Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum
Verlag und Herausgeber danken Peter Bichsel für die Zustimmung, auch unpublizierte Texte in den Band aufzunehmen, und Fulbert Steffensky für die Genehmigung des Abdrucks des Gesprächs von Peter Bichsel mit Dorothee Sölle. Für Hilfe bei den Recherchen im Archiv Peter Bichsels geht ein Dank an Dr. Rudolf Probst vom Schweizerischen Literaturarchiv Bern.
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
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www.suhrkamp.de
eISBN 978-3-518-73160-4
Inhalt
I Schaut die Lilien auf dem Felde: Predigten
Der Herr ist mein Trotz!
Selig sind die Friedfertigen
Schaut die Lilien auf dem Felde
Ein Mann veranstaltete ein großes Gastmahl
Aber die Schlange war listiger als alle Tiere
II 24. Dezember: Geschichten
24. Dezember
Lesebuchgeschichte
Kinderfragen
III Das Fest des Dazugehörens: Kolumnen
Im Winter muß mit Bananenbäumen etwas geschehen
Nostradamus
Dummheit ist Macht
Die heilige Zeit der Gewalt
Feiertage
Zum Beispiel das mit den Käfern
Die Weihnachtsgeschichten
Erzählen gegen den Tod
Probleme, Probleme
Ein außerordentlich flugtüchtiger Engel
Weiße Weihnachten
Vor dem Haus steht ein Baum
Die Linsen meiner Mutter
Die heilige Zeit
Der Glaube an die Muskatnuß
Heute ist Sonntag
Etwas weihnächtliche Nostalgie
Von der Macht und der Weisheit
Das Fest des Dazugehörens
IV Wie christlich sind die Christen?
Essays und Reden
Christentum und Politik
Abschied von einer geliebten Kirche
Sport als Religion?
Wie christlich sind die Christen?
Der abwesende Krieg
Das Geschäft mit der Angst
Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?
Frau Müller, Sie sind verhaftet
Von der Erfindung der heiligen Schriften
Man muß sie gesehen haben
V Das Recht, ein Anderer zu werden:
Dorothee Sölle und Peter Bichsel im Gespräch
Peter Bichsels Texte zur Religion
Ein Nachwort
Anmerkungen
Nachweise
so ist es
sagt man
ein baum zum beispiel
ist so
so ist ein baum
und ein baum ist nicht so
und alles ist nicht so
so ist es
Der Herr ist dein Trotz;
er behütet deinen Fuß,
daß er nicht gefangen werde.
Sprüche 3,26
Meine Lieben,
schon die Anrede fällt mir schwer, soll ich sagen »meine lieben Schwestern und Brüder«, »liebe Gemeinde«, »Mitchristen«, »Mitmenschen«. Schon wenn ich Sie anrede, beginnt die Lüge, und wenn ich Sie anrede mit »meine Lieben«, dann weiß ich, daß ich unfähig sein werde, Sie alle zu lieben.
Ich bin ein Schriftsteller, und ich betreibe mit Spaß und Ärger ein Lügengeschäft, ein Fabuliergeschäft, und nun stehe ich hier und soll bekennen, was ich nicht bekennen kann.
Ich bin ein Mensch, ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, und ich bin das gern, und weil ich das gern bin, bin ich auch ein Opportunist, ich bin schnell unter Christen ein Christ, unter Sozialisten ein Sozialist, unter Fußballfans ein Fußballfan – und ich schäme mich nicht dafür, ein Opportunist zu sein. Ich will dazugehören, ich will mit dabei sein. Opportunismus ist auch eine menschliche Fähigkeit.
Trotzdem – nichts anderes macht mir so angst wie mein Opportunismus.
Deshalb fürchte ich mich vor einem Bekenntnis. Ich stelle mich nicht gern vor Christen und sage: »Ich bin ein Christ.« Ich stelle mich nicht gern vor Gläubige und sage: »Ich glaube an einen Gott.«
Wenn ich so etwas unter Sozialisten sage oder unter Fußballfans, dann vertraue ich mir mehr, denn dort ist es trotzig gesagt, und ich vertraue meinem Trotz.
Ich vertraue meinem »Nein, nein« mehr als meinem »Ja, ja«. Und Christ sein in unserer Zeit, das hat mit Nein sagen wohl mehr zu tun als mit Ja sagen.
Es gibt ein christliches Nein, und das wohl erschütterndste Nein stammt von Jesus selbst. »Meinet ihr, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Nein, sondern Zwietracht«, sagt der trotzige Jesus in Lukas 12,51.
Und er meint wohl damit »Auseinandersetzung«, »Dagegen sein können«.
Mir gefällt das kleine, stille, liebe Kind, dem der Onkel zärtlich übers Haar streichelt und sagt: »Du besch e ganz e Liebe«, und es stampft auf den Boden und sagt: »Nei, e be e ganz e Böse.«
Das heißt: Ich bin nicht nur lieb und opportun, ich bin auch selbst jemand.
Ich bin ein anderer – das ist Trotz.
Und der wunderbare Satz von Dorothee Sölle ist ein trotziger Satz: »Christ sein bedeutet das Recht, ein Anderer zu werden.«1
Eine andere, ein anderer werden – das bedeutet das Recht, nein zu sagen.
»Der Herr ist mein Trotz!«
Ich weiß nicht, ob ich an einen Gott glaube – und Fromme werden mir diesen Satz nicht verzeihen, aber ich kann in dieser einen Sache nicht lügen – das ist schon sehr eigenartig, daß ich es in dieser Sache nicht kann, und vielleicht ist das schon ein Teil eines Gottesbeweises – aber ich kann wirklich beim besten Willen nicht wissen, ob ich an ihn glaube.
Trotzdem, trotzdem – ich brauche ihn. Nicht einfach als Tröster und Helfer, nicht einfach als einen, bei dem sich der Leichtathlet durch Bekreuzigen einen Hochsprungweltrekord erbetet – ich brauche ihn, damit das alles, was ist, nicht sinnlos ist – und damit das alles, was ist, nicht alles ist.
»Der Herr ist mein Trotzdem!«
Und wenn einer kommt, der schlüssig und endgültig beweist, daß es ihn nicht gibt – ich brauche ihn trotzdem.
Ich brauche ihn nicht, um zu überleben. Ich brauche ihn nur, um leben zu können.
Damit das, was hier ist, nicht alles ist. Damit Lernen nicht alles ist und Arbeiten nicht alles ist, damit Karriere und Landesverteidigung und Zivilschutz und Atomkraft und Krieg und Aufrüstung, schweizerische Aufrüstung, nicht alles ist.
Damit Reichtum und Villa und Jacht und Freundin zum Vorzeigen und Auto zum Vorzeigen nicht erstrebenswert sind.
Ich brauche ihn, damit ich mir vorstellen kann, daß sich jemand freut über mein Nein, daß sich jemand darüber freut, wenn ich versuche, ein anderer zu sein – versuche, trotzig auf den Boden zu stampfen, wenn mir der gute Onkel übers Haar fährt.
Ich brauche ihn, damit es sinnvoll ist, daß diese Welt mich überlebt.
Und sie wird uns nur überleben, wenn uns der Trotz gelingt, wenn uns der Widerstand gelingt. Wir Menschen haben diese Welt endgültig in unsere Hände genommen – wir haben den Weltuntergang endgültig in unseren Händen.
Und wir wissen endgültig alle, daß wir ihn schaffen können. Und wir wissen alle nicht, ob wir ihn werden verhindern können.
»Um deswillen ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage Widerstand tun und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget«, schreibt Paulus an die Epheser.2
Das hat Paulus nicht umweltschützerisch gemeint, aber inzwischen muß ich es so verstehen: Wenn wir das Feld behalten wollen, dann haben wir Widerstand zu leisten – dann hätten wir Widerstand zu leisten, hätten wir endlich Widerstand zu leisten.
Ich weiß, wovon spreche, weil ich von mir selbst weiß, daß ich es nicht kann.
Ich habe zu oft in meinem Leben nicht Nein gesagt. Und mein Mut und mein Trotz ist ein literarischer. Er gelingt mir fast nur auf dem Papier.
Mein Gott gelingt mir nicht, weil mir mein Trotz nicht gelingt.
Und hie und da staune ich, wie leicht dieser Gott den anderen gelingt, den Feldpredigern und Diktatoren, den Generälen und Bossen oder etwa unserer Bundesverfassung, die mit »Im Namen Gottes des Allmächtigen« beginnt, und so werden dann halt auch die Autobahnen in seinem Namen gebaut und die Atomkraftwerke, und dann wird eben auch ein Mehrheitsbeschluß ein göttlicher Beschluß und Widerstand heidnisch.3
Ich spreche niemandem, der oder die sich zum Christentum bekennt, sein oder ihr Christentum ab – auch schwache, böse, feige Menschen dürfen Christen sein.
Ich staune ab und zu nur, wie leicht es ihnen fällt. Mir fällt es schwer.
Mir fällt mein Trotz nicht leicht. Aber daß der Herr mein Trotz ist, das ist meine Hoffnung. Ich hoffe nicht auf Gott, aber ich hoffe auf unseren Trotz, der Gott ist.
Ich möchte hier leben, und ich lebe gern. Ich möchte nicht hier leben, um reich zu werden und Karriere zu machen und die ganze Welt wirtschaftlich zu beherrschen, sondern um Bücher zu lesen, Geschichten zu hören und Geschichten zu erzählen, mit meinen Freundinnen und Freunden zu lachen. Gute Menschen kennenzulernen, und ich kenne viele solche. Ich möchte es mir hier gefallen lassen. Und ich möchte weinen können und traurig sein können.
Ich möchte leben können wie Oliver Hardy und Stan Laurel, wie Dick und Doof.
Sie sind mir eingefallen, als ich auf der Suche nach trotzigen Menschen war, zwei Clowns, die es leider in Realität nicht gibt, aber die sich so schön erfunden haben.
Und wenn ich sage, ich möchte so leben können, wie sie es im Film konnten, dann meine ich nicht etwa, daß ich die Leute so zum Lachen bringen möchte, sondern daß ich den Mut hätte, ihre Tragödie zu leben, die eine trotzige und lebensfrohe ist.
Sie nehmen ihr Leben ernst, und das finden wir komisch – und es ist sehr komisch, daß wir das komisch finden.
Sie sind trotzige Menschen, weil sie die kleinste Begegnung, das kleinste Ereignis zu Ende leben, und sie sind trotzig, weil sie jede Begegnung als Verlierer verlassen, als zufriedene Verlierer.
Sie gehen durch die Straße und sehen beim Kehricht am Straßenrand einen ausgedienten Weihnachtsbaum, und wenn Stan auf ihn zugeht und ihn aus dem Kehricht holt, dann wissen wir Zuschauer, daß dies der Anfang einer ganzen Odyssee ist, die bis zum bitteren Ende gelebt werden muß.
Natürlich wollen sie mit diesem Baum reich werden – sie sind Menschen –, aber es mißlingt ihnen, sie sind Menschen, und ihr Mißlingen ist menschlich.
Uns wirklichen Menschen aber – so scheint mir – ist alles immer wieder gelungen, die Kernspaltung ist uns gelungen, die Mondlandung ist uns gelungen, der Erste und der Zweite Weltkrieg sind gelungen, und die Kriegsgewinne sind gelungen, und Wachstum, Wachstum, Wachstum ist uns gelungen – wie unmenschlich unser Gelingen geworden ist!
Ach, wären wir doch tolpatschig wie die Clowns. Der trotzige Gott hätte sie geliebt.
Und ich hätte die beiden – Stan und Oliver – gern einmal als überzeugte, gute Christen scheitern sehen. Ich bin sicher, ihr Scheitern wäre ein anderes – ein konsequenteres – gewesen als unseres.
Ich weiß, die Geschichte von Stan und Oliver will hier nicht reinpassen. Also lasse ich sie.
Ich wollte damit nur sagen, daß ich die Hoffnung auf die Menschen nicht aufgegeben habe. Glaube, Liebe, Hoffnung hat für mich mit Menschen zu tun. Und jener Gott, der es dann schon tut – und tut, wie er will –, jener Gott, der es dann schon tut, das kann – so glaube ich – nicht der Gott der Christen sein.
Und hier wußte ich beim Schreiben nicht mehr weiter, und ich bin spazieren gegangen und habe in der Beiz einen Bauern getroffen, einen sehr aufgeklärten Bauern, der mir von seinen Vorstellungen von Landwirtschaftspolitik erzählte und sich sehr ereiferte und engagierte. Und er erzählte von seinen Zuckerrüben, von seinem Raps, von seinem Roggen, von seinen Kartoffeln und von seinen Erbsen – und ich habe dabei vergessen, daß ich an einem Manuskript saß über den sicheren Weltuntergang, und ich mochte ihn sehr, diesen Bauern, und hatte sehr Vertrauen in ihn, und ich habe mit ihm gestritten und mich mit ihm verständigt, und habe wieder eine Stunde lang an die Menschen geglaubt.
Das ist sehr schön, wenn man an die Menschen glauben kann, und wer den Glauben an sie verliert, der verliert auch seinen Gott.
Ich habe den Bauern nicht gefragt, ob er mitkäme auf die Barrikaden, in den Widerstand. Ich habe vergessen zu fragen, ob er für oder gegen Atomkraftwerke sei, für oder gegen die Landesverteidigung, für oder gegen die Revolution. Ich habe wirklich vergessen, ihn zu fragen. Ich habe den Untergang der Welt vergessen.
Das passiert mir oft, wenn ich Menschen treffe, denn nur Menschen sind meine Hoffnung, und ich gehöre nicht zu jenen, die Gott in der Natur erleben – im blauen Enzian und im weißen Edelweiß – Bäume erinnern mich nicht an Gott, nur Menschen.
Und hie und da habe ich eine ganz kleine Hoffnung. Sie ist so klein, daß sie mich sogar ein bißchen kitzelt in meinem Bauch. Hie und da habe ich die ganz, ganz kleine Hoffnung, daß es uns gelingt.
Daß es uns gelingt, nein zu sagen.
Denn das Wort der Befreiung heißt Nein.
Und der Herr ist mein Trotz.
Und ich weiß, daß ich nicht allein bin mit meinem Trotz.
Und ich weiß, daß ich diese Bibelstelle wohl allzu eigennützig, wohl allzu politisch interpretiert habe, und vielleicht auch total falsch.
Jener Hebräischkenner, der kommt und sagt, daß Luther falsch übersetzt hätte oder daß ich das Wort »Trotz« bei Luther falsch verstanden hätte. Jener Hebräischkenner wird mich nicht überraschen, denn schon in der Zwingli-Bibel ist diese Stelle anders übersetzt, es heißt dort nicht:
»Der Herr ist dein Trotz«, sondern:
»Der Herr wird deine Zuversicht sein.«4
Also ist mein Trotz und Euer Trotz und unser Trotz meine Zuversicht.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie
werden Gottes Kinder heißen.
Mt 5,9
Liebe Mitmenschen,
Liebe Mitchristinnen und Mitchristen,
ich weiß nicht, ob ich ein Mitmensch bin, und ich weiß nicht, ob ich ein Mitchrist bin, denn Mensch sein, das ist einfach, das ist keine Leistung, das geschieht einfach so – und Christ sein, das ist auch einfach, das geschieht auch einfach so –
Wir leben in einem christlichen Land, dessen Bundesverfassung mit den Worten »Im Namen Gottes des Allmächtigen« beginnt.5 Ich halte das zwar für Gotteslästerung und für einen Mißbrauch des Namens Gottes – was nicht etwa heißt, daß mir die schweizerische Verfassung nicht lieb wäre, aber so einfach, wie sich die schweizerische Verfassung Gott vorstellt, ist er wohl nicht.
Zudem waren es liberale Atheisten, die diesen Satz 1848 der Verfassung voransetzten, um die Konservativen zu besänftigen: Ihnen machte es nichts aus, und den Konservativen konnte es recht sein.
Von nun an war in diesem Land alles, was in der Verfassung stand, auch gottgewollt, die Militärdienstpflicht, die Landwirtschaftssubventionen, der Handel mit Spirituosen, die Todesstrafe im Aktivdienst – so einfach ist das, wir setzen Gott vor unser Tun, und dann ist es göttlich. Öffentlicher Anstand und christlicher Anstand werden damit dasselbe – unabhängig davon, daß sich jener Christus, auf den wir uns beziehen, in seinem Land nicht anständig, nicht nach der gängigen Moral verhalten hat.
»Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.«6
Er, Jesus von Nazareth, auf den wir uns beziehen, ist um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden. Wer unter uns hier versammelten Christen kann von sich sagen, daß er je um der Gerechtigkeit willen verfolgt worden ist. Ich nicht.
Ich habe als Kind gelernt, von meiner Mutter – die mich in dieser Sache angelogen hat – und von meiner sanften Sonntagsschullehrerin, die daran glaubte, daß dann Friede sein wird, wenn ich selbst mich friedlich verhalte.
Ich habe das als Kind geglaubt, und ich habe als Kind darunter gelitten, daß mir der Friede nur halbwegs gelang.
Aber meine Mutter wollte auch, daß aus mir etwas wird. Etwas werden, das heißt in dieser Welt mehr werden als die Anderen, und wer mehr werden will als die Anderen, der hat sein Streben gegen die Anderen zu stellen – Erfolg ist im Sinne von jenem Nazarener etwas Unfriedliches. Das Reich Gottes ist nicht das Reich der Erfolgreichen.
In der ganzen Bibel steht nichts davon, daß man etwas Besonderes werden müsse, daß man Erfolg haben sollte, erfolgreich sein sollte, reich werden sollte.
Aber die christlichen Gegenden – ausgerechnet die christlichen – haben ausgerechnet das geschafft. Christentum und Reichtum ist zum mindesten geographisch dasselbe geworden.
Insofern ist dieses Land Schweiz das christlichste aller Länder – das reichste aller Länder.
Und es gab auch schon den arroganten Verdacht, daß Gott dieses Land ganz besonders liebt. Warum sollten wir Gott lieben, wenn er uns bereits liebt?
Es genügt doch, daß diese Schweiz ein christliches Land ist, dann sind wir doch alle christlich genug – nämlich friedlich genug.
Ich habe als Kind geglaubt, was meine Mutter mir vorgeschwindelt hat; wenn ich selbst friedlich genug wäre, dann wäre auch Friede in der Welt, dann wäre auch der Zweite Weltkrieg zu Ende. Und ich habe als Kind versucht, dem Weltfrieden zuliebe friedlich zu sein – und ich habe damals festgestellt, daß ich nicht friedlich genug bin, und ich habe gelitten darunter, daß ich persönlich nun schuld sein sollte am Fortgang des Zweiten Weltkrieges.
Schon ein paar Jahre später fand ich meine damalige Haltung lächerlich, und ich glaubte nun, daß der Weltfriede eine politische Angelegenheit sei, und ich versuchte, mich in der Politik auf die Seite der Gerechten zu schlagen.
Nun brauchen aber diese Gerechten auch Wähler, und würden sie nur von den Gerechten gewählt, es wären zu wenige – also müssen dann auch diese Gerechten für all das sein, was nicht gerecht ist, was nicht friedlich ist.
Die Politik hat sich opportun zu verhalten, was gang und gäbe ist unter den Leuten – das ist auch gang und gäbe in der Politik. Feindschaft und Krieg und Aggression, Tod und Vernichtung aber sind gang und gäbe.
So gibt es wohl niemanden, der Geldwaschen für ein anständiges Geschäft halten würde. Aber es ist in diesem Land ein legales Geschäft. Es ist legal, sich an Waffengeschäften, an Drogengeschäften, an Entführungen und Erpressungen zu bereichern.
Aber niemand wird aufstehen und behaupten, es sei auch moralisch. Legalität und Moral sind nicht dasselbe. Ein guter Schweizer und ein guter Christ sind nicht dasselbe.
Die Schweiz sei ein Land des Friedens, sagt man, und wir alle sind vorschnell bereit, dies zu glauben – aber wir beteiligen uns an jeder Form des Krieges, wenn damit Geld zu verdienen ist. Unsere Armee sei eine friedliche Armee, sagt man. Aber sie hat auch den Zweck, unserer Waffenproduktion und unserem Waffenhandel ein Alibi zu verschaffen. Unser Zivilschutz ist friedlich, aber er hat auch den Zweck, den Krieg nicht total als unmöglich erscheinen zu lassen.
Wir Schweizer nehmen uns immer aus, und wir halten den Krieg für eine Sache der Russen, der Amerikaner, der Araber. Und wenn irgendwo von Abrüstung die Rede ist, dann gibt es auf der ganzen Welt niemanden, der so heftig davor warnt wie die Schweizer. Wenn ein russischer Außenminister sagt, daß sie unabhängig von Verhandlungen und einseitig alle chemischen Waffen vernichten wollen, dann gibt es nur ein einziges Land, das dies als Bedrohung empfindet – die Schweiz.
Ich weiß, das Thema des Kirchensonntags meint etwas anderes. Es meint zum Beispiel zu Recht Entwicklungshilfe, Solidarität mit den Ärmsten dieser Welt. Der Beitrag der reichen Schweiz ist dafür jedenfalls beschämend klein – aber ich möchte hier von etwas anderem sprechen.
Solange es immer die Anderen sind, die feindlich sind, die unfriedlich sind, und jedes Inland der Welt friedlich ist und jedes Ausland der Welt feindlich – solange jedes Land der Welt nur von Verteidigung spricht – es gibt keine Kriegsministerien mehr, nur noch Verteidigungsministerien –, solange niemand bereit ist, Schuld auf sich zu nehmen; solange ist Frieden unmöglich.
Ich muß einsehen können, daß ich selbst die Neigung zum Unfrieden, zur Ungerechtigkeit, zur Aggression habe – daß es meine Neigung zum Unfrieden ist, die Unfrieden stiftet – und nicht etwa die Neigung des Anderen.
Wer einseitige Abrüstung als lächerlich empfindet, der findet auch jenen Jesus von Nazareth lächerlich. Die einseitige Abrüstung ist eine der ältesten christlichen Forderungen.
Ich kann den Satz aus der Bergpredigt heute nur so verstehen: »Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.«7
Das ist persönliche einseitige Abrüstung – ein erfolgreiches Rezept, das haben wir alle im Persönlichen schon erlebt – nur braucht es viel Mut, dieses Rezept – den Mut des Glaubens.
Auch ich selbst bin kein Meister darin, und wir alle sind keine Meister – soll also der christliche Vorschlag nur deshalb schlecht sein, weil wir alle immer noch Mühe haben, es zu lernen?
Es gibt weitere Vorschläge in der Bergpredigt, die weniger oft zitiert werden, weil sie uns noch schwerer fallen: »Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. [...] [L]iebt eure Feinde; tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft« – und dann kommt der eigenartige Schluß: »denn er [der Allerhöchste] ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen«.8
Deshalb sollen wir den Undankbaren auch geben und den Bösen auch – weil der Allerhöchste sie liebt.
Das ist hart, das können wir alle fast nicht – wir müßten es lernen, um friedlich sein zu können.
Wir müßten lernen, unsere Feinde zu lieben. Christ sein ist viel schwerer als Schweizer zu sein.
Und vielleicht ist es in diesem Land fast unmöglich, in diesem Land, das von sich glaubt, immer und an allem unschuldig zu sein. Unschuldig wie der Pharisäer gegenüber dem Zöllner.
Wenn in diesem Land vom Frieden gesprochen wird, dann spricht man vom Ausland, weil man in diesem Land glaubt, der Krieg sei etwas Ausländisches – aber er ist bei uns so inländisch wie anderswo – wir sind am Krieg – am Krieg der Waffenhändler, am Krieg der Drogenhändler – beteiligt – wir halten ihn uns nur ein bißchen vom Leib und halten das für Unschuld.
Wir halten uns für unschuldig an dieser Welt und wollen nicht verstehen, daß jene, »die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden« bei uns Asyl suchen – bei uns, im Land des Friedens, im Land der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Demokratie.
Vielleicht hat jener Kurde, jener Tamile zu Hause gehört davon, von diesem wunderbaren Land der Freiheit.
Wir aber bezeichnen ihn als Wirtschaftsflüchtling und haben ihn im Verdacht, er wolle nur unser Geld und unseren Wohlstand. Wir haben ihn im Verdacht, daß er nur dasselbe will wie wir – weil wir selbst nicht mehr an Frieden und Freiheit und Demokratie glauben – wir selbst glauben nur noch an Reichtum – und wir halten uns immer noch alle für viel zu arm und möchten noch reicher werden, und noch reicher werden und noch reicher werden.
Und wir geben nichts. Wir haben das alles selbst verdient und von Gott, der uns Schweizer liebt, geschenkt bekommen. Ob das ein Gott ist – und gar ein gerechter – der uns das geschenkt hat? Wenn – dann nur als Strafe.
Ein Reicher hat keine Möglichkeit mehr, seine Feinde zu lieben, weil er nur noch einen einzigen Besitz hat in seinem Leben, seinen Reichtum.
So sind jene, die unseren Schutz suchten, zu unseren Feinden geworden – ein paar hundert Schutzsuchende, und schon fühlen wir uns bedroht.
Der Fremde, der andere, der anders Aussehende und der anders Sprechende – das ist die Bedrohung. Ich gebe zu, daß auch mir ein paar Tamilen im Autobus auffallen, und daß sie nicht so aussehen wie Bernerbauern – sie sind mir auch fremd. Und wir haben alle gelernt, daß Fremder und Feind dasselbe sind.
Das Wort für Feind hieß im Lateinischen »hostis«, im Altgermanischen und im Altslawischen »Gosti’s«. Aus diesem Wort ist unser Wort »Gast« geworden. Ein Gast, das ist ein Feind, ein Fremdling, den man bei sich aufnimmt. Gastfreundschaft hat mit Freundschaft zu Feinden zu tun.
Erst im späten Mittelalter bekam das Wort Gast unsere heutige Bedeutung. Daß man seine Feinde lieben soll, das machte aus dem Wort »Gosti’s« das Wort »Gast«. Wir hätten in der Zeit einer neuen Völkerwanderung die Chance, gastfreundlich zu sein.
Wir haben die Chance bereits verpaßt.
Wir alle vertrauen dem Frieden nicht, wir vertrauen alle unserem Glauben nicht, unserem christlichen Glauben – unser Glauben ist uns so fremd geworden wie ein Tamile, wie ein Kurde, wie ein Chilene und wie ein Tscheche.
Vielleicht sind wir selbst die Fremden geworden. Wir sind uns selbst fremd. Die Angst ist etwas sehr Schweizerisches geworden – und die Zufriedenheit etwas sehr Unschweizerisches.
Zufriedensein heißt, seinen Frieden gefunden zu haben. Aber wer ist schon bereit, ihn zu suchen, oder gar, ihn zu finden.
Ich nicht.
Sie auch nicht.
Weil wir alle daran glauben, daß die Anderen damit beginnen sollten und nicht wir.
Sicher sollten wir es gemeinsam tun, und das wäre etwas Politisches – AHV, IV, Entwicklungshilfe, internationale Solidarität – aber die Idee jenes Jesus von Nazareth war eine Minderheitsidee – sie ist es geblieben – vielleicht wollte er das, daß sein Glaube der Glaube der wenigen bleibt.9
Wenn ich es mir recht überlege – ich möchte gern ein Christ sein – aber ich bin keiner.
Ich habe in der Schule etwas anderes gelernt und wir alle auch. Und ich begreife mich, und ich begreife euch alle.
Wollten wir aus unserer Schweiz ein friedliches Land machen, wir müßten von unserem Reichtum abgeben. Wer will das.
Ich nicht, und sie alle nicht.
Es bleibt auch uns Schweizern noch die Hoffnung, daß der Allerhöchste die Bösen und die Undankbaren liebt.
Eine himmeltraurige Hoffnung.
Helf uns Gott.
Amen.
Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten
nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo
in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine
von ihnen.
Mt 6,28-29
Einmal als kleines Kind erhob ich meinen Arm gegen meinen Großvater. Er war ein echter Großvater, eine autoritäre Respektsperson in Familie und Gemeinde, ehemaliger Kavallerie-Wachtmeister und von jenen gefürchtet, die ihn als solchen kennengelernt hatten. Wir Enkel aber lernten nur seine Gemütlichkeit kennen.
Einmal aber muß er mit uns geschimpft haben, wir standen im halben Kreis um ihn herum, und er schimpfte.
Da erhob ich meinen Arm, angewinkelt, Ellbogen nach vorn. Ich mußte diese Bewegung wohl auf der Straße gesehen haben, und sie muß mir gefallen haben, und ich muß mir gedacht haben, daß dies nun die Gelegenheit sei, die Bewegung in die ansonsten einseitige Diskussion einzubringen.
Mein Großvater schaute mich an, streckte seinen Arm aus, zeigte auf mich und sagte: »Das ist er, der Eggmätteler.« Und es wurde still im Haus. Und ich stand in der Stille und war der Eggmätteler. Selbstverständlich befragte ich später meine Mutter, was das denn sei, ein Eggmätteler, aber ich kriegte nur ausweichende Auskünfte: Entfernte Verwandte halt, Bauern auf der Eggmatt, schlechte Bauern, die das Getreide zu spät ernteten, die eine fürchterliche Unordnung um ihren Hof herum hatten – und dies alles, weil sie zu gescheit waren und Bücher lasen – das waren die Eggmätteler.
Der Eggmätteler war aber nur einer, und er war die Schande der ganzen, inzwischen weitverzweigten, Familie. Er muß im späten 19. Jahrhundert gelebt haben, und persönlich gekannt hatte ihn niemand mehr. Die Angst aber, daß die Schande durch Vererbung zum ewigen Fluch werden könnte, gab es in der Familie immer noch – der Eggmätteler.
Der Großvater sprach diesen Namen nur dieses eine Mal aus. Und der Name blieb auch nicht an mir hängen. Im Gegenteil, ich wurde zum Lieblingsenkel meines Großvaters, war oft wochenlang bei ihm in den Ferien, wanderte mit ihm über die Hügel und durch die Wirtschaften. Vielleicht war auch er ein Eggmätteler. Gesprochen wurde davon nicht, ich aber trug den Namen im Herzen – ich war jemand. Und der Großvater auch.
Nun hätte man recherchieren können, im Gemeindearchiv, im Archiv der Kirchgemeinde. Das tat ich nicht. Ich hielt mich an die Familientradition der geflüsterten Angst. Sie gefiel mir.
Bruchstückweise erfuhr ich die Geschichte später von meiner Mutter, und ich setzte die Bruchstücke zusammen. Wie gesagt, ich hätte später auch recherchieren können. Die Geschichte aber, die ängstlich überlieferte, war mir wichtiger:
Der Eggmätteler also war ein Sohn jener Bauern, die Bücher hatten und Bücher lasen, und die ab und zu vergaßen, ihre Äcker zu bestellen, weil sie andere Welten und Werte im Kopf hatten. Und dieser eine Sohn muß besonders gescheit gewesen sein. Er hatte als Jüngling die Kirche der ansehnlichen Emmentaler Gemeinde ausgemalt, und man staunte über seine Fähigkeiten und über die Pracht seiner Bilder. So beschloß man dann, daß ein solch Genialer zu studieren hätte. Man legte Geld zusammen und ermöglichte ihm das Studium in Bern. Ob er das Theologiestudium freiwillig gewählt hatte oder ob man ihm es aufgedrängt hatte, weil er etwas Rechtes und etwas Anständiges studieren sollte – das weiß ich nicht. Sicher ist, daß er sich hinter die Bücher setzte und das ganze Wissen der Welt in sich hineinsog. Und so kam er dann später als Pfarrer in jene Kirche zurück, die er als Jüngling ausgemalt hatte. Hier blieb er nicht lange. Er hielt am Sonntag eine Predigt, die den Bauern und Bürgern mißfallen hatte. Am Sonntag darauf gingen sie mit Stecken und Knütteln bewaffnet zur Kirche, holten den Eggmätteler von der Kanzel herunter, verprügelten ihn mitten in der Kirche und prügelten ihn aus der Kirche hinaus – die er niemals mehr betrat.
Vielleicht aber war der Eggmätteler wirklich fromm.
Ich jedenfalls wurde es als Kind, unabhängig von meinen Eltern und ohne ihr Zutun. Es war ihnen auch nicht recht, denn ihnen genügte die Anständigkeit, und Bekenntnis ist unanständig und stört.
So hatte ich darin als Kind meinen Eggmätteler im Herzen und unzählige Bibelstellen im Kopf. Und ich malte mir aus, was der Eggmatt-Pfarrer den Bürgern und Bauern und ihren behäbigen und stillen Frauen wohl gepredigt hatte.
Ich hatte die Bibel mit den Augen des Eggmättelers gelesen, und ich fand in diesem Buch mehr und mehr kaum einen Satz, für den er nicht hätte verprügelt werden können. Und weil ich mir gefiel in der Unanständigkeit des Eggmättelers, wurde dieses Buch für mich zum Buch gegen den gutbürgerlichen Anstand, und Christsein zu einer Behauptung einer trotzigen Minderheit.
Und ich war damit selbstverständlich im Unrecht, denn das Recht wird durch die Mehrheit definiert, und das Christentum hatte schon längst – als Staatsreligion des Römischen Reiches – eine sichere und absolute Mehrheit gefunden. Und wären nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht vereinzelte Römer nach Irland geflohen und hätten da über Jahrzehnte und Jahrhunderte ihre Staatsreligion weiter gepflegt – das Christentum wäre wohl nie zu uns gekommen. Irische Mönche haben es uns gebracht.
Und es muß auch Gründe gegeben haben, daß die römischen Machthaber am Christentum Gefallen fanden. Frömmigkeit, so nehme ich an, kann es nicht gewesen sein – sicher viel mehr eine gemeinsame Religion, die Ordnung schuf. Was für eine Ordnung? Die Ordnung, daß alles so bleibt, wie es ist.
Daß es so bleibt, daß die Welt keine gerechte ist, sondern eine, die genau so von Gott gewollt war – und so wurden Reichtum und Armut Gott wohlgefällig. Die Heilslehre – die Lehre von der Erlösung und vom Eingehen in das ewige Leben und von der ausgleichenden Gerechtigkeit im Himmel – wurde zum Machtinstrument der bürgerlichen Anständigkeit. Keiner hatte sich davor zu fürchten, reich zu sein. Keiner hatte sich davor zu fürchten, Kavallerie-Wachtmeister zu sein. Der Anstand der Gesellschaft wurde zur Religion. Nun war die Armee göttlich, nun waren die Steuergesetze göttlich, nun war der Staat göttlich. Die Wege Gottes waren nicht einsehbar und so auch sein Wille nicht – aber so wie es war, so wollte er es. Die Gerechtigkeit war verschoben auf die Zeit nach diesem Leben.
Es mag immer wieder Menschen gegeben haben – Arme, Geprügelte, Geschundene und Ausgenutzte –, die sich mit der Zeit danach vertrösteten und sich auf sie freuten. Aber seit es diese Heils- und Gerechtigkeitsversprechungen gibt, hat sich kein Reicher davor gefürchtet, und das wohl mit Recht. Kein Richter, kein Henker, kein Offizier hatte sich Gedanken zu machen. Sie lebten in einer gottgewollten Welt, und es fiel ihnen leicht – es fiel uns leicht – gottergeben zu sein.
So waren wir Schweizer auch bis vor kurzem ohne große Zweifel davon überzeugt, daß Gott unser Land vor dem Zweiten Weltkrieg geschützt hat. Die Frage, warum gerade uns, blieb irrelevant. Halt eben uns. Und das war ja nicht nichts, wir, immerhin wir. Immerhin uns.
Kein Wunder, daß es uns schwerfällt, all das nicht mehr glauben zu können. Kein Wunder, daß jene, die daran zweifelten, als unanständig, als gottlos galten.
Man macht aus dem Vaterland einen Gott, und die Patrioten sind dann die Frommen. Und jeder Krieg wird zum Heiligen Krieg. Von islamischen Staaten wissen wir das. In unseren sogenannt christlichen Staaten fällt es nicht auf, weil es unausgesprochen selbstverständlich ist.
So muß er also vor jenen auf der Kanzel gestanden haben, der Eggmätteler, vor jenen, denen all das, was ist und was immer war, als Anstand galt, auch der Kirchenbesuch. Er predigte vor reichen und weniger reichen Bauern, vor gemütlichen Gewerblern, vor Kavallerie-Wachtmeistern. Und unter jenen, die ihn verprügelten, wird es auch einige mausarme Knechte gehabt haben, die sich auch nichts anderes vorstellen konnten, als daß alles so zu sein hatte, wie es war, nämlich gottgewollt.
Der Zwölfjährige las also die Bibel und fragte sich dabei dauernd, was er ihnen wohl gepredigt hatte, der Eggmätteler. Hat er ihnen aus dem Matthäus-Evangelium gepredigt? »Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. [...] Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.«10
Und vielleicht hat er ihnen gesagt: »Ihr seid gemeint, ihr Mehlsäcke, ihr fetten Bauern. Ihr seid nur darauf aus, noch reicher zu werden. Und ihr übervorteilt euren Nachbarn, und ihr seid stolz darauf, daß das alles legal ist und das Gesetz es euch erlaubt. Und die Leute im Dorf ziehen den Hut vor euch, weil ihr mächtig seid, und eure Knechte und Mägde fürchten euch. Und sie wählen euch in den Gemeinderat und in den Großrat. Und ihr seid überzeugt, daß Gott euch das hoch anrechnen wird, daß ihr reich und mächtig und gefürchtet gewesen seid. Und ihr lebt nicht, ihr macht nur Karriere. Und die Leute halten euch für gescheit, weil sie glauben, daß die Gescheiten reich werden. Eher wird ein Kamel oder ein Schiffstau durchs Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in den Himmel kommt. Warum fürchtet ihr euch denn nicht? Weil ihr’s nicht glaubt. Und wo sind sie, die Lilien auf dem Felde. Nicht auf euren fetten Wiesen. Und wie kommt ihr darauf zu glauben, daß ihr mehr seid als eure Frauen und Knechte. Und wie kommen eure Knechte dazu, an Euch zu glauben.«
Und vielleicht hat er nur gesagt: »Ihr Arschlöcher, ihr Arschlöcher, ihr verdammten Arschlöcher.«
Und die Bauern werden sich gedacht haben: »Der kommt noch dran. Der wird unsere Macht zu spüren bekommen. Denn die Knechte und die Alten und die Armen sind auf unserer Seite. Die bestaunen uns, weil wir reich und gescheit sind. Und weil wir dafür sorgen, daß alles so bleibt wie es ist. Unsere Knechte wollen, daß alles so bleibt wie es ist.«
Und vielleicht ist dem Eggmätteler jener Satz eingefallen, den Dorothee Sölle hundert Jahre später ausgesprochen hat: »Christ sein bedeutet das Recht, ein Anderer zu werden.«11
Und vielleicht rief er den Knechten in den hinteren Reihen zu: »Ihr habt nicht Knechte zu sein. Das Leben, das ihr führt, hat nicht Gott eingerichtet, sondern euer Herr, und der hat es nicht für euch eingerichtet, sondern für sich selbst. Er meint nicht euch, wenn ihr ihm zujubelt, er meint sich selbst.
Ja, die Gesetze geben ihm recht. Deshalb sitzt er im Großen Rat und sagt zu allem Neuen nein. Und ihr Idioten feiert seine Siege und glaubt, daß er gescheit sei, weil er reich ist.«
Hat er vielleicht so gepredigt? Vielleicht war er auch betrunken an jenem Sonntagmorgen. Und nicht er hat gepredigt, sondern »es« hat aus ihm gesprochen oder »er«.
Was an der mündlichen Überlieferung der Geschichte bestimmt nicht wahr ist, das ist, daß der reiche Bauer am anderen Sonntag einen Stock mitgenommen hat in die Kirche. So sehr wird sich die Welt in den letzten hundert Jahren nicht verändert haben. Seine Knechte warens, die so stolz darauf waren, beim Herrn Großrat für Gotteslohn arbeiten zu dürfen. Jene, für die er gepredigt hatte, die Knechte, verprügelten ihn. Und der Herr wird genüßlerisch zugeschaut haben, und hinterher wird er gesagt haben: »Richtig war es ja nicht, aber verständlich schon, ich habe vor dieser Eskalation schon immer gewarnt. Schließlich leben wir immer noch in der Schweiz, und schließlich gibt es eine Ordnung.« Und die Knechte waren sehr stolz darauf, daß sie ihn verstanden hatten. »Er ist wie wir, und er denkt wie wir, und er sagt das, was wir denken«, sagten sie.
Es dauerte lange, Wochen und Monate, bis sich der Eggmätteler wieder im Dorf zeigte, und von da an immer mehr und in immer schlechterem Zustand. Er war zum Vaganten geworden, zum Landstreicher, zum trostlosen Säufer, zu einem jener Vögel unter dem Himmel, die nicht säen, die nicht ernten, die nicht in ihre Scheunen sammeln und die der himmlische Vater ernährt. Ein Vogel, ein schräger Vogel. Nicht schön wie die Lilien auf dem Felde, aber immerhin erfolglos wie sie.
Ob er fromm war, der Eggmätteler – ich weiß es nicht, aber wenn er es war, dann war er an nichts anderem gescheitert als an seiner Frömmigkeit, an seinem Glauben.
Denn Christentum ist kein Erfolgsrezept. Es meint nicht, reich gescheit und gesund zu werden. Es taugt weder gegen Grippe noch gegen Schlaflosigkeit, weder gegen Alkoholismus noch gegen Drogensucht. Es ist nur eine Lehre vom Zusammenleben, eine Lehre davon, daß alle dazugehören, niemand ausgegrenzt wird.
Den Römern aber muß die Heilslehre gefallen haben, die verspricht, alles gutzumachen, was wir hier auf der Erde durch Karrieredenken, durch Macht und Erfolg und Reichtum versauen.
»Gebt eure Seele Christus, und ihr seid geheilt«, ist das billige Versprechen an die Knechte. Sie haben es immer geglaubt, und sie hielten den Kaiser, das Vaterland, die machthabende Partei, den Volkstribun für göttlich – er wird es schon richten. Wie er das tun wird, danach fragt niemand, er wird einfach – die Heilslehre. Die Welt ist göttlich, und wenn wir sie so lassen, wie sie war – damals als sie noch war –, dann wird alles gut sein. Die Schweiz ist die Schweiz und damit basta. Sie ist gottgewollt – die Heilslehre.
Das Christentum war keineswegs ungeeigneter als der Islam, die konservative Macht der Mächtigen zu stützen, denn das Christentum bedarf dafür nicht einmal des Fundamentalismus, die vage Vorstellung von der Heilslehre genügt. Da muß nur einer kommen, ein neuer Trainer zum Beispiel, und alles wird gut.
Alles wird gut durch CH-Bio-Fleisch, durch irgendwelche Düfte und Steine, durch asiatische Geheimlehren, durch uralte indische Medizin.
Nur das Christentum taugt nichts gegen die Grippe, aber zu einem hat es über Jahrhunderte getaugt. Wir haben uns mit ihm eingeübt in die Heilslehren.
Inzwischen ist uns alles recht, was zum Erfolg führt, und selbst fernöstliche religiöse Meditationstechniken haben bei uns nur noch den billigen Zweck, fit zu werden für die billige Karriere.
Die Lehre jenes Jesus von Nazareth war eine Soziallehre. Sie schien in nichts dafür tauglich zu sein, die Macht der Mächtigen zu stützen. Aber die Seligpreisungen der Bergpredigt haben sich gegen jene gewendet, für die sie gedacht waren, gegen die Armen, gegen die Rechtlosen, gegen die Geprügelten.
Oder wie der Berner Dichter Peter Lehner geschrieben hat:
»Bergprediger
heruntergekommen
ins Flachland
Feldprediger.«12
Die Römer jedenfalls hatten auf die richtige Religion gesetzt. Das Christentum war ein Erfolg, zwar nur ein ökonomischer, aber immerhin, die Reichen marschieren inzwischen in Kolonnen durch die Nadelöhre in den schäbigen Himmel dieser Welt. Kein christlicher Fundamentalismus stört sie dabei. Die Heilslehre ist fundamental genug.
Zurück bleibt ein wunderbarer Sozialphilosoph, Jesus von Nazareth, ein Erfolgloser. Aber immerhin, die Christen haben ihn mitzuschleppen. Ohne die Römer, die nach Irland flüchteten, würden wir ihn nicht kennen. Und vielleicht war er letztlich gar nicht so erfolglos, wir messen Erfolg nur anders. Und ich stelle mir vor, daß ich ihn getroffen hätte in der dunklen Ecke einer schäbigen Beiz, den besoffenen, verwahrlosten, verkommenen Eggmätteler. Wir hätten zusammen einen Halben Roten getrunken. Vielleicht hätte er eine zerfledderte Bibel aus dem Sack gezogen und besoffen pathetisch aus dem Prediger Salomon gelesen: »Es ist alles ganz eitel, [...] es ist alles ganz eitel. [...] Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind.«13 Und der Wirt wäre gekommen und hätte ihm wieder mal mit Rausschmiß gedroht. Und er hätte sich zu mir geneigt und geflüstert: »Schau mal die Kellnerin, sie war einmal wunderschön, sie ist es nicht mehr, aber wie weniger sie es ist, je mehr erinnert sie daran. Auch wer sie zum ersten Mal sieht, sieht gleich, daß sie einmal wunderschön gewesen sein muß.«
Und dann würde er wieder vor sich hinlallen oder mich beschimpfen oder alle beschimpfen oder lange gar nichts sagen.
Und vielleicht würde er dann seinen Kopf heben und sagen: »Etwas hat er vergessen in seinem Liliengleichnis, der Jesus von Nazareth – oder vielleicht hat es Matthäus vergessen aufzuschreiben –, nämlich daß die Lilien ihre Schönheit erst im totalen Verblühen entfalten – dann, wenn ihre ersten Blätter fallen und alles nur noch eine Erinnerung an Schönheit ist.«
»Ja«, sagt er, »Christentum ist eine Erinnerung an Schönheit, eine Erinnerung an das Schöne, an das Gute, an das Gerechte – immerhin«, sagt der Eggmätteler, der mit seinem Gott an dieser Welt gescheitert ist. Für ihn war das Christentum jedenfalls etwas anderes als ein Mittel gegen die Grippe.
Ein Mann veranstaltete ein großes Gastmahl und lud viele ein. Und zur Stunde des Gastmahls sandte er seinen Knecht, den Ein geladenen zu sagen: Kommet, denn es ist nun bereit. Und alle fin gen gleichermaßen an, sich zu entschuldigen. Der erste sagte zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muß notwendig hinausgehen und ihn besichtigen; ich bitte Dich, sieh mich als entschuldigt an. Und ein anderer sagte, ich habe fünf Joch Ochsen gekauft, und gehe hin, um sie zu prüfen, ich bitte Dich, sieh mich als entschuldigt an. Noch ein anderer sagte: Ich habe eine Frau genommen und kann deshalb nicht kommen. Und der Knecht kam und berichtete dies seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen und Krüppel und Blinden und Lahmen hier herein. Und der Knecht sagte: Herr, es ist geschehen, was Du befohlen hast, und es ist noch Raum vorhanden. Da sagte der Herr zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Hecken und Zäune und nötige sie, hereinzukommen, damit mein Haus voll werde!
Lukas 14,16-24
Wie beginnen?
An nichts habe ich so lange herumgedacht wie an der Anrede, mit der Anrede beginnt die Lüge, und schon »liebe Mitchristen« bleibt mir im Halse stecken, nicht etwa, weil ich an Ihnen zweifle, sondern an mir. Christ bin ich wohl schon, aufgewachsen in einer jahrhundertealten christlichen Kultur, aber bin ich ein Mitchrist, ein Christ unter Christen, sind wir es wirklich noch gemeinsam oder nur noch als Einzelne für persönliche Notfälle, etwa für den persönlichen Tod.
Oder, wenn nicht »liebe Mitchristen«, dann halt »liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger«, denn der Bettag ist ein staatlich verordneter Feiertag. Ja gut, ich bin ein Bürger, und Sie sind auch Bürger – aber sind wir noch Mitbürger, empfinden wir unser Leben noch als gemeinsames Leben, empfinden wir unseren Staat noch als ein Zusammensein, oder doch nicht eher nur als die notwendige Grundlage für olympische Spiele, Europa- und Weltmeisterschaften. Schon jene Liberalen, die den Bettag verordneten und in ihre Bundesverfassung von 1848 »im Namen Gottes des Allmächtigen« hineingeschrieben hatten, waren zwar gute Mitbürger, aber Mitchristen waren sie eigentlich nicht. Sie standen den Kirchen sehr skeptisch gegenüber, und etliche von ihnen erklärten sich als konfessionslos. Trotzdem stand in dieser Bundesverfassung der antisemitische Satz »Bürger christlicher Konfession haben das Recht auf freie Wohnsitznahme«. Aber »christlich« meinte nicht christlichen Glaubens, sondern es meinte ganz einfach nur »nicht jüdisch«, so wie »Schweizer« inzwischen oft nur heißt: nicht Jugoslawe, nicht Türke, nicht Afrikaner – eben Schweizer, eben Christen. Und wir Schweizer bewegen uns in der Legalität, und die Legalität ist unsere Anständigkeit, alles, was legal ist, das ist auch anständig. Alles, was nicht gegen die Gesetze verstößt, ist christlich genug. Zwar haben wir noch ein Sensorium für Unanständigkeit, aber solange sich der Unanständige, der unanständige Manager zum Beispiel, in der Legalität bewegt, ist er ein Anständiger.
Soll ich also meine Predigt beginnen mit »Meine lieben Anständigen«, denn Anständige werden wir ja auch bleiben nach den Abstimmungen vom nächsten Wochenende, denn das, was wir beschließen werden, wird dann die neue Legalität sein, die neue Anständigkeit, und wir sind fein raus.14 Anständig ist auch der Zynismus, wenn er Gesetz wird.