Einen Sommer auf dem mecklenburgischen Land erlebt die Schriftstellerin Ellen, zusammen mit Familie und Freunden. Der gesellschaftliche Stillstand ist Ende der siebziger Jahre deutlich zu spüren, aber für die Dauer einiger weniger Monate, die in der Erinnerung einmalig und endlos scheinen, entsteht hier eine lebendige Gemeinschaft. Sommerstück ist die Geschichte eines Jahrhundertsommers und zugleich der Abgesang auf eine politische Utopie.
»Wie konkret, wie genau, wie schön wird hier erzählt... mit welcher Präzision und Einfachheit, durchkreuzt von Witz und Lebendigkeit.« Barbara Bondy, Süddeutsche Zeitung
Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), starb am 1. Dezember 2011 in Berlin. Ihr Werk, das im Suhrkamp Verlag erscheint, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis und dem Deutschen Bücherpreis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (st 4275).
Sommerstück
Suhrkamp
Die Erstausgabe von Sommerstück erschien 1989 im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar.
Der Text, der dem 2001 erschienenen Band 10 der von Sonja Hilzinger herausgegebenen Werke in zwölf Bänden folgt, wurde für diese Ausgabe durchgesehen und korrigiert.
Umschlagfoto: Helga Paris
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73325-7
www.suhrkamp.de
Raubvogel süß ist die Luft
So kreiste ich nie über Menschen und Bäumen
So stürz ich nicht noch einmal durch die Sonne
Und zieh was ich raubte ins Licht
Und flieg davon durch den Sommer!
Sarah Kirsch
Allen Freunden jenes Sommers
Es war dieser merkwürdige Sommer. Später würden die Zeitungen ihn »Jahrhundertsommer« nennen, trotzdem würde er von einigen seiner Nachfolger noch übertroffen werden, infolge gewisser Veränderungen der Strömungsverhältnisse über dem Pazifik, die zu einem »Umkippen« des Ozeans und noch unabsehbaren Verschiebungen in der Großwetterlage über der nördlichen Halbkugel geführt hätten. Davon wußten wir nichts. Wir wußten, wir wollten zusammensein. Es kam vor, daß wir uns fragten, wie wir einmal an diese Jahre denken, was wir uns und anderen über sie erzählen würden. Aber wirklich geglaubt haben wir nicht, daß unsere Zeit begrenzt war. Jetzt, da alles zu Ende ist, läßt sich auch diese Frage beantworten. Jetzt, da Luisa abgereist, Bella uns für immer verlassen hat, Steffi tot ist, die Häuser zerstört sind, herrscht über das Leben wieder die Erinnerung.
Es sollte nicht sein.
Damals, so reden wir heute, haben wir gelebt. Wenn wir uns fragen, warum der Sommer in der Erinnerung einmalig erscheint und endlos, fällt es uns schwer, den nüchternen Ton zu treffen, der allein den seltenen Erscheinungen angemessen ist, denen das Leben uns aussetzt. Meist, wenn der Sommer zwischen uns zur Sprache kommt, tun wir so, als hätten wir ihn in der Hand gehabt. Die Wahrheit ist, er hatte uns in der Hand und verfuhr mit uns nach Belieben. Heute, da die Endlichkeit der Wunder feststeht, der Zauber sich verflüchtigt hat, der uns beieinander und am Leben hielt – ein Satz, eine Formel, ein Glauben, die uns banden, deren Schwinden uns in vereinzelte Wesen verwandelte, denen es freisteht, zu bleiben oder zu gehen: Heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte jenes Sommers in uns lebendig zu erhalten.
Was sehen wir denn, wenn wir die Augen schließen? Ein paar Figuren, hingeworfen auf einem in leuchtenden Farben gehaltenen Grund, darüber ein Himmel, hochgewölbt, tiefblau, wolkenlos, gegen Abend goldgetönt, schließlich nachtschwarz, bestückt mit einer Unzahl von Sternen. Jetzt! schrie alles uns an. Wie ein Hetzruf, der einem ins Blut geht: Jetzt! Jetzt! So schrien die Dinge uns um Erlösung an. Wir sollten so stark wir selbst sein, wie sie sie selbst sein mußten. Es konnte bedrohlich werden, ja. Mitten auf der Wiese der Kirschbaum in seinem unvernünftigen Blütentaumel, das war Ende Mai. Der Kirschbaum, der sich Ellen in die Netzhaut einritzte, kein anderer wird sein Bild je verdrängen. Oder die beiden Eichen, die ihr Astwerk ineinandergeschlungen haben und deren eine, rechte, für sie weibliche, auch dieses Jahr um ein, zwei Wochen später grün wurde als die andere, männliche – ein Vorgang, den Ellen als Sinnbild nahm. Oder die nestersuchenden Schwalben, die sich unter dem überhängenden Rohrdach einrichteten, unter dem Jan, kaum waren sie angekommen, die dicken Spinnwebplacken abfegte. Der unentzifferbare Code, den sie mit ihren pfeilschnellen Flügen gegen den blassen Morgenhimmel, mit ihren sanften Bögen gegen Abend auf brandroten Grund schrieben. Nie waren die Spinnen so schlimm wie dieses Jahr. Nie war der Himmel unentrinnbarer in seinem herrischen Blau. Und die Sterne letzte Nacht? Habt ihr das Gefunkel gesehen? Habt ihr gesehn, wie der Abendstern immer größer wurde, je länger man ihn ansah? War dir auch so, als würde er dich in sich hineinreißen? – Solche Fragen stellte Luisa durchs Telefon.
Nein. Nein Luisa. Die Sterne waren oben, und ich war unten, himmelweit von ihnen entfernt, und falls etwas an mir riß, meine ungestillte Gier nach den Sternen war es nicht.
Luisa und Ellen sind nicht aus dem gleichen Stoff gemacht. Aber merkst du nicht, wie es dich treibt, daß du keinen Augenblick versäumen darfst. Weil bald etwas Schlimmes passiert.
Was meinst du, Luisa.
Merkst du nicht, wie alles zum Zerreißen gespannt ist.
Luisa dachte, das Himmelszelt werde eines Tages reißen und die Weltraumkälte könnte bei uns einströmen. Oder die Erde werde unter der Hitze bersten und sich bis zu ihrem rotglühenden Kern vor unseren Füßen auftun. Oder dieses Leuchten und Brennen und Flimmern werde das für unsere menschlichen Körper erträgliche Maß überschreiten. Merkst du nicht, wie du dich auflöst.
Nein, Luisa. Ellen blieb fest, wahrte ihre Konturen. Das war keine Fähigkeit, sondern ein Unvermögen, das sich als Fähigkeit tarnte. Das eingefleischte Unvermögen zur Selbstaufgabe. Wie lange, fragte sie sich, würde sie es halten können, noch halten wollen?
Und hast du keine Angst vor dem Ton, den das Himmelsgewölbe hervorbringen wird, wenn jemand jetzt daran schlägt? Spürst du nicht, mittags, wie dieser Ton dicht davor ist, auszubrechen und uns die Ohren zu zerreißen.
So Tag um Tag.
Wir wollten zusammensein. Manche Tiere haben diese Witterung, lange ehe man sie zur Schlachtbank führt. Vergleiche, nicht zu rechtfertigen, auch nicht zurückzunehmen. Wir wußten nichts, es gab keine Anzeichen. Unter nichtigen Vorwänden suchten wir jeder die Nähe des anderen. Ein Alleinsein würde kommen, gegen das wir einen Vorrat an Gemeinsamkeit anlegen wollten. Wer kann sich andauernd auf der Tagesseite der Erde halten? Wie soll man es sich versagen, wenigstens im Geiste an jene Orte zurückzukehren, die, jetzt verödet, einst jenen sehr flüchtigen Stoff zu binden wußten, für den Glück ein Verlegenheitsname ist. Soll man der Versuchung nachgeben. Darf man es denn? Noch einmal diesen Grund auslegen. Diesen Himmel aufspannen. Den Bewegungen dieser Zufallsfiguren folgen, so wie ein Kind mit dem Finger die Linien eines Labyrinths nachzeichnet, ohne den Ausgang je zu finden. Uns noch einmal die Plätze bereiten, daß wir sie einnehmen können.
Doch wohin soll das führen. Ist Schönheit beschreibenswert?
Eine vernichtende Frage. Was bleibt zu hoffen für eine Zeit, die vom Hohn auf Schönheit gezeichnet ist? In der eine vertrackte Art von Mut dazu gehört, von einer gewissen Baumgruppe – Ellens beiden Eichen, die genau auf der Grenze zwischen Schependonks und ihrem Grundstück standen – zu behaupten und zu wiederholen, sie sei schön.
Dies nur als Beispiel. Luisa, die niemals fragen würde, ob zu einer Handlung oder Aussage Mut gehört, gebrauchte das Wörtchen »schön« sehr häufig, mit innigem Ausdruck und in inständigem Ton. Wir lächelten, wenn sie auf unseren Stadtgängen den Eckstein einer Treppe, eine Türklinke, eine Fensterumrahmung oder ein altes Innungsschild »schön« nannte, gar nicht zu reden von den alten Frauen, die in den kleinen alten Städten überall auf Bänken unter Bäumen, hinter einer spiegelnden Fensterscheibe, sogar auf Steintreppen vor den windschiefen bröckligen Fachwerkhäusern sitzen, die sich gegenseitig halten. Habt ihr gesehen, wie schön die war? Mit der Überlegenheit ist uns das Lächeln vergangen. Ohne Zwang, ohne Überredung hat Luisa uns sehen gelehrt. Versteht sich, daß wir uns wehrten. Wir begannen gewahr zu werden, welchen Preis der zahlt, der auf Schönheit angewiesen ist: Er ist dem Gräßlichen ausgeliefert, wie Luisa.
Natürlich war uns klar, daß man sich an nichts hängen soll. Natürlich hat ein Begriff wie »Haus« in unseren jüngeren Jahren keine Rolle gespielt. Ganz, ganz andere Wörter, erinnerte Ellen sich, hatten ihren Kopf vollständig besetzt gehalten. Was trieb sie auf Haussuche? Die Selbstrechtfertigungen, die sie sich schuldig waren, verblaßten vor Luisas Überzeugungen. Flucht? Aber wieso denn Flucht. Wo doch hier das wirkliche Leben ist. Ihr werdet sehen.
Luisa litt, daß sie zur falschen Jahreszeit und von der falschen Seite her ins Dorf kamen. Oft, oft sind sie dann noch von der richtigen Seite gekommen, vom Sandberg her, und beim richtigen Wetter, bei Sonne und praller Hitze. Beim erstenmal aber, davon war dann immer wieder die Rede, hatten sie sich zu Ostern, an einem kalten, windigen, regnerischen Tag, und von hinten her, über die Hügel, an das Dorf herangemacht. So habe es keinen Zweck, hatte Luisa angstvoll gesagt. So würde ihnen das Dorf nicht gefallen. Kalte Schauer schlugen ihnen ins Gesicht, sie stemmten sich gegen den Wind. Das ist hier so, sagte Luisa entschuldigend. Seenähe. Hör doch auf zu jammern, sagte Antonis, und sie lachten, daß Luisa sich für die Landschaft, die Jahreszeit und das Wetter verantwortlich fühlte. Sie kannten Luisa noch nicht gut. Wenn ihr im Sommer kommt, sagte sie, am besten mittags, wenn die Sonne senkrecht steht. Auf dem Sandberg müßt ihr anhalten. Dann seht ihr auf einmal euer Dorf daliegen, und ihr versteht gleich, warum es die Leute hier »Kater« nennen. Von rechts her, wo der Schwanz des Katers ist, springen euch die einzelnen weißen Häuser in die Augen, die leuchten nämlich, unglaublich schön ist das. Dann kommt der Knick in der Häuserreihe beim Transformatorenhäuschen, wo Schependonks Pferd grast, aufgedunsen vom Gras und von der Hitze, als müßte es platzen, aber euer Haus seht ihr immer noch nicht. Ganz links liegt es unter den Bäumen versteckt am Kopf des Katers, vielleicht hundert Meter weit müßt ihr in den Wiesenweg reinfahren, dann seht ihr es. Ihr werdet erschrocken sein, wie rot es ist.
Jenny, ihnen immer voraus, ließ ihr langes blondes Haar und die Schöße ihres olivgrünen Parkas hinter sich flattern, wenn sie gegen den Wind die Hügel hinunterlief, und sie kam als erste auf der höchsten Kuppe an, auf welcher der trigonometrische Punkt stand, ein Holzlattengerüst, das durch ein Warnschild des geodätischen Instituts gegen mutwillige Beschädigung gesichert war, das wir sofort »Neandertaler« tauften und das, über die Jahre hin, vor unseren Augen verfiel und am Ende spurlos verschwand. Dort oben stand Jenny, drehte sich sehr langsam um ihre Achse, suchte mit den Augen die Landschaft ab und rief: O Mann! Mann Mann!
Gefällt es dir? rief Luisa, fast ungläubig, zurück. Ja, sagte sie später, daß Jenny die Gegend gefallen würde, daran habe sie nicht gezweifelt; auch wegen Jan hätte sie sich keine großen Sorgen gemacht. Aber daß Ellen hier hätte leben wollen, das sei ihr doch sehr unwahrscheinlich vorgekommen. Mir auch, sagte Ellen dann jedesmal und suchte sich wieder daran zu erinnern, wie ihr beinahe alles recht gewesen wäre, was sie aus der Stadt herausgebracht hätte, wo ihr beinahe nichts mehr recht war.
Rahmers Haus, das sie an jenem Vormittag betraten, war nicht das gleiche Haus, durch das wir jetzt in Gedanken und in unseren Träumen immer wieder gehen. Antonis, versessen auf alte Möbel und alte Häuser, hatte die Vorverhandlungen mit Herrn Rahmer geführt, der jetzt in seiner ganzen Besitzerwürde vor die Tür trat und sie förmlich, beinahe feierlich, einlud, einzutreten. Endlich blüht die Aloe... Ellen suchte die nächste Zeile, während sich zum erstenmal die grüne Haustür vor ihr öffnete, »auftat« wäre wohl das passende Wort, während sie zum erstenmal über die alten, unbeschädigten, in schwarz-weißem Rhombenmuster angeordneten Bodenfliesen im Flur gingen, die Köpfe einzogen unter der niedrigen Stubentür, die damals noch weiß, nicht dunkelbraun gestrichen war. Endlich blüht die Aloe, endlich trägt... Am Ofen die beiden dicken Frauen: Frau Rahmer, ihre Krücken neben sich, und Olga, auf die Luisa uns zaghaft vorbereitet hatte: Erschreckt nicht, ihr werdet sehen, sie ist ein bißchen merkwürdig. – Was heißt merkwürdig, hatte Antonis gesagt, sag doch, wie es ist, schwachsinnig ist sie, was ist dabei! – Ach Antonis!
Olga war es dann gewesen, die die Begrüßung in die Länge gezogen hatte, mit ihren heftigen Rufen: Aufs Sofa! Aufs Sofa!, gegen die Frau Rahmer jedesmal heftig protestieren mußte: Nein! Nein! Auf Olga sollte und sollte man nicht hören. – Sie ist nicht dumm, behauptete Luisa steif und fest, glaubt mir! Achtet mal drauf! – Auf allen Familienfotos, die Herr Rahmer später aus einer uralten Blechkeksschachtel herauskramte, stand oder saß Olga am Rand der Gruppe. Fotos von einzelnen Personen gab es nicht, von Paaren nur am Tag der Hochzeit – auch der Silbernen, gegebenenfalls der Goldenen Hochzeit. Seht ihrs nun, flüsterte Luisa. Es stimmte, daß Olgas Gesicht, dem man, als sie ein kleines Kind war, eigentlich nichts Besonderes ansehen konnte, mit den Jahren immer schwammiger, daß ihr Körper immer unförmiger wurde, bis sie war, wie wir sie nun sahen, mit dümmlichem Gesichtsausdruck, herabhängender Unterlippe, lange Zeit teilnahmslos vor sich hindösend und an unerwarteten Stellen des Gesprächs aufgeregt, sogar vorlaut. Wohin soll Olga gehen, wenn sie hier weg muß, fragte Ellen sich, und die Frage wurde ihr beantwortet, ohne daß sie sie aussprechen mußte: In ein Heim komme sie, sagte Olga vergnügt, die Fürsorgerin habe ihr schon einen Platz besorgt. Das wird schön! rief Olga, und beide Rahmers, Bruder und Schwägerin, konnten nur die Achseln zucken. Ihr Sohn und ihre Tochter, die auf der Fotofolge so eilig heranwuchsen, wollten ihr Elternhaus nicht, nicht geschenkt, die saßen fest in ihren Stadtwohnungen, die mochten nicht mal hier Ferien machen, die fuhren nach Bulgarien oder bauten sich einen Bungalow an einem See. Frau Rahmers einzige Sorge war, ob der Kaufpreis die Hypothek decken würde, die auf dem Haus lag, aber darüber hatte Jan den alten Rahmer schon beruhigt, der nun am liebsten ausführlich aus seiner Bürgermeisterzeit erzählen wollte, von der noch der Schreibtisch zeugte, der unter das zweite niedrige Fenster gerückt war, und das altertümliche Telefon, ein verschnörkelter Holzkasten mit Kurbel, das von hier aus direkt in das nächste Heimatmuseum wandern würde. Herr Rahmer war einstmals ein gewichtiger Mann in der Gemeinde gewesen, dafür gab es Beweise, die er mit genauen Daten verknüpfen wollte, nach denen er in seinem alten Kopf herumsuchen mußte, da aber schnellte Olga ihren Kopf heraus, den sie sonst schläfrig wie eine Schildkröte in ihrem faltigen Hals eingezogen hielt, und stieß, unfehlbar richtig, das gesuchte Datum hervor. Tja – das könne sie, sagte Herr Rahmer, und Frau Rahmer setzte hinzu: Das sei aber auch das einzige, was sie könne. Und rumtreiben. Na, na, sagte Herr Rahmer. Das seien doch alte Geschichten. Antonis schlug vor, sie sollten zur Sache kommen. Endlich blüht die Aloe, endlich trägt der Palmbaum Früchte...
Sie besichtigten das Haus, an dessen Urzustand wir uns nur mühsam erinnern können, nur wenn wir in Gedanken neben Herrn Rahmer noch einmal durch die paar Stuben gehen, die zugige, nach allen Seiten hin offene Küche – kein Wunder, wenn Frau Rahmer hier Rheuma gekriegt hatte! Mit ihren Krücken humpelte sie die ganze Zeit nebenher, sie sei zu nichts mehr imstande, das würden wir nun doch selber sehen –, die leeren Ställe, in denen altes Stroh lag, ein paar Hühner kratzten darin herum, schließlich der Hof, die riesige Wiese mit den Obstbäumen. Na, sagte Jan leise zu Ellen: Das ist es, wie? Ellen nickte. Gleich bei diesem ersten Gang, sagte Jan später wieder und wieder, habe er vor sich gesehen, was daraus zu machen war. Nicht die Arbeit in ihrem ganzen Umfang, die auf sie zukam, das nicht. Aber die Umrisse eben, eine Art Vision, die, während sie sich allmählich verwirklichte, die Erinnerung an das alte Haus in uns verdrängte. Das Haus, wie es dann wurde, wird in uns weiterleben, jeder Winkel, jede Abmessung, jeder Lichteinfall zu jeder Jahreszeit ist für immer in uns aufbewahrt. Nicht nur das Sommerlicht, aber das am stärksten.
Ob sie es sich denn auch gut überlegt hätten, fragte Ellen Frau Rahmer; schließlich wollten sie ihr doch nicht ihr Haus wegnehmen. Da gebe es nichts mehr zu überlegen, hatte Frau Rahmer erwidert. Ihre Hüfte werde auch nicht mehr besser, und wer solle am Ende das Ganze bewirtschaften.
Was denkst du, fragte Jan nun Jenny. – Da fragst du noch? Frag Mutter. – Die ist dafür. – Tatsache? Ich auch. – Luisa umklammerte kurz und heftig Ellens Oberarm. Antonis, der Vermittler, hatte die Entscheidung Herrn Rahmer, dem Besitzer, mitzuteilen. Es freue ihn, sagen zu können, die Sache sei perfekt. Herr Rahmer und Jan tauschten mitten in der Rahmerschen Küche einen langen festen Händedruck. Nächste Woche käme der Schätzer, danach könnten sie den Kaufvertrag abschließen.
Endlich schwindet Furcht und Weh... Ellen hatte eine kurze unwirkliche Erscheinung von einem zukünftigen Leben in diesem Haus, die aber, anders als Visionen sonst, an die Wirklichkeit nicht heranreichte. In die Wohnstube zurückgekehrt, hatten sie einen Klaren zu sich nehmen müssen, Olga hob ihr Glas: Prösterchen! und ließ sich nachschenken. Dann konnte man gehen – nicht ohne daß Jan Herrn Rahmer fragen mußte, ob der alte Herr mit Bart, dessen großformatiges Foto unter Glas über der Tür hing, vielleicht sein Vater sei. Aber nein doch! hatten alle drei Rahmers zugleich ausgerufen. Das sei ihr Bruder Johannes, der zur Zeit der neuapostolischen Gemeinde vorstehe, der sie alle angehörten und von der sie so viel Gutes hätten. Jenny fragte mit ihrer undurchdringlichen Miene, was sie denn Gutes von der neuapostolischen Gemeinde hätten, da bekam sie den Bescheid, nun, viele Brüder seien zum Beispiel Handwerker. Oh, sagte Jan. Ob Herr Rahmer ihm wohl Adressen von seinen Handwerkerbrüdern geben würde. Freilich, sagte Herr Rahmer. Dat geit kloar.
So, sagte Jan, wieder auf der Dorfstraße, jetzt stehn wir unter dem Schutz der neuapostolischen Gemeinde. – Endlich wird der Schmerz zunichte... Es sei so schön, so unglaublich schön, sagte Luisa, mit diesem Jubel in der Stimme, sie würden Nachbarn werden, sie freue sich so. Bleib ruhig, Kleine, sagte Antonis, ließ sich nichts anmerken und fing an, mit Jan über Rohr, Holz und Maurer zu sprechen, und wenn man die vielen Stunden, die sie seitdem über Rohr, Holz, alte Möbel, Maurer, Zimmerleute und Ofensetzer gesprochen haben, hätte zählen wollen, dann hätte man an jenem Ostersonntag damit anfangen müssen, aber daran hat keiner gedacht. Wie sollten wir auch. Der Wind, dieser ewige Wind von der Küste her, blies die tiefhängenden Wolken landeinwärts, es regnete, dann schien plötzlich die Sonne aus einem Himmelsloch, Luisa rief: Seht ihr das!, sie und Jenny faßten sich an und hüpften wie Kinder die Dorfstraße entlang, Antonis sagte: Da haben die Leute was zu gucken!, aber wieviel Leute konnten das schon sein in den fünf Häusern, die Kopf und Hals des »Katers« bildeten. Elf Leute, genau gerechnet, Frau Käthlin und Frau Holter lebten noch, seit ihrem Tod hat die Einwohnerzahl sich vergrößert.
Wir alle, jeder von uns, haben uns immer an jede Einzelheit dieses Tages erinnert. Wie wir über die Hügel zurückliefen, als flögen wir, plötzlich in übermütiger Stimmung. Wie wir wieder zu dem Haus von Antonis und Luisa kamen, welches der Inbegriff aller Bauernhäuser war und bleiben würde. Wie des Antonis’ kleine flinke Großmutter ihnen einen Salat zubereitet hatte und sie raten ließ, was das sei, bis herauskam, es war der erste zarte Löwenzahn, mit Zitrone und Knoblauch gewürzt, auf griechische Art, und wie der Großmutter Äuglein funkelten, daß diesen Deutschen ihr Salat schmeckte, daß sie sogar Knoblauch aßen, so daß sie glaubte, sie müßten sie verstehen, wenn sie mit ihnen griechisch sprach. Wir verstanden sie auch, bis zu einem gewissen Grad, wenn wir den Bewegungen ihrer feinen, verarbeiteten Hände folgten und in ihre wasserhellen, fältchenumgebenen Augen sahen. Wir sagten: Ja, Großmutter, ja. Ellen aß ihr erstes Stück einer griechischen Pita, mit Quark gefüllt, die Luisa backen konnte wie niemand sonst und die von dieser Stunde an zu ihren Lieblingsspeisen gehören würde. Immer würde Luisa ihr die Rand- und Eckstücke zuschieben, nie vergaß sie, was jemand liebte oder sich wünschte. Dies war der Anfang von etwas, wir fühlten es stark, wir wußten nicht, wovon, und wir merkten, daß wir auf neue Anfänge nicht mehr gehofft hatten. Endlich wird der Schmerz zunichte... Jenny und Luisa würden ihre Köpfe zusammenstecken, einen blonden glatthaarigen und einen dunklen krausen, sie würden herumalbern wie Kinder, Antonis würde Wein nachschenken und sie zu essen nötigen, auf griechische Art, Ellen und Jan hätten zum erstenmal ihre Plätze auf der Bank unter der Küchenklappe, in allem, was wir taten, steckte die Fähigkeit zu dutzendfacher Wiederholung, so einfach war es. Endlich sieht man Freudental... Kerzen brannten. Die Katze war schon wieder tragend. Die blühenden Geranienstöcke an den Fenstern waren auf dem besten Weg, Geranienbäume zu werden. Ellen sagte, ich sag euch mal die Strophe eines Gedichts, das Ganze kenn ich nicht, hört mal zu: Endlich blüht die Aloe / Endlich trägt der Palmbaum Früchte / Endlich schwindet Furcht und Weh / Endlich wird der Schmerz zunichte / Endlich sieht man Freudental / Endlich, endlich kommt einmal.
Ein kleines Schweigen, Luisa lief aus dem Zimmer, Antonis hob sein Glas und sagte zum ersten von hundert Malen: Willkommen in Winsdorf Ausbau. Wieder und wieder, über die Jahre hin. Die Beleuchtung wird wechseln, wir werden älter werden, die Mühle der Wiederholungen war in Gang gesetzt. Ellen wußte auf einmal den Dichter des Gedichts, die erste Zeile fiel ihr ein: Endlich bleibt nicht ewig aus. Dann kam sie auf den Titel: Trost-Aria.
Alles Mögliche geschah, das schöne Unbedeutende, das man leicht vergißt. Daß im nächsten Frühjahr – auf dem Land braucht alles Zeit – Jan und Jenny sich für ein paar Tage bei den Rahmers einquartierten, kurz ehe die auszogen. Daß sie in Rahmers Ehebetten schliefen und nachts durch die Holzwand aus der Nebenkammer Olgas »sämtliche« Geräusche hörten, so drückte Jenny sich aus. Und an jedem Morgen, den der liebe Gott werden ließ, starr und steif und stumm aus ihren Betten Olga mit den Blicken folgten, wie die, einen vollen Nachttopf am ausgestreckten Arm vor sich her tragend, laut murmelnd und schimpfend ihr Zimmer durchquerte. Daß sie schon zum Frühstück nach Landessitte fettes Bauchfleisch vorgesetzt bekamen, mittags dann den mecklenburgischen Kartoffel-Apfelbrei mit ausgelassenem Speck. Daß sie mit Fritz Schependonk, dem Nachbarn, Bekanntschaft schlossen, der sie beide für ein heimliches Paar hielt und Jan unter Männern anvertraute, ihm stünden die Sinne auch noch mal nach einer blonden Achtzehnjährigen; ob er, Jan, glaube, daß er sich Hoffnung machen könne. Vaters Gesicht! sagte Jenny. Zu blöd, daß er nicht schwindeln kann. Daß sie schließlich, nach Hause zurückgekehrt, alle ihre Kleider sofort in die Badewanne warfen, um das Dutzend Flöhe zu ertränken, das in ihnen steckte.
Legenden aus der Pionierzeit, später wieder und wieder aufgetischt an den Grillfeuern, wie bei den alten Germanen, sagte Jenny. Jan sagte, als sie, im Sommer, von der richtigen Seite her auf ihr Dorf zufuhren, in der Natur gebe es keine richtigen oder falschen Seiten. Auch keine genauen Wiederholungen, daher auch keine Langeweile. Nie würden sie des Anblicks vom Sandberg aus auf das Dorf müde werden, nie der sanft geschwungenen, leicht erhöhten Horizontlinie, die sie von ihrer Haustür aus vor Augen hatten, nie des Panoramas der flachwelligen Landschaft vom ansteigenden Ostufer des Teichs. Oder der Himmel, sagte Ellen, die sich bei dem Argwohn ertappt hatte, es werde doch einmal etwas wie Langeweile für sie geben, etwas wie Überdruß, Reizlosigkeit, und die ihren Landaufenthalt insgeheim auch als ein Mittel dagegen ansah, wie alles Neue ein Mittel gegen den Überdruß am Alten ist. Dann war sie überrascht, daß sie anfangs immer gegen Abend von einer grundlosen Melancholie überfallen wurde, bis sie begriff, daß die vollkommene Stille, die hier herrschte, die sonst unwillkürlich andauernd angespannten Abwehrkräfte ihres Nervensystems abschaltete.
Mit dem Haus war es dasselbe. Als gebe es ein Gesetz, daß man es soundsooft – aber wie oft, das weiß natürlich niemand – beim Näherkommen daliegen sehen müsse, ehe man es für immer erkannt und behalten hat. Zuerst taucht das graubraune, silbrig schimmernde Rohrdach auf, wie ein gut sitzendes, sorgsam gestutztes Igelfell, das sich glattlegt unter den Herbstregen und sich aufsträubt in der Sommerhitze. Dann, durch die alten, üppig tragenden Apfelbäume des Vorgartens durchscheinend, in das rote Ziegelmauerwerk eingepaßt, die weiße Fensterreihe, vier links, eines rechts von der blaugrünen Tür, die Jan später schwarzgrün streichen würde. Zuletzt, direkt unterm Dach, die dunklen Balken, die jedes Jahr mit Altöl getränkt werden mußten. Und wir, aus weit auseinanderliegenden Landstrichen zusammengekommen, sehr verschiedene Muster in uns tragend dafür, wie ein Haus sein soll – wie können wir alle beim Anblick eines mecklenburgischen Bauernhauses das gleiche Gefühl haben, lange nicht mehr gekannt: das Gefühl, nach Hause zu kommen?
Das feine Knistern, wenn beim Öffnen der Tür die Spinnweben zerreißen. Die modrige, abgestandene Luft des alten Fachwerkhauses, die einem im winterkalten Flur entgegenschlägt. Das Aufstoßen der Fenster, die sich nach außen öffnen und mit Haken befestigt werden. Das Lüften der Matratzen und Kissen, das Aufstellen der Bücher auf dem alten schadhaften Sekretär im »kleinen Zimmer«. Das Auswischen der Stuben, immer noch gegen diesen inneren Widerstand. War es nicht falsch, sogar lächerlich, ihre Zeit derartig zu verschwenden. Sollte man nicht, anstatt den Ofen abzuwischen, die Sätze notieren, die einem im Kopf herumgingen. Andererseits: Wieso sollten die Sätze wichtiger sein als ein sauberer Ofen. Und hatte sie nicht, dachte Ellen, in den letzten ein, zwei Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Zeit falsch angewendet. Der Widerstand verging sofort, wenn sie vor die Tür trat. Die Sonne stand senkrecht über dem Dach. Sie wartete, ob sich das Gefühl von Unwirklichkeit wieder einstellen werde. Sie brauchte nur den rotflammenden Quittenstrauch jenseits der Straße anzusehen, eine wilde Unmöglichkeit vor dem nüchternen Getreidefeld. Oder hochzublicken in die von Blüten über und über besetzte Krone eines der Apfelbäume, die ein Bauer vor fünfzig Jahren gepflanzt hatte, damit seine Kinder und Enkel sie abernten sollten, und deren Äpfel nun wir im Herbst zur Mosterei bringen würden. Pfeile von Unwirklichkeit in den wirklichsten Vorgängen, die sie trafen und ihr unmerkliche Wunden ritzten, aus denen der Stoff ihr entströmte, den man anscheinend braucht, um die eigene Anwesenheit auf irgendeinem Punkt dieser Erde ganz ernst, bitterernst zu nehmen. O ja, sie wußte schon, was sie von den Bauernfamilien unterschied, die so lange hier gelebt hatten und deren Fotos Jan in der Stube aufhängte, über ihren eigenen Familienfotos. Als sei er gewillt, sich selbst in eine weit zurückreichende Geschlechterreihe einzuordnen, nur weil er jetzt dieses Haus bewohnte.
Ellen brachte jenen Laut hervor, der Jan so mißfiel, wenn er ihn zu hören kriegte, und den sie vergebens in eine Art Lachen umzuwandeln suchte. Sie wußte, es war nicht ungefährlich, sich diesem Unwirklichkeitsgefühl zu überlassen, aber sie brauchte es mehr als alles andere. Es ging ihr bis auf die Knochen, drang durch Mark und Bein. Es war sinnlos, daß Jan sie danach befragte, aber er mußte es immer wieder tun, und sie mußte ihm immer wieder ausweichen. So waren die Regeln, vor vielen Jahren eingesetzt, von wem, weiß man nicht. Ellen zitierte Jan einen Satz aus einem Buch, das sie eben zufällig aufgeschlagen hatte: Sicher, früher oder später werden Mann und Frau wie Verwandte, aber das kommt ganz von selbst, wenn die Leidenschaft sich gelegt hat. Jan schwieg. Irgendwann an diesem Tag würde er Ellen ins Haar fassen, ihren Kopf nach hinten ziehen. So? Hat die Leidenschaft sich gelegt?
Jetzt sagte er, sie sollten zum Teich runtergehen, den sie, auf einen Vorschlag von Irene, im Lauf des Sommers »Weiher« benennen würden; nachsehen, ob die Schwäne und die Taucherpärchen wieder da wären. Die Schwäne hatten fünf Junge, die sie sorgfältig vor den Blicken der Menschen verbargen. In stolzem Zug, je eines der Eltern an Anfang und Ende, die fünf Jungen in genau gleichem Abstand hintereinander aufgereiht, verschwand die Familie eilig hinter der wildüberwucherten Insel in der Teichmitte, auf der außer dem Schwanenpaar unzählige andere Wasservögel brüteten. Jan würde sich ein Fernglas kaufen, um sich einen Überblick über die Vogelarten zu verschaffen. Lange beobachtete er einen Haubentaucher, fasziniert durch dessen Fähigkeit, regelmäßig viel später und ganz woanders wieder aufzutauchen, als er es erwartet hätte. Achtzig Prozent der Landschaft sind Himmel, sagte Ellen. Das konnte ihr recht sein. Zwar zog Jan seit seiner Kindheit die Berge vor, aber nun schien es, daß er ohne sie auskam.
Am Abend, als Ellen in der großen Stille, die früher wohl eines der Elemente der Erde gewesen ist und sich jetzt aufs Land zurückgezogen hat, in ihrem dunkelbraunen Holzbett lag, konnte sie spüren, wie die angespannte, durch Zermürbung entstehende Stadtmüdigkeit, die dem Schlaf nicht günstig ist, in die schwere, gesunde Landmüdigkeit überging. Vor dem Einschlafen dachte sie noch, wie lange sie jenen Stich in ihrem Innern nicht mehr gespürt hatte, mit dem ihr Körper ihr anzeigte, wenn sie bis auf den Grund erschüttert war. Hatte die Leidenschaft sich gelegt? Sie wußte es nicht.
Gegen Morgen hatte sie einen ausgesucht gräßlichen Traum. Wieder einmal fand ein Kongreß statt, in einem jener geräumigen, unübersichtlichen Traumgebäude mit einer Unzahl von Räumen und Gängen. Eine gemischte Menschenmenge, auch Ausländer darunter, Ellen sah weiße fremde Gewänder, Turbane. Im Mittelsaal, dem eigentlichen Tagungsort, den sie beklommen wiedererkannte, Redner, Geschäftigkeit, Ovationen. Es blieb ihr unbewußt, aus welchem Anlaß sie begann, sich zurückzuziehen, durch all die immer öder werdenden Säle, Kabinette, Zimmerfluchten und Gänge zum Rand des Gebäudes hin in unwirtliche, menschenleere Räumlichkeiten. Ein Rückzug auf sich selbst, verstand sie undeutlich. So geriet sie sehenden Auges – zuletzt ging es sogar eine Art Rutschbahn hinunter – endlich in eine ausweglose Lage: In einer engen Zementkammer stand sie an die Wand gedrückt, dicht vor ihr lief eine Art Schaufelrad, das diese Kammer wohl mit der Oberwelt verband, auf das sie aber nicht gelangen konnte, ohne zerquetscht zu werden. Durch winzige, grüne Papierschnipsel, die sie von einem Buntpapierblatt abriß und in die Schaufeln klemmte, signalisierte sie ihre Lage nach oben. Grün ist die Hoffnung, dachte sie im Traum. Nach einer langen Zeit hielt man das Schaufelrad an. Jans Stimme, künstlich ruhig gehalten, worüber sie lächeln mußte, gab ihr die Anweisung, sich ganz dünn zu machen, dünn wie ein Blatt Papier, um sich durch einen winzigen Spalt nach oben durchzuzwängen. Fast unsichtbar werden: Das war der Preis für Überleben. Sie hatte keine Wahl.
Früh wunderte sich Jan über ihren Bärenschlaf. Gegen fünf, sagte er, hätten die gelben Landwirtschaftsflugzeuge das Haus in höchstens fünfzig Meter Höhe überflogen, mehrmals, um auf den umliegenden riesigen Feldern der KAP Dünger zu streuen. Hoffentlich haben wir nichts davon abgekriegt, sagte er. Oder die Bienen auf dem Lupinenfeld, wie letztes Jahr. Der Lärm von Ellens Schaufelrad war erklärt. Jan, der ihre Abendgedanken und ihren Morgentraum nicht kannte, war verstimmt, als sie, für sich selbst überraschend, sagte: Ich glaube, wir müßten anders leben. Ganz anders.
Jetzt müssen wir von der Hitze reden. Die hatte erst angefangen, wir wußten noch nicht, daß es Die Hitze war. Ein schöner Sommer wird das, sagten die Leute. Ein warmer Sommer. Ein Hitzesommer. Die Zeitungen fingen an, ihn vorsichtig zu tadeln. Er hielt sich nicht an die Produktionspläne der Landwirtschaft. Wochen und Wochen fiel kein Tropfen Regen, und das in dieser meernahen Gegend. Die Natur schien gegen sich selbst zu arbeiten. Jeden Morgen stieß Ellen die Hintertür auf, trat auf den Grashof: Da war er, der sich gleich bleibende Sommer. Da stand die Sonne hinter dem lichten Kirschgehölz und sang. Sang wie hundert Stare, die als kreischende dunkle Wolke aufstoben, wenn Ellen in die Hände klatschte. Nun berührte der untere Rand der Sonne den Kirschbaum, die letzte Gelegenheit für heute, sie als Scheibe, Kugel, Gestirn zu sehen. Minuten später schon werden wir die Augen gegen sie abschirmen müssen. Neu war es Ellen, ein Wort wie »lustvoll« in den Tag hinein zu denken. Sich darin zu üben, zuerst die Augen, dann die anderen Sinne zu öffnen. Vor dem dichten Vorhang der Stille die Morgengeräusche des Dorfes einzeln zu unterscheiden. Die brandige Trockenheit, die von leichter Bitterkeit durchsetzte Frische der Luft zu riechen. Die Wärme auf der Haut zu spüren. Auf die sanfte Gegenströmung von innen her zu warten, die so lange unterdrückt gewesen war und die keinem Zwang gehorchte.
Bis von jenseits der Dorfstraße, aus ihrem mit flammendem Mohn über und über besetzten Vorgarten, Tante Wilma herüberwinkte. Ellen rief einen Gruß, den Tante Wilma beantwortete, obwohl sie ihn nicht hatte hören können. Tante Wilma, weit über siebzig, mit ihrer schlanken, immer noch straffen Figur, dem ordentlich aufgesteckten Haar, das von einem feinen Netz gehalten wird, dem schönen faltenreichen ovalen Gesicht, den wasserhellen Augen. Tante Wilma, die voll Ehrfurcht von der Hitze sprach. Passen Sie Achtung, hatte sie vor zwei Wochen gesagt, jetzt geht sie bei und verschlingt unseren Tümpel, und dann konnten sie zusehen, wie der Rand des trüben Wassers zwischen Schependonks und ihrem Gehöft sich Tag für Tag um mehrere Handbreit zurückzog, bis Schependonks Jungenten den Teich aufgeben mußten, bis auch der Storch, der sonst jeden Mittag im Tiefflug vom Hauptdorf herüberkam und ihn in seinem lächerlich gravitätischen Stechschritt nach Fröschen absuchte, von seinen Bemühungen abließ. Bis der Tümpel sich in ein Schlammloch verkroch, sich binnen weniger Tage mit einem hellgrünen Grasflaum überzog und nun trocken stand. So hatte