Die Bedeutung des Raums verändert sich durch Cyberspace-Technologien, Hochgeschwindigkeits-Transporte, zeitgleiche Echtzeit-Übertragungen von Informationen auf dem Erdball sowie durch eine Verinselung der Lebenswelten. Dies zwingt die Sozialwissenschaften, neu über ihre Raumvorstellungen nachzudenken. Martina Löw entwirft auf der Basis empirischer Untersuchungen und interdisziplinärer raumtheoretischer Reflexionen eine neue Soziologie des Raums. Ihr Konzept der »Dualität des Raums« zeigt, wie räumliche Anordnungen durch Institutionalisierungen eine objektivierte soziale Geltung und durch Habitualisierungen eine subjektive Verstetigung erhalten. Einschließungen und Ausgrenzungen werden in dieser Weise über Raum organisiert.
Martina Löw ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt.
Im Suhrkamp Verlag erschienen: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt (es 2632, zusammen mit Renate Ruhne) und Soziologie der Städte (stw 1976).
Martina Löw
Raumsoziologie
Suhrkamp
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73208-3
www.suhrkamp.de
7Inhalt
1 | Warum soll sich die Soziologie mit dem Raum beschäftigen? | 9 | ||
2 | Raumvorstellungen im Kontext | 17 | ||
2.1 | Absolutistische und relativistische Raumvorstellungen | 24 | ||
2.2 | Soziologie des Raums | 35 | ||
2.2.1 | Giddens, Hägerstrand und die Machtbehälter | 36 | ||
2.2.2 | Stadtsoziologie ohne Raum | 44 | ||
2.2.3 | Simmel und die Form | 58 | ||
2.3 | Erste Zwischenbilanz | 63 | ||
3 | Veränderungen der Raumphänomene | 69 | ||
3.1 | Raum in Bildungs- und Sozialisationsprozessen | 73 | ||
3.1.1 | Verinselte Vergesellschaftung | 82 | ||
3.1.2 | Räumliches Vorstellungsvermögen und Geschlecht | 89 | ||
3.2 | Virtuelle Räume | 93 | ||
3.3 | Globalisierung und »global cities« | 104 | ||
3.4 | Zweite Zwischenbilanz | 108 | ||
3.5 | Die Probe aufs Exempel: Körperräume | 115 | ||
4 | Wege zu einem soziologischen Raumbegriff | 130 | ||
5 | Die Konstitution von Raum | 152 | ||
5.1 | Die Körper der Raumkonstitution | 153 | ||
5.2 | Die Entstehung von Raum in der Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen | 158 | ||
5.2.1 | Spacing und Syntheseleistung | 158 | ||
5.2.2 | Der repetitive Alltag | 161 | ||
5.2.3 | Räumliche Strukturen | 166 | ||
5.2.4 | Geschlecht und Klasse | 173 | ||
8Exkurs: Bourdieu und der Raum | 179 | |||
5.2.5 | Abweichung und Veränderung | 183 | ||
5.2.6 | Symbolik und Materialität | 191 | ||
5.2.7 | Wahrnehmung | 195 | ||
5.3 | Die Lokalisierung der Räume an Orten | 198 | ||
5.4 | Die Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raums | 204 | ||
5.5 | Raum und soziale Ungleichheit | 210 | ||
5.6 | Methodologische Konsequenzen | 218 | ||
5.7 | Zusammenfassende Betrachtung der Konstitution von Raum | 224 | ||
6 | Exemplarische Analysen | 231 | ||
6.1 | Gegenkulturelle Schulräume | 231 | ||
6.2 | Geschlechtsspezifische Räume | 246 | ||
6.3 | Städtische Räume | 254 | ||
7 | Grundlagen einer Soziologie des Raums – zusammenfassende Betrachtung | 263 | ||
8 | Literatur | 274 |
91 Warum soll sich die Soziologie mit
dem Raum beschäftigen?
»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrükken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar« (Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise, 1929).
Mit der größten Selbstverständlichkeit gehen die meisten Soziologen und Soziologinnen von der Annahme aus, es gäbe keine menschliche Existenz außerhalb von Raum und Zeit. Dem ist wenig entgegenzusetzen, solange Raum und Zeit nicht essentiell verstanden werden, sondern als etwas, was konstituiert werden muß. Erstaunlich ist nun, daß mit der gleichen Sicherheit, mit der Zeit als soziale Konstruktion verstanden wird, mittels derer Menschen die Differenz von Vergangenheit und Zukunft organisieren, Raum als materielles Substrat, Territorium oder Ort entworfen wird. Namhafte Soziologen wie Peter L. Berger/Thomas Luckmann (19723, orig. 1966), Talcott Parsons (1977) und Anthony Giddens (1988a) verfahren in dieser Weise. Die Crux ist dabei, daß dieses Verständnis von Raum in erster Linie als materielles Objekt dazu führt, daß Raum in vielen soziologischen Projekten als nicht weiter bemerkenswert, bestenfalls als in Untersuchungen auszuschließende »Umweltbedingung« erachtet wird. Als Elisabeth Konau 1977 ihr Buch »Raum und soziales Handeln« veröffentlicht, spricht sie im Untertitel von »einer vernachlässigten Dimension soziologischer Theoriebildung«. Vierzehn Jahre später, 1991, kommt Dieter Läpple in seinem viel zitierten »Essay über den Raum« immer noch zu der Schlußfolgerung, daß die dominanten Gesellschaftswissenschaften von einer offensichtlichen »Raumblindheit« (Läpple 1991, 163) geprägt seien.
10Dies ändert sich nun. Zwar wird nach wie vor die Kategorie Zeit wesentlich systematischer als Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit diskutiert als die des Raums – mit der Biographieforschung etabliert sich geradezu eine Wissenschaft der Zeit[1] –, aber auch zum Thema Raum erscheint in den letzten Jahren eine Vielzahl von Aufsätzen. In einer kürzlich (1998) veröffentlichten Schrift von Ursula Nissen zu »Kindheit, Geschlecht und Raum« kommt diese erstmals zu dem Resümee, »daß nach langer Zeit der Vernachlässigung der Kategorie ›Raum‹ in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung seit den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkt Anstrengungen unternommen werden, diesen Zustand zu überwinden« (Nissen 1998, 136).
In dem neu entstandenen Interesse zeigt sich, wie sehr die Sicherheit über den Raum in eine Krise geraten ist. Durch schnelle Transporttechnologien, sekundengenaue Übertragungen von Informationen über die ganze Welt, schließlich auch durch die neuen Möglichkeiten, sich in virtuellen Räumen zu bewegen, scheint der Raum im Sinne eines materiellen Substrats völlig bedeutungslos zu werden.[2] In den Massenmedien wird deshalb gerne von der Auflösung des Raums gesprochen. Die Zeitung »Die ZEIT« veröffentlicht zum Beispiel regelmäßig Artikel in dem Tenor, daß der Mensch das »aus seiner Raumdimension gefallene Wesen« (Guggenberger 1985, 43) sei, der Schriftsteller und Regisseur Heiner Müller erklärt in einer TV-Produktion wie in der daraus folgenden Publikation Alexander Kluge gegenüber, daß das Schlimme sei, »daß es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr« (Kluge/Müller 1995, 80). Der französische Architekt und Philosoph Paul Virilio vertritt die viel zitierte These, daß von Menschen »nicht mehr der Raum, sondern die Zeit (...) bevölkert« (Virilio 1983, 16) werde.
11Tatsächlich ist es nicht der Raum, der »verschwindet«, sondern die Organisation des Nebeneinander ist grundsätzlich verschieden, ob ein Brief Wochen braucht, um von Europa nach USA zu gelangen, oder ob eine E-Mail in Sekunden übermittelt wird. Und obwohl diese Entwicklung, daß Informationen in immer kürzeren Zeitspannen übertragen werden können, nicht neu ist, scheint sie durch die neusten technologischen Errungenschaften, insbesondere dem Mythos, der vom Internet ausgeht, ins Bewußtsein zu dringen. Auch andere gesellschaftliche Prozesse wie die Umstrukturierung städtischer Räume, verinselte Vergesellschaftungserfahrungen und sich verändernde Körpervorstellungen tragen dazu bei, daß Raum wieder als Problem wahrgenommen wird.
Die zeitliche Distanz zu der u.a. territorial begründeten Expansionspolitik der deutschen Nationalsozialisten ermöglicht eine langsame Wiederannäherung an die Kategorie Raum. In der Nachkriegszeit ist es zunächst zu einer Tabuisierung jeder Bezugnahme auf Raum gekommen, um einen möglichen Verdacht von Argumentationen im Sinne einer »Volk ohne Raum«-Politik von sich zu weisen. Noch in den 70er Jahren gilt es häufig als reaktionär, sich mit Raum zu beschäftigen. So schildert zum Beispiel Michel Foucault, der sich in seinem wissenschaftlichen Werk durchgängig mit Raumphänomenen beschäftigt, in einem Gespräch mit Jean-Pierre Barou und Michelle Perrot einen typischen Disput:
»I remember ten years or so ago discussing these problems of the politics of space, and being told that it was reactionary to go on so much about space, and that time and the ›project‹ were what life and progress are about« (Foucault 1980b, 150).
Die bewegte Zeit gilt als Thema der Zukunft. Raum haftet nicht nur die Vorstellung des Starren an, sondern erinnert auch an die geopolitischen Argumentationen im 2. Weltkrieg. In der Soziologie führt die negative Besetzung des Wortes »Raum« – weit über die Grenzen Deutschlands hinaus – zu einer Abkehr von theoretischen Auseinandersetzungen um den Raumbegriff. Einige Autoren und Autorinnen fordern heute konsequenterweise, eine erneute Betrachtung von Raumphänomenen mit einer Theoriediskussion um den Raumbegriff zu verbinden (zum Beispiel Läpple 1991).
12Durch die Tabuisierung ist der Raumbegriff in den letzten Jahrzehnten kaum weiter ausgearbeitet worden. Heute ist zu beobachten, daß einerseits räumliche Neustrukturierungen als gesellschaftliche Prozesse empirisch erhebbar sind, andererseits der zur Analyse eingesetzte Begriff nur die Schlußfolgerung zuläßt, daß Raum abstrakt wird. Nun drängt sich die Frage auf, ob der angewendete Begriff die sozialen Phänomene und seine vermutlichen Entstehungsbedingungen noch erfaßt.
Dabei wird Raum durchaus als soziologischer Grundbegriff geführt, so zum Beispiel in Nachschlagewerken wie Bernhard Schäfers »Grundbegriffe der Soziologie« (19954), jedoch nicht ohne den Hinweis, daß es sich hierbei um ein gemeinhin vernachlässigtes Thema handle. An dieser Stelle nimmt die vorliegende Schrift ihren Ausgangspunkt. Die Frage, die dem Buch zugrunde liegt, lautet, wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden kann, um aufbauend auf dieser Begriffsbildung eine Raumsoziologie zu formulieren. Im folgenden soll deutlich werden, daß die Soziologie nicht auf den Begriff des Raums verzichten kann, da mit ihm die Organisation des Nebeneinanders bezeichnet wird. Die Mikrosoziologie bedarf des Raumbegriffs, um jene Gebilde benennen zu können, die sich durch die Verknüpfung verschiedener sozialer Güter bzw. Menschen miteinander herausbilden und die als solche Handeln strukturieren. Die Makrosoziologie kann mit dem Raumbegriff die relationalen Verknüpfungen begrifflich fassen, wie sie infolge technologischer Vernetzungen oder städtischer Umstrukturierungen entstehen und als solche Lebensbedingungen prägen.
Dazu kann nicht umstandslos auf einen bereits entwickelten Raumbegriff zurückgegriffen werden. Die bisherige Nutzung des Raumbegriffs in der Soziologie oder in angrenzenden Disziplinen kann Ansatzpunkte bieten. Es wird deutlich werden, daß die Verwendung des Raumbegriffs für Territorien oder im Sinne einer Lokalisierung an Orten nur Aspekte der Konstitution erfaßt. Dies gilt auch für die vereinzelte Nutzung des Raumbegriffs im Sinne Kants als ordnendes Prinzip a priori.
Die aktuellen Arbeiten zu einem neuen Raumbegriff haben bislang noch selten den Charakter systematischer Ableitungen, sondern sind als Annäherungen an eine neue Sicht auf Räume zu lesen. Da es sich dabei meist um Aufsätze oder kurze Abhandlungen in Büchern zu einem anderen Thema handelt, bleibt dem 13raumtheoretisch ungeschulten Leser das Ausgeführte in der gebotenen Kürze meist unklar.
Die empirische Sozialforschung hat eine Reihe von Untersuchungen zur gesellschaftlichen Organisation von Räumen hervorgebracht, bislang fehlt aber eine theoretisch konsistente Vorstellung von den Verbindungen zwischen den einzelnen Phänomenen. So gibt es eine Vielzahl empirischer Untersuchungen z.B. über Nutzungsmöglichkeiten des gebauten Raums, strukturelle Ausschlüsse aus dem öffentlichen Raum, symbolische Wirkungen von Räumen etc., aber kaum Ideen über das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren: räumliche Strukturen, Handeln, Symbolik etc. Ohne eine theoretische Vorstellung, wie Räume entstehen und reproduziert werden – und dieser Prozeß soll mit Hilfe des Raumbegriffs kommunizierbar gemacht werden – lassen sich, wie ich im sechsten Kapitel zeigen werde, viele empirisch erhobenen Befunde nur unzureichend erklären.
Insbesondere die Konzeptualisierung von Raum als Ort oder Territorium kann diese Verknüpfung der verschiedenen Konstitutionsaspekte nicht leisten, da nicht der Prozeß der Konstitution erfaßt wird, sondern das Ergebnis dieses Prozesses – die Herausbildung von Orten, begrenzten Territorien etc. – vorausgesetzt wird. Die einzelnen Aspekte des komplexen sozialen Prozesses, in dessen Folge Räume entstehen oder reproduziert (bisweilen auch verändert) werden, bleiben unerkannt, da der Raum als Territorium oder Ort als bereits bekannt vorausgesetzt wird. Das Bild vom Raum als Territorium verleitet zudem zu einem metaphorischen Gebrauch des Raumbegriffs oder führt zu der Annahme, daß Raum geographischer, aber nicht soziologischer Gegenstand sei.
Um Konstitutionsprozesse und Veränderungen derselben analysieren zu können, werde ich im Lauf des Buches Raum aus der Anordnung der Menschen und sozialen Güter heraus ableiten, das heißt nicht länger zwei verschiedene Realitäten – einerseits den Raum, andererseits die Menschen und sozialen Güter – voraussetzen. Der Raum wird also in den Handlungsverlauf integriert und damit selbst als ein dynamisches Gebilde gefaßt werden.
Die Soziologie gewinnt hiermit einen Begriff, um relationale Verflechtungen sozialer Güter und Menschen, die eine eigene Potentialität aufweisen, untersuchen zu können. Inklusion und Ex14klusion über räumliche Verteilungen können erhoben werden. Veränderungen in der Organisation des Nebeneinanders werden als gesellschaftlicher Wandel in der Konstitution von Räumen begreifbar und erscheinen nicht länger nur als Auflösungsphänomene.
Hermann L. Gukenbiehl (19953) bestimmt die Funktion eines soziologischen Grundbegriffs in zweifacher Hinsicht:
»Zum einen stehen sie in Beziehung zur ›sozialen Wirklichkeit‹, die sie bezeichnen und über die sie informieren wollen und sollen. (...) Zum anderen stehen diese Begriffe im Zusammenhang mit theoretischen Modellen, mit fachlichen Gesamtvorstellungen über die soziale Wirklichkeit« (Gukenbiehl 19953, 13).
Soziologische Grundbegriffe dienen demzufolge sowohl als Kommunikationsmedium als auch der Analyse sozialer Wirklichkeit, welche, so muß man ergänzen, durch die Begriffswahl gleichzeitig auch konstituiert wird. Für die Ausarbeitung eines soziologischen Raumbegriffs ergeben sich daraus m.E. zwei Problemkomplexe:
a) | Welche theoretischen Modelle stehen hinter verschiedenen Raumbegriffen? |
b) | Wie muß ein Raumbegriff konzipiert sein, um die in empirischen Untersuchungen erhobenen Veränderungen von Anordnungsstrukturen zu erfassen? |
Um also die Frage, wie Raum als soziologischer Grundbegriff bestimmt werden kann, zu beantworten, ist es notwendig, die Raumvorstellungen, die bisher die sozialwissenschaftliche Forschung zu Raum beeinflussen, zu analysieren (Kap. 2). Ferner müssen empirische Untersuchungen daraufhin geprüft werden, welcher Raumbegriff das Analysierte zu erklären hilft, sowie auch umgekehrt das empirisch erhobene Wissen um die Konstitution von Raum die Entwicklung eines soziologischen Raumbegriffs erst möglich macht (Kap. 3). Das folgende Kapitel skizziert darauf aufbauend den eigenen Weg zum Raum. Neue sozialwissenschaftliche Raumvorstellungen werden ausgewertet und darauf aufbauend der eigene Blick auf den Raum konkretisiert (Kap. 4). Nun, mit Hilfe des Wissens um die theoretischen Vorarbeiten und die Vorstellungswelt zu Raum und auch über die empirisch bereits erhobenen Formen der Konstitution von Raum 15ist es möglich, in einem eigenen Ansatz, Raum als soziologischen Begriff herzuleiten. Dabei soll es nicht darum gehen, eine Kategorie zu entwerfen, die dann einer vielfältigen Realität übergestülpt wird. Vielmehr ist es das Ziel, einen prozessualen Begriff zu entwickeln, der den Konstitutionsprozess benennt, so daß die verschiedenen Artikulationsformen – zum Beispiel nach Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter, sexueller Identität etc. – zwar verstanden, aber nicht vereinheitlicht werden (Kap. 5). Schließlich soll der Nutzen des neu entwickelten Raumbegriffs in exemplarischen Analysen aufgezeigt und gleichzeitig geprüft werden (Kap. 6). Die Arbeit schließt mit einer systematischen Zusammenfassung der Grundlagen einer Soziologie des Raums (Kap. 7 und 8).
So ist es das Ziel dieses Buches, eine Soziologie des Raumes zu formulieren, die auf einem prozessualen Raumbegriff, der das Wie der Entstehung von Räumen erfaßt, aufbaut. Verschiedene Raumbegriffe bieten unterschiedliche Operationalisierungen von Problemen an. In Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Bedingungen weist der eine oder der andere Raumbegriff mehr oder weniger Erklärungswert auf. Begriffe sind daher nicht falsch oder richtig, sondern die Kriterien für die Beurteilung müssen der Erklärungsnutzen für empirisch beobachtbare Phänomene und die theoretische Konsistenz der Begriffsbildung sein.
Ich gehe dazu von einem Raum, der verschiedene Komponenten aufweist, aus. Das heißt, ich wende mich gegen die in der Soziologie übliche Trennung in einen sozialen und einen materiellen Raum, welche unterstellt, es könne ein Raum jenseits der materiellen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet werden, ohne daß diese Betrachtung gesellschaftlich vorstrukturiert wäre (materieller Raum). Analytisch gehe ich daher von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten.
Unterschieden wird zwischen Raumvorstellung, Raumbild und Raumbegriff. Der Raumbegriff ist ein Fachterminus. Er dient der Verständigung innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin. Ihn nutzend, sollen wesentliche Zusammenhänge als gedankliche Einheit formuliert werden können. Raumbilder sind, wie Detlev Ipsen in seinem gleichnamigen Buch herleitet, »Konfigurationen von Dingen, Bedeutungen und Lebensstilen« (Ipsen 1997, 6). Es handelt sich hierbei um einzelne Bilder von Räumen, 16an konkreten Arrangements geformt, die in großer Vielzahl in einer Gesellschaft existieren können. Eine Raumvorstellung ist im Unterschied dazu eine Idee vom Raum, eine Verdichtung dieser Raumbilder sowie deren symbolische Besetzung mit in wissenschaftlichen Disziplinen geltendem und/oder in den Alltag transformiertem Wissen um den Raum.
Der Ausgangspunkt meines Denkens ist die Giddenssche Theorie der Strukturierung, da hier der Dualismus von (objektiven) Strukturen versus (subjektivem) Handeln in eine Dualität übersetzt wird. Allerdings zeigt die Anwendung der Giddensschen Theorie auf Raum, daß weder sein Raum- noch sein Systembegriff übernommen werden können. Statt dessen werde ich mit Pierre Bourdieu stärker den Körper als Mittler zwischen Strukturen und Handeln betonen. Mit Bezug auf Reinhard Kreckels Arbeiten kann die Verknüpfung zwischen Materie und Symbolik geleistet werden.
Des weiteren zwingt das Thema Raum mit seinen vielfältigen Facetten dazu, die Annehmlichkeit eines ausschließlich handlungstheoretischen Rahmens bisweilen zu verlassen, erstens weil Aspekte der Konstitution von Raum, zum Beispiel Wahrnehmung und Atmosphären, dort nicht diskutiert werden, zweitens aber auch, weil in anderen Argumentationskontexten, z.B. in der Luhmannschen Systemtheorie, erhellende Ideen formuliert werden, die nicht zugunsten festgefügter Denktraditionen vernachlässigt werden sollen. So ist die hier vorgestellte Soziologie des Raums zwar aus der Theorie der Strukturierung hervorgegangen, geht aber über diese hinaus, verändert die Vorgaben und bietet mit der Entwicklung einer Soziologie des Raums auch Vorschläge für eine Novellierung der Theorie der Strukturierung.
Einleitungen enden heutzutage mit einem Hinweis auf den vergeschlechtlichten Sprachgebrauch. Ich wähle im folgenden je nach Kontext entweder die weibliche oder die männliche Form als Verallgemeinerung.
172 Raumvorstellungen im Kontext
»Erde und Himmel gibt es nicht mehr (...). Die Erde nicht, weil sie ein Gestirn des Himmels ist, und den Himmel nicht, weil er aus Erden besteht. Da ist kein Unterschied mehr zwischen Oben und Unten, zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen. Daß wir vergehen, das wissen wir. Daß auch der Himmel vergeht, das sagen sie uns jetzt. Sonne, Mond und Sterne und wir leben auf der Erde, hat es geheißen, und so steht es geschrieben; aber jetzt ist auch die Erde ein Stern nach diesem da. Er gibt nur noch Sterne!« (Bertolt Brecht: Leben des Galilei, 1938/1939)
Stellt man es sich normalerweise zur Aufgabe, die theoretischen Modelle hinter einem soziologischen Grundbegriff herauszuarbeiten, dann stößt man auf die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Theorieschulen: Handlungstheorie versus Systemtheorie, Marxismus versus Strukturalismus usw. Beim Raum werden diese Diskussionen erst im zweiten Schritt relevant, zunächst zieht sich eine tiefe Spaltung durch die wissenschaftliche Literatur entlang einer historischen Kontroverse zwischen »absolutistischen« und »relativistischen« (von Weizsäcker 1986, 256ff.) Standpunkten. Zur absolutistischen Tradition zählt Carl Friedrich von Weizsäcker zum Beispiel Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton u.a., zur relativistischen Cusanus, Bellarmin, Leibniz, Mach u.a. Diese unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung des Verhältnisses von Materie und Raum. Während Absolutisten einen Dualismus annehmen, d.h. es existieren ihnen zufolge Raum und Körper, sind relativistische Traditionen der Auffassung, daß Raum sich aus der Struktur der relativen Lagen der Körper ergibt.
Ich werde im folgenden zeigen, daß nahezu alle soziologischen Arbeiten zu Raum, d.h. mit Ausnahme der phänomenologischen, auf der einen oder der anderen Grundannahme basieren: entweder es wird dualistisch zwischen Raum und Körpern getrennt oder aber in der Tendenz monistisch Raum als Folge der Bezie18hungen zwischen Körpern hergeleitet. Die absolutistische Unterscheidung zwischen Raum und Körpern (Handeln) schließt die Annahme ein, daß Raum unabhängig vom Handeln existiert. Als Vorstellung verdichtet sich die absolutistische Perspektive in dem Bild, daß es einen Raum gibt, in dem die Körper sind. In der relativistischen Raumtheorie dagegen wird Raum aus der Anordnung der Körper abgeleitet. Da sich diese Körper (Handlungen) immer in Bewegung befinden, sind auch die Räume in einen permanenten Veränderungsprozeß eingebunden. Räume existieren demnach nicht unabhängig von den Körpern. Während im absolutistischen Denken Räume die unbewegte und für alle gleichermaßen existente (deshalb homogene) Grundlage des Handelns sind, geht im relativistischen Denken die Aktivität des Handelns unmittelbar mit der Produktion von Räumen einher.
Konkret bedeutet dies, daß Soziologen, die von einem absolutistischen Standpunkt aus argumentieren, in ihrem Denken von einem, kontinuierlichen, für sich existierenden Raum ausgehen. Meistens wird dabei ein Raum angenommen, der in sozialen Prozessen gegliedert und in Form von Lokalisierungen an Orten oder von abgesteckten Territorien angeeignet wird. Die Argumentationsfigur ist, daß es bewegte Handlungen in einem an sich unbewegten Raum gibt. Eine Variante des absolutistischen Denkens ist die Annahme, daß Handeln immer mit Bezug auf den euklidischen, dreidimensionalen Raum geschieht, welcher das Denken und die Orientierung leitet.
Relativistisch argumentierende Autorinnen dagegen definieren Raum aus den Lageverhältnissen (vgl. dazu ausführlich Kap. 4). So stellen Hartmut J. Zeiher und Helga Zeiher ihrer Untersuchung über Orte und Zeiten von Kindern eine soziologische Raumdefinition voran, derzufolge Raum »relational (...) als bloße Lageverhältnisse der ›Dinge‹ untereinander, unter Außerachtlassung ihrer speziellen inhaltlichen Bestimmung« (Zeiher/Zeiher 1994, 46) verstanden werde; für Norbert Elias bezieht sich Raum auf »positionale Relationen zwischen bewegten Ereignissen« (Elias 19945, 75); für Bourdieu ist zumindest der soziale Raum als Feld explizit über die Relationen bestimmt; nach Michel Foucault (1991) schließlich präsentiert sich der Raum in Form von Lagerungsbeziehungen. In relativistischen Argumentationen ist damit der Raum in seiner soziologischen Relevanz immer Ergebnis eines Prozesses der Anordnung.
19Mit dem absolutistischen Denken geht die Alltagsvorstellung einher, daß Menschen »im Raum« leben. Dies führt dazu, daß relativistisch argumentierende Raumtheoretiker eher gezwungen sind, ihre Raumkonzeption durch Verweise zu legitimieren. So findet man zum Beispiel bei Elias Hinweise auf Einstein, bei Bourdieu auf Leibniz. Keiner der Autoren leitet jedoch die erkenntnistheoretischen Grundlagen der jeweiligen Raumvorstellung her.
Die Zitate zeigen, wie sehr die soziologischen Versuche, Raum neu zu definieren, auf Vorannahmen aufbauen, die nicht soziologischen, sondern philosophischen und physikalischen Kontexten entstammen. Nun stellt sich die Frage, wie mit diesem Phänomen umgegangen werden kann. Eine Möglichkeit wäre, sich umstandslos der Phänomenologie zuzuwenden, die einzige Theorierichtung, in der abstrakte Raumbegriffe nicht zur Erklärung von Handeln herangezogen werden. In ihrem Versuch, das Gegebene theoretisch unvoreingenommen zu beschreiben, das heißt in diesem theoretischen Kontext zum Beispiel das vor aller Reflexion bestehende Verhältnis des Menschen zum Raum darzustellen, bemühen sich Phänomenologen darum, die Konstitution von Raum jenseits der Theorien von Newton, Kant oder Einstein zu beobachten. Dabei geht es nicht allein darum, die einzelnen Dinge und die Dinge in ihren Arrangements zu benennen, die phänomenologische Analyse untersucht, wie die Dinge von dem Beobachter/der Beobachterin im Handeln oder in Träumen und Phantasien aufgenommen werden (dazu Meyer-Drawe 1991). Meister dieser Technik ist Gaston Bachelard, welcher in seiner »Poetik des Raumes« (1987, orig. 1957) das Wohnen in all seinen Einzelheiten beschreibt, vom Keller bis zum Dachboden über Schubladen, Winkel und Rundungen. Auch O.F. Bollnow (19896, orig. 1963), Hermann Schmitz (1965; 1967; 1969) oder Lenelis Kruse (1974) liefern für das Verständnis alltäglichen Handelns hilfreiche Schilderungen zum Beispiel des »gestimmten Raums«, also des affektiv und emotional erlebten Raums, sowie des »orientierten Raums«, des vom Leib ausgehend handelnd erschlossenen Raums.
Von Phänomenologen und Phänomenologinnen wie Bachelard, Bollnow, Schmitz oder Kruse kann man viele Einzelheiten der Raumkonstitution erfahren. Das selbstverständliche Alltagsleben wird in diesen Beschreibungen diskutierbar, indem es systematisch geschildert wird. Sich dem alltäglichen Erleben entzie20hende Strukturen bleiben dabei jedoch häufig ungesehen. So ist es kein Zufall, daß keiner der genannten Autorinnen Dimensionen sozialer Ungleichheit in seinen/ihren Analysen erfaßt. Zwar wird Raum als ein immer schon konstituierter beschrieben (z.B. Merleau-Ponty 1966, 294), aber die Bedingungen der Konstitution werden nicht analysiert, da sie sich nicht aus der Beobachtung herleiten lassen.
Viele der Arbeiten bleiben dadurch häufig unhistorisch. Will man also nicht nur den gelebten Raum, sondern auch den strukturierten und strukturierenden Raum erfassen, bedarf es darüber hinaus anderer theoretischer Zugriffe. Zur Entwicklung eines soziologischen Raumbegriffs können phänomenologische Untersuchungen herangezogen werden, um Raumphänomene zu erkennen und Problemfelder zu sondieren. Die Arbeit der Begriffsbildung ersetzen sie nicht.
Das heißt, auch ein soziologischer Raumbegriff kann nicht außerhalb philosophisch/physikalischer Denktraditionen entwickelt werden. Es müssen vielmehr die Vorgaben geprüft, konsequent auf den Erklärungsgewinn bzw. die Erklärungslücken für soziale Phänomene hin untersucht und mit ihnen weitergedacht werden. Zur Herleitung des derzeitigen Standes der Diskussion und auch als Anknüpfungspunkt zum Weiterdenken ist es unumgänglich, philosophische und physikalische Erkenntnisse und Debatten darzustellen. Wie können aber in einer soziologischen Arbeit philosophische und physikalische Erkenntnisse adäquat und verständlich vorgestellt werden?
Für die Philosophie ist dies nicht allzu schwierig, da sich die Soziologie historisch u.a. aus der Philosophie heraus entwickelt hat und so zahlreiche Überschneidungen zum Beispiel in Begriffsbildungen existieren. Für die Physik stellt sich das Problem komplexer dar. Aber gerade die Physik hat, wie Michel Foucault (1980b, 149) hervorhebt, ab dem Ende des 18. Jahrhunderts mit den Erkenntnissen der theoretischen und experimentellen Physik den Raum aus der Philosophie verdrängt. Mit Albert Einsteins Relativitätstheorie entsteht ein neuer Diskurs um Raum. Zwar erreicht damit die Physik nur das »philosophische Niveau (...), das die Mathematik im 19. Jahrhundert von Gauß bis Riemann schon erreicht hat« (von Weizsäcker 1986, 269), jedoch kann sie die Erkenntnisse empirisch absichern. Der Physiker Stephen Hawking resümiert daher:
21»Vor 1915 stellte man sich Raum und Zeit als den festgelegten Rahmen vor, in dem die Ereignisse stattfinden können, der aber durch das, was in ihm geschieht, nicht beeinflußt wird (...). In der allgemeinen Relativitätstheorie stellt sich die Situation jedoch grundlegend anders dar. Raum und Zeit sind nun dynamische Größen« (Hawking 1988, 51f.).
Es ist daher unmöglich, in der Grundlegung einer Soziologie des Raums auf die Darstellung physikalischer Erkenntnisse zu verzichten. Wählt man aber die physikalische Ausdrucksweise, so müssen die Ausführungen in der hier gebotenen Kürze für die meisten Lesenden unverständlich bleiben, transformiert man jedoch das physikalische Gedankengut in eine soziologische Sprache, so erfährt das Gesagte eine Sinnverschiebung. Der Raum, in der Physik zum Beispiel häufig als Universum gedacht, wird in der Soziologie zum »sozialen Raum«, das heißt, man beschäftigt sich in jedem Fall mit auf der Erde stattfindenden Phänomenen.
Dies führt zu einem Dilemma. Ich werde das an einem Beispiel verdeutlichen. Newtons Physik reicht zur Erklärung aller physikalischen Ereignisse im Bereich der Erde aus, dennoch wird Einstein, der den Newtonschen Raumbegriff in Hinblick auf das Universum novelliert hat, als Referenzpunkt für soziologische Untersuchungen herangezogen. Physikalisch ist das eine verkürzte Herangehensweise, für die Generierung neuer Ideen ist es dennoch inspirierend. So beziehen sich zum Beispiel Jean Piaget (1982), Norbert Elias (19945, orig. 1984), Luc Ciompi (1988), Dieter Läpple (1991), Richard Sennett (1994) oder Elisabeth Grosz (1995) explizit auf Einstein. Anregend, und für viele soziale Phänomene auch treffender als der starre Newtonsche Raum, ist die Vorstellung, daß Raum gekrümmt ist, daß er bewegt ist und daß er nicht länger als homogen konzeptualisiert wird. Neue Ergebnisse empirischer Untersuchungen in der Soziologie, die immer wieder auf die Fragmentierung und Bewegtheit räumlicher Strukturen hinweisen, können besser begriffen werden, wenn man sich gedanklich an Einstein anlehnt, d.h. von einem bewegten, nicht-homogenen Raum ausgeht. Man bezieht sich dann aber auf ein theoretisches Modell, das für einen anderen Gegenstand entwickelt wurde.
Um dieses Vorgehen zu beurteilen, muß man sich vor Augen halten, daß die Denkalternative eine andere physikalisch/philosophische Raumvorstellung ist, nämlich die ins Alltagsbewußtsein transportierte antike Vorstellung vom »Behälterraum«, wel22che aber in einigen wesentlichen Aspekten von Newton gestützt wird. Außer diesen beiden Modellen existiert in unserer Kultur kein anderer Raumbegriff (vgl. dazu ausführlich von Weizsäcker 1986, 1990; Läpple 1991; Sturm 1997a). Dieter Läpple resümiert daher, »daß die alltäglichen Raumvorstellungen der meisten Menschen unserer Zivilisation mehr oder weniger stark ›kolonisiert‹ sind durch die physikalische Raumanschauung der klassischen Physik in der Form des dreidimensionalen euklidischen Raumes« (Läpple 1991, 164). Die einen Autoren beziehen sich auf die absolutistische Physik, die anderen – jene Autoren, die versuchen, neue Wege zu gehen – nehmen die relativistische Physik zum Ausgangspunkt.
Dabei sind aber die Grenzen zwischen Philosophie und Physik häufig fließend. Newtons Modell besteht, wie noch deutlich werden wird, zu einem Teil aus metaphysischen Überlegungen. Einstein selbst hat viel dazu beigetragen, daß sein Raumbegriff nicht nur als physikalischer, sondern auch als philosophischer verstanden wird. Er positioniert sich gegenüber der Weltöffentlichkeit ebenfalls als Philosoph. Er betrachtet seine Erkenntnisse nicht nur als Beitrag zu einem neuen physikalischen, sondern auch zu einem philosophischen Raum- und Weltbild (Einstein/Infeld 1995, 185). Einstein hat sich an verschiedenen Stellen darum bemüht, seine Theorie in allgemeinverständlicher Sprache, ohne Formeln, einem breiten Publikum zu vermitteln. Auch wenn hier eingeschränkt werden muß, daß Einstein dieses Bedürfnis erst im späteren Leben verspürt und, wie in dem mit Leopold Infeld gemeinsam verfaßten Buch, die Publikation auf einer finanziellen Notlage von Infeld beruht. Dennoch verorten sich die Wissenschaftler mit dem Darlegen der physikalischen Idee in schriftlicher und beispielangereicherter Form außerhalb der eigenen Disziplin und bemühen sich darum, an die Erfahrungswelt der Leser und Leserinnen anzuknüpfen. Sie kleiden ihre Überlegungen in den Sprachgebrauch ihrer Zeit und nehmen teil an einem spezifischen gesellschaftlichen Diskurs. Mit der Übersetzung der physikalischen Formel in Sprache bietet der Physiker/die Physikerin Erklärungen für die umgebende Welt, die sich vom physikalischen Erkenntnisinteresse entfernen. Von Weizsäcker bezeichnet es daher als »empirisches Faktum« (von Weizsäcker 1990, 201), daß die meisten theoretischen Physiker philosophieren.
23Gleichzeitig – umgekehrt gedacht – entwickelt sich ein Gedanke in einem spezifischen historischen Kontext. »Kein Wissenschaftler denkt in Formeln«, soll Einstein zu Infeld gesagt haben (Infeld 1969). So steht auch Einsteins Theorie in einem engen Zusammenhang zu dem Geschehen seiner Zeit (vgl. von Weizsäcker 1986, 262; 1990, 205; Simonyi 1990). Man halte sich nur vor Augen, daß im gleichen Zeitraum, in dem Einstein den absoluten Raum auflöste, Sigmund Freud die menschliche Identität zergliederte, die Kubisten die einheitliche Form zerstörten und Ferdinand de Saussure seinen strukturalistischen Denkansatz entwickelte (vgl. Ciompi 1988). Allen Ansätzen ist gemeinsam, daß sie vom Monolithischen zur differenzierten Strukturiertheit denken. Einheit, Geschlossenheit und Stetigkeit werden in Frage gestellt.
Raum wird bei Einstein kontextuell. Raum ist für ihn eine begriffliche Konstruktion zum Verständnis der Welt. Seinen Raumbegriff mit dem Newtons vergleichend, schreibt er:
»Beide Raumbegriffe sind freie Schöpfungen der menschlichen Phantasie, Mittel, ersonnen zum leichteren Verstehen unserer sinnlichen Erlebnisse« (Einstein 1960, XIII).
Physiker wie Niels Bohr und Werner Heisenberg fassen die Arbeiten von Einstein daher auch als Beginn einer Diskussion über den Sinn physikalischer Begriffe auf (Heisenberg 199112, orig. 1969; von Weizsäcker 1986, 264). Wenn also Sozialwissenschaftlerinnen Einstein als den Urheber eines neuen Raumbegriffs rezipieren, dann geht es nicht um physikalische Formeln, sondern um homologe Denkmodelle. In der Physik und in den Sozialwissenschaften entstehen ähnliche theoretische Modelle aufgrund ähnlicher gesellschaftlicher Wahrnehmungen und Denkformen.
Wenn ich also im folgenden den absolutistischen und den relativistischen Standpunkt darlege, geht es darum herzuleiten, wie Soziologen und Soziologinnen heute zu einer Raumvorstellung gelangen und Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung eines soziologischen Raumbegriffs finden. Der Verständlichkeit halber werde auch ich auf Formeln verzichten und nur jene Ideen darstellen, die einen direkten Bezug zur bisherigen soziologischen Theoriebildung oder zu alltagsweltlichen Vorstellungen haben. Daher werde ich auch nicht auf neuere Entwicklungen wie die Diskussionen um Strings oder schwarze Löcher eingehen. Vielmehr sollen die beiden Standpunkte, der absolutistische und der 24relativistische, in ihren Abgrenzungen und in ihrer historischen Dimension deutlich werden.
2.1 Absolutistische und relativistische Raumvorstellungen
Das Bild vom Raum, welcher wie eine Schachtel oder ein Behälter die Dinge, Lebewesen und Sphären umschließt, stammt ursprünglich aus der Antike. So ist zum Beispiel die Aristotelische Vorstellung die eines endlichen – durch die Fixsterne begrenzten – Raums. Dieser Raum ist überall dicht gefüllt. Sein Zentrum bildet die unbewegliche, kugelförmige Erde. Um sie herum befinden sich bis hin zum Mond die Elemente Wasser, Luft und Feuer, welche in konzentrischen Kreisen angeordnet sind. Jenseits des Mondes bewegen sich die übrigen Planeten im endlichen Raum (vgl. Sturm 1997a). Einstein hat diese Raumvorstellung mit der Kurzformel »container« (Einstein 1960, XIII) verbildlicht, was in der deutschen Rezeption mit »Behälterraum« übersetzt wird.
Spätestens im 17. Jahrhundert wird deutlich, daß das Verhältnis von Himmel und Erde wesentlich komplizierter ist, als es das damals immer noch dominante Aristotelische Raumbild in seinem Geozentrismus vorsieht. Himmel und Erde können gedanklich nicht mehr verbunden werden, bis Newton die Gültigkeit der irdischen Naturgesetze auch für den Himmel beweist und damit nicht nur physikalische Probleme, sondern auch religionstheoretische Fragen und Ängste bearbeitete.
Isaac Newton lebt von 1643 bis 1727, also in einer Zeit großer sozialer Umbrüche. Der Dreißigjährige Krieg geht 1648 zu Ende. Die Menschen hungern. Langsam entsteht der vorindustrielle Kapitalismus und mit ihm viele technologische Entwicklungen. Das Bürgertum beginnt sich herauszubilden. Die Chirurgie entwickelt sich zur Wissenschaft und ist an der Etablierung von Konstruktionen des räumlichen Körpers maßgeblich beteiligt; mythische Körperbilder werden schleichend in den Hintergrund gedrängt.
In dieser Zeit entwickelt Isaac Newton die Vorstellung von einer homogenen unendlichen Welt. Károly Simonyi analysiert in seiner »Kulturgeschichte der Physik«, daß Newton das endliche 25und abgeschlossene Welt- und Raumbild durch die Vorstellung eines unendlichen Raumes ersetzt:
»Das Newtonsche Weltbild geht jedoch über das Sonnensystem hinaus und versucht, eine homogene unendliche Welt zu beschreiben, die durch Kraft- und Bewegungsgesetze bestimmt ist. Unter einer homogenen Welt ist hier eine Welt zu verstehen, die überall aus der gleichen Materie aufgebaut ist, wobei diese überall – sei es auf der Erdoberfläche, auf einem Planeten oder gar auf der Sonne – den gleichen Gesetzen gehorcht« (Simonyi 1990, 267f.).
Der Soziologin und Methodologin Gabriele Sturm (1997a) zufolge liegt Newtons großes Verdienst darin, die physikalischen Teilergebnisse, die seiner Zeit vorliegen, zu einem einheitlichen Modell zusammengebaut zu haben. Newton entwickelt die Grundlagen der Mechanik, welche erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Relativitätstheorie von Albert Einstein modifiziert werden. Eine seiner grundlegenden Definitionen, durch welche die Vorstellung vom Raum als Behälter erneut gestützt wird, obwohl Newtons Modell eigentlich Unendlichkeit vorsieht, ist die vom »absoluten Raum«:
»Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich« (Newton 1988, 44, original 1687).
Newton entwirft Raum als eine von den Körpern selbständige Realität. Dies war, wie Carl Friedrich von Weizsäcker betont, keineswegs selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer Abstraktionsleistung, die erst Newton in dieser Präzision vollbringt (von Weizsäcker 1986, 237). Durch diese Absolutsetzung, die Newton in seinen Schriften durch den »relativen Raum« ergänzt, wird die Vorstellung vom Container nicht wirklich in Frage gestellt. Der Raum bleibt ein Behälter, der mit verschiedenen Elementen angefüllt werden kann, jedoch auch als »leerer Raum« existent bleibt. Damit erhält zum einen die Vorstellung vom starren, unbeweglichen Raum, die das Denken bis heute leitet, erneut Gewicht, zum anderen entsteht mit der Idee der Leere die Vorstellung der beliebigen Möglichkeiten, Raum einzurichten (Sturm 1996).
Wesentlich ist dabei aber auch, daß Newtons Mechanik auch ohne die Setzung von absolutem Raum ausgekommen wäre. Über die Gründe, warum er trotzdem auf diese Konstruktion, 26wie auch auf die Annahme von »absoluter Zeit«, zurückgreift, herrscht in der heutigen wissenschaftlichen Rezeption Uneinigkeit. Es mag sein, daß Newton, wie Max Jammer (1960) und Gabriele Sturm (1997a) annehmen, in seiner Theorie die Existenz von »absoluter Zeit« sowie »absolutem Raum« unterstellt, um in der nun als unendlich gedachten Welt noch einen Punkt der Ruhe bestimmen zu können, von dem aus Bewegung gemessen werden kann. In jedem Fall dient die Setzung dazu, sich gegen den Vorwurf des Atheismus zu schützen. Newtons religionstheoretische Schriften zeigen, daß theologische Überlegungen bei der Definition von »absolutem Raum« eine entscheidende Rolle gespielt haben. Gideon Freudenthal (1982) zufolge steht Newton unter dem Druck der Schöpfungsgeschichte, in der Gott im leeren Raum die Welt erschaffen hat. Newton unterstreiche »die Freiheit Gottes, Welten nach Belieben, d.h. vollkommen frei zu erschaffen« (Freudenthal 1982, 272). In der Vorstellung Newtons ist der Raum eine Naturgegebenheit, die nur durch Gott wieder aufgelöst werden kann. Auch der Philosoph Alexander Gosztonyi (1976, 342) und der Physiker Stephen W. Hawking (1988, 32) betonen, daß für Newtons Mechanik das Modell des relativen Raums ausreichend gewesen wäre; aus metaphysischen Gründen habe er den absoluten Raum als feste Verankerung und als Bestätigung des absoluten Gottes geschaffen.
Es stimmt also nicht, wie häufig nahegelegt wird (zum Beispiel durch Piaget 1975 oder Ciompi 1988), daß Newton jegliche Relativität leugnet. Vielmehr unterscheidet er zwischen einem »absoluten Raum« und einem »relativen Raum«. Der relative Raum ist für ihn das Maß des absoluten Raums oder »ein beliebiger veränderlicher Ausschnitt daraus« (Newton 1988, orig. 1687, 44), welcher durch die Beziehungen zwischen Körpern, d.h. ihre Lageverhältnisse, wahrgenommen wird. Carl Friedrich von Weizsäcker erläutert dies:
»›In meinem Zimmer‹ oder ›auf dem Gipfel des Großvenedigers‹ sind relative Orte; ›mein Zimmer‹, begrenzt durch seine Wände in meinem Haus, oder ›die Alpen‹, lokalisiert relativ zu unserem Planeten, der Erde, sind relative Räume in Newtons Sinn« (von Weizsäcker 1986, 237).[1]
Newton unterscheidet zwischen dem alles umschließenden Behälterraum und der Vielzahl durch Relationen entstandener Teil27räume, bestehend aus Beziehungen zwischen Körpern in diesem Behälter. Wie Gosztonyi (1976) zusammenfaßt, sind für die Physik Newtons Überlegungen zum relativen Raum bahnbrechend, im Weltbild jedoch setzt sich die Vorstellung vom absoluten Raum fort, gestärkt durch die jüdisch-christlichen Erzählungen der Schöpfungsgeschichte.
Newton unterstellt mit seinem Konzept einen Dualismus zwischen Raum und Materie, welcher bereits bei Zeitgenossen heftig diskutiert wird. Unter dem Einfluß der Newtonschen Physik verfestigt sich der Eindruck, es gäbe zwei voneinander getrennte Wirklichkeiten, nämlich Raum und Materie. Bei dieser Grundannahme behält der Raum seine Existenz auch ohne Materie. Analysierbar und beschreibbar wird der Raum durch die euklidische Geometrie, genauer durch die analytische Geometrie Decartes’, welche Geometrie mit Arithmetik verknüpft.
Die Vorstellung vom Behälterraum ist, wie noch ausführlich dargestellt werden wird, bis heute eine dominante Vorstellung im alltäglichen Verständnis von Raum. Es ist jedoch, wie Gabriele Sturm (1997a, 169) ausführt, bereits eine verkürzte Variante der Newtonschen Konzeption, da Newton in seinem Modell den absoluten Raum als unendlichen entwirft. Da die meisten Menschen nicht in der Lage sind, Unendlichkeit zu denken, wird der Raum als Behälter verdinglicht. Das Behältermodell ist demzufolge bereits eine gesellschaftliche Transformation der physikalisch-philosophischen Ausgangsvorstellung.
Newtons Vorstellung vom absoluten Raum bleibt bereits zu seiner Zeit nicht unangefochten. Vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) wendet sich in einem Briefwechsel mit Samuel Clark, welcher sich zum Verfechter von Newtons Ideen erhebt, gegen die Vorstellung, es gäbe einen selbständigen Gegenstand »Raum«, und betont statt dessen die Räumlichkeit der Körper. In seinem dritten Brief schreibt Leibniz:
»Ich habe mehrfach betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist« (Leibniz 19663, original 1715/1716, 134).
Raum ist für Leibniz der Inbegriff möglicher Lagebedingungen überhaupt. Ausgehend vom Punkt, welcher in der Euklidischen Definition das Unteilbare schlechthin darstellt, ergänzt er diese 28Definition um die Lage, d.h. ein Punkt existiert in einem Lageverhältnis zu anderen. Die Koexistenz der Lagen enthält nach Leibniz noch kein Prinzip, erst durch die Ordnung werden sie verbunden. Leibniz verweigert das Denken in Koordinatensystemen. Raum, so faßt Gosztonyi zusammen, ist ihm zufolge »Ordnungsprinzip der Lagerelation« (Gosztonyi 1976, 363). Man kann ihn auch als virtuelle, dennoch konkret faßbare Ordnung bezeichnen. Damit umfaßt Raum nicht nur die wirkliche, sondern auch die mögliche Ordnung. Von Weizsäcker formuliert die Konsequenzen aus der Leibnizschen Raumvorstellung:
»Man dürfte dann strenggenommen nicht sagen: ›dieser Körper befindet sich an diesem Ort‹, sondern nur: ›er befindet sich, von jenem anderen Körper aus gesehen, an diesem Ort‹« (von Weizsäcker 1990, 138).
Folgerichtig diskutiert Leibniz bereits das Problem der Perspektivenvielfalt, welches sich aus einem relativistischen Raumbegriff ergibt. In seiner »Monadologie« lautet der 57. Paragraph:
»Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so geschieht es auch, daß es wegen der unendlichen Menge der einfachen Substanzen gleichsam ebensoviele verschiedene Welten gibt, die gleichwohl nichts anderes sind als die perspektivischen Ansichten des einzigen Universums, je nach den verschiedenen Gesichtspunkten der Monade« (Leibniz 1994, 26).
Was später in kubistischen Bildern zu mehrperspektivischen Darstellungen von Räumen führt (vgl. Güldenpfennig 1994), beschreibt Leibniz in diesem Paragraphen, daß nämlich je nach Blickpunkt der Raum dem Betrachter oder der Betrachterin anders erscheint.
Auch Immanuel Kant (1724–1804) beschäftigt sich sowohl mit dem Newtonschen als auch mit dem Leibnizschen Raumbegriff ausführlich. In seinen Frühschriften ist Kant unentschieden, welche Position er einnehmen soll. Zunächst will er Leibniz’ Thesen mit Newtons Lehre versöhnen, dann tendiert er immer stärker zur relativistischen Position von Leibniz, um schließlich auch unter dem Einfluß des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler (1707–1783) zu einer eigenen Position zu gelangen, die der Lehre vom absoluten Raum näher steht als den Leibnizschen Lagerelationen (vgl. auch Ströker 19772; Stieb 1985, 21).
29In seiner »Dissertatio« (1958, orig. 1770), die, da sie unter Zeitdruck in wenigen Monaten verfaßt wird, eher einen vorläufigen Charakter hat und als Vorarbeit zu seinem Werk »Kritik der reinen Vernunft« (19962, 1781) gilt, stellt Kant beide Raumbegriffe gegenüber.
»Diejenigen, die die Realität des Raumes verteidigen, stellen ihn sich entweder als den absoluten und unendlichen Behälterselber