Schon Friedrich Nietzsche hat Marc Aurels Wege zu sich selbst als »Stärkungsmittel« empfohlen. Auch heutigen Lesern kann dieses Buch des großen Stoikers ein wertvoller Begleiter durch den Alltag und Anleitung zur inneren Ruhe und Gelassenheit sein.

Aurel, der letzte Stoiker der Alten Welt und große römische Kaiser, gibt in Wege zu sich selbst ein offenes und ehrliches Selbstbekenntnis über sein Leben und seine stoische Weltanschauung. Frei von didaktischem Eifer, frei von Urteilen über andere Ansichten und Menschen, berührt besonders die große Aufrichtigkeit Marc Aurels sich selbst gegenüber. Was dabei als Pessimismus anklingt, ist tatsächlich Zeugnis von Demut, Ernst und nüchterner Wahrhaftigkeit.

Aurels meditative Gedanken und Aphorismen zeugen von großer Lebensweisheit und Liebe zu den Menschen. Das Glück im Inneren finden und sich nicht von den äußeren Stürmen mitreißen lassen – das ist die wertvolle Erkenntnis dieser unvergänglichen Sammlung von Leitsätzen.

Marc Aurel, geboren 121 n. Chr., war von 161 bis zu seinem Tod 180 römischer Kaiser und als »Philosoph auf dem Kaiserthron« bekannt. Mit seinem Tod endete für das Römische Reich eine Zeit der weitgehenden Stabilität.

Marc Aurel

Wege zu sich selbst

Aus dem Griechischen
von Otto Kiefer

Mit einem Vorwort von
Klaus Sallmann

Insel Verlag

Umschlagfoto: Jason Hawkes / Getty Images

eBook Insel Verlag Berlin 2012

© dieser Ausgabe: Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1992

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Umschlaggestaltung: BüroSüd, München

eISBN 978-3-458-73135-1

www.insel-verlag.de

INHALT

Marc Aurel – Weltflucht
im Ernst des Lebens
von Klaus Sallmann

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Sechstes Buch

Siebentes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Zehntes Buch

Elftes Buch

Zwölftes Buch

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

MARC AUREL –
WELTFLUCHT IM ERNST
DES LEBENS

Am 26. April des Jahres 121 n. Chr. – Tacitus war gerade gestorben und Sueton stand kurz vor der Entlassung aus dem kaiserlichen Dienst Hadrians – wurde in Rom dem Marcus Annius Verus und seiner Frau Domitia Lucilla ein Sohn geboren, der nach seinem Urgroßvater Marcus Annius Catius Severus genannt wurde. Nach dem Tode seines Vaters um 130 wurde er von seinem Urgroßvater väterlicherseits adoptiert und hieß nun Marcus Annius Verus. Wieder acht Jahre später wurde er von seinem Onkel Titus Aurelius Antoninus adoptiert, den seinerseits Kaiser Hadrian im Februar 138, fünf Monate vor seinem eigenen Tod, adoptiert hatte, und nun hieß er Marcus Aelius Aurelius Verus. Der Onkel wurde bald darauf Kaiser unter dem Namen Antoninus Pius und verlobte dem neu angenommenen Sohn seine Tochter Annia Galeria Faustina. Nach dem Ableben des Kaisers im Jahre 161 wird der Adoptivsohn Kaiser und führt den Titel Imperator Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus. Die Engländer nennen ihn (Marc) Antoninus, wir Marc Aurel. In die Geschichte ist er als der »Philosoph auf dem Kaiserthron« eingegangen. Seine spätantike Biographie legt ihm ein Platonwort als ständige Maxime bei: »Die Staaten blühen nur, wenn entweder Philosophen herrschen oder die Herrscher philosophieren.« Marc Aurel hat Wort gehalten. Der schweizerische Gelehrte Willy Theiler bescheinigt diesem Kaiser, daß er der »letzte Stoiker war, der Wesentliches zu schreiben wußte«.

Eine der positivsten, vorbildlichsten Gestalten des römischen Kaiserreichs, aber wider Erwarten ist es in der Geschichte ziemlich ruhig um ihn. Zuviel Ruhe und zuwenig Dynamik, zuviel Geist und zuwenig Charisma, zuviel Bewahrung und zuwenig an Neuerung gehen von ihm aus, als daß er sich wie Caesar oder Augustus oder Trajan als ideologische Propagandafigur hätte nutzen lassen. Einzig der Kaiser Julian, zweihundert Jahre nach ihm, der »Apostat« und Restaurateur des vorchristlichen Römertums, würdigt seinen großen Vorläufer gebührend, freilich auf seine Art. Bei einem großen satirischen Götterbankett, zu dem Romulus an den Saturnalien einlud, werden auch die vergöttlichten Kaiser zugelassen und nach ihren Verdiensten und Siegen gefragt. Marc Aurels Lebensziel war es, Gott gleich zu werden, und da er auch sonst sehr weise zu reden versteht, siegt er bei der geheimen Schlußabstimmung. Bei der Nachwelt hingegen fallen zwei schwere Schatten auf diesen unendlich tüchtigen und hochgebildeten Mann. Zum einen gab es unter seiner Regierung zwei Christenverfolgungen – Justin und Polykarp sind die prominentesten Opfer –, zum andern bestimmte er seinen unfähigen Sohn Commodus zum Nachfolger, und die Erklärung dieser Entartung beim Sohn macht die Sache eher schlimmer: Commodus sei das Ergebnis eines Ehebruchs der Kaiserin mit einem Gladiator gewesen. Der große englische Marc-Aurel-Forscher Anthony Birley hält dies für ein Gerücht. Galeria, inzwischen zur Kaiserin Faustina avanciert, hatte Marc Aurel bis 160, dem Geburtsjahr des Commodus, bereits sieben Kinder geboren, insgesamt wurden es dreizehn, von denen die meisten freilich bald starben. Aber das hartnäckige Gerede von Faustinas Affären mit Schauspielern, Ballettleuten und Soldaten sowie die lange, kriegsbedingte Trennung von Marc Aurel nach 169 verleiteten Birley zu dem halbherzigen Urteil: »Einige wenige Seitensprünge dürften nicht schwer genug gewogen haben, die Erinnerung an mehr als zwanzig glückliche Ehejahre auszulöschen.« Wie dem auch sei, unsterblich ist Marc Aurel bei den Kennern philosophischer Literatur durch seine griechisch abgefaßten zwölf Bücher ›An sich selbst‹ (εɩζ έαυτόν), eine Sammlung von nach und nach niedergeschriebenen Essays, die meisten von aphoristischer Kürze, andere von der angenehmen Länge eines guten Feuilletons, hierzulande meist unter dem Titel ›Selbstbetrachtungen‹ bekannt, reizvoll schon durch den Gedanken, daß sie im Feldlager an der nördlichen Donau von einem Manne notiert wurden, dessen Tageslauf aus hartem Kriegshandwerk bestand. Diese leise Tragik von außen verbindet sich mit der starken Innerlichkeit einer ans Sentimentale streifenden Vergänglichkeitsphilosophie zu einem besonderen Reiz für den, der Sinn für diese Schwingungen hat.

Gehen wir dem Lebensweg dieses Mannes einmal nach, dessen Aufstieg aus einfachen Verhältnissen zur Kaiser- und Philosophenwürde sich in den Wandlungen seines Namens niederschlug. Meistens hört man nur von ›sorgfältiger Erziehung‹ späterer Geistesgrößen. Bei Marc Aurel erfährt man, daß er sich auch musischen Künsten widmet, der Malerei vor allem, und schon früh der Philosophie, und zwar in lateinischer und griechischer Sprache. Seinem sympathischen und offenen Wesen muß er die frühe Aufmerksamkeit des Kaisers verdanken. Der alte Hadrian ruft ihn – damals ja noch Annius Verus – zärtlich »Verissimus«, den »Superwahren«, und Hadrian war es auch, der die Adoption von 138 arrangierte und ihn damals als Prinzen designierte, gemeinsam mit dem Sohn des verstorbenen, eigentlich vorgesehenen Nachfolgers. Dieser junge Mann, den Antoninus Pius ebenfalls adoptieren mußte, wurde Marc Aurels Mitkaiser Lucius Verus. Es sind nun ein paar Briefe beider erhalten, und die Geschichte bestätigt das Unwahrscheinliche: Der Doppelprinzipat funktionierte, das Verhältnis der beiden ›Adoptiv-Brüder‹ untereinander und vorher zum gemeinsamen Adoptivvater Antoninus Pius sei herzlich und harmonisch gewesen. Sie hatten gemeinsame, hochkarätige Lehrer: für die lateinische Rhetorik, die Redekunst und Literaturkunde einschloß, den bekannten Rhetor und Stilisten Cornelius Fronto, für die griechische Rhetorik den jedem Griechenlandtouristen bekannten Kunstmäzen Herodes Attikus, einen Mann, der durch Zufall, einen Schatzfund, unermeßlich reich geworden war und mit diesen Mitteln einer kaiserlich vergrößerten griechischen Baukunst klassizistisch zum Durchbruch verhalf.

Von der sehr persönlichen und intimen Hinneigung zu Fronto reden Gelegenheitsbriefe, z. B. Geburtstagsglückwünsche, aber auch thematische Diskurse. In einem recht locker anmutenden, aber wohldurchdachten Kunstbrief schildert Marc Aurel seinen Tagesablauf etwa im Jahre 147 n. Chr.: ». . . ich habe wegen einer leichten Erkältung erheblich länger geschlafen, aber das scheint nun erledigt zu sein. Ich habe also von der elften Nachtstunde (fünf Uhr) bis zur dritten Tagesstunde (neun Uhr) teils in Catos ›Landwirtschaft‹ gelesen, teils selbst geschrieben, und – mein Gott – gewiß weniger erbärmlich als gestern. Nach der Begrüßung meines Vaters habe ich mit Honigwasser, das bis zur Kehle eingezogen und wieder ausgeworfen wird, meinen ›Rachen geheizt‹ – diesen Ausdruck setze ich für ›ich habe gegurgelt‹ denn so steht’s, glaube ich, bei (dem alten Komödiendichter) Novius und anderswo. Nun, nach der Rachenputzerei ging ich zu meinem Vater hinüber und assistierte bei der Opferzeremonie. Dann schritt man zum Frühstück. Was glaubst du, habe ich gegessen? Nur wenig Brot, während ich zusah, wie die anderen Schalenbohnen, Zwiebeln und wohl geschwängerte Heringe verschlangen. Danach gab ich mir mit der Traubenlese Mühe und geriet in Schweiß und war lustig und ließ, wie der Dichter sagt, ›einige hochhängende Überreste der Weinlese zurück‹. Ab der sechsten Stunde (zwölf Uhr) waren wir wieder zu Hause. Ich habe ein bißchen herumstudiert, aber das war sinnlos. Danach habe ich mit meinem Mütterlein, das auf einem Polster saß, viel geplaudert. So verlief nun mein Gespräch: Ich: ›Was, glaubst du, macht jetzt mein Fronto?‹ Sie: ›Was, glaubst du, macht jetzt seine Frau, meine Cratia?‹ Ich: ›Was macht wohl unser Spätzchen, die kleine Cratia?‹ Während wir uns so unterhalten und necken, wer von uns wen von euch lieber habe, schlug der Gong, was die Meldung bedeutet, daß mein Vater zum Bade rübergegangen sei. Wir speisten also frisch gewaschen in der Kelterstube – nicht in der Kelterstube gewaschen, sondern wir speisten gewaschen –, und wir hörten mit Vergnügen den Winzern zu, wenn sie einander hernahmen. Wieder zurück, mache ich, bevor ich mich auf die Seite drehe und durchschnarche, meine Hausaufgabe und gebe meinem herzallerliebsten Lehrmeister Rechenschaft über den Tageslauf, und wenn ich mich noch mehr nach ihm sehnen könnte, würde ich gern noch ein bißchen mehr vor mich hinleiden . . .« Neben dieses familiär idyllische Tableau mit Blick auf den kaiserlichen Frühstückstisch stellen wir das Konterfei, das Julian von Marc Aurel beim Betreten des göttlichen Speisesaals zeichnet; für Authentizität kann aber nicht garantiert werden. »Danach wurde auch Marc Aurel gerufen, und er kam herbei, äußerst distinguiert, die Augen und das Gesicht von der Arbeit angespannt, und er zeigte eine unsägliche Schönheit einfach dadurch, daß er sich nachlässig und ungeschminkt gab. Er hatte einen von der Oberlippe ausgehenden dichten Bart, sein Gewand war glatt und vernünftig, und infolge der eingeschränkten Nahrungsaufnahme erschien sein Körper ganz klar schimmernd und durchsichtig, wie ich mir das allerklarste und geläutertste Licht vorstelle.« Zieht man die karikierende Anspielung auf das stoische Asketentum des letzten Satzes ab, bleibt dasselbe schlichterhabene Porträt zurück, das uns antike Bildhauer zahlreich überliefert haben und das noch vor kurzem den Rombesucher hoch zu Roß auf dem Kapitol begrüßte.

Der Spannweite dieser beiden Momentaufnahmen entspricht die des Lebensschicksals. Im Jahre 161 war mit der ›goldenen Jugend‹ – Marc Aurel ist immerhin schon vierzig – auch der sonnige Frieden der Ära des Antoninus Pius beendet. Ausgerechnet der Philosoph im Kaiserpurpur mußte das Reich in einem Zweifronten-Krieg gegen die Markomannen und Quaden im Norden, im späteren Böhmen und Mähren, und im Osten gegen Armenier und Parther verteidigen. Es waren keine harmlosen Grenzkriege, sondern nur mühsam zu bändigende Vorboten der großen mitteleuropäischen Völkerbewegung, denen das Imperium, zumindest das Weströmische Reich, dreihundert Jahre später erliegen sollte. Die Chatten waren bis an den Alpenrand vorgestoßen, Markomannen und Quaden in Oberitalien eingefallen und hatten sogar einmal Aquileia belagert, andere Barbarenvölker hatten Dakien und Moesien, das heutige Rumänien und Bulgarien, überrannt und bedrohten Griechenland, die nordafrikanischen Mauren griffen Südspanien an, die Kaledonier wurden in Britannien aufsässig, und als der Kaiser nach einer Serie von Rundumsiegen 166 seinen wohlverdienten Triumph feierte, brach die Pest aus und bald wieder der Krieg, dazu kam der Putsch eines seiner tüchtigsten Generäle. Auf der Reise von Aquileia nach Rom stirbt 169 der Mitkaiser Verus am Schlaganfall, Marc Aurel selbst am 17. März 180 im Feldlager Vindobona (Wien) an der Pest, ohne den Beistand seines Leibarztes Galen, der vorsichtshalber als Tutor des Prinzen Commodus in Rom geblieben war. Eine der letzten Niederschriften des Kaisers lautet: »Wie klein ist doch der Teil des Unendlichen und der weitoffenen Ewigkeit, der einem eben zugemessen ist; sekundenschnell verschwindet er im Zeitlosen. Klein ist doch sein Anteil an der Gesamtheit des Stoffes, wie klein sein Anteil an der All-Seele! Auf wie kleiner Scholle der Gesamtebene kriechst du dahin. Mach dir das alles innerlich klar und denk nichts Großes mehr aus als dies: zu handeln, wie dich deine eigene Natur leitet, und zu leiden, wie es die allgemeine Natur mit sich bringt.«

Was der Stoiker Seneca gepredigt hatte, das Leben als Einübung des Sterbens zu begreifen – »täglich sterben wir« – und dabei immer »für Gott offen zu sein«, Marc Aurel hat es mit seinem Leben und Sterben verwirklicht. Er war kein philosophischer Erneuerer, nicht der Schöpfer einer neuen Ethik, es gibt kein ›System der Philosophie des Marc Aurel‹, aber er konnte die Philosophie in Taten umsetzen, die Philosophie als Lebenshilfe einsetzen, sich mit ihr identifizieren. Er schreibt seine Gedanken eben »an sich selbst«, was nicht ausschließt, daß er auch an andere Leser, vielleicht sogar an die Öffentlichkeit dachte; aber was ihn bewegte, Vorstellungen, die wir weitgehend auf die Mittelstoiker Poseidonius und Epiktet zurückführen können, schrieb er als Instrument der Selbstfindung und Gedankenklärung hin, und er wählte dazu die Sprache, die einst Philosophie schuf und die am vollkommensten Philosophie aufnehmen konnte: die griechische. Den Schritt in die Philosophie tat er bewußt. Ein Brief an Fronto und dessen Antwort-Essay lassen die Schmerzlichkeit dieses Ablösungsprozesses lebendig werden, schmerzlicher sicher bei Fronto, der auf seines Schülers verbindlich-urbanes Bekenntnis, die Lektüre des Philosophen Ariston lasse ihn die Stilübung vernachlässigen, mit einer Offenheit, die den Adressaten (Marc Aurel ist schon Kaiser) ehrt, auf die Wichtigkeit einer neuen Redekunst und die Überflüssigkeit logischer Schlußformeln verweist, dann aber einen klugen Kompromiß vorschlägt: »Mache dich lieber an eine Rede, die der Sinngehalte würdig ist, die du der Philosophie entnimmst, und je moralischer deine Gedanken sind, desto machtvoller wirst du reden.« Aber Marc Aurel hat sich nicht auf diese Wiederbelebung des ciceronischen Redeideals eingelassen; unter dem Einfluß des Stoikers Quintus Julius Rusticus wählt er die Schule, die Denken und Handeln, nicht etwa Reden und Schreiben in den Vordergrund stellt, die Stoa. Sie garantierte nicht nur mit Denken und Handeln die Kaisertugenden par excellence, sondern bot sich als rationale und idealistische Alternative zu den mehr oder weniger mystisch-irrationalen Ideologien an, die im zweiten Jahrhundert in Mode kommen: Die Selbstbefreiung aus einer Fremdwelt zum göttlichen Licht in der Gnosis, die mystische Erlösung durch den Demiurgen Adad bei den Chaldäern, die transzendenten Spielarten des Neupythagoreismus und des beginnenden Neuplatonismus. Dem allen stellt Marc Aurel eine Lehre entgegen, mit der man hier und jetzt leben konnte. Wie konkret das gemeint ist, mag eine Notiz Marc Aurels über die Lehren des Julius Rusticus belegen: »Von Rusticus: Die Vorstellung zu bekommen, daß ich der Korrektur und der Pflege meines Charakters bedürfe. Mich nicht an hochgelehrten Ehrgeiz verlieren, nicht an die Schriftstellerei über Theoreme, nicht an Diskussionen über mahnende Redereien, nicht den staunenerregenden Asketen oder den wohltätigen Spender herauskehren. Von rednerischer, dichterischer und weltmännisch-witziger Tätigkeit Abschied nehmen. Nicht in der Toga durchs Haus schreiten und in dieser Verkleidung etwas machen. Die Privatbriefe schlicht verfassen. Beleidigern und Fehltretern gegenüber ansprechbar und versöhnungsbereit sein, soweit sie ihrerseits es sofort rückgängig machen wollen. Genau lesen und nicht mit dem Überblick im großen und ganzen sich zufrieden geben, nicht gleich denen zustimmen, die drumherum reden. Und auf Nachschriften der epiktetischen Philosophie stoßen, die er mir aus persönlichem Besitz mitgab.« Bezeichnend ist schon die Idee, in diesem ersten Buch ›An sich selbst‹ jedem Weggenossen ein ehrend-dankbares Denkmal zu setzen. Die letzten beiden dieser Memoriale sind die ausführlichsten und prächtigsten: sie gelten dem »Vater Antoninus Pius« und den Göttern.

Was uns in den ›Selbstbetrachtungen‹ anrührt, ist das Fehlen jedes didaktischen Eifers, aller Aporien und Problematiken, an denen gerade die Stoa reich war, der Verzicht eines Urteils über andere Ansichten und andere Menschen. Die leise Stimme der Überlegung macht die Überlegenheit, das genaue Erfassen der persönlichen Erfahrung als eine allgemeine Macht die Autorität. Unglück, latente Gegenwart des Todes, die gemeine Herausforderung des Schicksals – wer fühlte sich nicht angesprochen? Wer kennt nicht die Sehnsucht dieses Aphorismus: »Der Klippe gleich sein, an die unermüdlich die Brandung anstürmt; sie aber steht, und um sie herum kommt der Aufruhr des Wassers zur Ruhe. ›Ich Unglücksmensch! Was mußte mir widerfahren!‹ O nein, vielmehr: ›Ich Glücklicher, der ich bei diesem Ereignis unerschüttert durchhalte, mich weder von gegenwärtigem Unglück zerbrechen lasse noch Künftiges fürchte.‹ . . . Denk im übrigen bei allem, was dich mit Schmerz heimsucht, daran, folgenden Grundsatz zu beherzigen: ›Dies ist durchaus kein Unglück, vielmehr eine Chance, es mit Haltung zu tragen, also ein Glücksfall.‹« Hier klingt etwas von der Selbstverständlichkeit an, mit der das eigene Schicksal mit dem der Welt verknüpft ist; als stoisches Problem ausgedrückt: Wie läßt sich die Willensfreiheit des Menschen mit dem Weltenlauf, dem nach stoischer Lehre festgelegten, determinierten Ablauf der ›HeimarmØne‹ (Fügung) vereinen? Kein Problem für Marc Aurel: Die Struktur der ›Welt an sich‹ interessiert nicht, nur meine Stellung in ihr, nicht die All-Natur, sondern meine Natur, nicht – wie eben ausgesprochen – die Katastrophe als solche, sondern meine Reaktion darauf. »Jemand fügt mir Unrecht zu? Das ist sein Problem. Er hat seine eigene Mentalität, seinen eigenen Antrieb. Ich verfüge jetzt über das, worüber ich jetzt nach dem Plan der All-Natur verfügen soll, und ich handle, wie ich nach dem Willen meiner Individual-Natur handeln soll.« Es gibt auch keinen Konflikt zwischen Ideologie und Beruf, zwischen Glauben und Leben, wie ein Christ sagen würde: »Wenn du gleichzeitig eine Stiefmutter und eine Mutter hättest, würdest du erstere respektieren, zur Mutter aber hättest du immer einen unmittelbaren Zugang. Im selben Sinne gelten dir jetzt Hof und Philosophie. Zur Philosophie gehe oft hin und erhole dich bei ihr, und durch sie erscheint dir dann auch der Hof erträglich, und du bist selbst für den Hof erträglich.«

Aber schließlich: Wie war das mit den Christen? Vertragen sich hartes Durchgreifen und Todesstrafe mit seinem Mitmenschlichkeitsideal? Folgender Essay geht weit über bloße Toleranz hinaus: »Zürnst du etwa einem Menschen, der nach Schweiß riecht? Zürnst du einem Menschen mit üblem Mundgeruch? Was wird dir das ausmachen? Der hat eben so einen Mund, und der solche Achselhöhlen, zwangsläufig muß von solchen Leuten so ein Odeur ausgehen. ›Aber der Mensch hat doch seinen Verstand‹, sagst du, ›und er kann doch einsehen, was er falsch macht.‹ Gut gesagt – für dich selbst. Denn demnach hast du auch selbst deinen Verstand. Erwirke nun mit deinem vernünftigen Denken vernünftiges Denken bei ihm, zeige es ihm, mahne ihn. Wenn er es annimmt, wirst du ihn kurieren, und dein Zorn ist überflüssig.« Unsympathische Zeitgenossen sind also auch eine Chance, und gegen einen antiken Christenmenschen kann der Kaiser schon deswegen nichts gehabt haben, wohl aber gegen die christliche Lehre oder Lebenshaltung. In der Tat, der einzige Ausspruch, in dem die Christen überhaupt vorkommen, reibt sich an deren Halsstarrigkeit aus unreflektiertem Prinzip. Er selbst findet es durchaus in Ordnung, den Tag seines Todes selbst zu bestimmen, aber »aus eigenem Urteil«: »Steige nicht aus in schierer Widersetzlichkeit wie die Christen, sondern nach reiflicher Überlegung, mit Würde und untragisch: Es muß auch einen anderen überzeugen.« Das scheint auf aufsehenerregende Märtyrer anzuspielen, spricht aber nicht für einen Christenhaß des Kaisers. Der Tatbestand war einfach der, daß Trajans Richtlinien nach wie vor galten: Toleranz soweit wie möglich, Behandlung als Hochverräter nur im Fall hartnäckiger Verweigerung des kaiserlichen Staatsopfers. Nur: Das Ausbrechen der Kriege in Serie, die Pest, die allgemeine Angst, alles das hat vermehrte, sicher auch staatliche Bitt- und Sühneopfer ausgelöst und somit um so mehr Fälle christlicher Verweigerungen zur Folge, zumal diese Gemeinden seit Hadrian erheblich angewachsen waren. Marc Aurel bedient sich ihrer ja als selbstverständlichem Vergleich, was für Trajan noch nicht galt. Es gab also Christenprozesse und Hinrichtungen; in Lyon war es im Jahr 177 sogar zu unkontrollierten Ausschreitungen des Pöbels gekommen.

Auffällig ist nun, daß sich die in Bedrängnis geratenen Christen gerade an den Kaiser Marc Aurel um Hilfe wenden. Wir wissen von Verteidigungsschriften der Bischöfe Meliton von Sardes, Apollinarios von Hierapolis und vieler anderer Kirchenmänner, und in Händen haben wir noch das ›Sendschreiben‹ des Athener Bischofs Athenagoras. Meliton schließt seine ›Verteidigung‹ mit der loyalen Versicherung, »daß unsere, die christliche Philosophie, die zunächst bei den Barbaren aufkam, zusammen mit der herrlichen Herrschaft des Kaisers Augustus unter den Völkern Roms zu blühen begann und ein Bürge für das Imperium ist.« Eine Generation nach Marc Aurels Tod stilisiert der sonst so eifernde Kirchenlehrer Tertullian den Kaiser zum Christenbeschützer um und kennt schon die berühmt gewordene Legende, die sogleich in der Fassung des christlichen Historikers Orosius aus dem 5. Jahrhundert zitiert wird. Es gab auch andere Kandidaten für diese Legende, so den Gott Hermes, Zentralfigur der Hermetiker-Sekte. Aber hätten die frühen Christen diese Legende an einem Christenverfolger festgemacht? Zu diesem Kaiser paßt das nicht, allerdings zu seinem kaiserlichen Staat.

Und so erzählt Orosius: »Als sich Volksstämme erhoben, barbarisch von Wildheit, zahllos an Menge, nämlich die Markomannen, Quaden, Vandalen, Sarmaten und Sueben und überhaupt fast ganz Germanien, und als das Heer ins Quadenland vorrückte, von den Feinden eingekesselt wurde und aus Wassermangel die Gefahr des Verdurstens dringlicher vor Augen stand als die Gefährdung durch den Feind, da ergoß sich auf die Anrufung des Namens Christi hin – diese Anrufung hatten spontan einige Soldaten mit großer Glaubensfestigkeit angestimmt und damals zu einem allgemeinen Gebet gemacht – eine solche Menge Regenwasser herab, daß es die Römer überreichlich und ohne daß ein Schaden zurückblieb wiederherstellte. Die Barbaren wurden aber durch den dichten Blitzschlag durcheinandergebracht und, besonders nachdem dann sehr viele von ihnen gefallen waren, in die Flucht gezwungen.«

Übrigens, jedes Element dieser Legende für sich genommen ist so unwahrscheinlich nicht: Kessel bei Hitzeperiode – christliche Soldaten im Heer – Gewitterregen – Blutbad und Sieg. Marc Aurel hätte vielleicht im Sinne des folgenden Aphorismus auf das schicksalhafte Ereignis reagiert: »Annehmen, ohne sich etwas darauf einzubilden; – weggeben, wie man eine Schuld einlöst.«

Klaus Sallmann

ERSTES BUCH

1 · Von meinem Großvater habe ich das Gutartige und Gelassene.

2 · Von meinem Vater die Männlichkeit, die die Bescheidenheit nicht ausschließt, was man auch ihm nachrühmte.

3 · Von meiner Mutter die Frömmigkeit und Wohltätigkeit; von ihr auch das Bestreben, nicht nur bösen Tuns mich zu enthalten, sondern auch schon schlimmer Gedanken; ihr verdanke ich endlich die schlichte Lebensweise, die sich fernhält von herrischem Prunk.

4 · Meinem Urgroßvater danke ich es, daß ich die öffentlichen Schulen nicht besuchen mußte; gab er mir doch zu Hause gute Lehrer und ließ mich erkennen, daß man hierin unermüdlich sich verschwenden müsse.

5 · Mein Erzieher lehrte mich, im Circus weder für die »Grünen« noch für die »Blauen«, beim Gladiatorenkampf weder für die Rundschilde noch für die Langschilde mich zu ereifern; dagegen unterwies er mich, wie man Anstrengungen erträgt, sich mit wenigem begnügt, bei allem selbst Hand anlegt und sich fernhält von Dingen, die einen nichts angehen; auch flößte er mir Widerwillen gegen Angeberei ein.

6 · Von Diognetus lernte ich den Haß gegen alles Eitle und die Ungläubigkeit gegenüber dem Geschwätz der Gaukler, Beschwörer, Wahrsager und dergleichen und die Verachtung der Wachtelpflege und ähnlicher Torheiten; wohl aber lehrte er mich, ein freies Wort zu ertragen und mir die Philosophie zum Lebensinhalt zu machen; so ließ er mich zuerst den Bacchius, dann den Tandasis und Marcianus hören und beschäftigte meinen jugendlichen Geist mit Entwerfen von Dialogen und gab mir die Freude am einfachen, nur mit einem Tierfell bedeckten Nachtlager und allem anderen zur Lebensart griechischer Weisen Gehörigen.

7 · Von Rusticus bekam ich die Überzeugung eingeprägt, ich müsse an der Ausbildung und Besserung meines Charakters arbeiten, alle sophistische Leidenschaft vermeiden, nicht über leere Theorien Schriftstellerei treiben, keine Sittenpredigten halten, noch in augenfälliger Weise den Asketen oder Menschenfreund spielen; er bewahrte mich auch vor jedem rhetorischen und poetischen Wortgepränge, jeder Schönrednerei, vor Kleiderluxus und all derartigem. Er lehrte mich die Schlichtheit im Briefstil, wie er sie selbst anwandte in einem aus Sinuessa an meine Mutter geschriebenen Brief, die Versöhnlichkeit und das Entgegenkommen meinen Widersachern und Beleidigern gegenüber, sobald sie selbst zum Einlenken bereit seien; er unterwies mich in der Kunst, mit Aufmerksamkeit zu lesen und nicht mit oberflächlichem Darüberhinweggleiten zufrieden zu sein, noch Schwätzern so ohne weiteres zuzustimmen. Er machte mich auch mit Epiktets Gedanken bekannt, die er mir aus seiner Bibliothek mitteilte.