss (Embacher 2009) und Postdemokratie (Crouch 2008) haben Konjunktur. Jacques Rancière spricht gar vom Hass der Demokratie (Rancière 2011). Die entsprechenden Debatten werden flankiert von ebenfalls breit geführten Diskussionen um die Entpolitisierung (Serloth 2009; Hirsch 2010), das Verschwinden der Politik (Fach 2008) und die Postpolitik (Žižek 2010).

Tatsächlich steht die Zukunftsfähigkeit der Demokratie (vgl. Schmidt 2005; Höffe 2009) zur Diskussion: Erstens insofern, als bestimmte materielle und immaterielle Ressourcen zur Neige zu gehen scheinen, die die Demokratie zu ihrer eigenen Reproduktion unverzichtbar braucht; zweitens insofern, als unklar ist, ob die Demokratie überhaupt in der Lage ist, Zukunftsfragen wie den Klimawandel, die Begrenztheit natürlicher Rohstoffe, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte oder die rasant wachsende soziale Ungleichheit zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, auch solchen Fragestellungen gründlich nachzugehen, die zunächst provokativ oder riskant erscheinen. Sicher besteht die Gefahr, dabei auch auf Antworten zu stoßen, die dazu missbraucht werden könnten, die Profiteure der Entpolitisierung und Feinde der Demokratie zu entlasten, entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Doch ist es, wie Danilo Zolo richtig anmerkt, die »wesentliche Aufgabe der politischen Philosophie […], radikale Fragen zu stellen […], auch die konsolidierten theoretisch-politischen Kategorien zu problematisieren, einschließlich derer, die der humanistischen und demokratischen Tradition des Westens und seinem Befreiungsprogramm angehören« (Zolo 1997, 213). Tatsächlich ist dies sogar die Bedingung dafür, dass die politische Philosophie sich nicht »auf eine redundante Apologie der existierenden Machtordnung reduziert« (ebd.).

Dass die Demokratie, ungeachtet der Vielzahl unterschiedlicher Formen, in denen sie in verschiedenen Ländern institutionalisiert ist, heute in einer tiefen Krise steckt, scheint jedenfalls ausgemacht. Die amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House betitelte ihren Jahresbericht 2010 zur weltweiten Lage der Demokratie mit Erosion of Freedom Intensifies. In den Jahresberichten 2011 und 2012 ist vom längsten »multiyear spate of backsliding«, also der längsten Phase der Negativentwicklung, seit Anfang der siebziger Jahre die Rede.1 Zu Beginn des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts, heißt es dort, seien die Entwicklungsperspektiven für die Freiheit großartig gewesen, am Ende des Jahrzehnts habe sie dann enorm unter Druck gestanden (Freedom House 2010, 2011, 2012). Aber worin besteht diese viel beklagte Krise der Demokratie eigentlich? Was sind ihre Auslöser? Ist Krise überhaupt ein geeigneter Begriff zur Beschreibung des Phänomens? Welche Perspektiven für die weitere Entwicklung westlicher Wohlstandsdemokratien gibt es? Dies sind die zentralen Fragen, um die es im Folgenden gehen soll. Die beiden Kernbegriffe im Buchtitel, postdemokratische Wende und simulative Demokratie, sollen dabei zweierlei von Anfang an klarstellen: Von einem Ende der Demokratie kann keine Rede sein; im Zuge der fortschreitenden Modernisierung verändert sie jedoch grundlegend ihre Qualität und entwickelt eine neue Erscheinungsform.

1.1 Wutbürger, Indignados und Occupy

Die von vielen Seiten diagnostizierte und in mittlerweile weitgehend ritualisierten Mustern beklagte Schwäche der Demokratie hat verschiedene Gesichter. Bis vor Kurzem noch war vor allem von einer Partizipationskrise die Rede. Sinkende Wahlbeteiligung, einbrechende Mitgliederzahlen bei den Parteien und ein gefühlt niedriges Niveau des politischen Engagements insgesamt wurden als Anzeichen eines sich ausbreitenden Desinteresses und der Apathie gewertet. Besonders bedrohlich erschien, dass sich gerade bei jungen Menschen das politische Interesse im Lauf der neunziger Jahre deutlich verminderte (Shell 2010) und dass ihre Wahlbeteiligung noch weit unter dem seinerseits sinkenden Bundesdurchschnitt liegt. Gemessen an den Standards der »partizipatorischen Revolution« (Kaase 1982, 1984) seit den frühen siebziger Jahren und den friedlichen Revolutionen seit 1989, schien der kontinuierliche Rückzug der Bürger aus der Politik geradewegs in eine Legitimationskrise zu führen. Die Aussicht, dass Regierungen ihr Mandat künftig von einem noch kleineren Anteil der Wahlberechtigten erhalten könnten, führte seitens der Politik und der Sozialwissenschaften zu angestrengten Überlegungen, wie man die Bürger wenigstens an Wahltagen wieder mobilisieren könnte. Gegenwärtig ist demgegenüber vor allem von einer Repräsentationskrise die Rede (Linden und Thaa 2009, 2011). Die Kluft zwischen den Bürgern und der Politik scheint zunehmend größer und unüberbrückbarer zu werden. Das Handeln der Politiker lässt sich immer weniger auf die artikulierten Interessen der Bürger zurückführen; stattdessen geht es über deren Köpfe hinweg – oftmals werden sogar eindeutige Mehrheiten ignoriert. Nicht nur in Deutschland, sondern viel radikaler noch in Griechenland, Irland, Italien, Spanien oder Großbritannien wurden drakonische Sparprogramme aufgelegt, die das Leben der Menschen tiefgreifend verändern, ohne dass dem vermeintlichen demokratischen Souverän überhaupt nur ein Mitspracherecht eingeräumt worden wäre. Statt repräsentativer Parlamente regieren auf EU-Ebene ebenso wie in vielen sogenannten Krisenländern Expertenkommissionen und Technokraten-Teams, die die Demokratie in den Stand-by-Modus schalten, um so das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen. Ihre vorrangige Sorge ist nicht, ob ihre jeweiligen Entscheidungen wohl dem Willen der Bürger entsprechen oder wie der demokratische Souverän reagiert, sondern vor allem die Frage: Wie reagieren die Märkte? Zudem lassen Politikverflechtung und die unkontrollierte Einflussnahme der Wirtschaftslobby das Vertrauen in die sogenannte politische Klasse, die Parteien und die demokratischen Institutionen immer weiter erodieren. Trotz gewaltiger PR-Anstrengungen scheitern die Politiker daran, ihre Beschlüsse den Bürgern zu vermitteln. Die haben umgekehrt nicht mehr den Eindruck, von den Politikern überhaupt noch gehört zu werden. Während die Ratingagenturen mit jeder Verlautbarung selbst die mächtigsten Präsidenten zum Erzittern bringen, scheint der nominelle Souverän kaum noch ernsthaften Einfluss auf die Politik zu haben. Denn die dreht sich vor allem um das sogenannte Systemrelevante, wozu die Bürger – dem Anspruch nach der demokratische Souverän – ganz offenbar immer weniger gehören.

Die Ohnmachtsgefühle und die Verärgerung der solchermaßen an den Rand gedrängten Bürger hat Dirk Kurbjuweit vor einiger Zeit mit dem Begriff »Wutbürger« zu fassen versucht (Kurbjuweit 2010), den die Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2010 wählte. Im Juli 2010 hatte der Unmut dieser Wutbürger eine geplante Schulreform in Hamburg zu Fall gebracht. Im August und September desselben Jahres machte er sich in der Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab Luft (Sarrazin 2010). Im Herbst demonstrierten die Wutbürger wochenlang gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, und im November »schotterten« sie im Wendland gegen Angela Merkels Versuch, den von der rot-grünen Regierung unter Kanzler Schröder beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie zu unterlaufen. Die Bürger, denen man eben noch wachsende Apathie nachgesagt hatte, waren plötzlich in unvorhergesehener und für die offizielle Politik durchaus lästiger Art und Weise mobilisiert und politisiert.

Nun ist das Wort Wutbürger eine journalistische Prägung, kein sozialwissenschaftlich haltbarer Begriff; und die verschiedenen Protestereignisse, die damit beschrieben wurden, lassen sich aus der Perspektive der politischen Soziologie auch kaum über einen Kamm scheren. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sich in ihnen ein aufgestauter Unmut über gravierende Repräsentationsdefizite entlud, und das Empfinden der jeweiligen Aktivisten, dass die ursprünglichen Versprechen der Demokratie in der Realität immer weniger eingelöst werden. Dieses Phänomen ist dabei nicht auf Deutschland beschränkt. Gerade seit Anfang der Banken- und Schuldenkrise haben Wutbürger auch in Athen, Paris, London, Brüssel und vielen anderen Städten rebelliert. In Madrid entstand im Mai 2011 eruptionsartig die Bewegung der »Indignados«, einer ganzen Generation von Empörten und Verärgerten, die sich um ihre Rechte und Lebenschancen betrogen sahen. Mit ihrer Forderung »¡Democracia real YA!« (Echte Demokratie jetzt!) waren sie ein Vorbild für die Occupy-Bewegung, die im September 2011 den Zuccotti Park in New York besetzte und sich in rasantem Tempo auch in Europa ausbreitete. Gerade in den USA erschien der antikapitalistische Occupy-Wall- Street-Aktivismus manchem wie ein linkes Gegenstück zu den rechtslibertären Wutbürgern der Tea Party, bei der sich schon seit 2009 beobachten lässt, wie das Gefühl der demokratischen Ohnmacht in offenen Hass und Verachtung für die sogenannte politische Klasse umschlagen kann. Schließlich wählte das Magazin Time »Den Demonstranten« zur Person des Jahres 2011 und sprach dabei – nicht zuletzt mit Blick auf den sogenannten Arabischen Frühling – von einem »weltweiten Höhepunkt der Frustration« über das Versagen der politischen Klasse und die Inkompetenz der Institutionen (Stengel 2011).

Gerne werden diese Proteste als eine kraftvolle (und internationale) Bewegung gefeiert, als ein Sturm, der erst noch im Heraufziehen ist, als der Beginn einer beispiellosen Mobilisierung von Bürgern, die sich endgültig »nicht mehr für dumm verkaufen lassen« (Wieczorek 2011). Geradezu sehnsuchtsvoll wurden die Wutbürger, Indignados und Occupy-Aktivisten in der Presse immer wieder mit 1968 verglichen und mit dem Anfang der demokratisierenden Kulturrevolution, die seit den siebziger Jahren die politische Kultur vieler westlicher Länder grundlegend verändert hat. Der Spiegel bezeichnete Occupy noch im Mai 2012 als »eine der wohl größten systemkritischen Bewegungen der Welt« (Schultz 2012). Der Chefredakteur des Time Magazine verglich 2011 mit den Revolutionsjahren 1848 und 1989. Tatsächlich mag die jüngere Rebellion der Bürger in mancherlei Hinsicht als eine Art Neuauflage der Protestbewegungen der siebziger und achtziger Jahre erscheinen. Schon damals hatten die »elitenkritischen« Bürgerproteste (Inglehart 2007) sich gegen die als bestenfalls formal demokratisch wahrgenommenen Strukturen gestellt und eine grundsätzlich »neue Politik« gefordert (Müller-Rommel und Poguntke 1995). Als »Anti-Parteien-Partei« (Kelly 1980) organisierten die Grünen seinerzeit die Forderungen der neuen sozialen Bewegungen. Vorsichtig und geschickt machten sich die Bündnisgrünen auch 2011 wieder zum Sprachrohr der neuen Wutbürger – und erreichten damit Umfragewerte und Wahlergebnisse wie niemals zuvor. Doch die Hoffnung auf eine neue partizipatorische Revolution wird erstens dadurch getrübt, dass sich diese jüngsten Proteste nahtlos einreihen in eine lange Serie von Mobilisierungswellen, die immer wieder den emanzipatorischen Ausbruch aus dem herrschenden System sozialer, ökonomischer und politischer Ungleichheit angekündigt hatten – ohne je nennenswerten Erfolg zu haben. Erinnert sei nur an Attac (die Association for the Taxation of Financial Transactions for the Aid of Citizens), die legendäre »Battle of Seattle« (1999), das Weltsozialforum und natürlich an die Grünen selbst, deren wohlhabend-bürgerliche Anhänger sich inzwischen in Großstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin ihren Wohlfühlraum geschaffen haben. Und zweitens hat die heutige Anti-Politik im Vergleich zum demokratischen Aufbruch der Siebziger eine fundamental andere Qualität. Zwar sind die Artikulations- und Partizipationsformen genau die, die die neuen sozialen Bewegungen damals einführten und die in der modernen »Bewegungsgesellschaft« (Neidhardt und Rucht 1993; Meyer und Tarrow 1998) für praktisch alle Gesellschaftsgruppen zum festen Bestand des politischen Aktionsrepertoires gehören. Doch wie viel transformatorische Energie steckt wirklich in diesen neuen Protestwellen? Während die Bewegungen früherer Jahrzehnte noch von einem tiefen demokratischen Optimismus getragen waren, ist der heutige Aufstand der Wutbürger wohl mindestens ebenso sehr Ausdruck einer tiefen demokratischen Desillusionierung, wie er auf mehr demokratische Offenheit und Repräsentation drängt.

Tatsächlich paart sich – oder muss man auch hier schon wieder im Präteritum sprechen? – im Phänomen der Wutbürger in merkwürdiger Weise die lautstarke Forderung nach einer anderen Politik mit der impliziten Einsicht, dass unter den Bedingungen moderner, hochkomplexer und international vernetzter Konsumgesellschaften eine wahrhaft demokratische »neue Politik« wohl überhaupt nicht mehr möglich ist – ja vielleicht nicht einmal mehr wünschenswert. Aufwendige Bürgerbeteiligungs- oder Schlichtungsverfahren wie beim Bahnhofsprojekt in Stuttgart können in hochpolitisierten Einzelfällen durchgeführt werden, sind aber als Regelverfahren einer authentisch demokratischen Politik kaum vorstellbar. Es geht auch längst nicht mehr nur um die (Schwäche der) Demokratie, sondern um die Ohnmacht der Politik überhaupt. Die politische Agenda wird in immer stärkerem Maße von internationalen Verträgen und unvorhergesehenen Krisen bestimmt. Die Politik hat immer weniger Handlungsfreiheit und vor allem immer weniger Spielraum, um bottom-up den Willen der Bürger zu repräsentieren. Unsere gewählten Vertreter sind zunehmend ausführende Organe, Getriebene von Sachzwängen und Imperativen, die jenseits ihrer Macht stehen. Entscheidungen müssen unter dem Druck der Märkte, der Ratingagenturen, der Spekulanten, der drohenden Staatspleiten in einem Tempo gefällt werden, das keine demokratischen Verfahren erlaubt. Dabei ist Politik doch eigentlich dadurch definiert, dass sie Alternativen formuliert, zwischen denen die Bürger oder ihre Repräsentanten wählen können. Heute beschränkt sich die institutionalisierte Politik jedoch immer häufiger auf das Implementieren von angeblich Alternativlosem. Das entscheidende Kriterium für dieses entpolitisierte »New Public Management« ist nicht länger, ob und in welchem Maße es demokratischen Normen und Erwartungen entspricht, sondern wie effektiv und effizient es das angeblich objektiv Notwendige umsetzt. Und dieser Logik der Alternativlosigkeit haben auch die neuen Bürgerbewegungen wenig entgegenzusetzen, selbst wenn sie immer selbstbewusster und versierter darin werden, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.

Klimakrise, Bankenkrise, Schuldenkrise, Eurokrise, Terrorismuskrise, Energiekrise, Rohstoffkrise, Krise der internationalen ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, Krise der demografischen Entwicklung und so fort – all dies schafft Problemlagen und Handlungszwänge, die in ihrer Komplexität bei Weitem die Vorstellungs- und Urteilskraft der Bürger übersteigen und die in ihrer Dringlichkeit einen Zeit- und Handlungsdruck erzeugen, dem demokratische Verfahren nicht gewachsen sind. Die Politik befindet sich in einer permanenten Notstandslage, einem andauernden Verteidigungsfall. Aussichtsreiche Problemlösungsstrategien lassen sich, wenn überhaupt, nur auf internationaler Ebene entwickeln, doch dort gibt es nicht nur keinen Demos mit einem bürgerschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern die Politikverflechtung in der Mehrebenenpolitik hebelt überdies systematisch das demokratische Gebot der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit aus. Entsprechend stellte Danilo Zolo bereits Anfang der neunziger Jahre fest, »die Zunahme der Differenzierung des politischen Systems und der allgemeinen Komplexität« lasse die Demokratie »unwahrscheinlich werden«; postindustrielle Gesellschaften seien »mit demokratischen Mitteln nur schwer regierbar« (Zolo 1997, 87). Die inzwischen verbreitete Diagnose vom Ende bzw. Verschwinden der Politik (Boggs 2000; Fach 2008) oder vom Zeitalter der Postpolitik (Žižek 2010, 272-282) führt Zolos Beobachtungen nur einen Schritt weiter. Und Bewegungen wie Occupy können eigentlich nur noch feststellen, dass die Demokratie ausgehöhlt und erschöpft ist; Perspektiven zu ihrer Erneuerung und Alternativen zum Status Quo formulieren können sie im Gegensatz zu ihren Vorläufern in den siebziger und achtziger Jahren jedoch kaum noch. Occupy beschränkte sich daher auch weitgehend auf das Besetzen. Vermeintlich bedeutungsvolle Leerformeln wie »¡Democracia real YA!« oder »We are the 99 percent« treten an die Stelle einer konkreten politischen Programmatik und verweisen bestenfalls noch symbolisch auf die Möglichkeit einer Alternative. Ihre transformatorische Kraft übersteigt aber kaum die der diesem Buch als Leitspruch vorangestellten Bekenntnisse meines Wellensittichs. Noch weniger lassen sich in Unruhen, wie London sie im August 2011 erlebte, politische Botschaften erkennen. Hierbei handelt es sich nur noch um eruptionsartige Ausbrüche diffuser Gefühle von Machtlosigkeit und Exklusion.

So bringen Wutbürger, Indignados und Occupy, ohne dass sich die Aktivisten davon unbedingt Rechenschaft geben würden, den eklatanten Widerspruch zwischen dem gewachsenen politischen Selbstbewusstsein und bürgerlichen Selbstbestimmungsanspruch und dem stillen Bewusstsein der Leistungsgrenzen der Demokratie und Politik zum Ausdruck. Das beklagte Demokratiedefizit hat also zwei Seiten: erstens die defizitäre Implementierung demokratischer Normen, die gerade durch die neuen sozialen Bewegungen emphatisch revitalisiert worden waren; und zweitens die, am Entwicklungsstand heutiger Gesellschaften gemessen, offenbar defizitäre Funktionalität demokratischer Strukturen. Dabei ist durchaus abzusehen, dass diese Malaise der Demokratie sich weiter zuspitzen wird. Denn nationale Regierungen sind, wie gesagt, nicht nur in immer stärkerem Ausmaß in Sachzwänge und internationale Politikregimes eingebunden, die ihren Spielraum für Bürgerresponsivität erheblich einschränken, sondern sie stehen zugleich unter wachsendem Druck, Nachhaltigkeitsprobleme, die sich über Jahrzehnte aufgestaut haben und deren Lösung immer wieder aufgeschoben wurde, endlich in Angriff zu nehmen. Kosten, die bislang im Namen des Wirtschaftswachstums, der Aktionäre, der Konkurrenzfähigkeit, der Konsumgüterpreise und der Wählerstimmen mit allerlei Tricks externalisiert wurden, müssen nun doch wenigstens teilweise internalisiert werden. Gleichzeitig betreiben aber gerade die gesellschaftlichen Eliten mit aller Entschiedenheit die Akkumulation des privaten Reichtums und die fortgesetzte Externalisierung der öffentlichen Nebenkosten. Beide Dimensionen bedeuten eine erhebliche Herausforderung für die Demokratie, die entgegen dem Tenor der Jahresberichte von Freedom House keineswegs bloß von autoritären Regimen in nichtwestlichen Ländern ausgeht (Freedom House 2011, 2012). Vielmehr ist die mehrfache Nachhaltigkeitskrise (ökologisch, ökonomisch, sozial) eine hausgemachte und viel grundlegendere Herausforderung. Die gegenwärtige Schuldenkrise macht deutlich, dass sich eine Wende zu mehr Nachhaltigkeit kaum vermittels demokratischer Mehrheiten beschließen und umsetzen lassen wird. Denn die Demokratie ist zwar zur gerechteren Verteilung von Wohlstandszugewinnen geeignet, weit weniger jedoch zur gerechten Verteilung von Einschnitten – und vielleicht überhaupt nicht zur angemessenen Berücksichtigung der Zukunft. Aus gleich mehreren Gründen wird die Politik daher fast unausweichlich immer weniger demokratisch und responsiv im Sinne der Protestbewegungen. Und der Verfall dessen, was die Demokratietheorie mit Fritz Scharpf (1970) als Input-Legitimität bezeichnet, kann angesichts der Grenzen des Wachstums und der stetig steigenden gesellschaftlichen Komplexität auch immer weniger durch verbesserte Output-Legitimität ausgeglichen werden.

Die aktuelle Debatte um Postpolitik und die Krise der Demokratie geht also über ältere Diskussionen um die sogenannte Politikverdrossenheit (z.B. Arzheimer 2002) deutlich hinaus und spitzt diese in brisanter Weise zu. Embacher (2009) spricht denn auch nicht mehr von Politik- oder Parteienverdrossenheit, sondern explizit von »Demokratieverdruss«. Als die Gesellschaft für deutsche Sprache 1992 Politikverdrossenheit zum Wort des Jahres kürte, hatten die neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre zwar bereits spürbar an Dynamik verloren, doch steckte die optimistische Bewegung für eine andere, eine soziale, ökologische und gerechte Globalisierung noch in den Kinderschuhen. Attac wurde erst 1998 in Frankreich gegründet. Das erste Weltsozialforum fand erst 2001 statt (im brasilianischen Porto Alegre). Der Gedanke, dass auch unter Bedingungen der Globalisierung »eine andere Welt möglich« sei und mit der deliberativen Demokratie (Habermas 1996; Dryzek 2000) zudem ein durchaus geeignetes Mittel zur Verfügung stehen könnte, die neuen Unsicherheiten, Risiken und Komplexitäten der modernen Welt in verantwortlicher, effektiver und vor allem wahrhaft demokratischer Weise zu regieren, war erst ansatzweise entwickelt. Die Hoffnung auf eine globale Zivilgesellschaft und die Idee der kosmopolitischen Bürgerschaft oder cosmopolitan democracy (vgl. Beck 2004; Beck und Grande 2004; Held 1995, 2006) standen erst am Anfang ihrer Karriere.

Einen demokratieskeptischen Schatten warf aber bereits die Diskussion um den sogenannten »Reformstau« voraus (das Wort des Jahres 1997). Im Geiste des unter Bill Clinton und Tony Blair hegemonial gewordenen Neoliberalismus wurde hier offen die Leistungsfähigkeit demokratischer Strukturen infrage gestellt; Effizienz und Output rückten ins Zentrum des Interesses. Nirgendwo sonst, so hieß es nun, gebe es so viele demokratische Vetospieler wie in Deutschland. In keinem Land der Welt hätten »so viele Instanzen Verhinderungsgewalt« (Strohmeier 2003, 17). Ein Zuviel an bürgerlichen Einspruchs- und Mitspracherechten beeinträchtige nicht nur die Fähigkeit der Wirtschaft, im internationalen Standortwettbewerb mitzuhalten, sondern auch die der Politik, notwendige Reformen des Sozialstaates durchzusetzen. Gerhard Schröder trat an, um nach dem Vorbild des damaligen Briten-Premiers Blair auch Deutschland grundsätzlich zu modernisieren (vgl. Blühdorn und Jun 2007). Doch seine Agenda 2010 wurde insbesondere mit der Hartz-IV-Gesetzgebung zum Symbol einer Modernisierung, die nicht mehr die Menschen in den Mittelpunkt stellt und emanzipatorisch ist, sondern sich an systemischen Imperativen orientiert, einer Metaphysik der Effizienz huldigt und die Bürger zunehmend verunsichert, marginalisiert und bedroht.

Nicht nur am unteren Rand der Gesellschaft verkehrte sich demokratischer Optimismus so in tiefe Frustration. Wahlen erscheinen kaum noch als Möglichkeit, die Interessen der Bürger wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Sie erwecken bestenfalls noch kurzfristige Aufbruchshoffnungen. Politiker können jedoch selten über die Dauer eines Wahlkampfes hinaus den Eindruck vermitteln, sie hätten ein klares Regierungsprogramm, geschweige denn eine klare Vorstellung, wie die überwältigenden Probleme zu bewältigen seien. Bereits nach dem Regierungswechsel 1998 verflog der enorme Optimismus, den der Regierungseintritt der Grünen ausgelöst hatte, binnen weniger Monate. 2005 verflüchtigte sich die Hoffnung, eine Große Koalition sei vielleicht am ehesten in der Lage, notwendige Reformen in einer Weise durchzuführen, die die breite Mehrheit der Bürger angemessen repräsentiert, sogar noch schneller. Und 2009 stand die schwarz-gelbe Koalition dann bereits von Anfang an in der Kritik, Klientelpolitik zu betreiben und inkompetent sowie »richtungslos« zu sein (ARD Deutschland-Trend September und Oktober 2010). Ähnliche Phänomene zeigten sich auch in anderen Ländern: In Spanien war der Sozialist José Zapatero 2004 der große Hoffnungsträger gerade der jüngeren Generationen gewesen; 2011 war seine Regierung die Hauptzielscheibe der Indignados. Und in den USA sind die beinahe messianischen Hoffnungen, die 2008 und 2009 in die Wahl von Barack Obama zum Präsidenten gesetzt worden waren, innerhalb kürzester Zeit verflogen. Die versprochene Neubelebung der Politik – und insbesondere der demokratischen Politik – für die bisher Marginalisierten blieb aus. Ebenso wie Schröder mit seiner Agenda 2010 die Bürger tief verunsicherte und enttäuschte, hat Obama die Rebellion der sich in der Tea-Party-Bewegung organisierenden Wutbürger erst richtig angefacht. Der im Wahlkampf groß inszenierte Optimismus des »Yes we can!«, das suggerierte, die anstehenden Probleme seien politisch steuer-, kontrollier- und lösbar, ist angesichts der Banken-, Finanz- und Schuldenkrise ins Bodenlose zusammengebrochen. Ihm steht die offene Machtübernahme der Märkte und Ratingagenturen gegenüber, eine stille, und natürlich mit Vehemenz bestrittene, Bankrotterklärung der Demokratie und der Politik überhaupt: »No we can’t!« – »We have no choice!« – »There is no alternative!« Die Politik »ist in Frührente gegangen«, sagt Frank Furedi (Furedi 2004, xi); die Demokratie gilt als »überlastet, ausgehöhlt, verstopft« (Skelcher 2000). Und sie wird noch zusätzlich dadurch geschwächt, dass gerade dort, wo am lautesten von demokratischen Werten die Rede ist, nämlich in den USA, eine besonders aggressive Politik der Rohstoffsicherung, Terrorismusbekämpfung und sozialen Exklusion betrieben wird.

Überdeutlich ist also: Während sich Reichtum und Armut in modernen Gesellschaften schneller und stärker polarisieren denn je; während große Problemlagen (soziale Spaltung, Klimawandel, Eurokrise, Flüchtlingswellen, Ressourcen- und Religionskonflikte etc.) sich national und international verschärfen, ist die demokratische Politik immer weniger in der Lage, plausible Perspektiven zu bieten. Sowohl auf der Input- als auch auf der Output-Seite zeigt sie gravierende Schwächen, die sich wohl eher verstärken als vermindern werden. War noch vor Kurzem vom »demokratischen Phönix« (Norris 2002) die Rede, und glaubten sozialwissenschaftliche Beobachter noch jüngst, das erodierende Vertrauen in die politischen Eliten werde den Anstoß zu einer »neuen Politik« der informierten, selbstbewussten und artikulierten »critical citizens« geben (Norris 1999; vgl. auch Dalton 2008a, b oder Inglehart 2008), so zeugt der Aufstand der Wutbürger eher von tiefer demokratischer Ernüchterung. Die heutige Protestpolitik, meint Frank Furedi, richte sich nicht mehr bloß gegen die etablierte Politik, sondern sei vielmehr Ausdruck »einer tieferen Überzeugung, dass Politik als solche sinnlos sei« (Furedi 2005, 29; Hervorhebung hinzugefügt). Ganz anders als noch zu Beginn des neuen Jahrhunderts gelte heute: »Anti-Politik ist nicht in erster Linie ein Impuls der Ermächtigung, sondern vor allem eine Geste der Resignation.« (Ebd.) Jacques Rancière spricht explizit von einem »neuen antidemokratischen Gefühl« (Rancière 2011, 9). Gerade »Menschen, die sich von der Demokratie sozialen Fortschritt und materielle Sicherheit erhoffen oder erhofft haben, wenden sich ab und zeigen kein Interesse mehr am politischen Diskurs bzw. an politischen Wahlen« (Embacher 2009, 91). Demokratie bietet für sie kein Versprechen, keine Perspektive mehr (vgl. auch Neugebauer 2007, 137f.; Vester 2009, 54f.; Schäfer 2009). Und die Protest-Politik der bürgerlichen Mittelschichten beruft sich zwar auf demokratische Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, mobilisiert in Wirklichkeit allerdings das ihr zur Verfügung stehende Kapital (Bildung, soziale Netzwerke, relative materielle Sicherheit, Zugang zu politischen Institutionen etc.) vor allem, um privilegierte und kaum nachhaltige Lebensformen und Selbstverständnisse zu verteidigen.

So liegt über modernen Konsumentendemokratien eine tiefe Verunsicherung. Die Trias der neuen Protestbewegungen, der Diskussion um die Zukunftsfähigkeit der Demokratie und der populären Rede von Postdemokratie und Postpolitik zeigt unmissverständlich an, dass im Verhältnis moderner Bürger zur Demokratie etwas Grundsätzliches in Bewegung geraten ist. Natürlich muss man sich daran erinnern, dass es die Demokratie eigentlich gar nicht gibt, sondern nur eine Vielzahl von Versuchen, bestimmte Verständnisse demokratischer Ideale zu institutionalisieren: parlamentarisch und präsidentiell, unitarisch und föderal, mehrheitswahlrechtlich oder mit Verhältniswahlrecht, ausschließlich repräsentativ oder mit direktdemokratischen Elementen, mit starker oder mit schwächerer Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen, mit Ein- oder mit Mehrkammersystem und so fort. Von der Demokratie kann man also eigentlich nur im Plural sprechen. Die sogenannte Krise der Demokratie betrifft jedoch die ganze Bandbreite ihrer verschiedenen Institutionalisierungsversuche. Demokratische Ernüchterung, disaffection oder desencanto gibt es überall, ebenso wie es auch überall Wutbürger, aganaktismenoi, indignados und rioters gibt. Und wer sich darauf einlässt, über den gesellschaftlichen Wandel und die ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisen in heutigen Wohlstandsdemokratien wirklich ernsthaft nachzudenken, wird sich zweierlei eingestehen müssen: erstens, dass angesichts sich zuspitzender Problemlagen fundamentale Umbrüche nicht nur nicht mehr vermeidbar, sondern bereits voll im Gange sind; und zweitens, dass Demokratie und Demokratisierung in dem Sinne, wie die partizipatorische Revolution sie noch emphatisch eingefordert hatte, bei den großen Zukunftsfragen heute kaum mehr plausible Auswege weisen.


1

  

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden englischsprachige Zitate hier und im gesamten Buch vom Autor ins Deutsche übertragen. Nur einige schwer zu übersetzende Fachbegriffe wurden im Original beibehalten.

1.2 Erfüllung einer Vorhersage?

Nun sind solche Zweifel an der Demokratie natürlich nicht neu. Vielmehr erfüllt sich heute möglicherweise bloß eine alte Vorhersage. Tatsächlich stand die Demokratie historisch ja in einem ganz überwiegend negativen Ruf, und ihre »Positivierung« (Buchstein und Jörke 2003, 472f.) bis zu dem Punkt, wo politische Institutionen und Entscheidungen nur dann als legitim gelten, wenn sie sich auf demokratische Normen berufen können, und wo umgekehrt alles Demokratische – was immer das im Einzelnen heißt – über jeden Zweifel erhaben ist, ist ein relativ junges Phänomen. Bereits Platon hatte die Demokratie bekanntlich als eine der »untauglichen« Staatsformen angesehen, die mit ihren »irregeleiteten« Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit zum Ideal der Philosophenherrschaft in maximaler Distanz stehe und geradewegs in die Selbstzerstörung des Gemeinwesens und in die Tyrannis führe (Der Staat, Buch VIII, 10-19). Für Aristoteles gehörte die Demokratie neben der Tyrannis und der Oligarchie zu den »verfehlten Staatsformen«, die statt dem Wohl der Polis-Gemeinschaft vor allem dem Eigennutz der Machthaber dienen – im Falle der Demokratie also der Mehrheit der Niederen, Armen und Ungebildeten, die im demokratischen Souverän dominieren würden (Politik, Buch VI, 2). Rousseau, der mit seiner Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung, seiner Lehre von der unveräußerlichen Volkssouveränität, seiner Ablehnung des Repräsentationsprinzips und seiner Lehre vom Gesellschaftsvertrag die neuen sozialen Bewegungen inspirierte und vielen als Vordenker der radikalen Selbstbestimmung des Volkes gilt, hielt die Demokratie für eine Staatsform, die bestenfalls für wenig komplexe und relativ arme Kleinstaaten geeignet ist. Sein von der volonté générale gelenktes Gemeinwesen ist letztlich eine ebenso hypothetische Idee wie der dem Gesellschaftsvertrag vorhergehende »Naturzustand«, in dem die Menschen noch ihre volle Freiheit und Unabhängigkeit hatten. In seinem Buch vom Gesellschaftsvertrag sagt Rousseau, dass »ein Volk von Göttern« sich zwar sicher demokratisch regieren würde, dass für Menschen eine »so vollkommene Regierung« aber kaum tauglich sei (Buch III, 4).

Ebenso war Kant, dessen ganze Philosophie sich eigentlich um die Würde des Menschen und dessen Emanzipation aus der berühmten »selbstverschuldeten Unmündigkeit« dreht (Kant 1784a, 53), gleichwohl ein Gegner der Demokratie. Zu groß war seine Skepsis gegenüber der Schwäche und Unvernunft des Alltagsmenschen, zu gewiss war er sich, dass »die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielenden Naturanlagen« des Menschen sich bestenfalls »in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln« (Kant 1784b, 35) und dass daher die demokratische Regierungsform wenig aussichtsreich sei. Für viele Demokratieskeptiker stand in der Tat seit je vor allem der Einwand im Mittelpunkt, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen viel zu unbesonnen, ungebildet, kurzsichtig und selbstsüchtig sei, als dass man ihnen wichtige Entscheidungen und das Gemeinwohl anvertrauen könnte. Nur eine wirtschaftlich und gesellschaftlich unabhängige, gebildete und mit festen moralischen Prinzipien ausgestattete Elite, so glaubten sie, sei in der Lage, in unparteiischer, verantwortungsvoller und weitsichtiger Weise das wahre Gemeinwohl zu erkennen, zu verkörpern und zu vertreten. In der klassischen Demokratietheorie ist daher von einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht nirgends die Rede. Vielmehr war klar, dass die Herrschaft der armen und ungebildeten Mehrheit nicht nur zulasten der gesellschaftlichen Eliten geht, sondern durch die übermäßige Verteilung und Umverteilung gesellschaftlicher Reichtümer auch bedrohliche Instabilität schaffen würde. Als völlig irrig galt die Idee, dass das Wohl der Allgemeinheit und des Staates etwa aus den aggregierten Willensbekundungen der Einzelnen abgelesen werden könne. Repräsentation bedeutete vielmehr ganz selbstverständlich, etwas zur Vorstellung und Darstellung zu bringen, was im gemeinen Volk eben gerade nicht aufzuspüren war, sondern sich nur weisen, erfahrenen und moralisch überlegenen Staatsmännern erschließt. Noch John Stuart Mill, der sich sehr für die Ausdehnung des Wahlrechtes auf Frauen starkmachte, favorisierte ein Pluralstimmenrecht und wollte nur qualifizierte Staatsbürger mit dem Wahlrecht ausstatten. Die Vorstellung einer Herrschaft des ungebildeten Volkes, die »Tyrannei der Mehrheit«, hielt auch er für mitunter bedrohlicher als andere Formen der politischen Unterdrückung (Mill 1986 [1859]). Friedrich Nietzsche schließlich erklärte in der Götzen-Dämmerung, der »Demokratismus« sei »jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft« gewesen und »die moderne Demokratie« sei die »Verfallsform des Staats« (Nietzsche 1954, 1016).

In der modernen Demokratietheorie setzten sich diese Bedenken fort. Zunächst äußerten Max Weber und Joseph Schumpeter erhebliche Zweifel an dieser Staatsform. Weber plädierte in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg zwar für die Demokratisierung Deutschlands und für ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, aber viel Vertrauen in die Vernunft des Demos hatte er nicht. Vielmehr glaubte er, die Menge könne kaum über den Tag hinaus denken und sei »stets der aktuellen, rein emotionalen und irrationalen Beeinflussung ausgesetzt« (Weber 1984, 549). Das von ihm favorisierte Modell der »plebiszitären Führerdemokratie« (Weber 1976, 157) zielte daher vor allem auf die rigorose Auswahl der besten politischen Führungskräfte, keineswegs aber auf die Erfüllung von Idealen der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung, wie sie heute mit der Demokratie assoziiert werden. Aus der Perspektive der Wettbewerbs- und Selbstbehauptungsfähigkeit des Nationalstaates erschien ihm die Verfügbarkeit einer starken Führungselite als zentral. Die Demokratie hielt er nur deshalb für überlegen, weil sie offener und wettbewerbsorientierter sei als andere Staatsformen, weil sie sich schneller auf innere und äußere Veränderungen einstellen könne und das demokratische Verfahren der Elitenauswahl eine breite Folgebereitschaft des Volkes gewährleiste. Allerdings sah er diese Performanzvorteile ausschließlich bei der »Führerdemokratie«, in der das Volk dem von ihm einmal gewählten »charismatischen Führer« – zumindest bis zur nächsten Wahl – willig und stillschweigend folgt. Für die »führerlose Demokratie« (Weber 1992, 224), wie sie heutigen Vorstellungen von breit gefächerter Partizipation und demokratischer Selbstbestimmung wesentlich näherkommt, hatte Weber demgegenüber hauptsächlich Verachtung übrig. Heftig kritisierte er die politischen Parteien seiner Zeit dafür, dass sie lediglich der Mittelmäßigkeit Vorschub leisteten und unfähig seien, die gesamtstaatlichen Führungsaufgaben kompetent und verantwortlich zu regeln. Die Herrschaft der profillosen Berufspolitiker und Bürokraten sei verantwortlich für eine insgesamt stümperhafte, dilettantische und ineffektive Politik. Natürlich sind die Institutionen, Parteien und Politiker, wie Weber sie kannte, nicht unmittelbar mit den heutigen zu vergleichen, doch mit seiner Kritik an der »führerlosen Demokratie« nahm er viel von dem vorweg, was dem Politikbetrieb aktuell vorgeworfen wird. Und die gleichen Bedenken, die Weber bereits zu seinem Modell der Führerdemokratie brachten, nämlich die Sorge um Effizienzverlust und sinkende Wettbewerbsfähigkeit, die Angst vor der Irrationalität und Eigendynamik des bürokratischen Apparates, vor der Entfremdung und Sinnentleerung der säkularisierten Gesellschaft, vor dem Komplexitätsinfarkt und der demokratischen Sklerose, stehen auch heute hinter der auffälligen Rehabilitierung der Führung als politischer Kategorie (vgl. APUZ 2010).

Wesentlich skeptischer noch als Webers Einschätzung, ja geradezu zynisch, waren Schumpeters Ansichten. Schumpeter ruft zunächst in Erinnerung, dass »jene Forscher, die sich mit Fragen der politischen Organisation beschäftigt haben, schon seit je Zweifel hinsichtlich der administrativen Leistungsfähigkeit der Demokratie in großen und komplexen Gesellschaften geäußert« hatten (Schumpeter 1947, 454). Ausgehend von der Überzeugung, dass all das, worauf die klassische Demokratietheorie normativ beruhte, völlig idealisiert sei, bemüht er sich um eine realistische Demokratietheorie, die deskriptiv-analytisch darauf zielt, die Schwächen dieser Staatsform aufzuzeigen. Insbesondere ist sich Schumpeter sicher, dass es so etwas wie ein Gemeinwohl, »über das sich das ganze Volk kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte« (399), nicht gibt. Vielmehr ist er sich sicher, dass in vielen Belangen grundsätzliche Differenzen nicht durch rationale Argumente überwunden werden können, »weil die letzten Werte – unsere Auffassung von dem, was das Leben und was die Gesellschaft sein sollte – jenseits des Bereiches reiner Logik liegen« (ebd.). Entsprechend sieht auch er in der Demokratie lediglich eine Methode zur Auswahl der Herrscher. Während es in der klassischen Demokratietheorie darum gegangen sei, »der Wählerschaft die Macht des politischen Entscheidens zu verleihen« (427), sieht Schumpeters Modell die Rolle des Volkes nur darin, »eine Regierung hervorzubringen, […] die ihrerseits eine nationale Exekutive […] hervorbringt« (ebd.). Die Demokratie ist nicht die Herrschaft des Volkes, sondern »bedeutet nur, dass das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen« (452). Die Herrschaft des Volkes hielt Schumpeter ohnedies für wenig wünschenswert, weil die Bürger in politischen Fragen »schlechte und sogar korrumpierte Richter« und »schlechte Kenner ihrer eigenen langfristigen Interessen« seien (414). In allen Angelegenheiten, bei »denen eine unmittelbare und unmißverständliche Verbindung mit ihren privaten Belangen« fehle, gehe den Bürgern jeder »Sinn für die Wirklichkeit völlig verloren« (ebd.). Neben einem »reduzierten Wirklichkeitssinn« bescheinigt Schumpeter ihnen zudem ein »reduziertes Verantwortungsgefühl«, einen »Mangel an wirksamer Willensäußerung«, einen »Mangel an Urteilsvermögen« und weitgehende »Unwissenheit« (415f.).

Wegen ihrer in vielen Punkten überraschenden Aktualität lohnt es sich, Schumpeters Gedanken zur Demokratie noch etwas weiter zu verfolgen. So behauptet er zum Beispiel, »Informationsmöglichkeiten« seien für die Bürger zwar »reichlich vorhanden und leicht zugänglich«, politisch aber mache dies »überhaupt keinen Unterschied« (416). Der typische Bürger könne die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Informationen nämlich gar nicht verarbeiten, sondern falle vielmehr »auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt«. Er werde »wieder zum Primitiven«, der rein assoziativ und affektmäßig denkt und handelt (416f.). Umgekehrt seien die Politiker in demokratischen Gesellschaften »durch den fortwährenden Kampf« um den Erwerb und Erhalt der Macht ernsthaft eingeschränkt (454). »Nur Männer mit ganz ungewöhnlicher Kraft« könnten »unter solchen Umständen noch Energie für die laufende administrative Arbeit an Gesetzesvorlagen usw. übrig haben« (ebd.). Im Normalfall aber könnten sie »mit einem Reiter verglichen werden, der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, so völlig in Anspruch genommen wird, dass er keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann« (456f.). Erschwerend komme hinzu, dass die »demokratische Methode« systematisch inkompetente Berufspolitiker hervorbringe, denen »alle Kenntnisse fehlen, die für die Lösung der ihnen gestellten Aufgaben notwendig wären« (458). Die intellektuellen und charakterlichen Eigenschaften, die einen im Wahlkampf erfolgreichen Kandidaten ausmachen, seien nämlich »nicht unbedingt jene, die einen guten Verwaltungsmann ausmachen, und so benachteilige die »Auswahl vermittels des Wahlerfolges« tendenziell solche Kandidaten, die »in der Leitung der Geschäfte erfolgreich wären« (ebd.). Schließlich zwinge die Demokratie die Politiker überdies, »alles von einem kurzfristigen Standpunkt aus zu betrachten«, und sie mache es ihnen »außerordentlich schwierig, solchen langfristigen Interessen der Nation zu dienen, die beständige Arbeit für fernliegende Ziele erfordern« (456). Zu den »Vorbedingungen für einen Erfolg der Demokratie« zählte Schumpeter daher unter anderem, »dass der wirksame Bereich politischer Entscheidungen nicht allzu weit ausgedehnt wird« (463). Weiter sei eine gewisse »demokratische Selbstkontrolle« (467) unverzichtbar, womit er »sehr viel freiwillige Unterordnung« von Seiten der Bürger meinte (ebd.). Die Wähler müssten die »Arbeitsteilung zwischen ihnen selbst und den von ihnen gewählten Politikern respektieren« (468) und sich der Versuchung des »Hineinregierens enthalten« (469). Die von den Idealisten der Demokratie vertretene Ansicht, »die Politik solle kein Beruf sein und die Demokratie entarte, sobald die Politik zum Beruf werde«, hielt er für »reine Ideologie« (452).