Was ist und wozu betreiben wir Kritik? Die Frage nach den Bedingungen und der Möglichkeit von Kritik stellt sich immer dort, wo Gegebenheiten analysiert und beurteilt werden, seien es gesellschaftliche Verhältnisse und Institutionen, Selbstverhältnisse oder Objekte der Kunst. So ist Kritik konstitutiver Bestandteil menschlicher Praxis: Handeln beruht auf normativen Unterscheidungen und damit auf der Möglichkeit von Kritik.
Wie aber ist das kritische Unternehmen beschaffen? Wie stellt sich in den unterschiedlichen Praktiken der Kritik das Verhältnis von Analyse und Bewertung dar, und wie sind die Maßstäbe auszuweisen, die es dem Kritiker erlauben, eine gegebene Situation als falsch, schlecht, unangemessen oder defizitär zu bezeichnen? Aus unterschiedlichen Perspektiven geben die Beiträge dieses Bandes Antworten auf diese Fragen.
Rahel Jaeggi ist Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Tilo Wesche ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Basel.
Was ist Kritik?
Suhrkamp
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eISBN 978-3-518-73229-8
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Einführung: Was ist Kritik?
I Kritik als Praxis
Hartmut Rosa
Kritik der Zeitverhältnisse. Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik
Ruth Sonderegger
Wie diszipliniert ist (Ideologie-)Kritik? Zwischen Philosophie, Soziologie und Kunst
Luc Boltanski und Axel Honneth
Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates
II Normative Grundlagen der Kritik
Maeve Cooke
Zur Rationalität der Gesellschaftskritik
Rüdiger Bittner
Kritik, und wie es besser wäre
Rainer Forst
Der Grund der Kritik. Zum Begriff der Menschenwürde in sozialen Rechtfertigungsordnungen
Raymond Geuss
Bürgerliche Philosophie und der Begriff der »Kritik«
III Innen und Außen: Konstellationen der Kritik
Tilo Wesche
Reflexion, Therapie, Darstellung. Formen der Kritik
Judith Butler
Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend
Martin Saar
Genealogische Kritik
Rahel Jaeggi
Was ist Ideologiekritik?
6IV Kritische Hermeneutik und Wissenschaft
Joachim Küchenhoff
Mitspieler und Kritiker. Die kritische Hermeneutik des psychotherapeutischen Gesprächs
Emil Angehrn
Hermeneutik und Kritik
Günter Figal
Verstehen – Verdacht – Kritik
Michael Hampe
Wissenschaft und Kritik. Einige historische Beobachtungen
Über die Autorinnen und Autoren
Was ist und wozu betreiben wir Kritik? Die Frage nach den Bedingungen und der Möglichkeit von Kritik stellt sich immer dort, wo Gegebenheiten analysiert, beurteilt oder als falsch abgelehnt werden. Kritik ist, so verstanden, konstitutiver Bestandteil menschlicher Praxis. Immer dann, wenn es Spielräume, Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, setzt sich menschliches Handeln der Kritik aus. Wo so oder anders gehandelt werden kann, kann man auch falsch oder unangemessen handeln – und entsprechend dafür kritisiert werden. Sofern sie sich auf soziale Verhältnisse richtet, stellt Kritik gesellschaftliche Werte, Praktiken und Institutionen und die mit diesen verbundenen Welt- und Selbstdeutungen ausgehend von der Annahme infrage, dass diese nicht so sein müssen, wie sie sind.
Sieht es aus dieser Perspektive so aus, als sei die Praxis des Kritisierens aus menschlichen Handlungszusammenhängen gar nicht wegzudenken, so wird andererseits die Frage, »wozu eigentlich (noch) Kritik?«, mit großer Entschiedenheit gestellt. Angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich so darstellen, als gäbe es zu ihnen keine Alternative und in ihnen keine Entscheidungsspielräume, scheint die Möglichkeit von Kritik zu schwinden. Aber auch wenn der Philosoph Richard Rorty behauptet: »the best way to expose or demistify an existing practice would seem to be by suggesting an alternative practice, rather than criticizing the current one«,[1] verabschiedet er auf folgenreiche Weise eine bestimmte Idee von Kritik, wie sie lange unser theoretisches wie praktisches Selbstverständnis beherrscht hat.
Dabei leugnet er, wohlgemerkt, nicht die Veränderungswürdigkeit existierender gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen an sich. Infrage gestellt wird hingegen die Annahme eines begründeten Übergangs von der alten, als defizitär beurteilten Praxis zu einer neuen. Es gibt dann keinen Maßstab, von dem her sich die durch 8Kritik motivierte Transformation als ein Fortschritt zum Besseren – und nicht nur als Übergang zu etwas anderem – verstehen ließe. Und es gibt dann auch keine wie auch immer gearteten Ressourcen, die im alten für einen neuen Zustand liegen könnten, wie es noch das auf radikale Transformation setzende Marx’sche Programm will, wenn Marx als Charakterzug seiner »neuen Richtung« hervorhebt, dass diese »nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden« wolle.[2]
An dieser Alternative zwischen kritischer Transformation oder »Sprung« wird ein grundlegender Zug des kritischen Projekts deutlich: Kritik bedeutet immer gleichzeitig Dissoziation wie Assoziation. Sie unterscheidet, trennt und distanziert sich; und sie verbindet, setzt in Beziehung, stellt Zusammenhänge her. Sie ist, anders gesagt, eine Dissoziation aus der Assoziation und eine Assoziation in der Dissoziation. Noch die radikale Widerlegung ist in diesem Sinne eine Bezugnahme, und noch eine Kritik, die auf den Bruch mit einer bestehenden Ordnung setzt, stellt eine Beziehung zu der Situation her, die überwunden werden soll.
An diesem Umstand zeigt sich, wie vorraussetzungsreich die Praxis der Kritik ist und wie wenig selbstverständlich es ist, dass und wie das kritische Unternehmen funktioniert. Die Frage nämlich, wie das so beschriebene Verhältnis zwischen der Kritik und ihrem Gegenstand und zwischen dem Kritiker und dem von ihm Kritisierten im Einzelnen beschaffen ist, führt zu einem ganzen Komplex von Problemen, die im vorliegenden Band auf unterschiedliche Weisen thematisiert werden.
– In welchem Verhältnis steht die Kritik des Alten zur Möglichkeit des Neuen? Beharren die einen auf der Negativität der Kritik, so fordern die anderen von der Kritik ein konstruktives Moment, schon allein deshalb, weil die Kritik des Bestehenden, um wirksam zu werden, die motivierende Kraft eines positiven Gegenbildes zu diesem in Anspruch nehmen müsse.
– Wie sind die Maßstäbe auszuweisen, die es dem Kritiker erlauben, eine gegebene Situation als falsch, schlecht, unangemessen oder defizitär zu kritisieren – und gibt es solche Maßstäbe in einem Sinn, der über das Partikulare, partiell oder lokal Gültige hinausgeht? Infrage steht damit, ob Kritik sich auf universal gültige 9(den bestehenden Praktiken und Institutionen gegenüber »externe«) Wertmaßstäbe beziehen kann oder ob sie angewiesen bleibt auf die schon existierenden Normen einer Gemeinschaft, die dann vom Kritiker gewissermaßen »beim Wort genommen« werden. Sind solche Fragen lange Zeit in der Alternative von »starker« und »schwacher« Normativität verhandelt worden,[3] so rücken heute zunehmend Destabilisierungs- und Subversionseffekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die als kritische Praktiken die Macht haben sollen, bestehende Ordnungen zu unterlaufen.
– Welches schließlich ist der Standpunkt, den der Kritiker einnimmt? Wird Kritik erst ermöglicht durch die Nähe zum Kritisierten – oder beruht sie, im Gegenteil, auf einer Distanz zum Bestehenden, die erst die Wahrnehmung von Missverhältnissen ermöglicht? Die Behauptung eines epistemologischen Sonderstatus durch den Kritiker, der sich den Verstrickungen in die von ihm kritisierte Realität entziehen zu können glaubt, ist immer wieder kritisiert worden. Und dennoch gehört die Fähigkeit zur Distanznahme möglicherweise zu den Bedingungen der kritischen Praxis.
– Wie steht es aber überhaupt um das Verhältnis zwischen Analyse und kritischer Praxis und damit auch um die Deutungsmacht sozialer Akteure gegenüber der Perspektive der theoriegeleiteten Kritiker? Ist die Artikulation von sozialem Leid schon Kritik – oder bedarf es theoretisch geleiteter Transformationsprozesse, um soziale Erfahrungen artikulierbar zu machen und in (gerechtfertigte) Kritik zu überführen?
Das Anliegen des Bandes, diesen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven nachzugehen, wird von der Überzeugung getragen, dass der Kritik von Beginn an ein zentraler Stellenwert in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eingeräumt wurde. Eine weitere Ausgangsüberlegung betrifft die Vielgestaltigkeit des Kritikbegriffs. Den Begriff der Kritik, auf den sich beispielsweise die Philosophie verpflichten ließe, gibt es ebenso wenig wie die Philosophie in ei10ner allein in Europa zweieinhalbtausendjährigen Geschichte. Mit dem geschichtlichen Wandel der Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften verändert sich auch ihr Begriff der Kritik. Die Frage, was Kritik heißen kann, sucht deshalb nicht nach einem übergreifenden Kritikbegriff. Zudem ist das engere Bedeutungsfeld, dem sich dieser Band schwerpunktmäßig widmet, auf eine Auswahl von Fragestellungen begrenzt, die nicht alle Grenzbereiche wie Kulturkritik, Religionskritik und Bildkritik umfasst.[4] Historisch sind vier Bedeutungen von Kritik zu unterscheiden, die sich unter einem systematischen Gesichtspunkt wechselseitig ergänzen.
So alt wie die Philosophie ist ihr Selbstverständnis als Aufklärung. Im Übergang vom Mythos zum Logos betritt sie die Bühne als eine Erkenntniskritik, die der Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben dient. Wie eng Philosophie mit der Kritik am Schein verwoben ist, führen zudem Kants drei Kritiken vor Augen. Dem »Kritizismus« geht es um die Vermeidung von Täuschungen, die sich im theoretischen Wissen als Dogmatismus und im praktischen Wissen als Bevormundung ausdrücken. Solche Täuschungen fallen in das Wissen selbst. So richtet sich Kants Kritik gegen einen Dogmatismus, der den transzendentalen, vom Verstand selbst erzeugten Schein verkennt. Als Kritik an einem Schein, der aus Rationalität erwächst, wendet sie sich im Namen der Aufklärung gegen eine vermeintliche Aufklärung. Solcher Aufklärungskritik kommt in der Philosophie seit Sokrates’ und Platons Abgrenzung von den Sophisten ein fester Platz zu.
Theorien sind zweitens eng mit einer historischen Kritik verknüpft, die der Positionierung gegenüber Alternativen dient. Abgrenzung, Überbietung und Korrektur sind – man denke nur an Aristoteles’ Platonkritik, Hegels Kantkritik oder Kierkegaards, Feuerbachs und Marx’ Hegelkritik – Medien der Selbstvergewisserung. Die theoretische Schlagkraft geht unter anderem auf die Schärfe der Kritik an alternativen Entwürfen zurück, als ob erst im Kontrast das eigene Profil Konturen gewinnt. Denn die Differenziertheit einer Theorie hängt von der Unterscheidungskraft ab, mit der sie vermeintliche Alternativen auszuschließen vermag. Ganz gleich 11deshalb, wie sich eine Theorie zu Alternativen verhält, sich zu ihnen verhalten muss sie.
Unter Kritik werden drittens intellektuelle Tugenden verstanden, auf die etwa die Rede von der ›Rolle des Intellektuellen‹ verweist. Zu dieser emanzipatorischen Kritik zählen alle erdenklichen Formen der ›Einmischung‹ von der Partizipation der Wissenschaften an Prozessen der Meinungsbildung über das Schaffen von Öffentlichkeit bis zum politischen Engagement, das sich nicht organisatorisch vereinnahmen lässt.[5] Ein frühes Zeugnis der emanzipatorischen Kritik herrschender moralisch-politischer Wertvorstellungen stellt das Convivio von Dante Alighieri dar, das sich an Leserinnen und Leser außerhalb der Universität und Kirche richtet mit dem Ziel, sie zur Selbstbestimmung und den Adel zur Umkehr seiner feudalistischen Politik zu führen.[6] Im Mittelpunkt der emanzipatorischen Kritik steht die Praxis. Als Gegenwartskritik stellt sie Diagnosen von Unrecht und greift in das Geschehen durch Stellungnahmen ein, denen über eine Wissenschaftsgemeinschaft hinaus Gehör verschafft wird.
»Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie.«[7] Hegel bestimmt mit dieser Verlagerung vom Staunen auf die Erfahrung realhistorischer Konflikte und Krisen nicht nur das Motiv des Philosophierens neu. Vor allem legt er damit den Grundstein für ein neuartiges Selbstverständnis der Philosophie, demzufolge Vernunft mit Kritik gleichgesetzt wird – freilich ohne dass sie darin aufgeht. Erst bei Hegel fallen Philosophie und Kritik in eins und ist sie, viertens, philosophische Kritik. Philosophie ist bei Hegel tiefer mit Kritik verwoben und lässt sich nicht mit Erkenntniskritik oder Gegenwartskritik verrechnen. Das »Bestreben […], das Negative der bestehenden Welt aufzuheben«, geht weder in der Unterscheidung von Wissen und Täuschung noch in intellektueller Einmischung auf;[8] noch wird mit der Einheit von Philosophie und Kritik gefordert, die tagespolitische Einmischung vom »Nebenberuf« zum Hauptberuf zu befördern und die Forschungsarbeit durch das 12»Pamphlet« zu ersetzen.[9] Die Befreiung von Befangenheiten, Zwang und Leiden wird vielmehr zum Hauptanliegen der Philosophie, ohne ihre Grundfragen preiszugeben. Die traditionellen Kernbereiche der Philosophie werden nicht handstreichartig verabschiedet, sondern in eine Konzeption von Kritik überführt. Soziale Konflikte und historische Krisen widerfahren nicht blind, sondern beruhen auf erklärbaren Bedingungen. Sie gehen laut Hegel auf die kategorialen Denkformen zurück, die unser Selbst- und Weltverständnis prägen. Philosophie macht diese kategorialen Voraussetzungen von Wissenschaft, Kultur und Politik als Voraussetzungen ausdrücklich, mit denen bestimmte Weichenstellungen und Konfliktpotentiale verbunden sind. Seine Zeit in Gedanken zu fassen heißt demnach auch, sie auf diejenigen Wissensformen zurückzuverfolgen, deren Ausdruck sie ist. Zeitdiagnose und Begriffsanalyse gehen deshalb Hand in Hand. Zudem sind sie in historischer Kritik eingebettet, sofern sich Begriffsanalysen in Abgrenzung zu historischen Alternativen vollziehen.[10] Aus der Philosophie gehen dennoch weder unmittelbare Handlungsanweisungen noch Entwürfe einer erlösten Wirklichkeit hervor. Vielmehr besteht ihre mittelbare Wirkmacht in der Rekonstruktion konfliktlösender Potentiale, die in der Realität, in habituellen, sprachlichen oder institutionellen Praxisformen verkörpert sind. Die normativen Grundlagen der Kritik werden über die Rekonstruktion solcher Praxisformen, die sich im Bestehenden manifestieren, gesichert.
In der Epoche nach Hegel verliert die Philosophie unwiederbringlich das Exklusivrecht auf Kritik. Was im Anschluss an Hegel philosophische Kritik genannt werden kann, differenziert sich mit dem Aufkommen der modernen Sozial-, Human- und Kulturwissenschaften zu einem Programm bildenden Schlüsselbegriff verschiedener Disziplinen aus. Kritik gehört zentral zum Selbstverständnis so unterschiedlicher Entwürfe wie Kierkegaards philosophischer Anthropologie, Marx’ Gesellschaftstheorie und Nietzsches 13Kulturkritik. An ihnen knüpfen mit je eigenen Gewichtungen die Kritische Theorie, Sartres phänomenologische Ontologie, Foucaults Machttheorie, der dialektische Negativismus von Michael Theunissen, Derridas Dekonstruktion und Ricœurs kritische Hermeneutik an. In diesen Ansätzen wird das Spektrum der Kritik zunehmend in zwei Hinsichten ausgefächert. Zum einen wird die Frage nach einem Verständnis dessen, was Kritik heißt, und ihre Rolle für die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften ausdrücklich gestellt.[11] Zum anderen bildet sich ein geschärftes Problembewusstsein für die normativen Grundlagen einer Kritik aus, die sich gegen das Bestehende richtet und die zugleich ihre eigenen Ressourcen aus dem Bestehenden schöpft. Mit den Figuren etwa der immanenten und transzendenten Kritik sowie der genealogischen Kritik werden Lösungsvorschläge entworfen, wie sich ihre normativen Grundlagen sichern lassen.
Die Beiträge des ersten Teils des vorliegenden Bandes versammeln sich um die Frage, wie sich Kritik als Praxis darstellt und in welchem Verhältnis sie zur Theorie steht. Welche sind die kritischen Aufgaben der Theorie, und welche Funktion haben Gesellschaftstheorie, Soziologie und Sozialphilosophie, wenn sie kritisch sein wollen, für die Praxis? Hartmut Rosa weist der Soziologie die Aufgabe zu, strukturelle Ursachen für das kollektive Verfehlen eines gu14ten Lebens freizulegen. Eine solche Kritik entnimmt ihre Maßstäbe den sozial wirkmächtigen und für die Subjekte handlungsleitenden Konzeptionen gelingenden Lebens, selbst wenn sie zum Beispiel in Bezug auf zeitgenössische Gesellschaften nachweist, dass in diesen das Grundversprechen der Moderne selbst, das kulturelle und politische Projekt der Autonomie, untergraben zu werden droht. Eine solche Bedrohung von Autonomie durch einen bestimmten Typus von sich verselbstständigenden Prozessen identifiziert Rosa in den zwei aufeinander verweisenden Pathologiephänomenen von Beschleunigung und Entfremdung. Aufgabe der Sozialkritik ist es, solche Mechanismen, die von den Subjekten zwar empfunden, aber kaum artikuliert werden können, zu artikulieren.
Dass Sozialkritik als Artikulationsinstanz von sozialem Leid fungieren kann, ohne dabei die Betroffenen zu bevormunden, ist auch die zentrale Intuition von Ruth Sondereggers Plädoyer für eine Wiedererweckung der Ideologiekritik. Erstarrt die kritische Gesellschaftstheorie, so diagnostiziert Sonderegger am Beispiel der Habermas’schen Gesellschaftstheorie, in »unablässigen Begründungsdiskursen«, so liegt das an einer von diesen Theorien selbst herbeigeführten Situation der Distanznahme von der den Akteuren eigenen Perspektive. Dagegen stellt Sonderegger anhand von zwei Beispielen Möglichkeiten praktischer Ideologiekritik vor, die dem aus der Präokkupation mit Begründungsfragen resultierenden Defaitismus zu entkommen vermögen. Sowohl die von Pierre Bourdieu in Das Elend der Welt versammelten Interviews als auch die Filme der Brüder Dardenne erschließen, weit entfernt davon, bloße Abbildungen sozialer Wirklichkeit zu sein, soziale Ausgrenzung und soziales Leid so, dass sie der sozialen und politischen Kritik zugänglich gemacht werden.
Die Frage nach der Position der »gewöhnlichen Akteure« und der Rolle der in der sozialen Wirklichkeit vorfindbaren Erfahrungen sozialen Leids steht auch im Zentrum des Gesprächs, das Robin Celikates mit Luc Boltanski und Axel Honneth geführt hat. Hier begegnen sich zwei zeitgenössische Denkrichtungen, die das Phänomen der Kritik auf unterschiedliche Weisen auffassen: die »Soziologie der Kritik«, wie sie der französische Soziologe Luc Boltanski in enger Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern der Groupe de Sociologie Politique et Morale ausgearbeitet hat auf der einen Seite, die im Traditionszusammenhang der Frankfurter Schule 15stehende »Kritische Theorie«, wie sie der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth als Theorie der Anerkennung weiterentwickelt hat, auf der anderen Seite. Ihre jeweiligen theoretischen Herkünfte und Prägungen beleuchtend, versuchen beide Theoretiker, die Position der gewöhnlichen Akteure zur Theorie und das Verhältnis von Theorie und Praxis auszuloten, um auf je unterschiedliche Weise eine Position zu skizzieren, die sowohl kritisch sein kann, als auch an die Erfahrungen und Selbstdeutungen der Akteure anzuschließen vermag.
Wie aber sind die normativen Grundlagen der Gesellschaftskritik beschaffen, und mit welchem Recht kann eine solche Kritik übergreifende Geltung und Rationalität beanspruchen? Braucht Gesellschaftskritik, um motivierende Kraft entfalten zu können, ein positives Gegenbild zur bestehenden Gesellschaft oder kann sie rein negativ verfahren? Diese Fragen stehen im Zentrum des zweiten Teils. Maeve Cookes Beitrag vertritt die These, dass kritische Theorien immer eine utopische Komponente besitzen müssen. Zielen sie auf diejenigen gesellschaftlichen Faktoren, die das Gelingen des menschlichen Lebens verhindern, so beziehen sie sich damit unausweichlich auf die Vorstellung einer »guten Gesellschaft«. Solche Utopien allerdings seien nicht als »Bauplan« oder als konkreter Entwurf einer neuen Gesellschaftsform zu verstehen, sondern als eine Fiktion mit welterschließender Kraft und ethischer Orientierungsfunktion. Cooke versteht die motivierende Kraft der kritischen Gesellschaftstheorie als ein »Zusammenspiel von Vernunft und Affekt«. Die »erschließende« und affektiv besetzte Kraft der motivierenden Bilder des guten Lebens wird also begleitet von einem Anspruch auf Rationalität. Dabei begreift Cooke die die Gesellschaftskritik motivierenden Vorstellungen von Gerechtigkeit, Legitimität und Glück als »transzendierendes Objekt«, dem sich unsere Erkenntnisse nur annähern, das sie jedoch nie ganz einholen können. Als transzendierendes hat dieses Objekt einen ahistorischen, absoluten Charakter, andererseits aber muss es immer wieder neu repräsentiert und immer wieder neu artikuliert werden.
Auch Rüdiger Bittner setzt sich mit der Frage auseinander, ob Kritik von positiven Gegenbildern lebt, also konstruktiv sein muss. Kritisch gegenüber dem Totalitätsanspruch der »Kritischen Theorie« im Stile von Horkheimer und Adorno und das religiöse Motiv des Bilderverbots zurückweisend, depotenziert er in seinen Über16legungen gewissermaßen die Bedeutung dieses Problems. Kritik, so Bittner, kann, muss aber nicht konstruktiv sein, sie kann, muss aber nicht das Gegenbild zu den von ihr als schlecht verurteilten Verhältnissen liefern. Als bewertende Aussage ist sie vollständig, auch ohne sich auf ein mit der Bewertung impliziertes Besseres zu beziehen. Allerdings mag es sein, dass der Vorgang, in dem wir zu einer solchen Bewertung gelangen, von der Abwägung von Alternativen lebt.
Am Fall derjenigen motivierenden Kraft, die von der Bezugnahme auf die Idee der Menschenwürde für soziale Kämpfe ausgeht und ausgegangen ist, hinterfragt Rainer Forsts Beitrag die Entgegensetzung von immanenten und transzendenten, partikularen und universalisierbaren Maßstäben der Kritik. Die Forderung nach Respektierung der Menschenwürde mache in einer bestimmten, kontextgebundenen Form ein Recht geltend, »das in seinem Kern jedem Menschen als Person zusteht«. Als kontextübergreifender »Grund der Kritik« an gesellschaftlichen Ordnungen schält sich so ein Verständnis der Person als »begründendes, rechtfertigendes Wesen« mit einem basalen Recht auf Rechtfertigung heraus. Die Aufgabe kritischer Theorien lässt sich dann als diejenige einer »Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse« verstehen und zielt damit – ohne paternalistischen Standpunkt – auf die Transformation gesellschaftlicher Strukturen in einer Weise, die es den Einzelnen erst ermöglicht, sich als autonomes Wesen im politischen Sinne zu erfahren.
Anlässlich einer Bemerkung Wittgensteins erkundet Raymond Geuss in seinem Beitrag den Unterschied zwischen »bürgerlichem Denken« und radikaler Kritik der Gesellschaft. Ist das »bürgerliche Denken« durch eine stark affirmative Haltung und die optimistische Annahme, »dass die Welt wesentlich oder grundlegend in Ordnung ist«, charakterisiert, so beschränkt sich dieses Denken auf die Verbesserung und Umstrukturierung innerhalb eines bestehenden sozialen Rahmens. Was aber, so fragt Geuss, wenn diese optimistische Haltung zu einer Art Komplizenschaft mit dem Bestehenden oder sogar zu einer »tiefen Mitschuld an sozialen Missständen« führt? Für das Ausbrechen aus der »bürgerlichen Rechtschaffenheit« und dem bürgerlichen Optimismus stehen Figuren wie Lukács oder Adorno, bei denen die radikale Transformation als wenn auch (im Falle Adornos) nicht unbedingt planbare, so doch jedenfalls notwendige Option erscheint. Allerdings, so Geuss’ pes17simistische Schlussdiagnose, könnte es sein, dass solche »Kritik, als Kind des bürgerlichen Zeitalters« dieses »nicht überleben« werde.
Das Kraftfeld der Kritik ist nach zwei Seiten hin begrenzt. Kritik muss sich gegenüber ihrem Adressaten rechtfertigen und zugleich, will sie ihn treffen, gegen dessen Selbstverständnis durchsetzen können. Für die Verschränkung beider Stoßrichtungen steht die Gedankenfigur des Innen und Außen, der immanenten und transzendenten Kritik ein. Tilo Wesche beschreibt Kritik als eine Rechtfertigungspraxis, die sich gegen Widerstände von beispielsweise Denkgewohnheiten und Sinnverzerrungen vollzieht. Am Leitfaden einer Unterscheidung von Irrtümern, Zwangsvorstellungen und Simplifikationen lassen sich drei Formen der Kritik unterscheiden – Reflexion, Therapie und Darstellung –, in denen sich das Innen und Außen auf je wirksame Weise miteinander verschränken. Die Kritik an einer Moderne, die hinter ihren Glücks- und Freiheitsversprechen zurückfällt, erfolgt im Medium vor allem der darstellenden Kritik.
Judith Butler hebt in ihrem Essay über Foucaults Engführung der Kritik mit Tugend die prekäre Balance zwischen dem Innen und Außen hervor. Eine kritische Distanznahme gegenüber geregelten Erkenntnisweisen kann nur unter der Bedingung gelingen, dass sie in diesen Erkenntnisweisen verankert ist und zugleich über dieselben hinausgeht. Kritik sucht, gültige Gewissheiten zu hinterfragen, auf die sie selbst in diesem Akt zurückgreifen muss. Ein solches Infragestellen eigener epistemologischer Gewissheiten bedarf deshalb einer Bereitschaft zum Risiko, Wagnis und Aufs-Spiel-Setzen von Sicherheiten. Diese Selbsttransformation vollzieht sich nicht als eine epistemische Haltung oder ein Erkenntnisakt, sondern als Lebenspraxis, Ungewissheiten auszuhalten. Das praktische Austragen-Können der ungesicherten Balance ist Kennzeichen dessen, was Foucault die »Künste der Existenz« nennt und seine Assimilation von Kritik mit Tugend, mit ethischer Praxis rechtfertigt.
Martin Saar zeigt auf, inwiefern die Gewichte innerhalb der Konstellation von Innen und Außen von der genealogischen Kritik auf unverwechselbare Weise verschoben werden. Wesentliche Elemente dieser von Nietzsche und Foucault ausgearbeiteten Kritikform sui generis sind Subjekttheorie, Machtanalytik und Darstellungsform. Der kritische Effekt der Genealogie liegt in der zersetzenden Reflexion auf die Geschichte des Selbst, die immer auch eine verstellte 18Geschichte von Machtprozessen ist. Verfestigte Selbstverständnisse werden erschüttert und andere Möglichkeiten entworfen mit Hilfe besonderer textueller Strategien und argumentativer Stilmittel. Über die Historisierung von Werten, Praktiken und Institutionen greift die Genealogie im Namen einer Kritik des Sozialen auf Phänomene unvollkommener Freiheit, der Verstrickung mit Herrschaft und unmerklicher Fremdbestimmung zu.
Ideologiekritik an gesellschaftlicher Herrschaft lässt sich ohne eine lernfähige Vergewisserung ihrer Grundannahmen schwerlich revitalisieren. Die Voraussetzung für eine Vergegenwärtigung wie Neubestimmung der Ideologiekritik stellt, wie Rahel Jaeggi ausführt, die Auflösung zweier Paradoxien dar. Die Paradoxien, dass Ideologiekritik wahr und falsch zugleich sowie normativ und nichtnormativ zugleich sei, werden von einem rechten Verständnis dessen, was immanente Kritik heißt, unterlaufen. Immanente Kritik kennzeichnet eine doppelte Transformation. Sie zielt auf eine Transformation der Normen, die im Bestehenden als Realwiderspruch wirksam sind, und unterliegt als ein Entwicklungs- und Lernprozess selbst der Transformation. Auf der Grundlage der Rationalität eines solchen Lern- und Erfahrungsprozesses lässt sich ein Programm der Ideologiekritik wiedergewinnen, das den Einwand ausräumt, sie verstricke sich in eine autoritäre Asymmetrie gegenüber dem Kritisierten.
Das Projekt einer kritischen Hermeneutik geht von der Annahme aus, dass das Verstehen von Handlungen und Eigenschaften, deren Sinn für den Betroffenen zunächst unverstanden bleibt, gleichwohl nur über dessen Selbstdeutung gelingen kann. Für die klinische Anwendung der Psychoanalyse, die für die kritische Hermeneutik geradezu exemplarischen Status hat, ist, wie Joachim Küchenhoff ausführt, das Wechselspiel von immanenter und externaler Kritik von Anfang an zentral gewesen. Der Analytiker spielt in der psychoanalytischen Kur die Doppelrolle eines Mitspielers und Kritikers. In der Rekonstruktion der Erlebniswelt aus der Sicht des Analysanden ist der Analytiker mit der Bereitschaft, eine Übertragungsbeziehung einzugehen, einerseits in den Sinnverzerrungen mit verstrickt. Andererseits interveniert der Analytiker von außen, sofern der Abbau von Abwehr, Verdrängung und Fixierung von gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, therapeutischen Techniken und normativen Kriterien psychischer Gesundheit abhängt. Der Weg 19zur Übernahme der analytischen Fähigkeit der Kritik durch den Analysanden verläuft allein über das Wechselspiel beider Rollen.
Emil Angehrn stellt die Frage, ob und inwieweit kritische Hermeneutik über einen exemplarischen Status hinaus als eine allgemeine Struktur der Welt- und Selbstdeutung verstanden werden kann. Das kritische Potential der Hermeneutik lässt sich bis in die feinsten Verästelungen von dem Gedanken aus nachzeichnen, dass sich ein kulturelles, historisches oder soziales Verstehen im Spannungsverhältnis zum Nichtverstehen vollzieht. Sinn begegnet uns je schon in Konfrontation mit einem Nichtsinn oder Widersinn, an dem sich ein Verstehen abarbeitet, dem wir ein Verstehen abringen. Menschliche Verständigung verläuft wesentlich auf den drei Ebenen einer Kritik an der Unzulänglichkeit des Verstehens, einer Kritik an der Falschheit des Sinns und eines Einspruchs gegen reale Negativität. Das Verschlungensein von Hermeneutik und Kritik zeigt sich nicht zuletzt an der motivationalen Kraft des Negativen, an dem sich ein Verstehenwollen entzünden kann.
Die vermeintliche Begriffsopposition zwischen Hermeneutik und Kritik aufzubrechen, dies gelingt laut Günter Figal nur einer Transformation ebenso der Hermeneutik des Verdachts wie auch der Hermeneutik Gadamers. Ricœurs Verdachtshermeneutik bleibe wie jede Ideologiekritik äußerliche Kritik. Dennoch bietet Gadamers Hermeneutik, der zufolge unser Verstehen eine kritische Distanz zu seinem geschichtlichen Kontext ausschließt, keine Alternative. Das Bemühen um ein Verstehen schließt vielmehr die Orientierung an Kritik ein. Einer solchen integrativen Hermeneutik zufolge ist Kritik ein inneres und notwendiges Element des Verstehens, weil sich ein Verstehen nur im Vergleich mit anderen Interpretationsmöglichkeiten zu bewähren vermag. Der kritische Maßstab fällt in das Verstehen selbst und besteht darin, dass eine Interpretation die Differenziertheit und Prägnanz anderer Interpretationen erreichen muss.
Dass Kritik in statischen Identitäten oder Gegensätzen nicht aufgeht, zeigt sich auch im Verhältnis zur Wissenschaft. Michael Hampe erläutert den dynamischen Charakter der Kritik anhand der Unterscheidung dreier historischer Verbindungen von Wissenschaft und Kritik. Gleichwohl Kritik keine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaften ist, etablierten sich die Wissenschaften zu Beginn der Neuzeit im Namen einer Kritik, die sich gegen religiöse 20Dogmen und deren Verkörperungen im Common Sense richtete. Die kritische Funktion der Wissenschaft betraf zunächst die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen des Selbst- und Weltverständnisses. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften verlagerte sich ihre kritische Funktion auf eine interne Kritik. Als Quelle der wissenschaftlichen Fortschrittsdynamik gilt seit Darwin, Einstein und Planck eine Art von Überbietungskritik an etablierten Weltbildern der Wissenschaft, die von neuen Theorien revidiert werden. In Bezug auf die Wissenschaften der Gegenwart schließlich spielt Kritik zunehmend eine korrektive Rolle, die vom nichtwissenschaftlichen Bereich des Common Sense ausgeht und gegen eine Verwissenschaftlichung der Lebenswelt gerichtet ist.
Ein Teil der Beiträge dieses Bands geht zurück auf das Symposion »Immanenz und Transzendenz – Konstellationen philosophischer Kritik«, das vom 7. bis zum 10. September 2006 an der Universität Basel stattgefunden hat. Für die großzügige Unterstützung der Tagung danken wir dem Schweizerischen Nationalfonds und der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel. Nora Sieverding hat dankenswerterweise die mühevolle Aufgabe der Endredaktion übernommen. Eva Gilmer gilt schließlich unser herzlicher Dank für die hilfreiche Unterstützung und Beratung bei der Gestaltung des Bandes.
Frankfurt/M. und Basel, im Dezember 2008
Rahel Jaeggi und Tilo Wesche
Soziologisches Denken entspringt per se einem kritischen Impuls. Soziologie beginnt mit der Wahrnehmung, dass in den sozialen Verhältnissen etwas nicht stimmt, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie sollten – oder dass sie, wo sie (noch) in Ordnung scheinen, gefährdet sein könnten, dass Pathologien drohen. Es ist diese Wahrnehmung, die den Prozess der Reflexion über die sozialen Verhältnisse in Gang setzt – in der Entwicklung der Ideen ebenso wie in der individuellen Entwicklung eines werdenden Soziologen. »Man kann gehen, ohne die Anatomie seiner Beine zu kennen. Nur wenn etwas nicht in Ordnung ist, kommt diese für das Gehen praktisch in Betracht«, schreibt folgerichtig schon Max Weber über den Urgrund wissenschaftlicher Reflexion.[1] Umgekehrt weisen sowohl Michael Walzer als auch die französischen Sozialtheoretiker um Boltanski, Thévenot und Chiapello zu Recht immer wieder darauf hin, dass die Disziplin der Gesellschaftskritik dem gleichsam anthropologischen Urimpuls der Klage über die je aktuellen sozialen Verhältnisse und dem damit verknüpften Zwang zur Rechtfertigung des sozialen Handelns zu folgen scheint.[2] Sozialkritik scheint in die24sem Sinne eine unmittelbar konstitutive Funktion für jede Form menschlicher Vergesellschaftung zu besitzen.
Soziologie und Gesellschaftskritik gehören dabei insofern untrennbar zusammen, als ihr gemeinsamer Urgrund oder ›Humus‹ in der Frage nach dem guten Leben liegt, oder genauer: in der Frage nach den sozialen Bedingungen, unter denen gelingendes menschliches Leben möglich ist – oder vereitelt wird. Deshalb interessiert sich die Soziologie für Probleme der Arbeitswelt, für die Entwicklung der Familie, für Bildungsreformen oder für die politischen Verhältnisse. Explizit oder intuitiv geht sie dabei stets davon aus, dass Familienverhältnisse, Bildungsprozesse, Arbeit und politische Gestaltung relevant sind für die Möglichkeit gelingenden menschlichen Lebens; dass Veränderungen in ihrer Gestalt oder ihrem Vollzug sich auswirken auf die Lebensführung der Menschen. Phänomene, welche sich nicht zumindest im Prinzip auf diese Grundfrage beziehen lassen, werden auch nicht zum Gegenstand für die soziologische Forschung.[3] Hier liegt der tiefere Kern der Weber’schen Erkenntnis, dass es die ›Kulturbedeutungen‹ der Phänomene sind, welche sie zu Forschungsgegenständen werden lassen, und dass diese Kulturbedeutungen dadurch bestimmt werden, dass sie den handelnden Subjekten im Horizont ihrer Lebensführung als positiv oder negativ relevant erscheinen.
Dieser Bezug ist in der je aktuellen Forschung natürlich häufig nicht mehr erkennbar: Wer untersucht, wie sich die Zahl der Singlehaushalte entwickelt, wie sich die Dauer von Beschäftigungs25verhältnissen ändert oder Wählervolatilität und Bildungsmobilität verteilen, mag bestreiten, dass seine Analysen irgendetwas mit der Frage nach dem guten Leben zu tun haben. Und doch sind diese letztlich durch nichts anderes als jene Frage motiviert und legitimiert: Nur deshalb erscheinen sie überhaupt als bedeutsam und berechtigt, während die Frage, wie viele Kieselsteine den durchschnittlichen Waldweg säumen, ohne zusätzliche Begründung keine Forschungsgelder einwerben wird.
Damit lässt sich der eingangs angedeutete soziologische Impuls zur gesellschaftstheoretischen Reflexion nun genauer spezifizieren als die Wahrnehmung, dass das ›Weltverhältnis‹ der Subjekte und damit die Möglichkeit einer gelingenden Lebensführung durch die Veränderung der sozialen Verhältnisse berührt oder sogar bedroht ist. Daher ist es kein Zufall, dass die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin just dort entsteht, wo Modernisierungsprozesse spürbar die unmittelbaren Lebensbedingungen der Menschen ergreifen: Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung die modernen Grundtendenzen der Rationalisierung, Differenzierung, Domestizierung und Individualisierung – oder kurz: der sozialen Beschleunigung – über die Diskursebene hinausgriffen und die moderne Lebensform als Ganze veränderten.[4]
Die Analysen der Klassiker von Marx bis Durkheim und von Weber zu Simmel oder Tönnies laufen darin zusammen, dass sie ihren Ausgang in der Beobachtung einer massiven Veränderung der Lebensbedingungen nehmen – was zu der Gegenüberstellung ›archaischer‹ und ›moderner‹ Gesellschaften geführt hat, die sich bei allen Gründervätern der Soziologie findet – und dass sie sich zutiefst beunruhigt zeigen über die tendenziellen Konsequenzen dieser Veränderungen für die menschliche Lebensführung: Entfremdung und Entzauberung bei Marx und Weber, Anomie, Gemeinschaftsverlust und das Verschwinden genuiner Individualität bei Durkheim, Tönnies und Simmel. Im Hintergrund dieser gesellschaftskritischen Dimension der Klassiker steht dabei stets die Furcht vor einem nahezu ›unsichtbaren‹ Freiheitsverlust, der sich hinter dem manifesten Liberalismus der Moderne, unter ihrem ›stahlharten Gehäuse‹ verbirgt, 26und vor einem schleichenden Sinnverlust als Kehrseite der Möglichkeit individueller Selbstbestimmung.
Wenngleich es offensichtlich ist, dass die klassischen Entwürfe der Soziologie nicht nur und nicht von vornherein als Gesellschaftskritik angelegt waren, ist es doch ebenso unübersehbar, dass sie diese kritische Dimension stets auch enthielten, ja, dass es die Besorgnis über die Entwicklung der Lebensverhältnisse war, welche diese Entwürfe antrieben. Vielleicht liegt eben darin die nie versiegende Aktualität ebendieser Klassiker: Jede Soziologengeneration scheint immer wieder aufs Neue zu ihnen zurückzukehren und sie als Inspirations- und Motivationsquelle für die eigene Arbeit zu begreifen, während vieles von dem, was die Soziologie seither produzierte, einem raschen Vergessen anheimzufallen scheint.[5] Tatsächlich lässt es sich kaum übersehen, dass soziologische Diagnosen immer dann an wissenschaftlicher ebenso wie breitenwirksamer Strahl- und Inspirationskraft gewinnen, wenn sie – implizit oder explizit – die Frage nach dem Gelingen oder Misslingen des Lebens behandeln: In Adornos Suche nach dem ›richtigen Leben im Falschen‹, in Marcuses ohnmächtigem Zorn über die Eindimensionalität des spätkapitalistischen Lebens, aber auch in Gerhard Schulzes Analyse der ›Erlebnisgesellschaft‹ oder in Axel Honneths ›Kampf um Anerkennung‹ wird ebendieser ›letzte Hintergrund‹ – oft schon im Titel – deutlich. Und offensichtlich liegt auch eben darin die anhaltende Attraktivität der Kritischen Theorie für den studentischen Nachwuchs der Soziologie: Sie verspricht ihrem Programm und ihrem Namen nach, jenen Grundimpuls der Soziologie aufzunehmen, während konkurrierende Schulen diesen motivationalen Ursprung und legitimatorischen Anker der Soziologie zu verleugnen versuchen, weil er ihnen mit dem Anspruch auf ›Wissenschaftlichkeit‹ und ›Neutralität‹ in Wertfragen zu kollidieren scheint.
Deshalb möchte ich hier umstandslos die These vertreten, dass Soziologie nur dann attraktiv und gerechtfertigt ist, wenn sie ihre Fragestellungen auf jenen Ausgangspunkt des gelingenden Lebens wenigstens indirekt zu beziehen weiß, und weiter, dass sie erst und nur dann sich über ihre Grundlagen überhaupt klar zu werden ver27mag, wenn sie sich in die Lage versetzt, über jene ›Kulturbedeutungen‹, welche ihre Forschung implizit antreiben, auch explizit Rechenschaft zu geben.
Soziologische Aufklärung – als eine Aufgabenbeschreibung, die auch noch den Theoriekonzeptionen eines Bourdieu oder Luhmann oder der Rational-Choice-Theorie gerecht zu werden vermag – kann daher selbst dort, wo sie nicht explizit Gesellschaftskritik sein will, nur bedeuten, Einsicht in diejenigen Verhältnisse und Prozesse zu gewinnen, welche – wie vermittelt auch immer – dem Gelingen menschlicher Lebensführung entgegenwirken oder umgekehrt, es befördern.
Allerdings ergibt sich hieraus unmittelbar ein gravierendes Problem: Woher weiß die Soziologie, welches die Maßstäbe und Kriterien gelingenden Lebens sind? Woran misst sie potentielle ›Pathologien‹, also soziale Zustände, die unvermeidlich menschliches Leiden zur Folge haben? Um die Antwort abzukürzen: Die Geschichte der normativen Theorie der letzten 150 Jahre – oder, wenn man so will, seit der Antike – hat gezeigt, dass sie es nicht weiß; die Soziologie verfügt über keine ahistorischen, universellen oder transkulturellen Maßstäbe, die sie ihrer Arbeit einfach zugrunde legen könnte. Alle Versuche der kritischen Gesellschaftstheorie, ›wahre‹ Bedürfnisse von ›falschen‹ zu unterscheiden und ein objektiv ›falsches‹ Bewusstsein gegenüber einem ›richtigen‹ auszumachen, sind letztlich gescheitert. Und insofern etwa Entfremdungstheorien oder ideologiekritische Ansätze konzeptionell von der Definition einer ›essenziellen Natur‹ des Menschen oder einer ›idealen Existenzweise‹ abhängen, sind sie durch die Plastizität, das heißt die historisch-kulturelle Veränderbarkeit dieser Natur, und durch die unvermeidliche Kontingenz aller Wesens- oder Idealvorstellungen delegitimiert worden. Wie die soziologische Machtkritik und die poststrukturalistisch inspirierte Sprachkritik deutlich gemacht haben, gerät jede Soziologie, die solche ›menschlichen Kerngehalte‹ formuliert, rasch selbst unter Ideologie- und Reifikationsverdacht; sie tendiert dazu, selbst paternalistisch zu werden, wenn sie sich den handelnden Subjekten 28gegenüber im Besitz der Kenntnis über die ›wahre Natur‹ oder die ›wahren Bedürfnisse‹ des Menschen wähnt.
Aus dieser Situation haben führende Sozialphilosophen – auch solche, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen[6] – den Schluss gezogen, dass nicht das gute Leben, sondern die (Verteilungs-)Gerechtigkeit den leitenden Maßstab der Gesellschaftskritik bilden sollte. Ich halte diese Reaktion aus zwei Gründen für irregeleitet: Zum Ersten verfehlt eine soziale Analyse, welche nur auf Rechte und Verteilungen zielt, systematisch einen großen Teil jener schon von den Klassikern anvisierten potentiellen Sozialpathologien. Eine Gesellschaft kann vollkommene Verteilungsgerechtigkeit wahren und dennoch von der Austrocknung ihrer Sinnressourcen und von überwältigenden, strukturell verursachten Entfremdungserfahrungen gezeichnet sein. Unter solchen Bedingungen verunmöglichen oder erschweren die sozialen Verhältnisse systematisch gelingendes menschliches Leben, ohne dass eine Ungerechtigkeit diagnostiziert werden könnte. Wie ich noch zeigen möchte, verursacht das neuzeitliche Beschleunigungsregime in der spätmodernen Phase ebensolche Pathologien (was nicht heißt, dass es nicht auch massive Ungerechtigkeiten erzeugte). Zum Zweiten aber lassen sich nach meiner Überzeugung auch die Gerechtigkeitsmaßstäbe, wie immer sie im Einzelnen begründet sein mögen, ob substanziell oder prozedural, nicht als transhistorisch gültig erweisen. Schon ihre Letztverankerung im Individuum ist kulturell kontingent; die Argumente der kommunitaristischen Kritiker einerseits und der poststrukturalistischen Autoren andererseits scheinen mir hier stichhaltig.[7]
Ich verzichte darauf, die Auseinandersetzung um die Universalität von Gerechtigkeitsmaßstäben im Einzelnen nachzuzeichnen, denn der Sozialkritik steht ein viel näherliegender, einfacherer Weg offen, der zugleich das erstgenannte Problem zu überwinden hilft: Die geeigneten Maßstäbe der soziologischen Aufklärung, der Gesellschaftskritik, entstammen der untersuchten Gesellschaft selbst. Es sind die Leidenserfahrungen der betroffenen Subjekte, die – wenn und sofern sie systematisch aus den sozialen Verhältnissen resultieren – die Kriterien für die Diagnosen der Soziologen liefern 29können. Diese Verfahrensweise liegt im Übrigen auch durchaus ganz in der Traditionslinie der Kritischen Theorie selbst, die von Marx bis Honneth stets die geschichtliche Bedingtheit aller sozialwissenschaftlichen Erkenntnis herausstellte.[8]
Die Grundfigur valider soziologischer Gesellschaftskritik sieht damit folgendermaßen aus: In einer ›ideen-logischen‹ Analyse rekonstruiert die Soziologie die Konzeptionen gelingenden Lebens, welchen die Subjekte explizit oder – viel öfter und in viel höherem Maße – implizit, in ihrem Alltagshandeln, in ihren (biographischen und alltäglichen) Entscheidungen und in ihren routinisierten Praktiken folgen. Zugleich legt soziologische Aufklärung die ›konstitutiven Wertideen‹ offen, welche den zentralen gesellschaftlichen Institutionen implizit (und in vielen legitimatorischen Texten explizit) zugrunde liegen: Die Institutionen der Marktwirtschaft, der Bildungsanstalten oder der Demokratie beispielsweise beruhen auf spezifischen Wertvorstellungen, auf (impliziten) Konzeptionen gelingenden Lebens, auf Vorstellungen des Guten, ohne die sie ihre legitimatorischen Bindungskräfte nicht entfalten könnten.[9] Die eigentliche Gesellschaftskritik besteht dann in einer Analyse der (strukturellen) Ursachen für das kollektive (oder auch gruppenspezifische) Verfehlen eines guten Lebens nach den sozial wirkmächtigen und für die Subjekte handlungsleitenden Konzeptionen gelingenden Lebens.[10]
Freilich kann soziologische Aufklärung dabei auch heißen, die Inkompatibilität jener sozial wirkmächtigen Ideale und Konzeptionen nachzuweisen: Inkompatibilität kann einerseits bedeuten, dass die institutionellen ›Leitideen‹ (etwa Effizienz und Gleichheit oder Freiheit und Solidarität) nicht miteinander zu vereinbaren sind und daher zu unvermeidlichen Leidenserfahrungen an den Reibungsflächen führen; sie kann aber andererseits auch erst dadurch 30zutage gefördert werden, dass in einem dekonstruktivistischen oder genealogischen Verfahren die historische Fragwürdigkeit leitender Ideale deutlich wird und die Subjekte sich des Zwangs oder der Gewalt, die ebenjene Ideale auf sie ausüben, bewusst werden. Jene Ideale können dann selbst als Ursachen dafür identifiziert werden, dass Subjekte sich unfrei, entfremdet oder anderweitig außerstande fühlen, ein gutes Leben zu führen.[11]
Wie ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes darlegen möchte, kann Gesellschaftskritik heute dort eine überzeugende argumentatorische Kraft entfalten, wo sie das ›Grundversprechen der Moderne‹, ihr kulturelles und politisches Projekt der Autonomie,[12] gegen die sich verselbstständigenden Prozesse der Modernisierung hält und dabei deutlich macht, dass die spätmodernen gesellschaftlichen Bedingungen ein gelingendes Leben nach den kulturell weiterhin gültigen Maßstäben der Moderne, mithin also ebendieser Gesellschaft selbst, zunehmend er31schweren bzw. unmöglich machen. Soziologische Gesellschaftskritik hat also letztlich stets eine ›Wenn-Dann‹-Form. Das hier zu entfaltende Kernargument lautet: Wenn wir an den für das moderne Selbstverständnis und die moderne Demokratie grundlegenden Maßstäben der Autonomie (und der Authentizität) festhalten, dann verursacht das spätmoderne Steigerungs- und Beschleunigungsregime schwerwiegende Pathologien wachsenden Ausmaßes.
Wie ich noch zeigen werde, sind Beschleunigung und Entfremdung selbstbestimmtesOrteMenschenDingeWerkzeugeBedürfnisseEmpfindungenGeschichten