Eva Illouz geht in ihren Adorno-Vorlesungen von der überraschenden These aus, daß die Kultur des Kapitalismus eine intensive emotionale Kultur ausgebildet hat: am Arbeitsplatz, in der Familie und in jeder Form von sozialen Beziehungen. Und mehr noch: Während ökonomische Beziehungen immer stärker durch Gefühle bestimmt werden, gilt für das Reich der Gefühle das Umgekehrte: Sie sind durch eine Ökonomisierung geprägt, die von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Trennung das Gefühlsleben reguliert. Illouz faßt dieses eigentümliche Verhältnis als emotionalen Kapitalismus und geht ihm in verschiedenen Feldern nach. Sie untersucht die neue Form der Gefühle im Internet-Chat und Partnerbörsen, in Lifestyle-Magazinen und Filmen, nimmt aber auch jene Berufsgruppe in den Blick, die aus den Irrungen und Wirrungen der Gefühle ihr Kapital zieht: die klinischen Psychologen.
»Das Buch gehört zu den interessantesten des Jahres, gerade weil man an vielen Stellen geneigt ist, zu widersprechen und nachzufragen.« Süddeutsche Zeitung
Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebrew University in Jerusalem.
Im Suhrkamp Verlag erschienen: Der Konsum der Romantik (stw 1858) und Die Errettung der modernen Seele (2009).
Gefühle in Zeiten des
Kapitalismus
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004
Institut für Sozialforschung an der
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main
Aus dem Englischen
von Martin Hartmann
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007
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eISBN 978-3-518-73227-4
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I. Der Aufstieg des Homo Sentimentalis
Freud und die Clark Lectures
Die Neuausrichtung der unternehmerischen Vorstellungskraft
Ein neuer emotionaler Stil
Die kommunikative Ethik als Geist des Unternehmens
Die Rosen und die Dornen der modernen Familie
Schluß
II. Leiden, emotionale Felder und emotionales Kapital
Das Narrativ der Selbstverwirklichung
Emotionale Felder, emotionaler Habitus
Die Pragmatik der Psychologie
Schluß
III. Romantische Netze
Das umworbene Internet
Virtuelle Begegnungen
Ontologische Selbstpräsentation
Standardisierung und Wiederholung
Phantasie und Enttäuschung
Schluß
Danksagung
6Für Elchanan
Soziologen haben die Moderne traditionellerweise mit dem Aufkommen des Kapitalismus, dem Aufstieg demokratischer politischer Institutionen oder aber mit der moralischen Kraft der Idee des Individualismus in Verbindung gebracht, dabei aber die Tatsache vernachlässigt, daß die meisten großen soziologischen Erzählungen der Moderne neben den bekannten Begriffen des Mehrwerts, der Ausbeutung, der Rationalisierung, der Entzauberung oder der Arbeitsteilung eine andere, unscheinbarere Nebenerzählung enthalten, in der die Entstehung der Moderne unter dem Gesichtspunkt von Emotionen thematisch wird. Um nur einige besonders auffällige, wenn auch triviale Beispiele zu nennen: Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus enthält im Kern eine These über die Rolle der Emotionen im ökonomischen Handeln, da es die durch die Unergründlichkeit der Gottheit ausgelösten Angstaffekte sind, die im Mittelpunkt rastloser unternehmerischer Tätigkeit stehen. Die Marxsche Entfremdungstheorie – ohne die das Verhältnis des Arbeiters zu Prozeß und Produkt der Arbeit nicht hätte erklärt werden können – geht mit einer lauten emotionalen Begleitmusik einher, etwa an den Stellen in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, an denen Marx die entfremdete Arbeit im Sinne eines Realitätsverlusts in den Blick nimmt oder, in seinen Worten, als einen »Verlust des Gegenstandes«.[1] Dort, wo die Marxsche Entfremdungstheorie von der Populärkultur angeeignet – und entstellt – wurde, geschah das vor allem aufgrund ihrer emotionalen Implikationen. Die Moderne und der Kapitalismus waren entfremdend, weil sie eine Form emotionaler 8Taubheit erzeugten, durch die die Menschen voneinander, von ihrer Gemeinschaft und von ihrem innersten Selbst getrennt wurden. Auch Simmels berühmte Beschreibung des Großstadtlebens enthält eine Darstellung des emotionalen Lebens. In Simmels Perspektive produziert das großstädtische Leben einen endlosen Fluß nervöser Reize und kontrastiert damit dem kleinstädtischen Leben, das auf »gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist«.[2] Für Simmel ist die typisch moderne Einstellung die des Blasierten, die sich aus einer gewissen Reserviertheit, Kälte und Gleichgültigkeit zusammensetzt und, wie Simmel hinzufügt, stets Gefahr läuft, in Haß umzuschlagen. Schließlich ist es wohl die Durkheimsche Soziologie, die sich – bei allem ihr eigenen Neo-Kantianismus – vielleicht auf besonders überraschende Weise der Thematik der Emotionen zuwendet. Ja, das Herzstück der Durkheimschen Soziologie, die Solidarität, ist nichts anderes als ein Bündel von Emotionen, das die sozialen Akteure an die zentralen Symbole der Gesellschaft bindet (in Die elementaren Formen des religiösen Lebens spricht Durkheim in diesem Zusammenhang von »Efferveszenz«).[3] Durkheims Sicht der Moderne bezieht sich sogar noch direkter auf Emotionen, da sie zu begreifen sucht, was die moderne Gesellschaft angesichts der aus der sozialen Differenzierung resultierenden mangelnden emotionalen Intensität »zusammenhält«.[4]
9Mein Punkt ist, so hoffe ich, deutlich genug, und ich will ihn hier nicht weiter ausführen. Implizit enthalten die kanonischen soziologischen Theorien der Moderne wenn schon nicht eine voll ausgereifte Theorie der Emotionen, so doch zumindest eine ganze Reihe von Bezügen auf einzelne Emotionen: Angst, Liebe, Ehrgeiz, Gleichgültigkeit, Schuld – alle diese Emotionen sind in den meisten historischen und soziologischen Erzählungen präsent, in denen es um die Brüche geht, die die moderne Ära herbeigeführt haben. Man muß nur, wenn man will, lange genug an ihrer Oberfläche kratzen.[5] Meine allgemeine These in diesen Vorlesungen lautet wie folgt: Wenn wir diese nicht allzu verborgene Dimension der Moderne wiedergewinnen, werden sich die üblichen Analysen der Konstitution des modernen Selbst und der modernen Identität, aber auch die Analysen der Spaltung zwischen Öffentlichem und Privatem mitsamt ihrer geschlechtsspezifischen Artikulation wandeln.
Aber, so könnte man nun fragen, warum sollten wir das tun? Würde die Konzentration auf eine solch hochgradig subjektive, unsichtbare und persönliche Erfahrung, wie es eine »Emotion« ist, nicht das Geschäft der Soziologie untergraben, von dem man doch sagt, es sei hauptsächlich mit objektiven Regelmäßigkeiten, strukturierten Handlungen und großflächigen Institutionen beschäftigt? Warum sollten wir uns, anders gesagt, mit einer Kategorie herumschlagen, ohne die die Soziologie bisher ganz gut ausgekommen ist? Ich denke, es gibt einige Gründe, die dafür sprechen.[6] Emotionen sind an sich keine Handlungen, wohl aber die innere 10Energie, die uns zum Handeln antreibt; sie sind das, was einer Handlung eine spezifische »Stimmung« oder »Färbung« gibt. Emotionen können folglich als die »energiegeladene« Seite des Handelns bestimmt werden, wobei diese Energie zugleich Kognition, Affekt, Bewertung, Motivation und den Körper impliziert.[7] Emotionen sind also weit davon entfernt, präsozial oder präkulturell zu sein; in ihnen sind vielmehr kulturelle Bedeutungen und soziale Beziehungen auf untrennbare Weise miteinander verflochten, und gerade diese Verflechtung ist es, die ihnen das Vermögen verleiht, Handeln mit Energie aufzuladen. Emotionen besitzen diese »Energie« aufgrund der Tatsache, daß sie stets das Selbst und seine Beziehung zu kulturell situierten anderen betreffen. Wenn jemand zu mir sagt: »Du bist schon wieder zu spät gekommen«, dann wird die Antwort auf die Frage, ob ich Scham, Wut oder Schuld empfinde, fast vollständig von meiner Beziehung zu dieser Person abhängen. Kommt die Bemerkung von meinem Chef, werde ich mich vermutlich schämen, kommt sie von einem Kollegen, macht sie mich wahrscheinlich wütend; kommt sie dagegen von meinem Kind, das vor der Schule auf mich wartet, dann fühle ich mich mit ziemlicher Sicherheit schuldig. Emotionen sind gewiß eine psychologische Entität, aber sie sind ebenso und vielleicht sogar noch stärker kulturelle und soziale Entitäten. Über Emotionen verwirklichen wir kulturelle Formen des Personseins, so wie sie in konkreten und unmittelbaren, aber stets kulturell und sozial definierten Beziehungen ausgedrückt werden. Ich würde daher sagen, daß Emotionen kulturelle Bedeutungen und soziale Beziehungen sind, die eng miteinander verflochten sind; und es ist diese enge Verflechtung, die ihnen ihren energetischen und damit präreflexiven, 11häufig halbbewußten Charakter verleiht. Emotionen sind zutiefst internalisierte, nicht-reflexive Aspekte des Handelns, aber nicht, weil sie nicht genug Kultur oder Gesellschaft in sich enthalten, sondern weil sie zuviel davon in sich tragen. Aus diesem Grund kann eine hermeneutische Soziologie, die soziales Handeln von »innen« verstehen will, ohne eine Berücksichtigung der emotionalen Färbung des Handelns und ihrer Quellen nicht angemessen sein.
Emotionen haben noch eine weitere zentrale Relevanz für die Soziologie: Viele soziale Arrangements sind zugleich emotionale Arrangements. Es ist trivial, darauf hinzuweisen, daß jene Spaltung und Unterscheidung, die die fundamentalste ist und die fast alle Gesellschaften prägt – die zwischen Männern und Frauen nämlich –, auf kulturell bestimmten emotionalen Gegebenheiten beruht (und durch sie reproduziert wird).[8] Wer ein wahrhafter Mann sein will, muß Mut, kühle Rationalität und disziplinierte Aggressivität zur Schau stellen. Feminität dagegen verlangt nach Freundlichkeit, Mitgefühl und Heiterkeit. Die durch geschlechtsspezifische Spaltungen produzierten sozialen Hierarchien enthalten implizite emotionale Spaltungen, ohne die Männer und Frauen ihre Rollen und Identitäten nicht reproduzieren würden. Diese Spaltungen wiederum produzieren emotionale Hierarchien, in denen kühle Rationalität normalerweise als verläßlicher, objektiver und professioneller eingeschätzt wird als etwa Mitgefühl. So setzt, um nur ein Beispiel zu nennen, das Ideal der Objektivität, das unser Bild von Nachrichten oder von (einer vorgeblich blinden) Gerechtigkeit dominiert, eine männliche Praxis und ein männliches Modell emotionaler Selbstkontrolle voraus. Emotionen sind folglich hierarchisch organisiert, und diese 12emotionalen Hierarchien organisieren wiederum auf implizite Weise unsere moralischen und sozialen Arrangements.
Ich will im folgenden die These vertreten, daß die Bildung des Kapitalismus Hand in Hand ging mit der Bildung einer stark spezialisierten emotionalen Kultur. Wenn wir uns auf diese Dimension des Kapitalismus konzentrieren – auf seine Emotionen also –, wird es möglich, eine andere Ordnung der sozialen Organisation des Kapitalismus zu entdecken. Im ersten Kapitel zeige ich, daß die stärkere Gewichtung der Emotionen in der Geschichte von Kapitalismus und Moderne die konventionelle Trennung zwischen einer emotionsfreien öffentlichen und einer mit Emotionen gesättigten privaten Sphäre zerfallen läßt, da deutlich wird, in welchem Maße Frauen und Männer der Mittelschicht im Laufe des 20. Jahrhunderts dazu angehalten werden, sich sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie auf intensivste Weise ihren Emotionen zuzuwenden, und zwar indem sie in beiden Bereichen ähnliche Techniken verwenden, um das Selbst und seine Beziehungen zu anderen in den Vordergrund zu rücken. Eine solche Kultur der Emotionalität bedeutet nicht, wie Kritiker in der Nachfolge Tocquevilles fürchten, daß wir uns in das Gehäuse unseres Privatlebens zurückziehen[9] – im Gegenteil: Niemals zuvor ist das private Selbst derart öffentlich inszeniert worden, niemals zuvor ist es so sehr auf die Diskurse und Werte der ökonomischen und politischen Sphäre zugeschnitten worden.
Das zweite Kapitel widmet sich ausführlicher der Weise, in der die moderne Identität tatsächlich zunehmend an einer Vielzahl sozialer Orte unter Bezug auf ein Narrativ öffentlich inszeniert wird, in dem sich das Bestreben nach Selbstverwirklichung 13und der Anspruch auf emotionales Leiden verbinden. Die Dominanz und Fortdauer dieses Narrativs, das wir als verkürztes Narrativ der Anerkennung behandeln können, ist auf die materiellen und ideellen Interessen einer Vielzahl sozialer Gruppen bezogen, die innerhalb des Markts, der Zivilgesellschaft und der institutionellen Grenzen des Staats operieren.
Im dritten Teil zeige ich, wie der Prozeß, der aus dem Selbst eine emotionale und öffentliche Angelegenheit macht, seinen stärksten Ausdruck in der Internettechnologie findet, einer Technologie, die ein öffentliches emotionales Selbst voraussetzt und zur Darstellung bringt, mehr noch, die das öffentliche emotionale Selbst den privaten Interaktionen vorausgehen läßt und sie konstituiert.
Obgleich die einzelnen Kapitel separat gelesen werden können, gibt es eine organische Verbindung zwischen ihnen und ein kumulatives Fortschreiten auf ein Hauptziel zu, das darin besteht, die Konturen eines emotionalen Kapitalismus zu skizzieren. Der emotionale Kapitalismus ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen, um so jene breite Bewegung hervorzubringen, die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben – vor allem das der Mittelschichten – der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft. Themen wie das der »Rationalisierung« und »Verdinglichung« der Emotionen werden zwangsläufig in allen drei Teilen vorkommen. Dennoch folgt meine Analyse weder Weber noch Marx, da ich nicht voraussetze, daß sich Ökonomie und Emotionen voneinander trennen lassen (oder daß sie voneinander getrennt werden sollten).[10] Vielmehr zeige ich in den folgenden drei Kapiteln, daß das kulturelle Repertoire des Markts zwischenmenschliche und emotionale Beziehungen formt und 14beeinflußt, zugleich aber zwischenmenschliche Beziehungen im Zentrum der ökonomischen stehen. Genauer, das Repertoire des Markts vermischt sich mit der Sprache der Psychologie, und diese Kombination wiederum schafft neue Techniken und Bedeutungen, aus denen neue Formen der Sozialität gegossen werden. Im folgenden Abschnitt will ich untersuchen, wie dieser neue Modus des sozialen Umgangs entstanden ist und was seine zentralen emotionalen (imaginären) Bedeutungen sind.
Müßte ich trotz meiner Ausbildung als Kultursoziologin und trotz meiner tiefsitzenden Zweifel an der Möglichkeit, wichtige kulturelle Umwälzungen mit festen Daten in Verbindung zu bringen, ein Datum nennen, das die Transformation der emotionalen Kultur Amerikas markiert, würde ich das Jahr 1909 auswählen, das Jahr, in dem Sigmund Freud nach Amerika reist, um an der Clark University Vorlesungen zu halten. In fünf übersichtsartigen Vorlesungen stellt Freud einem gemischten Publikum die Hauptideen der Psychoanalyse vor oder zumindest die Ideen, die in der amerikanischen Populärkultur Widerhall finden sollten: den Versprecher, die Rolle, die das Unbewußte in der Bestimmung unseres Schicksals spielt, die zentrale Bedeutung der Träume für das psychische Leben, den sexuellen Charakter fast aller unserer Wünsche, die Familie als Ursprung unserer Psyche und tiefste Ursache ihrer Pathologien. Es ist merkwürdig: Die meisten soziologischen und historischen Analysen liefern uns zwar elaborierte und feinsinnige Darstellungen der intellektuellen Ursprünge der Psychoanalyse,[11] 15beschreiben ihren Einfluß auf kulturelle Konzeptionen des Selbst oder ihr Verhältnis zu wissenschaftlichen Ideen, eine schlichte und doch auffällige Tatsache aber übersehen sie, die Tatsache nämlich, daß die Psychoanalyse und die Vielzahl abtrünniger Theorien der Psyche, die ihr gefolgt sind, im großen und ganzen ihre Hauptaufgabe darin sahen, das emotionale Leben neu auszurichten (auch wenn es natürlich so aussah, als wären sie lediglich daran interessiert, es zu zerlegen). Um genauer zu sein: Die vielen Stränge der klinischen Psychologie – der Freudsche Strang, der ich-psychologische, der humanistische, der objektbeziehungstheoretische – haben das formuliert, was ich einen neuen emotionalen Stil nennen möchte, nämlich den therapeutischen emotionalen Stil, der die kulturelle Landschaft Amerikas im 20. Jahrhundert maßgeblich beherrschen sollte.
Was ist ein »emotionaler Stil«? In ihrem bekannten Buch Philosophie auf neuem Wege geht Susan Langer davon aus, daß jedes Zeitalter der Philosophiegeschichte »ein besonderes Anliegen« hat und daß es die »Behandlungsweise eines Problems« (die »Technik«) und nicht der jeweilige Inhalt ist, die über die »Zuordnung von Problemen zu einer Epoche« entscheidet.[12] »Emotionalen Stil« nenne ich hier die Art und Weise, in der das emotionale Leben – seine Ätiologie und Morphologie – der Kultur des 20. Jahrhunderts zum »Anliegen« wird und die Art und Weise, in der sie spezifische »Techniken« entwickelt – linguistische, wissenschaftliche und interaktive –, um diese Emotionen zu verstehen und zu handhaben.[13] Der moderne emotionale Stil ist vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) durch die Sprache der Therapie 16geprägt, die innerhalb einer relativ kurzen Phase zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg aufgekommen ist. Wenn es so ist, wie Jürgen Habermas behauptet, daß am Ende des 19. Jahrhunderts eine Disziplin »zunächst als das Werk eines einzelnen Mannes« entstanden ist,[14] würde ich hinzufügen, daß diese Disziplin schnell mehr wurde als nur eine Disziplin im Sinne eines spezialisierten Wissensfundus. Aus ihr entwickelten sich neue kulturelle Praktiken, die, da sie auf unverwechselbare Weise zwischen dem Bereich wissenschaftlicher Produktion und den Bereichen der elitären und der populären Kultur angesiedelt waren, Konzeptionen des Selbst, des emotionalen Lebens und sogar der sozialen Beziehungen neu gestalten konnten. In Anlehnung an Robert Bellahs Ausdruck für die protestantische Reformation können wir sagen, daß der therapeutische Diskurs grundlegende »Identitätssymbole« neu ausgerichtet hat.[15] Es sind letztlich diese Identitätssymbole, mit deren Hilfe sich der emotionale Stil neu ausrichten konnte.
Ein emotionaler Stil nimmt Form an, wenn eine neue Art des Denkens über die Beziehung des Selbst zu anderen konzipiert wird, wenn neue Möglichkeiten dieser Beziehung vorstellbar werden. Interpersonelle Beziehungen – etwa im Rahmen einer Nation – werden in Anlehnung an imaginäre Skripte, die soziale Nähe und Distanz mit Bedeutung aufladen, reflektiert, ersehnt, diskutiert, verraten, umkämpft und verhandelt.[16] Freud hat, das ist in meinen Augen 17sein größter Einfluß auf die Kultur, dazu beigetragen, daß wir das Selbst in seinem Verhältnis zu anderen vor dem Hintergrund eines neuen Verständnisses der Position des Selbst zu seiner eigenen Vergangenheit neu denken. Dieses neue Bild des Interpersonellen schlug sich in einer Reihe von zentralen Ideen und kulturellen Motiven nieder, die prägend für die amerikanische Kultur werden sollten.
Erstens ist im psychoanalytischen Verständnis die Kernfamilie der Ort, an dem das Selbst entsteht, der Ort also, an dem und von dem aus die Erzählung und Geschichte des Selbst ihren Anfang nimmt. Bot die Familie bis dahin die Möglichkeit, sich »objektiv« in einer langen chronologischen Kette und in der sozialen Ordnung zu situieren, wird sie nun ein biographisches Ereignis, das symbolisch das ganze Leben begleitet und auf unverwechselbare Weise die eigene Individualität ausdrückt. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die Familie in dem Augenblick, in dem ihre traditionellen Grundlagen brüchig werden, das Selbst heimzusuchen beginnt, und zwar als »Erzählung« und als Mittel, das Selbst zu dramatisieren. Die Familie war schon allein deswegen zentral für die Konstitution neuer Narrative des Selbst, weil sie sowohl der Ursprung dieses Selbst als auch das war, wovon es befreit werden mußte.
Zweitens verankert das psychoanalytische Verständnis das Selbst fest im Alltagsleben, in jenem Bereich, den Stanley Cavell als »ereignislos« kennzeichnet.[17] So beansprucht Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens, die 1901 erschien und deren Ideen in die Clark Lectures eingeflossen sind, eine neue Wissenschaft auf der Basis der banalsten und unspektakulärsten Ereignisse zu gründen, also etwa mit Bezug auf Fehlleistungen oder Versprecher, in denen sich, wie Freud sagt, die eigentliche Bedeutung des Selbst und seiner Begierden niederschlägt. Freuds Theorie war damit Teil der kulturellen Revolution des Bürgertums, 18die sich von kontemplativen und heroischen Definitionen der Identität verabschiedete und dieses Selbst im Bereich des Alltäglichen verankerte, vor allem in der Arbeitssphäre und in der Familie.[18] Freud ging sogar noch einen Schritt weiter. Er verlieh dem gewöhnlichen Selbst neuen Glanz, da es nun darauf wartete, entdeckt und gestaltet zu werden. Das gewöhnliche, weltliche Selbst wurde mysteriös, etwas schwer zu Erreichendes. So schreibt Peter Gay in seinem biographischen und philosophischen Porträt Freuds: »Was jedermann gewohnt ist, im Sexualleben ›normal‹ zu nennen, ist in Wirklichkeit der Endpunkt einer langen, oft unterbrochenen Pilgerfahrt, ein Ziel, das viele Menschen nie – und noch mehr nur selten – erreichen. Der Geschlechtstrieb in seiner reifen Form ist eine Leistung.«[19] Was das Selbst für die Vorstellungskraft anziehend machte, war die Tatsache, daß es nun zwei gegeneinanderstehende kulturelle Bilder in sich verschmolz: das der Normalität und das der Pathologie. Freuds herausragende kulturelle Leistung bestand sowohl darin, den Bereich des Normalen auszuweiten, indem es dem Pathologischen zugerechnet wurde (zum Beispiel seine Idee, daß die sexuelle Entwicklung mit der Homosexualität anhebt), als auch darin, die Normalität zu problematisieren, so daß sie ein mühseliges Ziel wurde, das sich nur durch die Mobilisierung einer ganzen Reihe kultureller Ressourcen erreichen ließ (so war Heterosexualität nicht länger einfach gegeben; sie wurde ein Ziel, das erreicht werden mußte). Wenn also, wie Foucault meint, der psychiatrische Diskurs des 19. Jahrhunderts eine strenge Grenze zwischen dem Normalen und dem Pathologischen errichtete,[20] 19dann hat Freud diese Grenze systematisch verwischt und eine neue Art der Normalität statuiert, bewohnt von einem neuen Ensemble pathologischer Charaktere, eine Normalität, die für das Selbst ein Projekt mit offenem Ende wurde, ein undefiniertes und doch machtvolles Ziel.
Schließlich plazierte Freud im Zentrum dieses neuen Verständnisses Sex, sexuelles Vergnügen und Sexualität. Berücksichtigt man die große Menge an Ressourcen, die mobilisiert wurden, um die Sexualität zu regulieren, erscheint es vernünftig, davon auszugehen, daß das offene Projekt des Selbst, in dessen Rahmen Sex und Sexualität als machtvolle unbewußte Ursachen für Pathologien, aber auch als Zeichen einer reifen und vollständigen Entwicklung erschienen, die zensierte Vorstellungskraft der Zeitgenossen Freuds anstacheln mußte. Die Sexualität ließ sich so leicht der modernen Vorstellungskraft einverleiben, weil sie sich mit einem anderen, hochgradig modernen Motiv verband, nämlich mit der Sprache; die Sprache war das, was die Sexualität von ihren »primitivistischen« Konnotationen aus dem 19. Jahrhundert entfernte. Nicht nur war Sprache mit einer neuen und bis dahin gar nicht in Verdacht geratenen Sexualität gesättigt (noch einmal sei an das Thema der Fehlleistungen und Versprecher erinnert), Sexualität selbst wurde nun eine sprachliche Angelegenheit, etwas, das unter Aufwand begrifflicher Klärung und Verbalisierung erreicht werden mußte.
Es gibt viele institutionelle und organisationelle Gründe für den außerordentlichen Erfolg der Psychoanalyse in Amerika. (So besaß zum Beispiel die zunehmend trianguläre Struktur der amerikanischen Familie, die John Demos als »Treibhaus«-Familie bezeichnete, eine beträchtliche Nähe zur Freudschen Triangulationstheorie des Ödipus;[21] Freuds 20Theorien befanden sich außerdem im Einklang mit der Suche nach Authentizität, die im Zentrum einer sich entwickelnden, sehr intensiven Konsumkultur stand;[22] sie wurde von Mitgliedern des akademischen, medizinischen und literarischen Establishments rezipiert und verbreitet;[23] die institutionellen Grenzen zwischen Medizin und Populärkultur waren dünn, so daß Ärzte neue Ideen wie den Freudianismus popularisierten;[24] schließlich gab es eine hitzige Debatte zwischen einer wissenschaftlichen und einer spirituellen Medizin, die durch das Freudsche Paradigma versöhnt zu werden schien.[25]) Leider kann ich die Gründe für den großen Einfluß der Freudschen Ideen auf amerikanische Institutionen nicht ausführen. Nur so viel: Weil sich die Psychoanalyse in der einmaligen Situation befand, die spezialisierten Gebiete der Psychologie, der Neurologie, der Psychiatrie und der Medizin einerseits sowie der hohen und der niedrigen Kultur andererseits zu überbrücken, konnte sie in alle Poren der amerikanischen Kultur eindringen, in besonders auffälliger Weise in Filme und in die Ratgeberliteratur.
In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts war die Ratgeberliteratur, wie das Kino, eine aufkeimende Kulturindustrie, die sich als die stabilste Basis für die Ausbreitung psychologischer Ideen und die Ausarbeitung emotionaler Normen erwies. Ratgeberliteratur vereint eine ganze Reihe 21von Anforderungen: Ihr Charakter muß, per definitionem, allgemein sein, das heißt, sie muß eine gesetzesförmige Sprache verwenden, die ihr Autorität verleiht und sie in die Lage versetzt, gesetzesförmige Aussagen zu fällen; sie muß die von ihr aufgenommenen Probleme variieren, um eine beständig konsumierbare Ware zu sein; darüber hinaus muß sie, will sie verschiedene Leserschichten mit je unterschiedlichen Werten und Sichtweisen ansprechen, a-moralisch sein, mithin also eine neutrale Perspektive auf Sexualität und auf das Führen sozialer Beziehungen entwerfen. Schließlich muß sie glaubhaft sein, das heißt, sie muß eine legitime Quelle haben. Die Psychoanalyse und die Psychologie waren Goldminen für die Ratgeberindustrie, weil sie diese mit der Aura der Wissenschaft umhüllten, weil sie beliebig individualisiert werden (also auf alle möglichen individuellen Eigenheiten zugeschnitten werden konnten) und eine breite Problempalette ansprechen und so eine Produktdiversifizierung ermöglichen konnten und weil sie den leidenschaftslosen Blick der Wissenschaft auf tabuisierte Themen anzubieten schienen. In dem Maße, in dem sich der Konsumgütermarkt ausweitete, sogen die Buchindustrie und die Frauenmagazine begierig eine Sprache auf, die sowohl Theorie als auch konkrete Geschichten, Allgemeines und Besonderes, Urteilsabstinenz und Normativität miteinander verbinden konnte. Auch wenn die Ratgeberliteratur sicher keinen direkten Einfluß auf ihre Leser hat, läßt sich doch sagen, daß die zentrale Rolle, die sie dabei spielte, ein Vokabular für das Selbst und für das Aushandeln sozialer Beziehungen zur Verfügung zu stellen, bislang nur unangemessen gewürdigt wurde. Sehr viel kulturelles Material gelangt zu uns in Form von Ratschlägen, Ermahnungen und Rezepturen à la »Wie Sie in sieben Tagen ...«. Berücksichtigt man, daß sich das moderne Selbst an zahlreichen sozialen Orten selbst erschafft, indem es sich unterschiedlicher kultureller Repertoires der Entscheidungsfindung bedient, dann wird die Ratgeberliteratur sicherlich 22wichtig für die Neubildung des Vokabulars gewesen sein, mit dessen Hilfe sich das Selbst versteht.
Anders als andere Experten und Berufszweige (etwa Juristen und Ingenieure) fingen die Psychologen langsam an, Sachkenntnis in so gut wie allen Bereichen – vom Militär bis zur Kindererziehung, vom Marketing bis zur Sexualität – zu beanspruchen;[26] die Ratgeberliteratur nutzten sie dabei, um diese allgemeine Berufung zu bestätigen. Mit fortschreitender Zeit fühlten sie sich folglich immer stärker dazu aufgefordert, andere durch eine Vielzahl von Problemen hindurchzuführen, etwa auf den Feldern der Bildung, des kriminellen Verhaltens, der Gerichtsgutachten, der Ehe, der Rehabilitationsprogramme im Strafvollzug, der Sexualität, der rassischen und politischen Konflikte, des ökonomischen Verhaltens und der soldatischen Kampfmoral.[27] Nirgendwo war dieser Einfluß größer als im amerikanischen Unternehmen, in dem Psychologen Emotionen in Form einer radikal neuen Art des Produktionsverständnisses mit dem Bereich ökonomischen Handelns in Verbindung brachten. Die Zeit zwischen 1880 und 1920 wurde das goldene Zeitalter des Kapitalismus genannt, in dem das »Fabriksystem begründet, das Kapital zentralisiert, die Produktion standardisiert, die Organisationen bürokratisiert und die Arbeitskraft in große Firmen inkorporiert wurde«.[28] Am auffälligsten war der Aufstieg großer Korporationen, 23die Tausende, ja manchmal Zehntausende Arbeiter beschäftigten und so die Korporationen bürokratisch komplexer werden ließen und hierarchisch vereinheitlichten.[29] Um 1920 waren 86 Prozent aller Lohnempfänger in Fabriken angestellt.[30] Auffälliger noch war die Tatsache, daß die amerikanischen Unternehmen weltweit den größten Anteil an Verwaltungsangestellten besaßen (auf 100 in der Produktion Angestellte kamen 18 Verwaltungsangestellte).[31] Die Vergrößerung der Unternehmen ging einher mit der Konsolidierung der Management-Theorien, die darauf zielten, den Produktionsprozeß zu rationalisieren und systematisieren. Mehr noch, das Management-System verschob – oder genauer: multiplizierte – die Kontrollpunkte, die nun aus den Händen traditioneller Kapitalisten in die von Technokraten übergingen, die die Rhetorik der Wissenschaft, der Rationalität und der allgemeinen Wohlfahrt benutzten, um ihre Autorität zu etablieren. Man hat diese Transformation mit einer Machtübernahme durch Ingenieure in Verbindung gebracht, die als professionelle Klasse mit einer neuen Management-Ideologie auftraten. Diese Ideologie konzipierte den Arbeitsplatz als »System«, in dem die Individuen ausgelöscht und allgemeine Regeln und Gesetzmäßigkeiten zunächst formalisiert und dann auf den Arbeiter und den Arbeitsprozeß angewendet werden sollten.[32] Im Gegensatz zu den Kapitalisten, die häufig als gierig und egoistisch porträtiert wurden, erschien der Manager in der neuen Managementideologie als rational, verantwortlich und verläßlich sowie als Träger neuer Regeln der Standardisierung und Rationalisierung.[33] Die Ingenieure 24[34][35][36]25wurden, in historisch beispielloser Weise auf die emotionalen Transaktionen als solche und konstatierten, daß sich die Produktivität erhöht, wenn in den Arbeitsbeziehungen auf die Gefühle der Arbeiter eingegangen wird. Mayo, der eine Ausbildung als Jungianischer Psychoanalytiker absolvierte, führte psychoanalytische Konzepte ins Innere der Arbeitswelt ein und verdrängte damit die viktorianische Rede vom »Charakter«. Nur selten ist der therapeutische Zug der Mayoschen Intervention in die Unternehmenswelt bemerkt worden. So hatte zum Beispiel die von Mayo ersonnene Interview-Methode Eigenschaften (den Namen ausgenommen) eines therapeutischen Gesprächs. Genau so präsentierte Mayo jedenfalls den verstimmten Arbeitern bei seine Interviewmethode.