Karoline von Günderrode (1780-1806) war eine begabte und hoffnungsvolle Dichterin der Romantik – und eine leidenschaftliche und radikale junge Frau, die für ein unabhängiges Leben kämpfte. Das einzigartige und aufwühlende Schicksal der jungen deutschen Dichterin hinterließ bis heute tiefe Spuren in Literatur und Geschichte.
Karoline von Günderrode sah Bildung und Dichten als ihre einzige Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und die engen Grenzen ihres weiblichen Lebens zu sprengen. Damit entfachte sie Empörung und Ablehnung. Als selbst ihre große Liebe, der verheiratete Friedrich Creuzer, sich von ihr abwandte und sie verließ, sah sie nur noch einen Ausweg: Mit nur 26 Jahren tötete sie sich mit ihrem Dolch, den sie als Zeichen der Freiheit und Selbstbestimmung stets bei sich trug.
Dagmar von Gersdorff zeichnet in dieser Biographie ein eindringliches Bild der hochbegabten, sensiblen und leidenschaftlichen jungen Frau.
Dagmar von Gersdorff wurde 1938 in Trier geboren. Die promovierte Germanistin lebt heute als Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin in Berlin. Sie ist Mitglied des Internationalen PEN. Bekannt wurde sie u. a. durch die Lebensbeschreibung von Goethes Mutter, die die Bestsellerlisten erreichte.
Von Dagmar von Gersdorff liegen im insel taschenbuch außerdem vor: Goethes Mutter (it 2925); Dich zu lieben kann ich nicht verlernen. Das Leben der Sophie Brentano-Mereau (it 3235); Goethes Enkel (it 3350); Marianne von Willemer und Goethe. Geschichte einer Liebe (it 4059); Caroline von Humboldt. Eine Biographie (it 4158).
Dagmar von Gersdorff
»Die Erde ist mir
Heimat nicht geworden«
Das Leben der Karoline
von Günderrode
Insel Verlag
Umschlagabbildung: Moritz Michael Daffinger, Marie Daffinger.
Um 1830. Detail. Österreichische Galerie Belvedere, Wien
eBook Insel Verlag Berlin 2014
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2006
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eISBN 978-3-458-73257-0
www.insel-verlag.de
i. | »Heut hab ich die Günderode gesehen …« |
ii. | Die Familie von Günderrode |
iii. | Eine Stiftsdame von siebzehn Jahren. 1797 |
iv. | Der Freund Friedrich von Savigny. 1799 |
v. | Warten auf Antwort |
vi. | Der zwanzigste Geburtstag. 1800 |
vii. | »Hand in Hand« – Bettine Brentano. 1801 |
viii. | Eine Haßliebe: Gunda Brentano |
ix. | Charlottes Tod. Erste Gedichte |
x. | Erotische Anträge: Clemens Brentano. 1802 |
xi. | Ausflug im Gewitter: Achim von Arnim |
xii. | Eine Frauenfreundschaft. 1803 |
xiii. | »Eine arme vom Schicksal verfolgte Person« |
xiv. | »Gedichte und Phantasien«. 1804 |
xv. | Mögliche Begegnung: Heinrich von Kleist |
xvi. | Die Hochzeiten der Freunde |
xvii. | »Vom ersten Augenblick an Liebe«: |
xviii. | Täuschung, Enttäuschung |
xix. | »Ein Bund auf Leben und Tod« |
xx. | »Poetische Fragmente«. 1805 |
xxi. | Eine Zimmerbeschreibung |
xxii. | Heimliche Heiratspläne |
xxiii. | Betrogen |
xxiv. | »Das Abendrot der kurzen Liebesfreude«. 1806 |
xxv. | Untreue und Verrat |
xxvi. | Der Tod. 26. Juli 1806 |
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Bildnachweis
So habe ich immer Biographien mit eigener Freude gelesen, und es ist mir dabei stets vorgekommen als könne man keinen vollständigen Menschen erdichten, man erfindet immer nur eine Seite, und die Complicirtheit des menschlichen Daseins bleibt stets unerreicht …
Karoline von Günderrode an Bettine Brentano
Bettine Brentano liebte diese Freundin. Sie bewunderte ihr poetisches Talent, fand sie klug und faszinierend, phantasievoll und liebenswert, nannte sie Einzige unter den Sternen. Karoline von Günderrode war groß und schlank, eine hochgewachsene Gestalt mit weichen, geradezu fließenden Bewegungen, graziös, mit einem schmalen Gesicht und lebendigen Augen, die beim Sprechen aufzuleuchten schienen. Sie war die Verfasserin ernster Dramen und elegischer Gedichte, und für Bettine klangen ihre Verse wie Musik: Einstens lebt ich süßes Leben … Und die schönen hellen Strahlen / liebten all und küßten mich …
Das Glück der Freundschaft wird lebendig in einem Briefroman, den Bettine mehr als dreißig Jahre nach Karolines Tod verfaßte: Die Günderode.1 Darin beschreibt sie die Jugendgefährtin, die Herrscherin im Reich des Geistes, die Gesprächspartnerin und Poetin, und schildert damit auch sich selbst, die aufnahmebereite und wissensdurstige Bettine Brentano, Enkelin der Schriftstellerin Sophie La Roche, in deren Garten sie Karoline von Günderrode kennenlernte.
Bemerkenswert sind schon die ersten Sätze, mit denen die tote Freundin in die Gegenwart geholt wird. Wie ich erzählte, daß Du mitgefahren warst bis Hanau, da hätten sie Dich all gern hier haben wollen. Wer ist die interessante Frau, fragt man, die alle bei sich haben wollten? In ihrem Buch spricht Bettine die Freundin wie früher als Günderödchen an und erreicht dadurch unmittelbare Nähe. Wie sehr hab ich an Dich gedacht und Deine Worte … wie ich Dich gesehen hatte zum allerersten Mal …
Das Entzücken, mit dem Bettine von der Freundin spricht, läßt erkennen, daß Karoline für sie der Inbegriff einer schönen Frau war. Sie war so sanft und weich in allen Zügen wie eine Blondine. Sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes gedämpftes Girren, in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprachen. Sie ging nicht, sie wandelte … Ihr Wuchs war hoch; ihre Gestalt war zu fließend, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte …2
Lieblich wie eine Silberbirke, so lautet die Formulierung, mit der Bettine die Freundin einem Besucher schilderte. Ich musste ihm auf dem Weg von Dir erzählen, von unserm Umgang, von Deinem Wesen … Sie beschreibt das lange, schwärzlich glänzend braune Haar, das in freien weichen Locken, wie sie wollen, sich um ihre Schultern legt, die stark gewölbte Stirn so sanft und weiß wie Elfenbein, die dunklen Augenbrauen, die wie zwei schwarze Drachen die blauen Augen bewachten – sogar das Grübchen im Kinn bleibt nicht unerwähnt – ein kleiner Eros habe da ein Dellchen drin gelassen, das der Finger eingedrückt.3
Mit Wärme und Glanz umgibt Bettine ein Freundinnenleben. Was haben wir gelacht, Günderode; – und haben unter Zimmetbäumen eine Tasse Schokolade getrunken, die wir in Deinem Öfchen kochten mit wohlriechendem Sandelholz; … Wir waren doch so glücklich; wie schwärmte mein Kopf von brennenden Farben der Blütenwelt … Sieben Spaziergänge haben wir so gemacht, Günderode, ich hab mir sie gezählt, sie kamen mir wie das Köstlichste im Leben vor.4
Nicht nur bei Bettine hinterließ Karoline von Günderrode einen unauslöschlichen Eindruck. Friedrich von Savigny fing Feuer, als er die Neunzehnjährige kennenlernte. Clemens Brentano suchte in ihr die erotische Partnerin, die er mit leidenschaftlichen Anträgen überschüttete. Achim von Arnim setzte ihr in seiner Novelle Isabella von Ägypten ein poetisches Denkmal. Er hatte sie im Arm gehalten und war überrascht, wo sie so hübsch aussah, daß wir uns alle verwunderten. Als Minerva, Tochter des Zeus, behielt sie ein Verehrer in Erinnerung. Goethe, der seiner Ottilie in den Wahlverwandtschaften viele ihrer Wesenszüge verlieh, fand ihre Gedichte erstaunlich. Friedrich Creuzer schließlich, der Gelehrte aus Heidelberg, war hingerissen von dieser Frau, sie war seine Geliebte, seine Entsprechung, sein Glück. Lebe wohl, Süßeste, wäre es mir doch nur erlaubt, die leuchtenden Sterne Deiner Augen zu sehen! Und: Du weißt es selber nicht wie reich Du bist und wie schön.
Es war aber dann doch nur Bettine, die Karoline von Günderrode vor dem Vergessen bewahrte. Sie liefert in ihrem Günderode-Buch ein phantasievolles, an Begeisterung kaum zu übertreffendes Porträt in Briefen. Allerdings entspricht ihre Darstellung nicht immer den Tatsachen. Hauptpersonen wie Creuzer fehlen, Briefe werden willkürlich eingestreut, ergänzt oder auch frei erfunden. Ihr Buch beleuchtet die glücklichen Phasen der Gemeinsamkeit und Übereinstimmung – von Trennung ist darin nicht die Rede.
Wenn jemals eine junge Dichterin eine Verehrerin besaß, die sie glühend bewunderte und ihre Gedichte auswendig kannte, dann Karoline von Günderrode in ihrer Schülerin Bettine Brentano, die es unternahm, mit leuchtenden Worten an die kaum mehr bekannten Verse der Lyrikerin zu erinnern: Durch Dich feuert der Geist, wie die Sonn durchs frische Laub feuert … Bettine war es auch, die das Entstehen der ersten Gedichte und Balladen miterlebt hatte: … unser Zusammenleben war so schön, es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward …
Verse, die sie besonders liebte, werden von ihr zitiert:
Drum laß mich, wie mich der Moment geboren.
In ew'gen Kreisen drehen sich die Horen;
Die Sterne wandeln ohne festen Stand –
Der Tod der Freundin bleibt in Bettines Buch unerwähnt, als habe er nicht stattgefunden. Das ist bemerkenswert. Bettine empfand Karolines Selbstmord wie eine Schuld, die sie mit zu verantworten habe. Zu Achim von Arnim sagte sie: Sie traf mich auch mit dieser Untat, ich werde den Schmerz in meinem Leben mit mir führen. Die »Untat« des freiwilligen Todes, Schmerz und Schuldgefühle konnten nur schreibend bewältigt werden.
Für Bettine blieb die Freundschaft wirkungsmächtig bis zuletzt. Die Beziehung sei einmalig und unwiederholbar gewesen, erklärte sie. Das Meiste und Beste, was ich geworden bin, habe ich der Günderode zu danken. Bettine läßt Karoline in ihrem Buch so auftreten, als lebe sie noch immer in der Gegenwart. Heut hab ich die Günderode gesehen, es war ein Geschenk von Gott. Sie, die in ihrem Leben mit den interessantesten und geistvollsten Menschen zusammengetroffen war, begriff am Ende, wie ungewöhnlich und unvergleichlich diese Dichterin gewesen war.
Es war Bettines Wunsch, der Freundin ein unvergängliches Denkmal zu setzen, wie es – auf andere Weise – mein Anliegen ist, mit Hilfe der inzwischen aufgefundenen Briefe und Gedichte, Entwürfe und Studienhefte Gestalt und Werk der Karoline von Günderrode ins Leben zurückzurufen.
Ein frühes Blatt, noch unveröffentlicht, hat sich erhalten, darauf in kindlich exakter Schrift ein kleines Gedicht, offenbar gedacht als ein Stammbuchblatt.
Edle Freundschaft nur verbindet
Seelen zu der schönsten Pflicht.
Und die Kränze, die sie windet
Modern selbst im Grabe nicht.
Einst beim Klang der Engellieder,
Unter Himmels-Amaranth,
Finden wir uns alle wieder
In der Tugend Vaterland.
Hanau den 13ten April 1797
Erinnere Dich an Deine Freundin Caroline v G.5
Freundschaft und Tod – es sind die Themen, die das Werk der Karoline von Günderrode von nun an durchziehen. Die Verfasserin war siebzehn Jahre alt. Sie lebte in Hanau inmitten einer großen Familie mit der Mutter, den vier Schwestern und einem jüngeren Bruder. Die Briefe der jungen Mädchen klingen sorglos und witzig. Sie handeln von der Ballsaison, von neuen Kleidern und Maskenkostümen, künstlichen Blumen, halben Perücken und braunen Toupets, Musselin zu hochgegürteten leichten Gewändern, von Unterröcken, Teetischchen, von Büchern, unerschwinglichen goldenen Ohrringen, unleidlichen Freundinnen wie der Apothekerstochter Sophie Blum, diversen Vettern und anderen Besuchern zum Abendbrot, über die man spötteln und albern kann.
Karoline von Günderrode wurde am 11. Februar 1780 in Karlsruhe geboren. Ihr Vater Hektor Wilhelm von Günderrode hatte mit vierundzwanzig Jahren eine Frau geheiratet, die den gleichen Namen trug, aber aus einem anderen Zweig der Familie stammte: Louise Sophie Victorine Auguste von Günderrode, zum Zeitpunkt der Eheschließung zwanzig Jahre alt. Sie war zart und feinsinnig gebildet, dichtete auch selbst, dafür besaß sie keine Kenntnisse in der Hauswirtschaft und war in Geldangelegenheiten so unerfahren, daß es darüber zwischen ihr und den Töchtern, wie sich noch zeigen wird, zu schweren Auseinandersetzungen kam.
Abb. 1 oben: Johann Maximilian von Günderrode, Karolines Großvater.
Stich von J. M. Bernigeroth nach einer Zeichnung von J. R. Reuling, 1742.
unten: Hektor Wilhelm von Günderrode, Karolines Vater.
Stich von J. C. Schleich nach einem Gemälde von Kisling.
Der Name des Geschlechts derer von Günderrode deutet auf die Herkunft aus Thüringen hin, möglicherweise aus dem Dorf Günterode im Eichsfeld. Tilemann Günterrode, Stammvater der hessischen Linie, erhielt schon 1549 Burg und Hofgut Schotten als Lehen, seither zählte die Familie, die drei Jahrhunderte hindurch Ratsherren und Bürgermeister, Diplomaten, Offiziere und Gelehrte hervorbrachte, zum hessischen Adel. Die urkundlich belegte Schreibweise des Namens ist Günderrode.6
Das junge Paar zog nach der Hochzeit in die Residenzstadt Karlsruhe, wo Louise von Günderrode Jahr für Jahr ein Kind zur Welt brachte:
1780 Karoline Friederike Louise Maximiliane
1781 Louise Henriette Wilhelmine
1782 Wilhelmine Louise Auguste Justine
1783 Charlotte Friederike Christiane Wilhelmine
1784 Amalie Karoline Louise Henriette
1786 Friedrich Karl Hektor Wilhelm von Günderrode
Als der einzige Sohn zur Welt kam, lebte der Vater schon nicht mehr. Er war einer fiebrigen Erkrankung erlegen, erst dreißig Jahre alt. Hektor von Günderrode, Sohn des Juristen Johann Maximilian von Günderrode, hatte früh Karriere gemacht und die Stelle eines Regierungsassessors, schließlich Regierungsrats beim Markgrafen von Baden bekleidet. Außerdem war er als Verfasser historischer Biographien und »Idyllen« hervorgetreten, die zu Hause vorgelesen wurden. Das Porträt des eleganten Kammerherrn blieb bis heute im Privatbesitz seiner Nachkommen erhalten. Karoline muß mit Verehrung am Vater gehangen haben. Entsetzlich der Tag, an dem die hölzerne Lade mit seiner Leiche aus dem Haus gebracht wurde, ein Vorgang, der auf das sechsjährige Kind traumatisch gewirkt haben muß: es hatte den Tod gesehen.
Das hochbegabte Mädchen hatte sich gewiß zu diesem klugen, überlegenen Vater besonders hingezogen gefühlt. Sein früher Tod bedeutete einen radikalen Einschnitt in Karolines Leben, eine Trennung, die sie nie verwand. Es blieb die Sehnsucht, ihn wiederzusehen – vielleicht auch eine Ursache ihres immer wieder aufsteigenden Todeswunsches. Von der Mutter, die Jahr für Jahr schwanger war und sich um das jeweils jüngste Kind kümmern mußte, konnte sie die nötige Zuwendung nicht erwarten. Für die fünf heranwachsenden Töchter war wechselndes Hauspersonal zuständig.
Nach des Vaters Tod fehlte das bisherige Einkommen; von Sorgen war die Rede, das Kind wird die soziale Veränderung gespürt haben. Die Witwe erhielt als Pension 300 Gulden im Monat, was immerhin dem Jahresgehalt eines Kammerherrn entsprach, doch mit sechs Kindern nicht gerade glänzend war. Sie verließ Karlsruhe und zog in die Residenzstadt Hanau, wo sie bei der Prinzessin Auguste von Hessen-Kassel, einer Schwester des Königs von Preußen, eine Stelle als Gesellschafterin zu erlangen hoffte, zumal sie sich nicht nur als Vorleserin, sondern auch selbst literarisch betätigte, Gedichte und Erzählungen schrieb. Es hieß, die poetische Begabung beider Eltern habe sich auf ihre Tochter Karoline vererbt, ein hochbegabtes und liebenswürdiges, schönes Mädchen von weichem, träumerischem Wesen, aber tiefinnerlichem, reizbarem Gefühlsleben …7
Karoline: die Älteste, die Ernste, die Zuverlässige. Die Mutter, die als Gesellschaftsdame viel Zeit bei Hofe verbringen mußte, war häufig abwesend. Bei ihr fand Karoline auch nie die Geborgenheit und den Zuspruch, den sie nötig gehabt hätte. Daß das Verhältnis nicht von Zuneigung getragen, sondern im Gegenteil von früh an gestört war, geht aus einem unveröffentlichten Brief hervor, worin die Mutter ihre Tochter »in recht kühlen und distanzierten Wendungen zu Wohlverhalten« auffordert, auch daraus, daß sie sie unverhältnismäßig jung in ein Stift gab.8 Karolines Beziehung zu ihrer Mutter verschlechterte sich im Lauf der Jahre erheblich, so daß der Kontakt – wie sich zeigen wird – schließlich völlig abbrach.
Die Kinderkrankheiten – dazu zählten damals Masern, Typhus und der Scharlach, an dem Clemens Brentano zwei kleine Kinder verlor – hat Karoline wohl recht und schlecht überlebt. Kindersterben war an der Tagesordnung. Fünf Schwestern der Mutter waren als Säuglinge gestorben. In einem Brief der Schwester Wilhelmine ist von drei Nachbarskindern die Rede, die alle am gleichen Tag an der noch unerprobten Pockenimpfung starben. Daß auch Karoline schwere Krankheiten durchmachte, bezeugen ihre lebenslangen Beschwerden, die vielen Kopfschmerzen, der Druck auf der Brust, die schwachen Augen, die durchsichtige Blässe und Zartheit.
Die Residenzstadt Hanau als neuer Wohnort der Familie lag auch deshalb günstig, weil im nahen Butzbach die Eltern der Mutter lebten: der Jurist Christian Maximilian von Günderrode (1730-1813) und seine energische Ehefrau Louise Dorothea Agathe, geborene von Drachstedt (1736-1799). Bei ihnen war die älteste Enkelin häufig zu Gast, und es stammen die ersten erhaltenen Briefe von den Butzbacher Großeltern, Briefe, die in einer spätbarocken, geradezu abenteuerlichen Schreibweise die Enkelin ermahnen und ihr frisch gestrickte, leider zu große Strümpfe ankündigen. Ein Schreiben stammt aus dem Jahr 1794, als die dreizehnjährige Louise qualvoll gestorben war. Man hatte die vierzehnjährige Karoline, wohl um sie abzulenken, nach Butzbach geschickt, das erklärt ihre Zuneigung zu den Großeltern, besonders zum Großvater, bei dem sie später wochenlang ausharrte, um ihm die Einsamkeit zu erleichtern. Insgesamt blieben elf Briefe der Großeltern an Karoline erhalten.9
Großmutter Louise sandte gutgemeinte Ratschläge an ihre Lina und mahnte an, was Großmütter in berechtigter Sorge um das sittliche Wohl ihrer Enkelinnen schon immer anmahnten. Daß nächtliche laufen bringt Keine Ehre, weil sich alsdann hier und da Etwas anfedelt, wo durch ich nichts gewönne. Nein, vielmehr meine Ehre, Wo doch ein Megden, und Jeder Vernünftige alles aufsetzen mus ins Spiel setzen. Ach Gott regiere dich mit dem heiligen Geist, werde und Sey eine recht Schaftene Christin, so würst du dich auch bestreben eine Tugendhafte Person Zusein, und daß gehet über alles. Hast du noch Liebe vor mich, so verwürf meine Ermahnung nicht und denke daran, wenn ich schon lang Erkald bin, Gott seegne dich.10
Es war den Großeltern also zu Ohren gekommen, daß die Enkelin nachts zu lange aufblieb, abends noch auf der Straße gesehen wurde und womöglich im Begriff stand, sich mit einem nicht standesgemäßen Freund zu versehen – es sollte sich nämlich nichts anfedeln, und sie sollte um Gottes willen »das nächtliche Laufen« unterlassen, sich nicht herumtreiben, sondern ihr Betragen so einrichten, daß du uns alle Ehre machst. Der großmütterliche Brief stammt vom 1. August 1797 und enthält die Ermahnungen, durch die man bei Töchtern lebenslange Schuldgefühle bewirken konnte: der Familie »um Gottes willen« keine Schande zu machen. Frühe Restriktionen, frühe Drohungen, sich sittsam zu verhalten und die erwachende Weiblichkeit zu unterdrücken. Darum sei es sehr zu begrüßen, daß das liebe Medgen im Stift lerne, was schicklich oder nicht schicklich sei. Die Fräulein Pröbstin werde schon dafür sorgen.
Es kam zu dem einschneidendsten Ereignis im Leben der heranwachsenden Karoline seit des Vaters Tod: sie verließ das Elternhaus. Allerdings ging sie weder als Erzieherin in eine andere Familie noch, wie andere ihres Alters, in die Ehe. Sie wurde ins Stift gegeben. Dabei wirkt das drängende Bittgesuch der Mutter merkwürdig: die Tochter war erst siebzehn Jahre alt.
Es werden finanzielle Gründe gewesen sein, die die Mutter bewogen, ihre Älteste aus dem Haus zu geben. Sie lag ihr auf der Tasche, das Leben war teuer, und Frau von Günderrode konnte nicht mit Geld umgehen. Das Mutter-Tochter-Verhältnis ließ überdies zu wünschen übrig; die Mutter kam mit Karolines Wesen, ihren »unglücklichen Anlagen«, nicht zurecht.11 Auch war das Mädchen viel krank, die Rede ist von gichtigem Kopfweh, von Entnervung und Mutlosigkeit, es heißt: Ich bin nicht krank, aber doch kränklich. Und immer wieder sind es die Augen: Augen, die vom Arbeiten müde sind, oder: Meine Augen sind mir so schwach.12 Sie suchte Linderung durch gedämpftes Licht, durch grünes Schreibpapier. Manchen Brief hat sie den Schwestern diktiert.
Am 24. Mai 1797 wurde Karoline von Günderrode in das Cronstett-Hynspergische Damenstift, gelegen in einem Seitengebäude des alten Kranichhofs am Roßmarkt zu Frankfurt am Main, aufgenommen. Es war gerade ein Platz durch den Tod einer älteren Günderrode frei geworden. Die Mutter befahl, sie gehorchte. Gleichzeitig mit ihr wurde die sechs Jahre ältere, häßliche, aber gutmütige Anna Philippine von Fichard nachmittags um vier Uhr in der Conventstube des Stifts unter Umhängung des Stiftsordens feierlich eingeführt.
Abb. 2 Das Cronstett-Hynspergische Damenstift im Kranichhof,
gesehen von der Gartenseite im Jahre 1864.
Justina von Cronstetten, die Gründerin des Stifts, war mit den Günderrodes entfernt verwandt. Ihre Eltern, der Ratsherr und Frankfurter Bürgermeister Adolph Steffan v. Cronstetten und seine Ehefrau Maria Catharina von Hynsperg hatten fünf Kinder, von denen nur Justina überlebte. Mit zwanzig Jahren wurde sie in eine dramatische Liebesaffaire verwickelt. Hauptmann Andreas von Crass hatte vergeblich um Justina geworben und schließlich eine Entführung geplant. Er zerrte sie vor der Kirche in eine bereitgestellte Kutsche, aus der sie in letzter Minute von Passanten befreit wurde. Unklar blieb, ob nicht Justina selbst an der Entführung beteiligt war, jedenfalls fühlte sie sich nie frei von Schuld – anders ist kaum zu erklären, daß dieses Ereignis ihr ganzes Leben bestimmte. Der Hauptmann wurde ins Heilig-Geist-Hospital gesperrt, von wo er mehrfach auszubrechen versuchte. Schließlich landete er im Irrenhaus, wo Justina ihn noch vor seinem Tod in verwahrlostem Zustand angetroffen haben soll.13 Reich, unverheiratet und kinderlos geblieben, schuf sie das Stift, das ledigen Töchtern und armen Witwen der Ganerbschaft des Hauses Alten-Limpurg, wozu auch die Günderrodes zählten, zugute kommen sollte. Es entstand die Steffan v. Cronstett- und v. Hynspergische Adelige Evangelische Stiftung.
Karoline von Günderrode erfüllte fast alle Bedingungen, die die Oberin – eine Bekannte der Großmutter – bei einer Neuaufnahme verlangte. Sie entstammte einer angesehenen Familie, war evangelisch, von adliger Herkunft, ledig und mittellos. Nur eine Bedingung konnte sie beim besten Willen nicht erfüllen: sie war sehr jung.
Man kann sich die Situation der Siebzehnjährigen nur schwer vorstellen, die aus der Familie gerissen und eilig nach Frankfurt gebracht wurde, ohne Rücksicht darauf, daß es für ein Mädchen dieses Alters mit ihrem gerade erwachenden Liebes- und Sexualgefühl der denkbar ungünstigste Zeitpunkt war. Das sensible, hochbegabte und viel zu ernste Kind gerade jetzt ins Stift zu stecken war im Grunde ein Verbrechen an ihrer Seele.
Die Stiftsordnung war noch von Justina von Cronstetten selber bis in Kleinigkeiten festgelegt worden: die Anzahl der Gottesdienste und Tischgebete, der Tagesablauf.14 Beim Einzug im Stift war im Wert von 70 Gulden Leinenwäsche mitzubringen, nämlich drei Paar Laken, sechs Tischtücher, zwölf Servietten und sechs Handtücher. Alle Vierteljahre war große Wäsche, dazu wurden Waschfrauen und Büglerinnen gemietet. Zur Bedienung der zwölf Insassinnen standen drei Mägde und eine Köchin zur Verfügung. Jeden Abend pünktlich um 8 Uhr erhielt man Suppe, Ragout oder kalten Braten. Wer es vorzog, auf seinem Zimmer zu bleiben, hatte aus der Stiftsküche nichts zu erwarten.
Wurden einige der Regeln für die neue Kanonissin gelockert? Karoline konnte jedenfalls immer ihre Familie besuchen und nach Absprache verreisen. Es blieb aber dabei, daß man niemals Herrenbesuch empfangen, keine Feste geben und zu bestimmter Uhrzeit im Hause sein mußte.
Im Stift wurde sie nur noch »die Günderrode« genannt, als sei sie bereits eine alte Jungfer. Alle Insassinnen sprachen sich grundsätzlich mit ihrem Nachnamen an; es hieß: die Glauburg, die Fichard, die Holzhausen. So bürgerte es sich auch bei den Freunden ein, man nannte sie nur die Günderrode.
Die Tracht der Insassinnen war ein bodenlanges Kleid, das ihnen das Aussehen von Nonnen verlieh. Wie wirkte diese Restriktion auf das heranwachsende Mädchen, dessen Schwestern von Ballroben schwärmten? Nach einem Besuch im Stift im Jahre 1770 schrieb ein Zeitgenosse über die Damen: Sie speisen zusammen, sind alle schwarz gekleidet, gehen aus in Gesellschaft, spielen wohl, aber dürfen nicht tanzen und in die Comedie gehen. In der Satzung heißt es: Die Kleidung bemeldeter Personen betreffend: so sollen sie sich, in Betracht, dass sie sich der GOttesfurcht, Ehrbarkeit und Demuth zu befleißigen haben, der schwarzen, oder wenigstens anderer modesten Farben bedienen, welche solche Personen weit besser zieren, als wann sie in unnöthiger Pracht, bunten Farben, oder gar in Gold= und Silberreichen Kleidern einher gehen, oder durch Entblößung, große Aufsätze im Haar oder sonst durch eine ihrem Stande unanständige Kleidung Aergerniß geben.
Von Bettine wissen wir, daß Karoline bei einer Einladung ein farbiges Kleid trug. Achim von Arnim sah sie in einem blauen Mantel. Ihr Porträt zeigt sie in einem ärmellosen, unter der Brust gegürteten Kleid von grünlicher Farbe. Von »Entblößung« allerdings konnte nicht die Rede sein. Sie sollen sich aller gottlosen, üppigen und anstössigen Gespräche enthalten. Auch haben sie auf das Haus und ihre besondere Zimmer wohl zu sehen, dass solche reinlich und sauber gehalten werden … Ferner soll ihnen nicht erlaubet seyn, außer ihren nächsten Anverwandten und in Nothfällen von Manns=Personen Visiten anzunehmen … sondern vielmehr beten, sich in GOttes Wort üben, ihre übrige Zeit mit häuslicher Arbeit zubringen, sich überhaupt eines eingezogenen Lebens befleißigen. Sicher war noch nie vorgekommen, daß zwei junge Frauen im Stift philosophische Werke wälzen, Schelling lesen und eine eigene Religion gründen würden, auch nicht, daß in den ehrwürdigen Räumen Reise- und Fluchtpläne geschmiedet wurden, während die Kohle aus dem Ofen fiel und die Schokolade verbrannte.
Den Damen wurde ein Taschengeld gewährt. Karoline von Günderrode erhielt 11 Gulden monatlich. Das war nicht viel, besonders wenn man reisen wollte. Kein Wunder, daß sie an Bettine schrieb, sie lebe eingeschränkt und könne nicht so sorglos in die Zukunft planen wie die Tochter der reichen Brentanos. Karoline nahm gerne Einladungen auf die Landgüter befreundeter Familien an, doch sie war auf Unterbringung und Verpflegung bei ihren Gastgebern angewiesen. Kostenlos waren die Reisen zu den Großeltern nach Butzbach, wo sie, um sich dem ungeliebten Stiftsdasein zu entziehen, oft wochenlang blieb. Butzbach, d.8 Mey 98. Liebes Lingen, verzeihe dass ich Dir heude erstlich antworten kann – Karoline hatte sich in Butzbach wohl gefühlt, der Abschied war schwergefallen, so daß die Großmutter teils tröstet, teils befiehlt: allein es ist nun Deine Bestimmung. Karoline möge sich im Stift gut aufführen, so daß Dein guter Name Dir wie uns allen Ehre macht.15 War schon die bigotte, asexuelle und sterile Atmosphäre des Stifts eine Zumutung für ein Mädchen von gerade achtzehn Jahren, so kam der familiäre Sittlichkeitskodex mit seiner abschnürenden und schuldeinflößenden Wirkung noch hinzu.
Durch kaiserliche Gnade erhielt jede Insassin einen goldenen Orden am Bande, der bei feierlichen Anlässen »an der linken Brust« anzulegen war. An vergoldeter Krone hing ein weiß emailliertes Malteserkreuz mit einem ovalen blauen Mittelschild. Bettine erinnert sich, daß Karoline den Orden bei einem Festessen verlor und unter dem Tisch verzweifelt danach suchte. Bei Heirat oder Tod war der Orden zurückzugeben. Die Stiftschronik meldet für das Jahr 1806 kurz und lakonisch: Stiftsdame Caroline v. Günderrode: Sie wird im Juli bei Winkel am Rhein tot gefunden.
Post von zu Hause. Nun wiederhole ich meine immerwährende Bitte. Schikke mir doch den Dom Carlos, schrieb die Schwester Amalie 1799. Liebe Line … Du hast der Mutter von einer Perükke geschrieben, erkundige Dich doch wie viel eine kostet, kommt sie nicht zu theuer so schikke etliche Proben von braunen Haaren her, besonderst aber nach halben Perükken erkundige Dich.16 Karoline berichtet der Freundin Caroline von Barkhaus: Der Umgang mit meinen Schwestern macht mir viel Freude: doch bemerke ich täglich mehr, daß ich mit Lottchen am meisten harmoniere. (20. Dezember 1799) Charlotte war ihre knapp siebzehnjährige Schwester. Sie litt, was man noch nicht wußte, an unheilbarer Tuberkulose.
Der geliebte Vater hatte sich schriftstellernd betätigt, auch die Mutter dichtete; man muß sich die Atmosphäre im Hause Günderrode als kultiviert und musisch interessiert vorstellen. Karolines Domäne war von früh an die Sprache. Sie sagte es selbst, als sie bei der Beschreibung des Kölner Domes der Poesie vor der Architektur den Vorzug gab.
Schön ist das Innre geziert mit Erzen und Marmor und Treppchen
Und ein purpurner Tag bricht durch die farbigen Fenster
Und zum Himmel verkläret sich alles, Musik und Farben und Formen …
Und das Leben der Kunst, es führet die Seele zum Himmel.
Dichtkunst! Du Seele der Künste, Du die sie alle geboren,
Du beseelest das Grab, steigest zum Himmel empor.17
Hauslehrer der Mädchen war Schuchard, ein Pädagoge, der seiner Aufgabe gerecht wurde, wenn man ihn nach den Kenntnissen beurteilt, die die Schwestern in ihrer Korrespondenz äußern. Man staunt über ihren flüssigen Stil, ihr Wissen und ihren Humor. Schuchard war im vaterlosen Haushalt eine Art Vertrauensperson, wurde von allen respektiert und war in die materiellen Verhältnisse der Mutter eingeweiht. Zu den guten Freunden des Hauses zählte außerdem Dr. Karl Wolfahrt, wichtig in seiner Eigenschaft als Hausarzt der Familie. In Berlin wurde Wolfahrt später zum Freund von Heinrich von Kleist, Achim von Arnim und Adelbert von Chamisso, dem er Gedichte für den Musenalmanach lieferte.
Große Wortgewandtheit zeigt ein Brief, den Charlotte von Günderrode Ostern 1799 an die Freundin Caroline von Barkhaus richtete, um die kranke Karoline zu entschuldigen. Meine Liebe! Da meiner erstgeborenen Schwester schöne Augensternlein ziemlich angegriffen sind, so überträgt sie es mir (denn sie weiß, daß es mir Freude macht; sie hat ein gutes Herz), eine kleine Zwiesprache durch das Sprachgitter meines Briefes mit Ihnen zu halten …18 So gewandt drückt die Siebzehnjährige sich aus.
Charlotte ist auch diejenige, die sich über ein Porträt äußert, das damals von Karoline entstand, das einzige erhaltene Bildnis, das wir von ihr kennen. Vieles ist im Zweiten Weltkrieg verbrannt, auch das Familienarchiv der Günderrodes. Friedrich Creuzer besaß eine Miniatur von Karoline, die er der Ähnlichkeit wegen liebte; sie ist nicht wiederaufgetaucht. Die drei Bildnisse, die sich bis zum Krieg in der Universität Heidelberg befanden, sind verschwunden; eines blieb als Kupferstich erhalten: Karoline mit einem feinen, zarten Profil und langen, von einem Schleier bedeckten Haaren. Das einzige uns im Original bekannte Bildnis zeigt sie mit aufgestecktem Haar und einem eher groben Profil; es entspricht nicht Bettines Beschreibung von Karoline mit dem schmalen Gesicht, der runden Stirn und der feinen Nase. Wahrscheinlich ist es ein dilettantisches Bildnis, gemalt von einem wenig begabten Porträtisten. Charlotte jedenfalls war entsetzt, wie sehr die schöne Karoline darauf entstellt sei, fand keine Ähnlichkeit und meinte (in einem bisher unveröffentlichten Brief) ironisch: Ich habe in Deinem Portrait wirklich den Künstler bewundert, denn ich habe nie geglaubt, daß man eine solche dicke Nase hervorbringen könnte, überhaupt etwas, das so durchaus häßlich ist.19
Abb. 3 Karoline von Günderrode. Nach einer Miniatur aus dem Besitz
der Universität Heidelberg (verschollen).
Die Leselust der Günderrode-Schwestern war übermäßig, und es brannte ihnen auf den Nägeln, literarische Neuigkeiten sofort mitzuteilen. Sie lasen die zeitgenössischen Schriftsteller wie Klopstock und Kosegarten, Jacobis Woldemar, Luise von Voß und Tiecks Genoveva und selbstverständlich alles, was sie von Goethe und Schiller, den Karoline verehrte, bekommen konnten. Kaum lag ein neues Werk von Schiller gedruckt vor, wurde es heftig diskutiert, ja es kam vor, daß man sich zankte, wer es zuerst lesen dürfe. Überlegungen werden angestellt, wie man ohne Geld in den Besitz begehrter Romane gelangen könnte. Karoline scheint sich als erste den neuen, »romantischen« Schriftstellern zugewandt zu haben wie Friedrich Schlegel und Novalis, wußte sich auch ohne Geld die Romane von Jean Paul zu verschaffen und ruhte nicht, bis man ihr Hölderlins Hyperion aushändigte.
Im März 1799 war Schillers Wallenstein erschienen. Die Nachricht muß ihre Schwester Charlotte geradezu elektrisiert haben. Eine erfreuliche Nachricht kann ich Dir doch geben: nemlich Wallenstein so wie auch Titan von J. P. [ Jean Paul] sind im Druck erschienen.20 Bücher sind teuer. Ob Karoline sie aus Frankfurt mitbringen könne. Amalie, die Jüngste, klagt in einem unveröffentlichten Briefchen, sie habe Schillers Geisterseher zwar erhalten, doch nur gekürzt, sie verlange von Karoline eine andere Ausgabe, wenn es sein muß auf schlechterem Papier, wenn nur die Worte dieselben sind.21
Der schwesterliche Wunsch, geäußert Mitte Juni 1799, erreichte Karoline nicht mehr. Sie hatte eine Einladung von Caroline von Barkhaus-Leonhardi erhalten, die Sommerwochen auf ihrem Landgut im Odenwald zu verbringen, hatte ihre Kleider und Bücher eingepackt, die nötige Erlaubnis bei den Administratoren eingeholt und war abgereist.