Imoressum

ISBN 9783955011383 (E-Book)

 

andersseitig.de 2006

Covergestaltung: Erhard Koch

Digitalisierung: Erhard Koch


andersseitig Verlag

Dresden

www.andersseitig.de


info@new-ebooks.de


(mehr unter Impressum-Kontakt)

 

Meinem Freunde,
dem Dichter
der »Verwandlungen der Venus«
Richard Dehmel
gewidmet.

Impressum - Kontakt


andersseitig Verlag

Helgolandstraße 2

01097 Dresden


info@new-ebooks.de



www.andersseitig.de



Kontakt:

Telefon: 03517928282

E-Mail: info@new-ebooks.de



Verantwortlich für den Inhalt

Johannes Krüger

Helgolandstraße 2

01097 Dresden

Stanisław Przybyszewski

Totenmesse

Motto: Fismoll-Polonaise
Op. 44
Friedrich Chopin

Einen von den Unbekannten, von den im Dunklen und in Vergessenheit lebenden »Certains« führe ich hier vor.

Er ist Einer von denen, die auf dem Wege hinknicken, wie kranke Blumen, – Einer von dem aristokratischen Geschlechte des neuen Geistes, die an übermäßiger Verfeinerung und allzu üppiger Gehirnentwicklung zu Grunde gehen.

Wie ich in der Serie »Zur Psychologie des Individuums« durchaus keine Kritiken schreiben wollte, sondern einzig und allein die jüngste Evolutionsphase des menschlichen Gehirnes zu untersuchen beabsichtigte, ihre feinen und feinsten Wurzelfasern zu beschreiben, ihre Zusammensetzung zu analysieren, ein Totalitätsbild dessen zu geben, was noch unklar und verschwommen, nichtsdestoweniger immer energischer in den verschiedensten Äußerungen des modernen Lebens sich kundgibt: so auch in dieser Erzählung.

Es sind zumeist nur feine Spuren, die sich bis jetzt verfolgen lassen, zumeist nur Schattenstreifen, die eine Monomanie, eine Psychose in die Zukunft wirft; aber das sind die geknickten Zweige in der finsteren Wildnis, die zur vorläufigen Orientierung genügen.

Man erschrecke nicht vor den Neurosen, die am Ende doch den Weg bezeichnen, den die fortschreitende Entwicklung des menschlichen Geistes einzuschlagen scheint. In der Medizin hat man sich schon längst abgewöhnt, beispielshalber die Neurasthenie als eine Krankheit zu betrachten; sie scheint vielmehr die neueste und absolut notwendige Evolutionsphase zu sein, in der das Gehirn leistungsfähiger und vermöge der weit größeren Empfindlichkeit viel ausgiebiger wird.

Wenn auch die Neurose vorläufig noch tief den Organismus schädigt, so ist das weiter nicht schlimm. Gegen das Gehirn ist die sonstige körperliche Entwicklung zurückgeblieben, aber es dauert nicht lange: der Körper wird sich anpassen, das wunderbare Selbststeuerungsgesetz wird in Funktion treten, und was heute neurasthenisch heißt, wird sich morgen die höchste Gesundheit nennen.

Grade in den Neurosen und Psychosen liegen die Samenkeime eines neuen, bis jetzt noch nicht klassifizierten Empfindens; sie sind es, in denen das Dunkle sich mit der Morgenröte des Bewusstseins rötet und die unterirdischen Riffe sich über das Niveau der Meeresfläche heben.

Wenn auch manches »cent fois grandeur naturelle« erscheint, so schadet auch das nichts! Was groß ist, kann besser gesehen werden; für den Psychologen kann solche Größe nur willkommen sein.

Einen Unbekannten, Einen »vom Wege« habe ich aufgelesen. Die Menschen, die ich analysiere, brauchen durchaus nicht literarische »Größen« zu sein; aus dem Empfindungsleben eines fein konstruierten Alkoholikers, eines Monomanen, der an Schreckbildpsychose leidet, kann man tiefere und feinere Rückschlüsse auf die Psychologie der Zeit, auf die Natur einer wirklich individuellen Veranlagung gewinnen, als aus den Werken manches großen Literaten.

Zumeist sind es die großartigsten Offenbarungen des Intimsten und Innersten der Menschenseele; zuckende Blitze sind es, die in das große Unbekannte, in das fremde Land des Unterbewussten ein grelles, wenn auch momentanes Licht werfen.

Daß diese »Certains«, diese geistigen Sachsengänger, die überall und nirgends ihre Heimat haben, zu Grunde gehen, ist weder befremdlich, noch traurig. Sie sind vielleicht der einzige Luxus, den sich die Natur jetzt noch gestattet. Die Seele ist ihr großes Meisterwerk, aber sie schafft und experimentiert noch immer an ihm, noch immer schafft sie neue Versuchsformen, bis sie eines Tages doch vielleicht das große Übergehirn erschafft, nach dem es sie gelüstet.

Der Psychologe hat selbstverständlich das unumschränkte, unbegrenzte Recht, ein solches Experimentierobjekt mit derselben Freiheit zu behandeln, mit derselben Ruhe, mit demselben Jenseits von Gut und Böse, wie es beispielshalber dem Botaniker ohne Widerrede eingeräumt wird, wenn er eine neue Spezies behandelt. Von diesem Rechte habe ich Gebrauch gemacht.

Die Erzählung, in der dies individuelle Leben speziell in Rücksicht auf den Geschlechtswillen untersucht wird, ist in der Ichform geschrieben, weil man in ihr den intimsten Puls am besten erfassen, das leiseste Zittern des neuen, aus den Plazentahüllen des Unbewussten sich sehnenden Geistes am deutlichsten vernehmen kann.

Berlin, Pfingsten 1893.

Am Anfang war das Geschlecht. Nichts außer ihm – alles in ihm.

Das Geschlecht war das ziel- und uferlose απειρον des alten Anaximander, als er Mir den Uranfang träumte, der Geist der Bibel, der über den Gewässern schwebte, als noch nichts war außer Mir.

Das Geschlecht ist die Grundsubstanz des Lebens, der Inhalt der Entwicklung, das innerste Wesen der Individualität.

Das Geschlecht ist das ewig Schaffende, das Umgestaltend-Zerstörende.

Es war die Kraft, mit der Ich die Atome aufeinander warf, – die blinde Brunst, die ihnen eingab, sich zu kopulieren, die sie Elemente und Welten schaffen ließ.

Es war die Kraft, die den Äther in namenlose Sehnsucht brachte, seine Teile Welle in Welle zu kuppeln, sie in heiße Vibrationen stürzte und zu Licht werden ließ.

Es war die Kraft, die den elektrischen Strom in sich zurücklaufen, Dampfmoleküle an einander prallen ließ, – und so ist das Geschlecht Leben, Licht, Bewegung.

Und das Geschlecht wurde maßlos geil. Es schuf sich Fangarme, Trichter, Röhren, Gefäße, um die ganze Welt in sich hineinzuschlürfen; es schuf sich einen Protoplasmaleib, um mit unendlicher Fläche zu genießen; es sog alle Lebensfunktionen in seinen gierigen Schlund hinein, um sich zu befriedigen.

Und es wälzte sich dahin in endloser Evolution und konnte nicht ruhen; und es streckte sich aus in zahllose Formen und konnte sich nicht befriedigen. Es raste nach Glück im Trochiten, es wieherte nach Genuss in der ersten Metazoë, als es das Urwesen in zwei Teile zerriss und sich selbst in zwei Geschlechter spaltete, grausam, brutal, zur gegenseitigen Zerstörung, nur um ein neues, raffinierteres Wesen zu schaffen, das eine kompliziertere Befriedigungsorgie für die ewig hungrigen Dämonen seiner Wollust erfinden könnte.

Und so schuf sich das Geschlecht endlich das Gehirn.

Das war das große Meisterwerk seiner Wollust. Es fing an ihm zu kneten und zu winden an, und drehte an ihm, und stülpte es aus in Sinnesorgane, zerteilte Das, was ganz war, in tausend Modifikationen, differenzierte Gemeingefühle zu distinkten Sinneseindrücken, zerschnitt ihre Verbindungen unter einander, daß einer und derselbe Eindruck in verschiedenen Sensationen kostbar würde, daß die einheitliche Welt als fünf- und zehnfache Welt erschiene, und wo früher eine Kraft sich sättigte, wühlten nunmehr tausende.

Das war die Geburt der Seele.

Das Geschlecht liebte die Seele. An seiner hermaphroditischen Brust ließ es die Gehirnseele erstarken; es war für sie die Aorta, die von dem Herzen des Allseins ihr das Lebensblut zuführte; es war für sie die Nabelschnur, die sie mit der Allgebärmutter verband; es war der Linsenfokus, durch den die Seele sah, die Skala, in der sie die Welt als Ton, der Umfang, in welchem sie die höchste Lust, den höchsten Schmerz perzipierte.