Uwe Johnson

Jahrestage
3

Aus dem Leben von
Gesine Cresspahl

Suhrkamp Verlag

Suhrkamp

Impressum

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage

der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4453

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1973

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

auf Grundlage der von Willy Fleckhaus gestalteten Originalausgabe

unter Verwendung eines Fotos von Michael Bengel

www.suhrkamp.de

ISBN 978-3-518-73072-0

Jahrestage

April 1968 - Juni 1968

 

20. April, 1968 Sonnabend

Das Wasser ist schwarz.

Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf. Die Hände der Schwimmenden rühren voran wie gegen eine schwere Farblösung, kommen erstaunlich rein an die Luft. Überall sind Ufer nahe, in der Dämmerung glaubte ein Betrachter zwei Enten in der Seemitte unterwegs, eine dunkel, eine hell befiedert. Aber es ist zu früh für Menschen. Die Stille macht den See düster. Die Fische, die Vögel zu Wasser und zu Lande mögen nicht wohnen in der ausgebaggerten Senke, in den kümmernden Bäumen, der chemisch behandelten Landschaft, hergerichtet für zahlende Menschen. Laß dich zwei Fuß sinken unter die stillstehende Fläche, und du hast das Licht verloren an grünliche Schwärze.

– Dein wievielter See ist dies, Gesine? sagt das Kind, sagt Marie, sagt der fremde Fisch, der aus langer Tauchfahrt hervorstößt. – How many lakes did you make in your life now?

Zwei Stimmen über dem Wasser, in der verhangenen Stille, eine ein elfjähriger Sopran, schartig an den Rändern, die andere ein Alt von fünfunddreißig Jahren, kugelig, nicht sehr geräumig. Die Ostsee läßt das Kind nicht gelten.

In der Ostsee zum erstenmal schwamm das Kind das ich war, vor dem Fischland und in der Lübecker Bucht, an den Seegrenzen Mecklenburgs, ehemals Provinz des Deutschen Reiches, jetzt Küstenbereich des sozialistischen Staates deutscher Nation. Schwamm mit Kindern, die tot sind, mit Soldaten der geschlagenen Marine, die das große mächtige Ostseemeer die überschwemmte Wiese unter den Ozeanen nannten. Aber in den Geographiebüchern dieses Landes heißt sie Baltic Sea, und Marie läßt sie nicht gelten. Es ist ein amerikanisches Kind.

Wieviel Seen die Mutter beschwommen hat, mitgenommen, gemacht; welchen Rekord.

Ein europäisches Kind nennen die Hiesigen sie, ausgehungert nach Zurückhaltung, Aufmerksamkeit, höflichem Betragen bei Kindern. Höflich hat Marie vor dem frühdunstigen Seerand gestanden, geduldig ist sie ihrer Mutter gefolgt in das knochenkalte Wasser, der Partnerin auf Gedeih und Verdruß seit sie lebt, noch nicht verzichtbar. Und wie sie es gelernt hat von den Nonnen ihrer Schule, benimmt sie sich schicklich und unterhält ein Gespräch beim Schwimmen. So gern sie die Gelegenheit unter Wasser verbrächte, sie hält den Kopf oben, versucht Anteilnahme zu zeigen in ihrem bestimmten, glattgewischten Gesicht.

Wieviel Seen in fünfunddreißig Jahren?

Geschwommen im gneezer Stadtsee, Sportunterricht der Oberschule Fritz Reuter nach dem Krieg, und das Kind Gesine Cresspahl sollte zu Wettkämpfen trainiert werden, Badeanstalt Stadtseite Gneez. Gneezer Stadtsee, wiederum in Gemeinschaft mit anderen, Südseite, wilde Badestelle der Schule, Klasse 10 A II, 11 A I, 12 A I. Geschwommen zu Hause im Militärbecken, vergessen von Deutscher Luftwaffe und Roter Armee, zusammen mit Lise Wollenberg, Inge Heitmann, dem Jungen aus der Apotheke der Stadt Jerichow. Nie: im Dassower See, nur zwölf Kilometer von meines Vaters Hintertür und unerreichbar, das Ufer Demarkationslinie, Staatsgrenze, das Wasser: Britische Zone, Bundesrepublik Deutschland, Westen. Mit Pius Pagenkopf: im Cramoner See, eine Fahrradstunde von der Schulstadt, zwischen Drieberg und Cramon, 1951. Allein, auf dem Wege von Jerichow, Nordwesten, nach Wendisch Burg, Südosten Mecklenburgs: im Schweriner See bis zur Insel Lieps, im Goldberger See, im Plauer See, in der Müritz. Mit Klaus Niebuhr, Günter Niebuhr, Ingrid Babendererde, Eva Mau in allen sieben Seen um Wendisch Burg, noch 1952. In Leipzig, in Halle: Rettschwimmertraining in überdachten Hallen, noch bis Mai 1953. Zum letzten Mal im Stadtsee von Gneez: Ende Mai 1953, und Jakob nahm mir den zerstochenen Fuß hoch wie einem jungen Pferd, und die Bewegung lief mir durch den Leib nach oben ohne einen Schmerz.

Mit Jakob nie. Jakob arbeitete noch in Cresspahls Haus, auf den Dörfern, wenn wir abends aus Jerichow liefen für drei Runden in der Mili, Militärbadeanstalt, hartnäckig Mili genannt (auch der Fliegerhorst Mariengabe hieß nun ein für alle Male Jerichow Nord). Jakob ging weg aus der Stadt mit Arbeit bei der Eisenbahn, wurde einmal an der Pfaffenteich-Fähre, in Schwerin, fotografiert (in Gesellschaft von Sabine Beedejahn, ev., 24 Jahre alt, verh.). Jakob ging mit Freunden fischen an Seen, brachte Eimer voll lebender Krebse mit aus mecklenburgischen Seen, und ich kannte die Seen nicht, und er ging ohne mich mit Fischern, mit Mädchen, mit Kollegen, und ich kannte fast Jakob nicht.

Nach dem Verlassen der ostdeutschen Behörden: mit Anita fast jeden von zehn Tagen im Wannsee von Westberlin, wo die Grenze am meisten entfernt war. In Westdeutschland: Städtische Badeanstalten Frankfurt, Düsseldorf, Krefeld, Düren. Genf. In den Vereinigten Staaten von Amerika: Winnipesaukee Lake, Lake Chippewa, Lake Travis, Lake Hopatcong. Noch einmal mit Anita in den französischen Vogesen.

– Achtzehn gültig, vier ungültig, einer zweifelhaft, und ausgezeichnete Komplimente für Lake Travis in Texas! sagt Marie.

Aber der Bootssteg ist jetzt nur noch eine Viertelmeile von uns entfernt, und gleich legt sie den Kopf seitlich ins Wasser, so unfehlbar glaubt sie die Aufforderung zum Wettkampf verstanden, und nach langem Tauchstoß zieht sie kraulend davon, scharf und genau zupackend, fast lautlos. Sie will zurück zu dem geliehenen Haus, dem kostbaren Stück aus nichts als Glas und edelhölzernen Dachschrägen, wo es ein Telefon gibt und Nachrichten aus Fernsehstationen und womöglich aus dem Dorfladen die New York Times und schon morgen nachmittag die Rückkehr nach Hause, nach Manhattan in New York, Riverside Drive und Broadway, corner of 96th.

Patton Lake heißt dieser See, benannt zum rühmenden Gedenken an einen General dieses Landes. Bis 1944 übten die schweren Panzer hier für den letzten Ansturm auf Deutschland, bis die schweren alten Stämme Stümpfe waren und der Grund so ausgekesselt von Raupenketten, daß die Landschaft ausgewechselt werden mußte gegen einen künstlichen See, heimatlose Bäume und hohe Rendite aus einer Ferienkolonie. Von hier kamen die Sherman Tanks, die vermaßen auch Marktplätze in Mecklenburg.

– And you came swimming all the way from Mecklenburg!

Marie steht längst auf der Spitze des Stegs, grüßt mit der Hand auf dem Herzen jene Fahne, die in Stadien zu Ehren des Siegers aufzieht, und sie grüßt die Verliererin, die unter ihr angeschwommen kommt. Sie spricht es mit Vergnügen, weil sie Hohn vortäuschen darf, und von Herzen, weil dies endlich einmal eine Gelegenheit ist nicht für das unbequeme Deutsch, sondern für die Sprache ihres Landes.

Ferien auf dem Lande. Irgendwo im Norden New Yorks, aber nicht mehr als drei Autostunden von der Stadt entfernt, und an der langen Leine eines Telefons, mit dem die Bank die Angestellte Cresspahl beliebig zurückholen kann zum Arbeiten aus zwei Tagen Pause.

 

– Und so schwamm ich hierher den ganzen weiten Weg von Mecklenburg.

– And so you made the nineteenth lake in your life! sagt Marie.

 

Viel schweres schwarzes Pattonwasser für den Nachmittag.

21. April, 1968 Sonntag

Ferien auf dem Lande; dies Mal sind sie Marie beschwerlich gewesen.

– Du brauchst deine New York Times: sagte sie, als wir eben aus dem Wasser waren, und hatte sich das Recht verschafft auf eine Meile Wegs zum Landkaufhaus, auf eine Zeit Alleinseins im Wald. Mit dem Sommerhaus war uns nicht nur eine Wohnausstellung finnischen Stils überlassen, auch ein maschinisierter Haushalt, reichlich aufgefüllt; mittags wanderte Marie abermals davon, um zwei Zitronen, die für die Mahlzeit erläßlich gewesen wären. Es war noch lange bis zur Rückfahrt, und schon richtete sie den Wagen her dafür, und hatte doch noch außer Haus zu tun wegen einer Karte der umgebenden Landschaft, des Gastgeschenks für die Besitzer. Sie kündigte ihre Gänge an wie Vorschläge, sie nahm einen Teil des Wirtschaftens auf sich wie aus freiem Willen, die Abschiede gelangen ihr jeweils; sie wünschte für sich zu sein, von Mal zu Mal.

Wir sind angewiesen aufeinander seit fast elf Jahren, und sie hat ihre Gegenwehr unter Mühen erfunden. 1957, für die Gesine Cresspahl von vierundzwanzig Jahren, war das Kind Marie ein Teil ihrer selbst; es mußte Marie noch lange recht sein. Sie hat Jakobs Mutter noch gesehen, aber Frau Abs wollte allein leben, und nicht in unserer Nähe sterben; wenn da Erinnerung ist an eine Großmutter, Marie erwähnt sie nicht. Marie hatte zu tun mit den Aufseherinnen der Kindertagesstätte in Düsseldorf; es war aber die Verantwortung jener Einen zur Erziehung Berechtigten, sie diesen forschen Menschen auszuliefern, oder das Kind zu retten vor ihnen. Cresspahl kam noch einmal an den Rhein, »in den Westen«, er fuhr das Kind im Hofgarten spazieren, aber er trug seinen schwarzen Mantel von 1932, er rutschte beharrlich ins Plattdeutsche mit Marie, und sie mag sich gefürchtet haben vor solchem Großvater. Und Cresspahl fuhr zurück nach Jerichow. Ihre ersten Jahre verbrachte Marie unter Fremden mit Warten darauf, daß endlich jene einzig bekannte Person zurückkam aus ihren unbegreiflichen Entfernungen in Arbeit. Sie versuchte morgens zu fragen, ob sie teilen mußte mit jener unbesieglichen Arbeit oder der Tag gemeinsam blieb bis zum letzten Einschlafen, und sie konnte sich nicht gut verständlich machen. Sie bekam ihr Frühstück mit einer zweiten Kerze, und blieb beim Schweigen. Gesine hatte sich Pläne gemacht mit ihrem Kind, Vorhaben so unberaten wie hartnäckig. Einmal, es sollte keine Umwege zum Hochdeutschen geben. Es fühlte sich heikel genug an in der Kehle, und zwar waren Annäherungen willkommen, Grund zur Freude jedoch nur die Verwirklichung von M und i und l und ch in einem einzigen Wort (das obendrein die Verkleidung sein mochte von einem anderen namens Dust, noch zu verändern mit einem entbehrlichen r an kaum begreiflicher Stelle). Marie hätte der Anderen die Freude nicht ungern bereitet; vorerst verlegte sie sich darauf, die zu beobachten, ihr etwas zu zeigen oder wegzunehmen. Auf Gespräch mochte sie sich nicht einmal einlassen mit Vorsicht. Denn sie sollte die Worte auch noch abliefern in Folgen, die selten beliebig waren. Und sah sie richtig, so machte die Andere aus ihr gleichzeitig einen Jemand, der Auskunft über trockene Gefühle im Hals verweigerte mit einer überlegten Absicht: aus Übermut, aus Taktgefühl oder Eigensinn: drei mimische Angebote, drei mögliche Zusagen mit nichts als den Mitteln des eigenen Gesichts. Zwar, damals begann auch das Geheimnis zwischen beiden: so wie mit dieser Anderen sprach Marie mit Niemandem, nicht mit den Erzieherinnen und gar nicht mit den Kollegen, die auf ihre Weise den Beruf eines Kindes erlernten; selbst das wortlose Verständigen zwischen ihr und der Anderen war für Fremde nicht kenntlich. Und in der Nähe hatte sie Niemand, der es bequemer gab und zu dem eine Flucht lohnte; nur diese eine Partnerin, verfügbar und lästig in einem.

Da sie keinen Vater zum Leben hatte, gab es lange das Wort nicht für sie, und lange nicht mehr als den Begriff davon. Auch verstand sie mit zweieinhalb Jahren nicht Fragen nach einer Mutter. Sie hatte keine; sie führte ein Leben mit einer Person, die Ine, Sine, G-sine hieß, als Schutz erträglich, als Kollegin um einiges zu schlau.

Die bestand nicht auf Gehorsam, ihre Wünsche wurden nicht im Handumdrehen gültig; man konnte Schlafenszeiten bei ihr durchsetzen, auch Ausflugsziele, und hatte man einen Baum mit brennenden Kerzen weggewünscht, so versteckte die Andere zuverlässig, wie aus einem Streichholz eine Flamme herausplatzt. Und Widerspruch wünschte die Andere so dringlich, daß das Kind sich ausdenken mußte und sogar erinnern, was doch als Gefühl oder vergeßbarer Anblick wohler getan hätte. Nur, es war nicht anzukommen gegen jenen Teil der Anderen, der »Arbeit« hieß (etwas Verbündetes? etwas Gegnerisches?). »Arbeit« wollte Reise in einem Flugzeug nach Westberlin, »Arbeit« wollte Wohnen in fremden Häusern mit Leuten von noch rätselhafterer Sprache; da reichte Gehorsam nicht aus, und Neugier half, wenn es eine Wahl ohne und gegen die Andere schon nicht gab. Dann war das Kind mit Aufenthalten im Ausland versöhnt durch das Zurückkommen nach zählbaren Tagen, und ging harmlos mit nach Frankreich und auf ein Schiff nach Amerika. Nach einer Woche auf See erwies sich, daß die Andere zu schlau gewesen war. Die Reise war ein Umzug gewesen, der Komplize oder die Feindesmacht »Arbeit« verhinderte die Rückkehr nach Europa, und aus der Gewohnheit der morgendlichen Trennung war unverhofft ein Abkommen geworden, auszuführen in einer Vorschule am Hudson mit ganz neuer Sprache. Marie lebte schon zwei Jahre in New York und konnte noch das Zimmer beschreiben, das sie am Rhein zurückgelassen hatte. Längst bewegte sie sich im Deutschen wie in einer ersten Fremdsprache; dennoch verwies sie auf anderswo zurückgelassene Rechte, auf ein Bewußtsein von Unrecht, und hatte New York angenommen als ein Geschenk und verteidigte die neu erworbene Stadt als ein Recht.

Früher als ein Kind auf der anderen Seite, noch nicht einmal eingeschult, begann sie hier gleichzuziehen mit der Anderen. Es war mit deren Englisch so weit her doch wohl nicht gewesen; beherrschte das Kind nicht rascher die verwischten Lautfarben, die unmerklich ansetzenden Hauchtöne, die strengen Satzmelodien der Einheimischen? Hörte die Andere nicht zu, und ließ sich Worte wiederholen, als wolle sie lernen? Wer machte die Familie Cresspahl zu angesehenen Kunden in Maxies Obstmarkt wie bei Schustek, wenn nicht das Kind, das die Ware vorkostete und den Einkauf mit Kopfnicken guthieß? Wer wußte als Erste, daß Rebecca Ferwalter kein beliebiges Kind war, sondern den Sonnabend Sabbath nannte? Wer sorgte dafür, daß wir auf der 95. Straße den nördlichen Bürgersteig entlanggingen, nicht bei den Puertorikanern auf der anderen Seite und ihrem Grund zum Streit, den das Kind schon gemerkt hatte, als die Andere immer noch von den »fröhlichen Häusern« redete? In der Subway, wer wußte deren Namen gleich auf Amerikanisch auszusprechen, und war es nicht das Kind, das unter den Routen zum Atlantik die schnellste herausfand? Daß der Bürger in diesem Lande seinen Polizisten anredet mit »sir«, auch wenn Unfall oder Feuersbrunst dringender sind, wer mußte dies der Älteren erklären? Die Jüngere, die überlegene.

Siege. Und doch, wie langsam geriet die Abtrennung, die Unabhängigkeit in diesem Gelände des Kräftemessens, des Wettbewerbs, des Kampfes, des Trainings – wie lange mußte Marie den eigenen Leumund noch beziehen von der Anderen, der unausweichlich Vorgesetzten! Sie war inzwischen »my mother« geworden, für Auskünfte in der Schule, sachlich erteilt oder zu Zwecken der Verteidigung. Meine Mutter stammt aus einem kleinen Ort an der Baltischen See; jedoch ihr Vater ist wohlhabend gewesen. Das Kind von Mrs. Cresspahl sollte seine Mutter mit dem Vornamen anreden, mit »Dschi-sain« im Scherz, durfte ihr im Scherz bemutternde Ratschläge geben. Das Kind von Mrs. Cresspahl kannte in der Schule nicht viele Mütter, die das Geld mit eigener Arbeit verdienten, und Marie zog es vor, darauf stolz zu sein. Die Schülerin Cresspahl hatte eine Mutter, deren oberster Akzent klang ausländisch, wenngleich britisch. Cresspahl las sich die Augen wund wie die Finger krumm im Schuljahr 1964/65, nicht eine Streberin, nur ihrer Mutter wegen, die ein Kind mit ungenügenden Zensuren zurückbringen wollte nach Europa. Mary Cresspahl, vierte Klasse, sie mochte aus eigenem Schick bestehen auf der Anrede »M’rie«, vielleicht hatte sie sich auch das mit den Zöpfen allein ausgedacht, eine Petze war sie nicht, sie war firm im Jargon der Schule; ihr Verhalten in Religion hatte sie von ihrer Mutter bezogen, das zu den Juden auch, das zu Versprechen desgleichen, alles europäische Sachen womöglich, aber Fremdes. Marie war früh auf Kinder getroffen, die sprachen harmlos von Haß gegen ihre Eltern; vielleicht war es nur das Aussprechen, das Marie sich noch verbot.

»Das Leben mit meiner Mutter war nicht leicht«: solchen Satz mag Marie denken können, wenn auch im Englischen versteckt, und als Vorrat für eine Zukunft, in der ein Zuhörer noch nicht ausgesucht ist. Die Mutter hatte aus ihrem Europa Ideen mitgebracht, die sollte das Kind hier gebrauchen. Alle Menschen seien mit gleichen Rechten ausgestattet, oder zu versehen. Wie konnte Marie danach handeln? Sie konnte der Mutter zeigen, daß sie für eine schwarze Frau im Bus den Sitzplatz eben so beiläufig räumte wie für eine Rosane, sie kann zu Jason in unseren Keller steigen und ihn trösten über die lange lange Zeit bis zum Sonnenuntergang; aber die einzige schwarze Francine in der Schulklasse unter eine europäische Obhut nehmen, wie sollte das ausgehen mit den hellhäutigen Freundinnen? Davon mußte etwas fehlen in Erzählungen zu Hause, und am übelsten war das unablässige Vertrauen der Mutter auf eine Wahrheit, die durch die Lüge nun erst entstand, zusammen mit anderen Unternehmungen zugunsten Francines, die Marie erst recht hatte vermeiden wollen. Die Mutter lehrte einen Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen; wie kann ein Kind von der Jahreszahl 1811 (Aufstand der Shawnees unter Tecumseh) noch einmal überleiten auf den amerikanischen Krieg in Viet Nam, wenn schon der erste Versuch Freundschaften und fast eine Zensur riskiert hatte? Privat, auf eine nicht verbindliche Weise gegen den Krieg von heute reden, es ließ sich einrichten, vielleicht in der Hoffnung, die Mutter werde solch eigensinniges Auftreten auch in der Schule annehmen. Aber die Hoffnung war ungefähr, es saß die Lüge in Antwort wie Frage wie Verschweigen, und gerade die Lüge wollte die Mutter ausgeschlossen wissen. Begriff sie denn nicht, daß ihr Kodex akzeptiert war, aber nur in der anderen Sprache möglich, nicht ins Denken und nicht ins Tun zu übersetzen? Sie selber war nicht ehrlich, einer Sache Sozialismus wollte sie den Vorzug geben, in einem kapitalistischen Land arbeitete sie, in einer Bank! Da kann ein Kind nicht gut den Umzug in den Sozialismus vorschlagen, eben der Stimmigkeit zuliebe, denn es verlöre seine ganze Stadt New York mit allen Freunden und Subway und South Ferry und Bürgermeister Lindsay, und muß es belassen bei der Unredlichkeit, die aber nicht sein soll. Dann aber, wenn die Mutter sich wahr macht, unwidersprochen von seiten des Kindes, und geht für die Sache Sozialismus weg von New York, womöglich in diesem Sommer, sitzt die jüngere Cresspahl in der Tinte, und hat sie anrühren helfen. Das wird Marie einmal sagen über ihre Mutter, Gesine Cresspahl (Mrs.): Das Leben mit ihr war nicht ein leichtes Bündnis.

Zwei Tage Ferien auf dem Lande. Wechselnde Bewölkung, gelegentlich Sonnenspiegelung im starren Wasser.

Marie hat viele Geschäfte rund um die Schule am oberen Riverside Drive, um den Broadway auf der Oberen Westseite Manhattans; am Patton Lake war es still. In der Stadt muß sie nur wenige Stunden mit der Mutter zusammen sein; am Patton Lake hockte sie gelegentlich so zerrüttet und verrutscht auf dem Bootssteg, wartend wie in einer Wüste, und hätte noch die Landung eines Armeehubschraubers hingenommen als eine Erlösung von dem ununterbrochenen Zusammensein, und dem Bewußtsein davon.

– Nein: sagte sie: Nicht von der Armee. Aber von Radio Boston. (Dann blieb sie ihrer Höflichkeit treu und sprach von selbstverschuldeter Langeweile.)

Sie las in den Zeitungspacken, die sie angeschleppt hatte. Da haben sie doch in Brooklyn Charlie LoCicero, einen Ältesten der Mafia, in seinem Eckcafé tot geschossen, als er an seiner Malzmilch mit Erdbeer schlürfte. Elfte Avenue Ecke 66. Straße, Marie hätte gern den Tatort einmal besichtigt, und morgen wird es versäumt sein. Im Hudson am Pier 86 sind fünf Kriegsschiffe der N. A. T. O. vor Anker gegangen, die New Yorker werden Schlange stehen bei den Zerstörern, und Marie hätte da auch einmal durchgehen mögen mit einem fetten schwarzen Farbstift und Zeichen hinterlassen, Fratzen oder das Symbol der Atombombengegner (– Das letztere: sagt sie). Aus den reichen Vororten sind Leute in die nördlichen Slums der Stadt gekommen und haben dort ein wenig gefegt, geputzt und gemalt, das Innere der Häuser mit Schaben und Ratten jedoch ungeschoren gelassen (– Damit sie beim Durchfahren ein besseres Gewissen haben: sagt Marie). Dennoch, auch sie hätte den Gästen aus der Wohlhabenheit gern zugesehen, und wäre nicht am Lake Patton gewesen, sondern in New York.

Gelegentlich brachte sie internationale Nachrichten nach draußen, nicht ohne daß sie der Mutter den Liegestuhl ein wenig nach der Sonne gedreht und die Decken fester gezogen hätte. Tatsächlich überreichte sie die Ausrisse, als hätte sie es mit einer Invaliden zu tun. Dabei kann man unauffällig eine Hand länger als nötig auf der Schulter der Anderen liegen lassen; so sieht es nicht zu anhänglich aus, oder geradezu zärtlich.

In Bonn hat die Luftwaffe gestern morgen den fünfzigsten Todestag des Barons von Richthofen gefeiert, des Abschießers von achtzig französischen und britischen Flugzeugen. Im Gefängnis Klingelpütz zu Köln werden offenbar die geisteskranken Häftlinge gewohnheitsmäßig totgeschlagen. Marie nimmt das Blatt schweigend zurück, erwidert das Nicken, verzieht sich schweigend ins Innere des Hauses.

In so ein Land willst du nun zurück, Gesine.

Ich bin noch nicht ehrlich, Marie.

Können wir auch hier haben.

Vielleicht bleiben wir.

Siehst du!

An das Fernsehgerät der Gastgeber geht sie nicht. Vor sechs Jahren hat Gesine Cresspahl die Fernsehprogramme der U. S. A. als schädlich befunden für ein Kind, und es gibt keinen Apparat in unserer Wohnung. Marie geht zu Freunden, oder zu Jason in den Keller, wenn sie eine Sendung braucht, aber hier läßt sie sogar das Radio in Ruhe. So kann sie einmal hinweisen auf ein verjährtes Versprechen und zum anderen zeigen, daß sie die Ferien auf dem Lande nicht stört mit Lärm.

Es ist ihr nicht behaglich neuerdings, daß jemand vierzig Stunden in der Woche arbeitet nicht für sich allein, sondern auch für ihr Leben und Schulgeld. Als Belohnung hat sie mir für das Jahr 1982 ein Haus versprochen in jener Gegend von Richmond, wo die Insel am stillsten ist.

Jedes Mal zog Marie sich um für einen Gang weg vom Haus. Die umliegenden Ferienvillen sind noch kaum belegt. Sie würde der jungen Frau an der Tankstelle begegnen, ein oder zwei Hunden, und sie hätte mit dem Altenteilbauern im Kaufhaus zu verhandeln. Aber sie vertauschte Hose und Pullover gegen ein ausführliches Kleid, schicklich für einen Kirchgang, sie klammerte ihr Haar in einen säuberlichen Pferdeschwanz, sie putzte ihre Schuhe für den Weg um den See. Die Einheimischen sollen nicht sagen können, ein Kind aus New York wisse sich nicht zu betragen auf dem Lande.

Und als der erste Fremde ihr einen guten Morgen gewünscht hatte, entbot sie allen Folgenden die Tageszeit, New York zuliebe.

Sie kam zurück und rätselte über Leute in New York, die Mrs. Cresspahl auf einer Party zum ersten Mal sehen und nach einer halben Stunde Gesprächs ihr Schlüssel versprechen für ein Sommerhaus am Lake Patton. (Sie trug es beiläufig vor; es sollte jedoch ein Lob sein für Mrs. Cresspahl. Die Mutter muß pflegerisch behandelt werden; morgen früh beginnt die Arbeit.)

Sie brachte einen Text aus der New York Times, am Sonnabend übersehen, und übergab diesen sachlich, von Amts wegen, Material für die Arbeit: In der Stadt haben wir eine zuverlässige Tante, sie sorgt für uns.

In 36 Zeilen bringt sie unter, daß der Außenminister der Č. S. R. Jan Masaryk im März 1948 aus dem Fenster fiel und daß Major Augustin Schramm, Sicherheitsbeauftragter im Außenministerium und der Mitschuld verdächtigt, ermordet wurde. Nunmehr ist ein Major Bedřich Pokorný, der beide Todesfälle zu untersuchen hatte, vor drei Wochen erhängt in einem Waldgebiet bei Brünn gefunden worden.

Hast du das geglaubt im Jahr 1948? als du fünfzehn Jahre alt warst?

Gestern abend haben wir erst über den Juli 1945 verhandelt. Wollen wir springen in der Erzählung?

Nein. Aber ich seh schon.

Du siehst was.

Du willst nicht darüber sprechen, Gesine.

Dann mußte sie noch eine halbe Stunde aushalten mit Sergeant Ted Sokorsky, dem Landpolizisten, der die Schlüssel der Gastgeber in Verwahrung hat. Mr. Sokorsky ließ sich freundlich nieder auf dem Bootssteg, nahm schüchtern ein Bier entgegen und begann in taktvollen Ausdrücken ein Gespräch über das Wetter. Er sprach sehr leise, und Marie nahm es für seinen Respekt vor Mrs. Cresspahl, einer Dame und Besucherin aus New York. Er war jung genug, und Marie hätte ihn gern bitten mögen um eine Tour rund um den See auf seinem ungefügen Motorrad, aber sie wollte ihm lieber vorführen, zu welcher vornehmen Zurückhaltung gewisse Mütter ihr Kind erziehen. Mr. Sokorsky sparte nicht mit der Anrede »madam« für Mrs. Cresspahl, er brachte nach dem Abschließen des Hauses eine Verbeugung aus dem Nacken heraus zuwege; nie wieder wird Marie ihn sehen, und auf Jahre hinaus wird sie in einem Gespräch über Polizei auf einen kommen, heißt Ted Sokorsky, nicht bullig sondern fast schmächtig, und mit welcher Ehrerbietung der meine Mutter behandelt hat, ich würd es Ihnen vorführen.

Aber nun sind die Ferien auf dem Lande zu Ende, längst sind wir gegenüber Manhattan auf der Autobahn über die Pallisaden, und Marie ahnt schon die Stelle in den zierlich behauenen Wohntürmen, wo der feucht lilane Widerschein der abendlichen Sonne fünf Fenster trifft, hinter denen wird sie die Lampen einschalten, alle auf einmal.

– Wenn du es erlaubst: heißt das: Gesine. By your gracious permission.

22. April, 1968 Montag

Morgens hing schwerer Dunst über dem Hudson, verblüffend hell, und wie ein Gast beim Frühstück zog er sich von Zeit zu Zeit ein weißes Auge frei, das blickte blind, blinzelte.

Wer aber das Wetter New Yorks noch immer nicht versteht, gerät dann unter leichten Sprühregen auf dem Berg der 96. Straße zum Broadway, vom Zeitungsstand in die Ubahn hinunter lief sie schon, die Lexington Avenue entlang trottete sie wie viele andere zur Arbeit, die zum Dach gefaltete New York Times über dem Kopf.

Spähte unter dem Rand hinauf zur Ampel an der 45. Straße, sah im Innern des Daches den Krieg übers Wochenende nachgeliefert: 31 tote Viet Congs in Kämpfen nordöstlich Saigons am Sonnabend, gestern morgen noch einmal 15 weiter nördlich …, trat vorwärts im Gedränge, eingefaßt von fremden Ellenbogen. Erst mittags, in der getrockneten Zeitung, las sie nach, daß die New York Times die Kämpfe um die fremde Hauptstadt nicht als amerikanische Verteidigung sehen mag, lieber als Offensive.

Ihre Wettervorhersage für heute: Sonnig und milde. Nicht dieser scharfe Regen.

Helles, ebenmäßig von Hitze abgestütztes Wetter, es war Marie nicht recht als einzige Erinnerung an den ersten Sommer der Neuen Zeit in Jerichow, und es ist doch fast einundneunzig Jahreszeiten her, und mehr als sechstausend Kilometer entfernt. Faulheit beim Erzählen nannte sie es. Hockte vor dem Ferienkamin, zog dem Feuer neue Stützen ein, bis sie im umsichtigen Arbeiten den Kienspan fand, der zum anderen Feuermachen taugte. – Die Russen sollen nicht fair gewesen sein als Sieger: sagte sie.

Sag es ihr, Gesine.

Damals war ich ein Kind. Zwölf Jahre alt. Was kann ich wissen?

Was du von uns gehört hast. Was du gesehen hast.

Sie wird das Falsche benutzen.

Sie ist ein Kind, Gesine.

Die Toten haben leicht reden. Seid ihr aufrichtig gewesen zu mir?

Mach es besser als wir.

Und damit sie weiß, wohin sie mitkommen soll, und zu wem.

Und uns zuliebe, Gesine. Sag es ihr.

Jerichow, all das westliche Mecklenburg war noch besetzt von britischen Truppen, abgesperrt durch bewaffnete Linien, und längst waren die Sowjets angekommen, nicht zu sehen und doch anwesend in Gespräch wie in den verschwiegenen Ängsten: als Gerücht. Sie waren nicht mehr die undeutlichen Untermenschen, die Volksaufklärung und Propaganda der Reichsregierung seit 1941 in Deutschland eingepflanzt hatten; nicht einmal waren sie die fotografischen Aufnahmen aus ostpreußischen Dörfern, wo deutsche Einheiten noch einmal hatten zurückstoßen und auf den Auslöser drücken dürfen vor mißhandelten Frauenleichen, an Scheunentore genagelten Kreuzen von Männern; die Reichsregierung hatte zu viele Nachrichten erfunden und mit falschen Bildern beweisen wollen. Bei meinem Vater lag ein Kind krank, Hannah Ohlerich aus Wendisch Burg, deren Eltern hatten der Reichsregierung nicht viel geglaubt als eben dies Letzte und hängten sich auf am Hals: vor der Zeit, bevor sie die Fremden aus dem Osten mit eigenen Augen, eigenen Ohren wahrgenommen hatten: sagten die Überlebenden, auch Leute in Jerichow, sicher unter britischer Verwaltung. Dann, schon Anfang Mai, kamen die Gerüchte nicht mehr von der verkommenen Reichsregierung, sondern von Freundschaft und Verwandtschaft aus dem restlichen Mecklenburg, dem sowjetisch besetzten, und waren fast Nachrichten. In Waren hatte ein Gegner der Nazis, bis zuletzt der »rote Apotheker« genannt, eine ganze Nacht gefeiert mit seinen Befreiern aus der Sowjetunion, bis sie doch allen Frauen im Haus Gewalt antaten und die Familie sich ums Leben brachte mit der giftigen Medizin, die gar nicht für solchen Zweck gespart worden war; die Nachricht saß fest an einem Namen, einem Marktplatz, einem Geschäft unten in einem Giebelhaus. In Malchin, in Güstrow, in Rostock hatten die Gerüchtmenschen versucht, Kartoffeln in Klosettschüsseln zu waschen, indem sie an der Kette zogen, und die nichtsahnenden Deutschen wegen der wegspülenden Sabotage mit Schußwaffen bedroht. Aus Wismar wurde berichtet, es hätten nächtens drei sowjetische Soldaten zwischen den britischen Posten hindurch einen Regulator zu einem Uhrmacher geschleppt, damit er ihnen daraus dreizehn Uhren für die Handgelenke anfertige; denn solche waren im sowjetmecklenburgischen Gebiet knapp geworden durch die ausländische Gewohnheit, stehende Uhren nicht aufzuziehen und als kaputt ins Gebüsch oder Wasser zu werfen. Eine Menge Schloßsitze waren niedergebrannt, weil die plündernden Schemen an elektrische Beleuchtung nicht glaubten, selbst wenn sie noch geliefert wurde, und sich das Suchlicht aus Fidibussen von Papier herstellten. Für ein Mikroskop aus der pathologischen Abteilung einer Universitätsklinik ließen die sich zwei Flaschen Likör verkaufen, sie schossen mit scharfer Munition auf Tauben, und zum schwermütigen Singen waren sie angeblich gar nicht imstande. Dies alles, und ihre Vernarrtheit in Kinder, war unglaublich und bekannt in Jerichow, als die Briten abzogen, und noch einmal ertränkten, erhängten und vergifteten sich Bürger und Flüchtlinge in der Stadt, aber nicht alle aus Angst vor der neuen Besatzung: Pahl hatte nicht gewußt, wohin nun ziehen, und Dr. med. Berling hatte das ganze Studieren nicht geholfen gegen die Schwermut. Die anderen blieben, am 3. Juli dreieinhalbtausend geschätzte Personen, in Jerichow.

 

– Aus Neugier? sagte Marie vorgestern. Sie hatte sich nicht oft genug zum Lachen bringen lassen; sie hielt ihr Gesicht dicht am Kaminfeuer versteckt, den Blick so unverwandt auf den Flammen, als hörte sie nicht zu, oder doch nur einem von ihren Gedanken.

– Aus Neugier.

– Neugier mit eigenem Schaden hinterher?

– Es mußte nicht gleich der eigene sein.

– Herr und Frau Maaß, Markt 14.

– Solche. Und wenn ihnen nicht selber etwas zustieß, konnten sie erzählen hören von anderen.

– Und nur um zu sehen, ob die Gerüchte gestimmt hatten?

– Ja, und aus einer anderen.

– Keine Neugier für Kinder: stellte Marie fest.

– Vielleicht. Weil ich die Worte dafür nicht weiß, eher.

– Und wegen eurer Juden. Sechs Millionen.

– Wie kannst du so reden, Marie!

– Mit dir doch. Sie warteten auf die Quittung.

– Ja. Obwohl sie jene Nachrichten nicht glaubten.

– Wollten nun wissen, wie die Quittung ausfiel.

– Ja.

– Wie immer.

– Ja!

– Also doch Neugier: sagte sie.

 

Die Leute in Jerichow, ob Wohnberechtigte oder Flüchtlinge, blieben wegen des Daches über dem Kopf, mochte es das eigene sein oder ein geliehenes. Ohnehin ließen die Briten vom 2. Juli an niemanden mit Hausrat mehr über den Travekanal, ihre neue Grenze, da mußte einer schon ohne Gepäck schwimmen. Wulff blieb nicht nur wegen seiner Gastwirtschaft mit angeschlossener Gemischtwarenhandlung; er war auch Mitglied einer verbotenen Partei gewesen (Sozialdemokraten), wehrunwürdig obendrein, und wenn er nicht gerade Belohnung erwartete, so mochte er auf geschäftliche Gerechtigkeit vertrauen. (– Neugierig war er: sagte Marie.) Von Papenbrock war inzwischen zu ahnen, was ihn hielt. Mein Vater blieb, weil die Briten ihn zum Bürgermeister gemacht hatten und er die Amtssachen nach der Ordnung übergeben wollte. Und zumindest die Einheimischen vertrauten auf den Anblick von Jerichow.

Denn was konnten die Fremden sehen an dieser kleinen Stadt weitab von den Straßen, mitten in einem Landwinkel an der Ostsee, und nicht einmal im Besitz eines Hafens? Von woher sie auch kamen, von weitem sahen sie bloß ein niedriges Gemenge geringfügiger Häuser. Der Bischofsmützenturm, so hoch er stehen mochte, so dicht er eingewickelt sein mochte vom Laub sechshundertjähriger Bäume, er war ein Zeichen vergangenen Reichtums, nicht für gegenwärtigen. Sie mochten die Schlösser Mecklenburgs gesehen haben, großstädtische Prunkstücke in Parks, sie waren wohl entlangmarschiert zwischen den Geschäftshäusern der Vorderstädte, Beweisen aus der Kaiserzeit; in Jerichow fanden sie wenig Bauten, die ein Stockwerk überstiegen. Wenn sie verputzt waren, so hatte die Kriegswirtschaft große Löcher über den Ziegelsteinen reißen lassen, und in den Fachwerkbauten hatte das Holz zu lange schon warten müssen auf Farbe, und auf Karbolineum sogar. Worauf kamen die Siegesberechtigten denn angefahren? nicht auf Asphalt, sondern auf einem holprigen Pflaster aus Katzenkopfsteinen, und am Rande war nicht einmal ein blaubasaltener Doppelstreifen für Fahrräder eingesetzt (passend zu dem Gerücht von der Ungeschicklichkeit der Sieger mit Fahrrädern). Blieb die Ziegeleivilla, in die hatten sie ihre Kommandantur gesetzt. Das Stadthaus derer von Lassewitz, jetzt Papenbrocks, hatten sie rückwärts gehend wieder verlassen, als sie in allen Zimmern Flüchtlinge versammelt sahen (so daß an ihrer angeblichen Furcht vor Seuchen etwas Wahres sein mochte). In Lindemanns Lübecker Hof hatten die Engländer ihren Club unterhalten, sollten die Sowjets da ihren eigenen Namen anbringen. Der Marktplatz mochte für Uneingeweihte um ein Weniges zu geräumig erscheinen; womöglich würde da manch ein Besitzer von Dreistöckigem an Enteignung glauben müssen. Daneben mußte den Sowjets die kreisfreie Stadt Jerichow also erscheinen als ein gleichmäßiges Gelände voll Armut, in dem sie nichts zu plündern hatten, weil ihnen nichts gezeigt wurde.

Bis zum Sonntag nach dem Einmarsch der ersten Sowjets, bis zum Abend des 8. Juli, wurde nur ein einziges Gerücht wahr. Bei Otto Quade, Klempnerei und Installation, war ein Rotarmist in den Laden eingedrungen und hatte über die niedrige Trennwand auf eine Attrappe aus Vorkriegszeiten gedeutet. – Wassergahn: hatte die Rote Armee zu Bergie Quade gesagt. Bergie, nach allen Rezepten ältlich angezogen, schmutzig im Gesicht, einen mit Hühnermist beschmierten Unterleibsverband unterm Rock, hatte mit Quadescher Geistesgegenwart zur Antwort gegeben: sie denke nicht daran, ins Wasser zu gehen. Habe sie gar nicht nötig. Wenn er aber wissen wolle, wer hier alles ins Wasser gegangen sei, ob ins Bruch, oder in die Ostsee –? Diese Aufzählung hatte die Rote Armee nicht abgewartet, und war abmarschiert mit einem Kopfschütteln, das für Bergie tadelnd aussah, sie konnte sich nicht helfen. Der blieb in der ersten Woche der einzige Soldat, der ohne Begleitung in Jerichow gesehen wurde. Der Kommandant hatte sich samt Besatzung einnageln lassen in der Ziegeleivilla und verständigte sich mit den Deutschen über Befehle, die er durch Cresspahl am Rathaus anschlagen ließ. Auf dem Fliegerhorst Jerichow Nord, dem unglückseligen Zeichen für die Teilnahme der Stadt am Krieg der Anderen, war immer noch kein sowjetisches Flugzeug gelandet, und so brauchbar das mit Stacheldraht eingezäunte Gelände gewesen wäre als ein Straflager, die Neuen benutzten es nicht einmal dazu.

Wie also war das Wetter in Jerichow in der ersten Juliwoche 1945?

All de Gerüchte, is woll doll œwerdreewn (B. Quade).

Und wenn sie nicht übertrieben sind, so trauen sich die Russen nicht dazu bei Leuten, die Erfahrung mit britischer Besatzung haben (Dr. Kliefoth).

Ilse Grossjohann ist aber doch vergewaltigt worden (Frieda Klütz).

Sie mischen sich nicht in die Stadtverwaltung, sie benutzen den Flugplatz nicht – das dauert nicht (Ehepaar Maaß).

Die Briten kommen also wohl zurück, Papenbrock (Creutz sen.).

Was Cresspahl macht, daß er sich nicht geniert (Käthe Klupsch).

Mag sein, wir kommen zurück zu Schweden. Is doch bloß zweihundert Jahre her (Frau Pastor Brüshaver).

Papenbrock is eben Elite. Geschäftlich, mein ich (Else Pienagel).

Die haben ja Angst vor uns. Ausgehverbot in der Nacht! Angst haben die! (Frieda Klütz).

Am Ende fahren sie doch nachts über Land (Frieda Klütz).

Im Krieg heißen solche Sachen Latrinenparolen (Alfred Bienmüller; Peter Wulff).

Töw du man, du (Gesine Cresspahl).