Die Ereignisse im Nahen Osten, der vorerst geglückte Friedensschluß zwischen Israel und den Palästinensern, machen diesen Roman des meisterhaft erzählenden Friedenspreisträgers Amos Oz erneut hoch aktuell:

Mit dem ironischen Porträt des sich selbst quälenden Intellektuellen Fima ist Amos Oz nicht nur eine Diagnose der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft gelungen, sondern zugleich ein äußerst humor- und liebevolles Porträt der täglich mit den Fragen von Leben und Tod konfrontierten einzelnen Israelis. Denn hier werden die Hoffnungen wie Ängste der Israelis auf das genaueste dargestellt: Jerusalem erscheint als völlig verrottet, nichts funktioniert, jeder »zweite Typ ein halber Prophet und ein halber Ministerpräsident«, kurz: »ein Irrenhaus«.

»Das erzählerische Œuvre dieses politischen Romanciers, der sich in der epischen Nähe von Salman Rushdie und Günter Grass, Milan Kundera und Lars Gustafsson, Lobo Antunes und Mario Vargas Llosa aufhält, könnte jetzt schon als kritische Annotation der Geschichte Israels gelesen werden – und als wachsender Prozeß einer Ernüchterung, ja Ausnüchterung politischer und gesellschaftlicher Utopien.« Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau

Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, wurde 1992 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In den Verlagen Insel und Suhrkamp liegen u.a. vor: Sehnsucht. Drei Erzählungen (st 2627), Der Berg des bösen Rates, Eine Frau erkennen. Roman (st 2206), Bericht zur Lage des Staates Israel (st 2192), Black Box. Roman (st 1898), Der perfekte Frieden. Roman (st 1747), Mein Michael. Roman (st 1589), Im Lande Israel (st 1066), Allein das Meer. Roman, Ein anderer Ort. Roman (st 3448), Nenn die Nacht nicht Nacht. Roman (st 2736), Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman

Amos Oz

Der dritte Zustand

Aus dem Hebräischen
von Ruth Achlama

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe:

Ha mazaw ha schlischi

Umschlagfoto:

Micha Bar-Am / Magnum Photos / Agentur Focus

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© 1991 by Amos Oz

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73175-8

www.suhrkamp.de

1.
Verheißung und Gnade

Fünf Tage vor dem Unheil hatte Fima einen Traum, den er morgens um halb sechs Uhr in sein Traumbuch eintrug. Dieses braune Büchlein lag stets unter dem Stapel zerflederter Zeitungen und Hefte am Fußende des Bettes auf dem Boden. Fima hatte sich angewöhnt, in aller Frühe, beim ersten Morgengrauen zwischen den Jalousieritzen, noch im Bett zu notieren, was er bei Nacht gesehen hatte. Hatte er gar nichts gesehen oder das Gesehene vergessen, knipste er trotzdem die Nachttischlampe an, blinzelte ein wenig, setzte sich auf, legte sich irgendeine dicke Zeitschrift als Schreibunterlage auf die angewinkelten Knie und vermerkte zum Beispiel:

»Den zwanzigsten Dezember – leere Nacht.«

Oder:

»Den vierten Januar – irgendwas mit Fuchs und Leiter, aber die Einzelheiten sind ausgelöscht.«

Das Datum schrieb er in Worten, nicht Zahlen. Danach stand er zum Pinkeln auf und legte sich wieder aufs Ohr, bis draußen Taubengurren und Hundebellen aufklangen und irgendein Vogel in der Nähe sich anhörte, als traue er seinen Augen nicht vor Verblüffung. Fima nahm sich dann vor, sofort aufzustehen, in zwei, drei Minuten, höchstens einer Viertelstunde, nickte aber manchmal wieder ein und schlief dann bis acht oder neun Uhr durch, da seine Arbeit in der Praxis immer erst um ein Uhr nachmittags begann. Im Schlaf, fand er, gab es weniger Lügen als im Wachen. Obwohl er längst begriffen hatte, daß die Wahrheit außerhalb seiner Reichweite lag, wollte er soweit wie möglich von den kleinen Lügen des Alltags loskommen, die als feiner Staub in die verstecktesten Ecken und Winkel drangen. Montag früh, als ein orangen trüber Schimmer zwischen den Lamellen hindurchzusickern begann, setzte er sich im Bett hoch und vermerkte folgendes in seinem Büchlein: »Eine nicht gerade schöne, aber attraktive Frau rauschte herein, trat jedoch nicht vor meinen Aufnahmeschalter, sondern kam trotz des Schilds Zutritt nur für Personal hinter mir herein. ›Meine Dame‹, sagte ich, ›Fragen nur von vorn, bitte.‹ Sie lachte. ›Kennen wir schon, Efraim, kennen wir‹, sagte sie. Obwohl ich ja gar keine Klingel habe, sagte ich: ›Beste Frau, wenn Sie nicht rausgehen, muß ich läuten.‹ Doch auch diese Worte reizten sie nur zu einem leisen, sympathischen Lachen, das wie ein Strahl reinen Wassers perlte. Sie war schmalschulterig, der Hals ein wenig faltig, aber Busen und Bauch wölbten sich sanft, und die Waden steckten in Seidenstrümpfen mit geschwungener Naht. Ihre wohlgerundete, gelöste Gestalt wirkte sinnlich und rührend zugleich. Oder vielleicht berührte einen gerade der Gegensatz zwischen dem strengen Lehrerinnengesicht und der guten Figur. ›Ich habe ein Kind von dir‹, sagte sie, ›es wird Zeit, daß unsere Tochter dich kennenlernt.‹ Obwohl ich wußte, daß ich den Arbeitsplatz nicht verlassen durfte und es gefährlich war, hinter ihr herzugehen – noch dazu barfuß, denn das war ich plötzlich –, machte ich mir innerlich ein Zeichen: Falls sie ihr Haar mit der linken Hand auf die linke Schulter vorstreicht, heißt es mitkommen. Sie wußte Bescheid, zog mit leichter Geste das Haar nach vorn, so daß es über das Kleid bis zur linken Brust fiel, und sagte: ›Komm.‹ Ich folgte ihr durch etliche Straßen und Gassen, Treppenhäuser, Tore und mit Steinfliesen gepflasterte Höfe der spanischen Stadt Valladolid, die aber eigentlich mehr oder weniger dem Bucharenviertel hier in Jerusalem glich. Obwohl die Frau in dem kindlichen Baumwollkleid und den aufreizenden Strümpfen eine Fremde war, der ich noch nie begegnet war, wollte ich gern das Mädchen sehen. So passierten wir Hauseingänge, die uns in Hinterhöfe voll behangener Wäscheleinen führten, erreichten von dort aus wieder neue Gassen und weiter schließlich einen alten Platz, auf dem eine Laterne im Regen leuchtete. Denn es hatte angefangen zu regnen, nicht stark, nicht in Strömen, ja fast ohne Tropfen, eher Niederschlag der hohen Feuchtigkeit in der langsam dunkelnden Luft. Keiner lebenden Seele begegneten wir unterwegs. Nicht mal einer Katze. Plötzlich stoppte die Frau in einem Flur, der Reste bröckelnder Pracht aufwies – Eingang zu einem orientalischen Palast vielleicht oder auch nur ein Tunnel zwischen einem feuchten Hof zum nächsten mit kaputten Briefkästen und geborstenen Kacheln –, nahm mir die Armbanduhr ab und deutete auf eine zerrissene Armeewolldecke im Treppenwinkel, als habe mit dem Ablegen der Armbanduhr eine Entblößung begonnen, in der ich ihr nun eine Tochter zeugen müsse, und ich fragte, wo wir seien und wo jene Kinder, denn unterwegs hatte sich das Mädchen in mehrere Kinder verwandelt. Die Frau sagte: ›Karla.‹ Ich konnte nicht wissen, ob Karla nun der Name des Mädchens oder auch dieser Frau selbst war, die meine Schulter an ihren Busen drückte, oder ob sie kar-la, ›ihr ist kalt‹, meinte, bezogen auf die Nacktheit der mageren kleinen Mädchen oder gedacht als Aufforderung, sie zu liebkosen, damit ihr warm werde. Als ich sie umarmte, zitterte sie am ganzen Leib, nicht begehrlich, sondern verzweifelt, und flüsterte mir, wie jenseits jeder Hoffnung, zu: ›Fürchte dich nicht, Efraim, ich kenne einen Weg und werde dich lebendig auf die arische Seite bringen.‹ Im Traum klang dieses Wispern verheißungs- und gnadenvoll, so daß ich ihr weiter gläubig vertraute und freudig folgte, ohne daß im Traum die geringste Verwunderung aufgekommen wäre, wieso sie sich plötzlich in meine Mutter verwandelt hatte und wo die arische Seite sein mochte. Bis wir ans Wasser gelangten. Am Ufer stand breitbeinig ein Mann in dunkler Uniform mit militärisch gestutztem blonden Schnurrbart und sagte: ›Man muß trennen.‹

Auf diese Weise stellte sich heraus, daß ihr wegen des Wassers kalt war und ich sie nicht wiedersehen würde. Ich wachte traurig auf, und selbst jetzt, da ich diese Eintragung beende, ist die Trauer nicht vorüber.«

2.
Fima steht zur Arbeit auf

Efraim kletterte in verschwitzter Unterwäsche aus dem Bett, sperrte die Jalousielamellen ein wenig und blickte aus dem Fenster auf den Beginn eines Jerusalemer Wintertags. Die nahen Häuser erschienen ihm nicht nah, eher fern von ihm und voneinander, und niedrige Nebelfetzen trieben zwischen ihnen hindurch. Kein Lebenszeichen regte sich draußen. Als dauere der Traum an. Aber jetzt war das keine Kopfsteingasse mehr, sondern ein schäbiges Sträßchen am Südwestende von Kiriat Jovel – zwei Reihen breiter, plumper Siedlungsbauten, Ende der fünfziger Jahre schnell und billig hochgezogen. Die Bewohner hatten die meisten Balkons mit Zementblöcken, Asbestplatten, Glas und Aluminium zugebaut. Hier und da hingen leere Blumenkästen und vertrocknete Topfpflanzen an einem rostigen Geländer. Im Süden sah er die Bethlehemer Berge, die mit einer grauen Wolke verschmolzen und an diesem Morgen häßlich, ja richtig dreckig wirkten, als türmten sich dort an Stelle von Bergen riesige Haufen Industriemüll. Ein Nachbar hatte wegen der Kälte und Feuchtigkeit Mühe, seinen Wagen in Gang zu bekommen: Der Motor röchelte und verstummte und röchelte erneut lange und heiser wie ein Sterbenskranker, der trotz seiner bereits zerfressenen Lungen pausenlos weiterraucht. Wieder überkam Fima das Gefühl, er befinde sich irrtümlich hier und müsse eigentlich an einem gänzlich anderen Ort sein.

Aber was der Irrtum war und wo dieser andere Ort lag, wußte er diesen Morgen nicht, ja, hatte es eigentlich noch nie gewußt.

Das Ächzen des Motors weckte seinen Morgenhusten, worauf er sich vom Fenster löste, da er den Tag nicht in Müßigkeit und Trauer beginnen wollte. Aus eben diesem Grund sagte er sich: Faulpelz!, wandte sich um und begann mit einfachen Streck- und Beugeübungen vor dem Spiegel, dessen Fläche von schwarzen Inseln und Kontinenten übersät war, deren gewundene Küstenlinien vor Buchten und Fjorden wimmelten. Dieser Spiegel prangte außen an einer Tür des uralten braunen Kleiderschranks, den ihm sein Vater vor rund dreißig Jahren gekauft hatte. Vielleicht hätte er die Frau fragen sollen, zwischen was er zu trennen hatte, aber dazu war es nun zu spät.

Für gewöhnlich verabscheute Fima das Herumhängen am Fenster. Und vor allem konnte er den Anblick einer am Fenster stehenden Frau – Rücken zum Zimmer, Gesicht nach draußen – nicht ertragen. Vor der Scheidung hatte er Jael dauernd in Rage gebracht, weil er sie jedesmal anbrüllte, wenn sie so dastand und auf die Straße oder das Gebirge hinausschaute.

»Was, verstoße ich schon wieder gegen die Hausordnung?«

»Du weißt doch, daß mich das nervös macht.«

»Dein Problem, Effi.«

Aber an diesem Morgen machten ihn auch die Gymnastikübungen vor dem Spiegel nervös und schlapp, so daß er zwei, drei Minuten später damit aufhörte – nicht ehe er sich noch einmal als Faulpelz betitelt und verächtlich schnaufend hinzugefügt hatte: »Ihr Problem, mein Herr.«

Vierundfünfzig Jahre war er alt. Und in den Jahren des Alleinseins hatte er sich angewöhnt, gelegentlich mit sich selber zu reden. Diese Angewohnheit zählte er zu seinen Hagestolzticks – zusammen mit dem Verlieren des Marmeladenglasdeckels, dem Stutzen der Haare in nur einem Nasenloch unter Vergessen des zweiten, dem Öffnen des Hosenreißverschlusses aus Zeitersparnisgründen schon auf dem Weg zur Toilette, dem Danebenzielen zu Beginn des Pinkelns und dem Betätigen der Wasserspülung mittendrin, um durch das laute Plätschern der stotternden Blase auf die Sprünge zu helfen, bemüht, noch bei laufendem Wasserstrom fertig zu werden, so daß stets ein Wettlauf zwischen der Klosettspülung und seinem eigenen Wasser einsetzte. Als ewiger Verlierer bei diesem Rennen blieben ihm dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder er nahm – das Glied in der Hand – die ärgerliche Warterei in Kauf, bis der Behälter wieder vollgelaufen war und die Schüssel erneut gespült werden konnte, oder er fand sich damit ab, den Urin bis zum nächstenmal auf dem Wasser schwimmen zu lassen. Da er jedoch weder nachgeben noch seine Zeit mit Warten vergeuden wollte, pflegte er den Hebel vor der gänzlichen Auffüllung des Behälters zu betätigen. Damit löste er ein verfrühtes Rinnsal aus, das zwar nicht zur Säuberung des Beckens ausreichte, ihm aber erneut die ärgerliche Alternative zwischen Abwarten und ergebenem Rückzug aufzwang. Dabei gab es doch so einige Liebschaften und Ideen in seinem Leben, auch ein paar Gedichte, die seinerzeit Erwartungen geweckt hatten, Gedanken über den Sinn der Welt, klare Auffassungen über das gegenwärtig ziellose Treiben des Staates, detaillierte Vorstellungen für die Gründung einer neuen politischen Bewegung, diese und jene Sehnsüchte und das ständige Verlangen, ein neues Kapitel anzufangen. Und da stand er hier nun allein in seiner verschlampten Wohnung an einem trüben, regnerischen Morgen, in den erniedrigenden Kampf versunken, den Hemdenzipfel aus den Zähnen des Hosenreißverschlusses freizukriegen. Und währenddessen leierte ihm ein nasser Vogel draußen unablässig einen Satz von drei Noten vor, als sei er zu dem Schluß gelangt, Fima sei geistig zurückgeblieben und werde nie verstehen.

Durch das Aufspüren und genaue, detaillierte Aufzählen seiner Altherrengewohnheiten hoffte Fima von sich selbst wegzukommen, eine spöttische Distanz herzustellen und so seine Sehnsüchte oder seine Ehre zu schützen. Doch gelegentlich offenbarte sich ihm, wie durch Erleuchtung, dieses gründliche Nachspüren nach lächerlichen oder zwanghaften Angewohnheiten nicht als Befestigungslinie, die ihn von dem alten Hagestolz trennte, sondern gerade als eine List des alternden Junggesellen mit dem Ziel, ihn, Fima, wegzudrängen und abzuschütteln, um seinen Platz einzunehmen.

Er beschloß, zum Kleiderschrank zurückzukehren und sich im Spiegel zu betrachten. Wobei er es als seine Pflicht ansah, beim Anblick seines Körpers weder Verächtlichkeit noch Verzweiflung oder Selbstmitleid zu empfinden, sondern sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Im Spiegel blickte ihm ein blasser, leicht übergewichtiger Angestellter mit Speckfalten um die Taille entgegen, ein Büromensch in nicht sehr frischer Wäsche, mit spärlich schwarzbehaarten weißen Beinen, die im Verhältnis zum Bauch zu mager wirkten, ergrauendem Haar, hängenden Schultern und schlaffen Männerbrüsten am keineswegs sonnengebräunten Oberkörper, dessen Haut hie und da von Fettpickeln befallen war, unter denen einer sich rötlich entzündet hatte. Diese Pickel begann er nun vor dem Spiegel mit Daumen und Zeigefinger auszudrücken. Das Platzen der kleinen Abszesse und das Herausquellen des gelblichen Fetts bereiteten ihm leichten Genuß, ein hämisch vages Vergnügen. Fünfzig Jahre, eine wahre Elefantenschwangerschaft lang, war dieser abgetakelte Schreibtischmensch im Schoß des Kindes, des Jünglings und des Mannes angeschwollen. Und nun, nach Ablauf von fünfzig Jahren, war die Schwangerschaft beendet, die Gebärmutter aufgeplatzt, und der Schmetterling hatte eine plumpe Larve geboren. In dieser Larve – Golem auf gut hebräisch – erkannte Fima sich selbst.

Und doch entdeckte er dabei, daß die Dinge sich eben jetzt verkehrten, daß im tiefsten Innern der Larve von nun an und für immer das Kind mit den staunenden Augen und den zarten langen Gliedmaßen verborgen lag.

Das von einem leisen Grinsen begleitete Sichabfinden vermengte sich manchmal mit seinem Gegenteil – der innigen Sehnsucht des Kindes, des Jünglings und des Mannes, aus deren Schoß die Larve hervorgekrochen war. Dann kam es ihm momentan vor, als werde ihm das unwiederbringlich Verlorene in destilliertem, reinem, korrosionsgeschütztem, gegen Sehnsucht und Schmerz gefeitem Aggregatzustand zurückgegeben. Wie im Vakuum einer Glasblase wurde ihm einen Augenblick lang auch Jaels Liebe wieder zuteil – mit einer Berührung ihrer Lippen und Zunge hinter seinem Ohr und dem gewisperten »faß mich da an, da«.

Als Fima dann im Bad entdeckte, daß sein Rasierschaum aufgebraucht war, stand er ein Weilchen unentschlossen herum, bis ihm der Geistesblitz kam, es mit einer dicken Schicht gewöhnlicher Handseife zu versuchen. Nur verströmte dieses Stück anstelle von normalem Seifengeruch den säuerlichen Hauch einer Achselhöhle an einem heißen Tag. Er schabte sich mit der Rasierklinge über die Wangen, bis sie rot wurden, vergaß aber die Bartstoppeln unterm Kinn. Danach duschte er warm, beendete die Prozedur beherzt mit drei Sekunden kaltem Guß und fühlte sich nun einen Moment frisch und energiegeladen, bereit, ein neues Lebenskapitel anzufangen, bis das von gestern, vorgestern und vorvorgestern feuchte Handtuch ihn wieder mit dem eigenen Nachtdunst umhüllte – als sei er gezwungen, ein angeschmuddeltes Hemd wiederanzuziehen.

Vom Bad begab er sich in die Küche, stellte Kaffeewasser auf, spülte eine der schmutzigen Henkeltassen im Ausguß, gab zwei Süßstofftabletten nebst zwei Teelöffeln Pulverkaffee hinein und ging sein Bett machen. Der Kampf mit der Tagesdecke zog sich drei, vier Minuten hin, und als er in die Küche zurückkehrte, merkte er, daß er den Kühlschrank über Nacht aufgelassen hatte. Er holte Margarine, Marmelade und ein gestern angefangenes Joghurt heraus, wobei offenbar wurde, daß ein dummes Insekt sich ausgerechnet diesen offenen Joghurtbecher zum Ort seines Freitods erkoren hatte. Mittels eines Teelöffels versuchte Fima den Leichnam herauszufischen, versenkte ihn dabei aber nur um so tiefer. So warf er den Becher in den Müll und begnügte sich im übrigen mit schwarzem Kaffee, da er, ohne nachzuprüfen, annahm, die Milch sei im offenen Kühlschrank gewiß auch sauer geworden. Er hatte vor, das Radio anzuschalten, um Nachrichten zu hören: Gestern hatte die Regierung bis in die Nacht hinein getagt. War eine Kommandotruppe auf Generalstabsbefehl in Damaskus abgesprungen und hatte Hafez Assad gefangengenommen? Oder wollte, umgekehrt, Arafat einreisen, um vor der Knesset in Jerusalem zu sprechen? Fima meinte eher, es würde wohl allerhöchstens von einer Abwertung des Schekels oder irgendeiner Korruptionsaffäre die Rede sein. In Gedanken sah er sich seine Minister zu einer mitternächtlichen Kabinettssitzung einberufen. Alter Rebellengeist aus Jugendbewegungstagen veranlaßte ihn, diese Sitzung ausgerechnet in einer verwahrlosten Volksschule im Stadtteil Katamon anzusetzen – auf abblätternden Bänken vor der mit Rechenaufgaben vollgekritzelten Tafel. Er selber würde sich in Arbeiterjacke und verschossenen Hosen nicht ans Lehrerpult, sondern auf die Fensterbank setzen. Würde erbarmungslos ein Bild der aktuellen Wirklichkeit abrollen lassen. Die Minister durch die Schilderung des drohenden Unheils konsternieren. Gegen Morgen würde er den Mehrheitsbeschluß herbeiführen, im ersten Stadium, sogar ohne jedes Abkommen, sämtliche Truppen aus dem Gazastreifen abzuziehen. Sollten sie von dort unsere Ortschaften beschießen, werde ich sie von der Luft aus bombardieren. Aber wenn sie Ruhe halten, ihre Friedensbereitschaft unter Beweis stellen, warten wir ein bis zwei Jahre ab und verhandeln dann mit ihnen über die Zukunft von Nablus und Hebron.

Nach dem Kaffee schlüpfte er in den fadenscheinigen braunen Zottelbärpullover, den Jael ihm überlassen hatte, blickte auf die Uhr und sah, daß er die Siebenuhrnachrichten verpaßt hatte. Deshalb ging er den Ha’arez heraufholen, vergaß aber den Briefkastenschlüssel mitzunehmen, so daß er die Zeitung aus dem Schlitz zerren mußte und dabei die Titelseite zerriß. Auf der Treppe blieb er stehen, um die Überschriften zu lesen, ging weiter, stoppte erneut und gelangte zu der Überzeugung, dieser Staat sei einem Trupp Geistesgestörter in die Hände gefallen. Immer und ewig diktieren Hitler und der Holocaust ihr gesamtes Reden und Tun, wieder und wieder drängt es sie, jede Friedenschance auszulassen oder zunichte zu machen, weil ihnen der Frieden als Nazi-Finte erscheint, allein auf ihre Vernichtung ausgerichtet. Als er an der Wohnungstür angelangt war, begriff er, daß er sich erneut widersprach, und warnte sein Hirn vor der für die israelische Intelligenzija typischen Hysterie und Weinerlichkeit: Wir müssen uns vor der verlockenden, aber törichten Annahme hüten, die Geschichte werde letzten Endes die Bösen bestrafen. Während er sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, setzte er seinen vorherigen Überlegungen eine Formulierung entgegen, die er in politischen Diskussionen mit Uri Gefen, Zwicka und den anderen häufig verwendete: Wir müssen endlich lernen, in Übergangszuständen, die sogar viele Jahre dauern können, zu leben und zu handeln, statt beleidigt mit der Wirklichkeit zu spielen. Unsere mangelnde Bereitschaft, in einem offenen Zustand zu leben, unsere Sucht, sofort zur Schlußzeile überzugehen und augenblicklich festzulegen, was am Ende herauskommen soll – das sind doch die wahren Ursachen unserer politischen Impotenz.

Als er zu Ende gelesen hatte, was die Fernsehkritikerin über ein Programm, das er gestern völlig verschwitzt hatte, zu sagen wußte, war es schon nach acht Uhr. Da hatte er also wieder die Nachrichten verpaßt und stellte wütend fest, daß er zu dieser Zeit längst am Schreibtisch sitzen und arbeiten müßte. Er wiederholte sich die Worte aus dem Traum: Man muß trennen. Aber zwischen was? Eine nahe, sanfte, warme Stimme, die weder männlich noch weiblich klang, aber von tiefem Mitgefühl erfüllt war, sagte zu ihm: Und wo bist du, Efraim? Fima erwiderte: Gute Frage. Dann setzte er sich auf seinen Schreibtischstuhl, betrachtete die unbeantworteten Briefe und die Einkaufsliste, die er Samstag abend aufgestellt hatte, und erinnerte sich, daß er heute morgen dringend in einer unaufschiebbaren Angelegenheit telefonieren mußte, nur fiel ihm partout nicht ein, mit wem. So rief er Zwicka Kropotkin an, riß ihn aus dem Schlaf, worüber er nun selber erschrak, entschuldigte sich in extenso, traktierte Zwi aber trotzdem zwanzig Minuten lang mit den taktischen Fehlern der Linken, den sich abzeichnenden Veränderungen in der amerikanischen Haltung und der allenthalben unablässig tickenden Uhr des islamischen Fanatismus, bis Zwi sagte: »Entschuldige, Fima, sei nicht böse, aber ich muß mich nun wirklich anziehen und sputen, damit ich zu meiner Vorlesung komme.« Fima beendete das Gespräch, wie er es begonnen hatte, mit einer überlangen Entschuldigung, wußte aber immer noch nicht, ob er heute morgen nun jemand anrufen oder umgekehrt auf ein dringendes Telefonat warten mußte, das er jetzt durch dieses Gespräch mit Zwi womöglich verpaßt hatte, das eigentlich, wie ihm jetzt bewußt wurde, kaum ein Dialog, sondern eher ein Monolog seinerseits gewesen war. Deshalb verzichtete er darauf, auch Uri Gefen anzuläuten, und studierte unterdessen mit besonderer Sorgfalt den Computerauszug der Bank, bei dem er nicht begriff, ob nun sechshundert Schekel auf seinem Konto eingelaufen und vierhundertfünfzig davon abgebucht waren oder umgekehrt. Der Kopf sank ihm auf die Brust, und vor seinen geschlossenen Augen zogen Massen entfesselter Moslems vorüber, skandierten Suren und Parolen, zertrampelten und brandschatzten alles, was ihnen in die Quere kam. Bis sich der Platz leerte und nur noch vergilbte Papierfetzen im Winde wirbelten, eingebunden in das Rauschen des von hier bis zu den nebelgrau verhangenen Bethlehemer Bergen fallenden Regens. Wo bist du, Efraim? Wo ist die arische Seite? Und wenn ihr kalt ist, warum?

Fima wurde von einer warmen, schweren Hand geweckt. Er schlug die Augen auf und sah die braune Vaterhand wie eine Schildkröte auf seinem Oberschenkel liegen, eine alte, breite Pranke mit flachen, gelblichen Fingernägeln, die Oberfläche in Täler und Hügel gegliedert, von dunkelblauen Adern durchzogen und mit Altersflecken zwischen dem spärlichen Haarflaum gesprenkelt. Im ersten Moment war er verblüfft, doch im zweiten begriff er, daß es seine eigene Hand war. Nun raffte er sich auf und las dreimal nacheinander die am Schabbat niedergeschriebenen Stichworte für einen Aufsatz, den er noch heute in Druck zu geben versprochen hatte. Aber was er eigentlich hatte schreiben wollen, ja, was ihn gestern noch mit aufkeimender Schaffensfreude erfüllt hatte, erschien ihm jetzt banal. Damit schrumpfte auch die Lust, überhaupt etwas zu verfassen.

Nach einigem Nachdenken wurde ihm klar, daß nicht alles verloren war: Es handelt sich lediglich um eine technische Schwierigkeit. Wegen der niedrigen Wolken und dem Nebelregen gibt es hier nicht genug Licht. Man braucht Licht. Das ist alles. Er knipste die Schreibtischlampe an in der Hoffnung, damit einen Neuanfang des Aufsatzes, dieses Morgens, seines Lebens zu begründen. Doch sogleich begriff er, daß diese Lampe kaputt war. Oder vielleicht war sie heil und nur die Birne durchgebrannt? Er stürzte zum Einbauschrank im Flur, fand dort entgegen all seinen Erwartungen tatsächlich eine neue Birne und konnte sie sogar problemlos reinschrauben. Aber auch die neue Glühbirne war ausgebrannt oder womöglich von ihrer Vorgängerin beeinflußt. Deshalb ging er auf die Suche nach einer dritten, kam jedoch unterwegs auf die Idee, das Flurlicht zu probieren, und mußte sogleich beide Birnen von jeder Schuld freisprechen, weil einfach der Strom ausgefallen war. Um dem Müßiggang zu entkommen, beschloß er Jael anzurufen: Wenn ihr Mann antwortete, würde er wortlos den Hörer auflegen. War es Jael selber, würde ihm sicher der Augenblick die richtigen Worte in den Mund legen. Wie einmal, als er sie nach einem heftigen Streit mit dem Satz versöhnt hatte, wenn wir nicht verheiratet wären, würde ich jetzt um deine Hand anhalten, worauf sie ihm unter Tränen lächelnd erwidert hatte, wenn du nicht mein Mann wärst, würde ich wohl einwilligen. Nach zehn oder zwanzig hohlen Klingelzeichen sah Fima ein, daß sie gar nicht mit ihm sprechen wollte, oder vielleicht drückte Ted dort mit aller Macht die Gabel hinunter und ließ sie nicht abnehmen.

Außerdem überkam ihn Müdigkeit. Der lange nächtliche Streifzug durch die Gassen Valladolids hatte ihm den ganzen Vormittag verdorben. Um eins mußte er doch schon an seinem Arbeitsplatz hinter dem Aufnahmeschalter der Privatpraxis in Kiriat Schmuel sein. Und jetzt war es bereits zwanzig nach neun. Fima zerknüllte den Stichwortzettel, die Stromrechnung, die Einkaufsliste und den Bankauszug und warf sie allesamt in den Papierkorb, damit der Schreibtisch endlich frei für die Arbeit war. Dann ging er in die Küche, neues Kaffeewasser aufsetzen, blieb dabeistehen und erinnerte sich im Halbdämmern an das Jerusalemer Abendlicht vor rund drei Jahren am Eden-Kino in der Agrippasstraße, wenige Monate nach der Griechenlandreise. Jael hatte damals gesagt, ja, Effi, ich lieb’ dich ziemlich viel und lieb’ dich gern und lieb’ es, wenn du redest, aber warum meinst du bloß, wenn du ein paar Minuten mit Reden aufhörst, würdest du aufhören zu existieren, und er war verstummt wie ein von der Mutter ausgeschimpftes Kind. Als eine Viertelstunde vergangen sein mochte, der Kessel sich aber hartnäckig weigerte, warm zu werden, obwohl Fima zweimal den Stecker fester in die Steckdose gedrückt hatte, kapierte er endlich, daß es ohne Strom Kaffee weder gab noch geben würde. Deshalb kroch er voll angezogen wieder unter die Wintersteppdecke, stellte den Wecker auf Viertel vor zwölf, vergrub das Traumbuch unter dem Zeitungs- und Zeitschriftenstapel am Bettende, zog die Decke bis zum Kinn hoch und bemühte sich, intensiv an Frauen zu denken, bis es ihm gelang, sein Glied zu wecken, das er nun mit allen zehn Fingern umklammerte wie ein Einbrecher, der am Abflußrohr emporklettert, oder vielleicht, grinste er, wie ein Ertrinkender sich an einem Strohhalm festhält. Aber seine Müdigkeit war bei weitem stärker als seine Lust, und so erschlaffte er und nickte ein. Draußen legte der Regen zu.

3.
Flausensack

Um zwölf Uhr hörte er in den Nachrichten, ein junger Araber sei heute morgen von einem Plastikgeschoß tödlich getroffen worden, das offenbar bei einem Zwischenfall mit Steine werfenden Jugendlichen im Flüchtlingslager Jabaliya aus dem Gewehr eines Soldaten abgefeuert worden sei. Der Leichnam sei von Vermummten aus dem Krankenhaus in Gaza entführt worden, und die Umstände des Vorfalls würden weiter ermittelt. Fima sinnierte ein wenig über die Formulierung der Nachricht. Besonders verabscheute er die Wendung »von einem Plastikgeschoß tödlich getroffen«. Und ereiferte sich über das Wort »offenbar«. Danach ärgerte er sich allgemeiner über das Passiv, das dabei war, die Texte öffentlicher Verlautbarungen und vielleicht die Sprache überhaupt zu erobern.

Obwohl uns womöglich gerade die Scham, ein gesundes, löbliches Schamgefühl, daran hindert, einfach mitzuteilen: Ein jüdischer Soldat hat einen arabischen Jugendlichen erschossen. Andererseits gaukelt uns diese verunreinigte Sprache doch dauernd vor, schuld seien das Gewehr, die zu ermittelnden Umstände, das Plastikgeschoß – als sei diese ganze Unreinheit Schuld des Himmels, unausweichliche Vorbestimmung.

Und eigentlich, dachte er weiter, wer weiß?

Es liegt doch schon so ein geheimer Zauber in dem Ausdruck »Schuld des Himmels«?

Zum Schluß wurde er auf sich selber wütend: nix Zauber und nix geheim. Laß endlich den Himmel in Ruhe.

Fima hielt sich eine Gabel an Stirn, Schläfe, Hinterkopf und versuchte zu erraten oder zu empfinden, was sich in der Sekunde abspielen mochte, in der das Geschoß eindrang und die Schädeldecke durchschlug: kein Schmerz, keine Erschütterung – vielleicht, meinte er, vielleicht nur ein scharfes Aufblitzen von Ungläubigkeit, von Unvorbereitetsein, wie ein Kind, das sich darauf eingestellt hat, eine väterliche Ohrfeige einzustecken, während der Vater ihm statt dessen plötzlich einen weißglühenden Spieß gezielt in den Augapfel stößt. Gibt es den Bruchteil einer Sekunde, ein Zeitatom, in dem, wer weiß, vielleicht die Erleuchtung kommt? Das Licht der sieben Himmel? Wodurch alles, was vage und verschwommen im Leben war, einen winzigen Augenblick aufklart, bevor die Dunkelheit sich herabsenkt? All die Jahre lang sucht man eine komplizierte Lösung für ein vertracktes Rätsel, und da im letzten Moment blitzt eine einfache Lösung auf?

An diesem Punkt sagte Fima sich mit wütend heiserer Stimme: Genug mit dem Gehirnterror. Die Worte »vage« und »verschwommen« erregten seinen Widerwillen. Er erhob sich, ging hinaus, schloß die Wohnungstür hinter sich ab und achtete besonders darauf, in welche Tasche er den Schlüssel steckte. Unten im Hausflur sah er in seinem Briefkasten einen weißen Umschlag durch die Löcher schimmern. Aber in der rechten Hosentasche war nur der Wohnungsschlüssel. Der Briefkastenschlüssel mußte wohl auf dem Schreibtisch liegengeblieben sein. Wenn nicht in der Tasche einer anderen Hose. Oder auf einer Ecke der Küchentheke. Er zögerte, ließ die Sache aber auf sich beruhen, da er annahm, daß es doch nur die Wasser- oder Telefonrechnung oder auch bloß Reklame war. Dann aß er Rührei mit Wurst, gemischten Salat und Kompott in dem kleinen Lokal gegenüber und erschrak mittendrin, weil er durchs Fenster in seiner Wohnung Licht brennen sah. Er überlegte kurz, erwog die unwahrscheinliche Möglichkeit, daß er persönlich sowohl hier als dort weilte, rang sich aber lieber zu der Annahme durch, die Störung sei wohl eben beseitigt und der Strom wieder eingeschaltet worden. Ein Blick auf die Zeiger seiner Uhr sagte ihm, wenn er jetzt in die Wohnung hinaufgehen, das Licht ausmachen, den Briefkastenschlüssel suchen und den Brief befreien wollte, würde er zu spät zur Arbeit kommen. Deshalb zahlte er und sagte: »Vielen Dank, Frau Schönberg.«

Worauf sie ihn wie immer verbesserte: »Der Name ist Scheinmann, Dr. Nissan.«

Und Fima fortfuhr: »Aber gewiß doch. Natürlich. Verzeihung. Und was schulde ich Ihnen? Nein? Ich hab’ schon bezahlt? Dann habe ich mich anscheinend nicht zufällig geirrt. Ich wollte zweimal zahlen, weil das Schnitzel – Schnitzel? – besonders gut geschmeckt hat. Verzeihung, danke und auf Wiedersehen. Ich muß mich beeilen. Schaun Sie bloß mal, wie’s regnet. Sie sehen ein bißchen müde aus? Traurig? Vielleicht wegen des Winters. Macht nichts. Es wird schon aufklaren. Seien Sie gegrüßt. Auf Wiedersehen. Bis morgen.«

Als der Autobus zwanzig Minuten später an der Kongreßhalle hielt, dachte Fima, daß es eine ausgesuchte Dummheit gewesen war, heute ohne Schirm aus dem Haus zu gehen. Und der Wirtin zu versprechen, es werde schon aufklaren. Woher wollte er das wissen? Ein schmaler, blitzblanker Speer rötlichen Lichts brach plötzlich zwischen den Wolken durch und entzündete ein Fenster hoch oben in den Höhen des Hilton-Hotels, daß es ihm die Augen blendete. Trotz des Gleißens sah er jedoch ein einzelnes Handtuch an einem Balkongeländer im zehnten oder zwanzigsten Stockwerk des Hotelturms flattern und meinte, ganz scharf und genau den Parfümhauch der Frau, die sich damit abgetrocknet hatte, zu wittern. Dabei sagte er sich: Schau doch mal einer an, wie nichts auf der Welt wirklich vergeudet wird, nichts gänzlich verlorengeht und kaum eine Minute ohne ein kleines Wunder verstreicht. Vielleicht fügt sich alles zum Guten.

Die Zweizimmerwohnung am Rand von Kiriat Jovel hatte ihm sein Vater 1961 anläßlich seiner zweiten Eheschließung gekauft, knapp ein Jahr, nachdem Fima seinen Bachelorgrad an der Geschichtsfakultät in Jerusalem mit Auszeichnung erworben hatte. In jenen Tagen hatte sein Vater große Hoffnungen auf ihn gesetzt. Auch andere glaubten damals an Fimas Zukunft. Er erhielt ein Stipendium und hätte beinah ein Magisterstudium angeschlossen, so daß man schon an Promotion und wissenschaftliche Laufbahn dachte. Aber im Sommer 1960 traten eine Reihe von Störungen oder Komplikationen in seinem Leben ein. Bis auf den heutigen Tag grinsten seine Freunde wohlwollend vergnügt, sobald das Gespräch, in seiner Abwesenheit, auf »Fimas Geißbockjahr« kam: Man erzählte sich, Mitte Juli, einen Tag nach der letzten Abschlußprüfung, habe er sich im Garten des Klosters Ratisbon in die französische Fremdenführerin einer katholischen Reisegruppe verliebt. Er hatte auf einer Bank im Garten gesessen und auf eine Freundin, die die Schwesternschule besuchte, gewartet – eine gewisse Schula, die zwei Jahre später seinen Freund Zwi Kropotkin heiratete. Ein Oleanderzweig blühte ihm in den Fingern, und über seinem Kopf debattierten die Vögel. Von der Nachbarbank aus fragte Nicole ihn: Vielleicht gibt es hier Wasser? Sprechen Sie Französisch? Fima bejahte beides, obwohl er keine Ahnung hatte, wo es Wasser gab, und auch nur sehr spärliche Französischkenntnisse besaß. Von diesem Moment an blieb er ihr auf den Fersen, wohin sie sich in Jerusalem auch wandte, ließ trotz ihrer höflichen Bitten nicht locker und gab selbst nicht auf, als der Gruppenleiter ihn warnte, er müsse sich über ihn beschweren. Als sie zur Messe in die Dormitionskirche ging, wartete er eineinhalb Stunden vor der Schwelle auf sie wie ein Gassenköter. Jedesmal, wenn sie das King’s Hotel gegenüber dem Terra-Santa-Gebäude verließ, fand sie Fima, begeistert, ungestüm, mit brennenden Augen, vor der Drehtür. Als sie das Museum besuchte, lauerte er ihr vor jedem Pavillon auf. Kaum hatte sie das Land verlassen, sauste er in ihrem Gefolge nach Paris und von dort – bis vor ihr Haus in Lyon. Bei Mondschein nach Mitternacht, so hieß es in Jerusalem, war Nicoles Vater in den Garten hinausgekommen und hatte mit einem doppelläufigen Jagdgewehr auf Fima geschossen, wobei er ihn am Oberschenkel streifte. Drei Tage verbrachte Fima im Franziskanerhospital, begann sich schon zu erkundigen, wie man zum Christentum übertrat. Nicoles Vater kam ins Krankenhaus, bat ihn um Verzeihung und erbot sich, ihm beim Religionswechsel behilflich zu sein, aber inzwischen hatte Nicole auch von ihrem Vater genug und flüchtete vor beiden zu ihrer Schwester nach Madrid und von dort zur Schwägerin nach Malaga, während Fima – dreckig, verzweifelt, glühend und stoppelgesichtig – ihr in Zügen und verrußten Bussen nachreiste, bis ihm in Gibraltar das Geld ausging und man ihn unter Einschaltung des Roten Kreuzes fast gewaltsam auf einem panamaischen Frachtschiff heimholte. Bei der Ankunft in Haifa wurde Fima festgenommen und saß sechs Wochen in einem Militärgefängnis, weil er mit Kugelschreiber das Datum auf dem Passierschein geändert hatte, der dem Reservesoldaten den Aufenthalt im Ausland erlaubt. Zu Beginn dieser Liebesaffäre soll Fima zweiundsiebzig Kilo gewogen haben, während die Gefängniswaage im September keine sechzig anzeigte. Er wurde aus der Haft entlassen, nachdem sein Vater sich bei einem hohen Beamten für ihn eingesetzt hatte, und verknallte sich prompt lauthals und skandalträchtig in die Gattin eben dieses Beamten, eine bekannte Dame der Jerusalemer Gesellschaft, die über eine Sammlung wertvoller Radierungen verfügte und rund zehn Jahre jünger als ihr Mann, aber mindestens acht Jahre älter als Fima war. Im Herbst wurde sie schwanger von ihm und übersiedelte in sein Zimmer im Musrara-Viertel. Die ganze Stadt zerriß sich die Mäuler über die beiden. Im Dezember ging Fima erneut an Bord eines Frachtschiffs, diesmal unter jugoslawischer Flagge, und gelangte nach Malta, wo er drei Monate auf einer Zierfischzuchtfarm arbeitete und seinen Gedichtband Augustinus’ Tod und seine Auferstehung im Schoße Dulcineas verfaßte. In der maltesischen Hauptstadt Valetta verguckte sich die Eigentümerin der billigen Pension, in der er wohnte, im Januar in ihn und zog mit Sack und Pack zu ihm ins Zimmer. Aus Angst, sie könne ebenfalls schwanger werden, entschloß er sich zu einer Ziviltrauung. Diese Ehe dauerte kaum zwei Monate, denn inzwischen war es seinem Vater, unter Mithilfe von Freunden in Rom, gelungen, seine Fährte aufzuspüren und ihm mitzuteilen, daß seine Jerusalemer Geliebte die Leibesfrucht verloren habe, in Depression versunken und bereits zu Ehemann und Kunstsammlung zurückgekehrt sei. Fima, der sein Handeln nun für völlig unverzeihlich hielt, beschloß schweren Herzens, sich sofort von der Pensionswirtin zu trennen und den Frauen für immer fernzubleiben. Eine Liebesverbindung führe unweigerlich zu Unheil, dachte er, während liebesfreie Verbindungen nur Erniedrigung und Unrecht brächten. Er verließ Malta völlig mittellos an Deck eines türkischen Fischdampfers, in der Absicht, sich für mindestens ein Jahr in ein bestimmtes Kloster auf Samos zurückzuziehen. Unterwegs packte ihn das Grauen bei dem Gedanken, seine Exfrau könne womöglich ebenfalls schwanger sein, und er erwog, zu ihr zurückzukehren, meinte dann jedoch, es sei klug gewesen, ihr sein Geld, aber keinerlei Anschrift zurückzulassen, so daß sie ihn nirgends suchen konnte. Er ging in Saloniki von Bord, verbrachte eine Nacht in der Jugendherberge, und dort träumte er in süßem Schmerz von seiner ersten Liebe, Nicole, deren Spuren er in Gibraltar verloren hatte. Im Traum hieß sie plötzlich Therese, und Fima sah, wie sein Vater Therese und das Baby im Keller des Jerusalemer YMCA-Gebäudes mit geladenem Jagdgewehr gefangenhielt, wurde aber erst gegen Ende des Traums selber zu dem gefangenen Kind. Am nächsten Morgen stand er auf und machte sich in Saloniki auf die Suche nach einer Synagoge, obwohl er nie die Religionsgesetze eingehalten hatte und fest glaubte, daß Gott weder fromm war noch sich für Religion interessierte. Aber da er keine andere Anschrift hatte, beschloß er, halt einmal dort nachzusehen. Vor der Synagoge traf er drei junge Mädchen aus Israel, die auf einer Rucksacktour durch Griechenland waren und eben in die nördlichen Bergregionen weiterziehen wollten, denn inzwischen war der Frühling angebrochen. Fima schloß sich ihrem Treck an. Unterwegs fand er, dem Vernehmen nach, Gefallen an einer der drei, Ilia Abarbanel aus Haifa, die für ihn große Ähnlichkeit besaß mit Maria Magdalena auf einem Gemälde, von dem er sich partout nicht erinnern konnte, wo er es gesehen hatte und von wem es stammte. Und da Ilia sein Werben nicht erhörte, schlief er ein paarmal mit ihrer Gefährtin Liat Sirkin, die ihn in ihren Schlafsack eingeladen hatte, als sie eine Nacht in irgendeinem Gebirgstal oder heiligen Hain verbringen mußten. Liat Sirkin lehrte Fima zwei, drei sonderbare, durchdringende Genüsse, und er meinte, über das erhebende fleischliche Vergnügen hinaus auch feine Anzeichen geistiger Freuden zu empfinden: Fast schon von Tag zu Tag stärker erfaßte ihn eine geheimnisvolle Bergeslust, verbunden mit einem Wonnegefühl, in deren Folge solch scharfe Beobachtungsgaben in ihm erwachten, wie er sie noch nie gekannt hatte, weder vorher noch nachher. Damals in den Bergen Nordgriechenlands konnte er den Sonnenaufgang hinter einem Olivenhain betrachten und die Schöpfung der Welt darin erblicken. Oder in der Mittagshitze an einer Schafherde vorbeikommen und dabei die absolute Gewißheit erlangen, daß er jetzt nicht zum ersten Mal lebte. Oder auf der weinbewachsenen Terrasse eines Dorfgasthauses bei Käse, Salat und Wein sitzen und mit eigenen Ohren den Schneesturm über die Tundren des Polarkreises tosen hören. Auch spielte er den Mädchen auf einer Querflöte vor, die er aus Schilfrohr gebastelt hatte, und schämte sich nicht, vor ihnen zu tanzen und zu springen und kindliche Späße zu treiben, bis er ihnen glockenreines Mädchenlachen und schlichte Freude entlockte. Die ganze Zeit über sah er keinen Widerspruch zwischen seiner schmachtenden Sehnsucht nach llia und den Nächten mit Liat, achtete aber kaum auf die Dritte im Bunde, die meist Schweigen wahrte. Dabei hatte gerade sie ihm den Fuß verbunden, als er barfuß in eine Glasscherbe getreten war. Die drei Mädchen und auch die anderen Frauen, die es in seinem Leben gegeben hatte, einschließlich seiner Mutter, die in seinem zehnten Lebensjahr gestorben war, verschmolzen in seinen Augen fast zu einer einzigen. Nicht etwa, weil er meinte, Frau sei gleich Frau, sondern weil es ihm in der Festbeleuchtung, die sein Inneres überflutete, manchmal schien, als gebe es die Unterschiede von Mensch zu Mensch, zwischen zwei Menschen, gleich ob Mann, Frau oder Kind, nicht wirklich, außer vielleicht in der äußerlichsten Schicht, der wechselnden Schale: wie das Wasser die Form von Schnee, Dunst, Dampf, Eisbrocken, Wolkenfetzen oder Hagel annehmen kann. Oder wie die Kloster- und Kirchenglocken des Dorfes sich in Klang und Takt unterschieden, aber dasselbe Ziel verfolgten. Diese Gedanken teilte er den Mädchen mit, von denen zwei es glaubten, während die dritte ihn ›mein Geliebter‹ nannte und sich damit begnügte, seine Hemden zu flicken, und auch darin sah Fima nur verschiedene Ausdrucksformen desselben Inhalts. Das zurückhaltende Mädchen, Jael Levin aus Javne’el, weigerte sich nicht, an ihren gemeinsamen Nacktbädern in milden Vollmondnächten teilzunehmen, wenn sie eine Quelle oder einen Bach fanden. Einmal sahen sie aus der Ferne verstohlen einen etwa fünfzehnjährigen Schafhirten seinen Trieb bei einer Ziege befriedigen. Und einmal sahen sie zwei fromme alte Frauen in schwarzer Witwenkleidung mit großen Holzkreuzen auf der Brust am hellen Mittag mitten auf dem Feld stumm und reglos mit gefalteten Händen auf einem Stein sitzen. Eines Nachts hörten sie aus einer leeren Ruine Singen. Und einmal begegnete ihnen unterwegs ein alter, runzliger Mann, der im Gehen auf einem kaputten Akkordeon spielte, das keinen Ton mehr von sich gab. Am nächsten Morgen ging ein kurzer, starker Schauer nieder, eine Art griechischer Spätregen, und die Luft wurde derart klar, daß man über große Entfernungen hinweg die Eichenwipfel schemenhaft über den roten Ziegeldächern der kleinen Dörfer in den Tälern schwanken sah, während dunkle Zypressen- und Kiefernwäldchen sich fast Nadel für Nadel auf den fernen Berghängen abhoben. Ein Berg trug noch eine Schneekappe, die wegen des tiefen Himmelsblaus nicht weiß, sondern sattsilbern schimmerte. Auch Vogelschwärme schwebten wie im Schleiertanz über sie hinweg. Fima sagte plötzlich ohne Grund oder Zusammenhang etwas, das die drei Mädchen zum Lachen brachte: »Hier«, sagte er, »liegt der Hund begraben.«

Ilia sagte: »Ich fühle mich träumender als im Traum und wacher als im Wachen. Man kann es nicht erklären.«

Liat meinte: »Es ist das Licht. Einfach das Licht.«

Und Jael: »Wer hat Durst? Gehn wir ans Wasser runter.«

Knapp einen Monat nach Ende dieser Reise fuhr Fima nach Javne’el, um das dritte Mädchen zu suchen. Er erfuhr, daß Jael Levin Luftfahrttechnik am Haifaer Technikum studiert hatte und in einer geheimen Luftwaffenanlage in den Bergen westlich von Jerusalem arbeitete. Nach fünf oder sechs Begegnungen fand er, daß ihre Nähe ihm Ruhe einflößte und seine Nähe sie auf ihre gemäßigte Weise amüsierte. Als er sie zögernd fragte, ob sie nach ihrer Ansicht zueinander paßten, antwortete Jael mit den Worten: Du redest ziemlich schön. Darin meinte er einen Anflug von Zuneigung zu sehen. Die er in sein Herz schloß. Danach suchte und fand er Liat Sirkin und saß eine halbe Stunde lang mit ihr in einem kleinen Strandcafé, nur um sicher zu sein, daß sie nicht von ihm schwanger war. Aber nach dem Kaffee ließ er sich erneut dazu verleiten, mit ihr zu schlafen, in einem billigen Hotel in Bat-Jam, und war nun wieder nicht sicher. Im Mai lud er alle drei nach Jerusalem ein und stellte ihnen seinen Vater vor. Der Alte faszinierte Ilia mit seinen Kavaliersmanieren im alten Stil, unterhielt Liat mit lehrreichen Anekdoten und Fabeln, zog beiden aber Jael vor, bei der er »Anzeichen von Tiefe« wahrnahm. Fima stimmte ihm zu, obwohl er keineswegs sicher war, worin diese Zeichen bestanden. Trotzdem ging er weiter mit ihr aus, bis sie einmal zu ihm sagte: »Sieh mal dein Hemd an. Halb in der Hose und halb draußen. Warte. Ich bring’s in Ordnung.«