Niklas Luhmann hat bekanntlich eine allgemein ansetzende Theorie der Macht entworfen, die zeigt, wie sehr Machtlagen von Gesellschaftsstrukturen und insbesondere von Differenzierungsformen abhängen und sich mit ihnen ändern. Macht im System entstand in den späten 1960er Jahren und zeugt von der Bedeutung des Themas im Frühwerk Luhmanns. Anders als in späteren Fassungen seiner Machttheorie argumentiert er hier eher systemtheoretisch als kommunikationstheoretisch. Macht im System ist somit auch ein aufschlußreiches Dokument der Systemtheorie im Werden.
Niklas Luhmann (1927-1998) war Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Politische Soziologie (2010 und stw 2068).
Macht im System
Herausgegeben
von André Kieserling
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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eISBN 978-3-518-73537-4
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Einleitung
I. Klassische Prämissen der Machttheorie
II. Systemtheoretischer Machtbegriff
III. Generalisierung von Einfluß
IV. Entscheidung
V. Reflexivität
VI. Differenzierung
VII. Systemtheoretische Prämissen der Machttheorie
VIII. Zur Theorie des politischen Systems
Editorische Notiz
Systemtheoretische Überlegungen sind in fast allen empirischen Wissenschaften im Vordringen begriffen. In der biologischen Forschung sind die Erfolge der Systemtheorie unbestreitbar und haben Anlaß gegeben, eine »allgemeine Systemlehre« zu fordern.[1] Die Psychologie beginnt, grundlegende Einsichten der Psychoanalyse zu einer Theorie des umweltbezogenen Persönlichkeitssystems umzuformulieren.[2] In der Ethnologie ist eine funktionalistische Systemforschung beheimatet, die sich sehr rasch auch in der Soziologie ausgedehnt hat. Auch außerhalb der faszinierenden Begriffsbauten der Parsonschen Systemtheorie[3] finden 8sich in der heutigen Soziologie manche Ansätze zu einer Theorie des sozialen Systems.[4] In der Politischen Wissenschaft schließlich werden die alten Begriffe government oder Staat heute vielfach durch den Begriff des »politischen Systems« ersetzt, was nicht nur modische Anpassung, sondern eine grundlegende Revision der Sachkonzeption, zum Beispiel ihre Übertragung von der personalen auf die rollenmäßige Ebene, bedeutet.[5]
Dieser Eindruck lockert sich zwar bei näherem Hinsehen, da unter »System« sehr Verschiedenes verstanden wird. Gleichwohl handelt es sich bei »der Systemtheorie« nicht um ein durch ein Wort nur lose zusammengehaltenes Konglomerat von Begriffen, Hypothesen und Forschungsansätzen. Bestimmte durchgehende Konzeptionen zeichnen sich ab. Die rein interne Betrachtungsweise des Systems als eines Ganzen, das aus Teilen bestehe, wird mehr und mehr ersetzt durch eine umweltbezogene Betrachtungsweise. Dabei wird die Umwelt im Verhältnis zum System als übermäßig komplex begriffen. Die Umwelt zeichnet mehr 9Möglichkeiten vor, als im System aktualisiert werden können. Ein System kann sich daher nur durch Selektionsleistungen konstituieren, nämlich durch Reduktion der Möglichkeiten der Umwelt auf ein geringeres Maß an Komplexität und damit auf eine höhere Ordnung, in der menschliches Erleben und Handeln sich sinnvoll orientieren kann. Soziale Systeme sind, funktional definiert, Sinnbeziehungen zwischen menschlichen Handlungen, die Reduktion von Komplexität leisten.
Ob dieser Entwicklung einer Systemtheorie mit sehr weitreichendem, im Prinzip universellem Geltungsanspruch bedenkenlos zugejubelt werden kann und ob sie allein auf Grund ihrer eigenen Leistungen beurteilt werden sollte, ist immerhin eine Frage wert. Es könnte ja sein, daß wichtige alte Themen dadurch verlorengehen oder doch in dem neugeschaffenen begrifflichen Bezugsrahmen nicht adäquat ersetzt werden können. Dies Bedenken stellt sich einmal und vor allem im Hinblick auf den Verlust des Kontaktes mit der alteuropäischen praktischen Philosophie, besonders mit ihrer ethischen Handlungskonzeption und ihrer politisch-naturrechtlichen Gesellschaftslehre. Deren Wiederherstellung, die zum Beispiel Hennis[6] anregt, liegt weder in der Absicht noch in den Möglichkeiten der Systemtheorie. Gerade aus der Distanz aber sollte sie in der Lage sein, ein problemorientiertes 10Gespräch mit den Denkern der Tradition zu führen. Wie weit eine solche Auseinandersetzung möglich und schon vorbereitet ist, kann hier nicht angemessen erörtert werden. Wir fassen ein damit verwandtes, aber engeres Thema ins Auge.
Systemtheoretischen Analysen wird nicht selten und, wie es scheint, mit gewissem Recht vorgeworfen, das Phänomen der Macht zu übergehen, wenn nicht zu verkennen.[7] Und in der Tat hatte zum Beispiel die sozialpsychologische Organisationsforschung der sogenannten human relations-Bewegung, die kleine Gruppen als soziale Systeme zu erforschen suchte, in ihrer Behandlung von Machtunterschieden ausgesprochene Schwächen,[8] ja, es fehlte zunächst eine Beschäftigung mit diesem Thema überhaupt.[9] Ferner hinterlassen amerikanische Forschungen über Kommunikationssysteme nicht selten den Eindruck, daß viel offenes und freundliches Miteinanderreden Machtanwendung 11erübrigen könne. Selbst manche Theorien des politischen Systems, die das Machtproblem auf einen Verteilungsprozeß zurückführen,[10] weichen dem alten Problem der Macht aus und ersetzen es durch eine Funktionsangabe. In der kybernetischen Systemtheorie wird man ebenfalls eine Berücksichtigung des Machtphänomens in der gewohnten Weise vermissen – wenn etwa Karl Deutsch Willen als Bevorzugung von Informationen aus dem eigenen Gedächtnis vor solchen aus der Umwelt definiert und Macht als die Fähigkeit, diese Einstellung durchzuhalten, beides also als »aspects of the pathology of social learning« begreift.[11] Ein neuerer Überblick über die wichtigsten, am häufigsten benutzten Begriffe der Systemtheorie nennt den Machtbegriff nicht.[12] Diese auffallende und anscheinend durchgehende »Machtblindheit« der Systemtheorie könnte verschiedene Gründe haben: Es könnte sich um die vorübergehende Unausgeglichenheit einer im ganzen 12noch nicht ausgearbeiteten Theorie von hoher Abstraktionslage handeln oder um ein ideologisches Vorurteil quietistisch-konservativer Prägung; es könnte aber auch eine der Systemtheorie inhärente Blickbegrenzung vorliegen mit der Gefahr, daß eine wichtige traditionelle Thematik verlorengeht, wenn die Systemtheorie ihren Herrschaftsanspruch durchsetzen sollte; oder schließlich könnte es auch sein, daß die traditionelle Bearbeitung des Machtthemas an einer unzulänglichen Begrifflichkeit gescheitert war und deshalb von der Systemtheorie nur unter Abbruch der begrifflichen Kontinuität und in ganz neuer Weise aufgenommen und weiterbearbeitet werden kann.
Um genauer zu sehen, um was es geht, wollen wir versuchen, einige Prämissen dessen zusammenzustellen, was man klassische Machttheorie nennen könnte. Eine genaue, logische Analyse der Aussagen bekannter Machttheoretiker würde allerdings zu weit führen und im übrigen sehr bald in Unsicherheit enden. Auch wird man sich nicht darauf verlassen können, daß die Prämissen der verschiedenen Machtbegriffe stets mitbegriffen worden sind. Wir stellen statt dessen als Diskussionsmaterial einige typische Definitionen des Machtbegriffs zusammen, um dann im groben zu sehen, von welchen Voraussetzungen sie ausgehen.
»The Power of Man […] is his present means, to obtain some future apparent Good.«[13]
»Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«[14]
»Power is present whenever and wherever social 14pressures operate on the individual to induce desired conduct.«[15]
»A has Power over B to the extent that he can get B to do something that B would not otherwise do.«[16]
»The Power of actor A over actor B is the amount of resistance on the part of B which can be potentially overcome by A.«[17]
»Power is the ability to influence because undesirable consequences would follow for the influenced person if he does not yield.«[18]
»A person may be said to have power to the extent that he influences the behavior of others in accordance with his own intentions.«[19]
Die gemeinsamen, ausgesprochenen oder unausgesprochenen Prämissen dieser Definitionen, deren Liste beliebig verlängert werden könnte, sehen wir (1) in der Annahme einer Kausalbeziehung, die (2) im Posi15tiven wie im Negativen feststehe und voraussehbar sei, (3) in der Voraussetzung bestimmter Bedürfnisse, (4) in der Orientierung am Konfliktsfall, (5) in der Auffassung der Macht als eines besitzbaren Gutes und (6) in der durchweg verschwiegenen Voraussetzung eines geschlossenen Systems, in dem (a) die Machtsumme konstant bleibt und (b) Machtbeziehungen transitiv, also hierarchisch geordnet sind. Diese Annahmen bedingen und stützen sich wechselseitig. Ihr Zusammenhang begründet die Einheit und Geschlossenheit der klassischen Machttheorie. Wohl keine dieser Prämissen ist unkritisiert geblieben. Eine jede hat ihre Einschränkungen, Ausflüchte, Rückzugspositionen gefunden. Man mochte sogar die eine oder die andere opfern in dem Glauben, daß die übrigen standhielten. Wenn man aber sehen lernt, in welchem Maße diese Einzelpositionen der klassischen Machttheorie einander bedingen, verschärft das zugleich die Kritik: Jeder Einwand trifft dann das Ganze. Der klassischen Machttheorie muß auf diese Weise zunächst zu einem hinreichenden Selbstbewußtsein verholfen werden; dann erst kann die Systemtheorie sich mit ihr auseinandersetzen.
1. Allen Machttheorien liegt eine Kausalannahme zugrunde.[20] Kausalität wird dabei im neuzeitlichen 16Sinne verstanden als eine Beziehung von Ursachen und Wirkungen, durch die die Ursachen die Wirkungen bewirken. Macht wird dann als eine dieser Ursachen angenommen, und zwar als die, welche den Ausschlag gibt, welche das Geschehen beherrscht. Macht über fremdes Verhalten ist dann gegeben, wenn das Verhalten bei Wegfallen dieser seiner Ursache anders abliefe.[21]
Mit diesen einfachen Überlegungen ist bereits der Kern der Schwierigkeiten erreicht, und alle weiteren Annahmen der klassischen Machttheorie dienen dazu, die Folgeprobleme dieser Auffassung der Macht als Ursache zu lösen oder doch abzuschwächen. Die Kausalbeziehung verknüpft nämlich eine unendliche Zahl von Ursachen mit einer unendlichen Zahl von Wirkungen. Dabei ist alles, was überhaupt Ursache ist, notwendige Ursache und könnte nicht entfallen, ohne daß die Wirkungen anders ausfielen. Allenfalls diejenigen spezifischen Ursachen, für die funktional äquivalente Alternativen entdeckt werden können, sind ersetzbar. Unter diesen Umständen wird man kaum behaupten wollen, daß Macht die einzige unersetzbare (und deshalb wesentliche) Ursache eines Verhaltens sei. Wenn aus der 17Gesamtheit der Ursachen eine einzelne als »Macht« ausgewählt und ihr besondere Bedeutung beigemessen wird, müssen demnach Selektionsgesichtspunkte vorausgesetzt werden, über die die Machttheorie Rechenschaft ablegen sollte.
Wir wissen, daß diese Selektion, das Zuschreiben der Ursächlichkeit an bestimmte Ursachen, ein sinn- und strukturbildender sozialer Prozeß ist, und zwar schon im Bereich der Natur, vor allem aber im Bereich des menschlichen Handelns.[22] Macht wird dort gesehen, wo sie erwartet werden kann. Aber auch über diesen Sonderfall hinaus ist die Ordnung des menschlichen Erlebens durch die Kausalkategorie nur in einer sozial und kulturell stabilisierten, auf vereinfachte, konsensfähige Formen reduzierten Welt möglich, deren Konstitution nur durch Einfluß von Menschen auf Menschen, durch Kommunikation, zustande kommt. In den Begriffen der Machttheorie ist Macht als soziale Wirklichkeit schon vorausgesetzt. Die Auffassung der Macht als Ursache kann nie an den Ursprung der Macht gelangen.
2. Die Kausaltheorie der Macht nimmt an, daß Macht wirkt, daß es also im Verhalten des Übermächtigten einen Unterschied ausmacht, ob Macht ausgeübt wird oder nicht. Fehlte der Machteinsatz, liefe das Handeln anders ab, als der Machthaber es wünscht. 18Damit wird es zu einer Voraussetzung für das Machtkalkül, daß der Machthaber weiß, wie sein Gegner handeln bzw. nicht handeln würde, wenn er unbeeinflußt bliebe, daß dessen Handeln bzw. Nichthandeln also schon feststeht, schon entschieden ist. Machtausübung betrifft nach dieser Konzeption immer nur die Änderung eines an sich feststehenden Verlaufs. Das läuft auf die Prämisse einer objektiv feststehenden Zukunft (also auf einen objektivistischen Zeitbegriff) und auf die Annahme vollständiger Informierbarkeit hinaus – beides Unterstellungen, die besonders auch für die klassischen Wirtschaftswissenschaften typisch sind.
In realen Situationen steht das Handeln anderer Menschen keineswegs immer im voraus fest, und selbst wenn es schon entschieden ist, weiß der Machthaber sehr oft nicht mit hinreichender Sicherheit, wie sein Gegenüber unbeeinflußt handeln würde.[23] Das gilt besonders dann, wenn es sich, wie die klassische Machttheorie annimmt, um einen Gegner handelt, der natürliche Gründe hat, seine wahren Absichten zu verschleiern. Es gibt faktisch in weitem Umfange auch Einfluß auf Unentschiedene, der nicht von einem schon feststehenden Kurs wegzerren soll, sondern nur vorsorglich geübt wird. Diese Unentschiedenheitslage bedeutet aber, daß weder in der Machteinsatzplanung noch 19in der nachträglichen Würdigung festgestellt werden kann, ob die Machtausübung eine Wirkung hatte oder nicht. Will man diesen Tatbestand in der Machttheorie berücksichtigen, führt das zu Schwierigkeiten in der Kausalkonzeption.[24] Man muß dann auch in den Fällen von Macht sprechen, in denen ihr Einsatz nur etwas zur Folge hat, was ohnehin geschehen würde, also ohne spezifisch zurechenbare Wirkung bleibt.
Damit verwandt ist ein anderes Argument, das zum Beispiel gegen die der klassischen Auffassung verpflichtete Machttheorie Robert Dahls[25] vorgetragen worden ist.[26] Macht schütze bestehende Zustände nicht dadurch, daß sie sie bewirke, sondern dadurch, daß sie unbestimmt bleibende Eventualitäten abweichenden Verhaltens ausschließe und dadurch eine Stabilisierung des Status quo durch andere Ursachen 20(zum Beispiel Einverseelung von Normen) ermögliche. Auch dieser Gedanke läßt sich in der klassischen Machttheorie nicht unterbringen, die zwar ein Unterlassen bestimmter, an sich beabsichtigter Handlungen als Wirkung der Macht erklären könnte, nicht aber die Reduktion der unbestimmt bleibenden Fülle aller abweichenden Handlungsmöglichkeiten auf eine bestimmte Ordnung.
3. Die klassische Machttheorie hatte weder die Unendlichkeitsproblematik der Kausalität noch die Unbestimmtheitsproblematik der Zeit und der Negativität aufgerollt und deshalb auch das Selektionsproblem nicht gesehen[27] oder, anders formuliert: Sie hatte Selektion nur in engen Grenzen als rational lösbares Problem gesehen und im übrigen der »Natur« der Welt und des Menschen überlassen. Sie ging, dem alteuropäischen Menschenbild entsprechend, davon aus, daß eine natura humana gegeben sei mit bestimmten, im wesentlichen festliegenden Bedürfnissen, die der Mensch durch zweckgerichtetes Handeln zu befriedigen suche. Diese Bedürfnisse waren hierarchisch strukturiert gedacht, 21und entsprechend strukturiert war das Handeln – an der Spitze das Bedürfnis der Verwirklichung jener Fähigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet und erst eigentlich zum Menschen macht: der Vernunft. Macht war erforderlich zur Befriedigung solcher Bedürfnisse durch ein Handeln, das als teleologische Wesensverwirklichung, später kausalmechanisch als Bewirken geschätzter Wirkungen ausgelegt wurde. Vom Handeln her konzipiert, stand die Machttheorie schon begrifflich immer unter der Kontrolle der Ethik und konnte allenfalls versuchen, sich von der gemeinmenschlichen Ethik freizumachen durch das Postulat einer besonderen Moral der Macht ratione status. Die Form der Ethik als Handlungskontrolle war damit nicht gesprengt. Sie saß und sitzt unabwerfbar fest, solange man der Machttheorie die Perspektive des Bedürfnisse befriedigenden Handelns zugrunde legt. Nur deshalb konnte auch die Legitimation einer spezifischen Moral der Macht als Problem diskutiert werden.
Die soziale Struktur und ihr Recht wurden dementsprechend im Wesen des Menschen als animal rationale verankert und auf sein Handeln bezogen. Somit gab es zwei Hauptprobleme, auf die der Mensch als soziales Wesen bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse stoßen konnte: Bedrohung durch andere und Angewiesenheit auf andere. Metus und indigentia waren die Problemformeln, pax und iustitia die Zweckformeln der civitas sive societas civilis. Zur Lösung beider Probleme schien politische Macht erforderlich zu sein. Durch diesen ihren Zweck wurde sie begründet, je nach der 22Zeitlage und der Tendenz des Denkens mehr mit Betonung auf Frieden und Bestandserhaltung oder mehr mit Betonung auf Gerechtigkeit und Güterverteilung. Noch heute scheint die Machttheorie durchweg von festliegenden Präferenzen, von der Konstanz der Bedürfnisse auszugehen, deren Variabilität sie zwar nicht prinzipiell leugnet, aber nicht mitthematisiert.[28] Und dies, obwohl das Problem der sozialen Komplexität inzwischen radikalisiert und so vertieft worden ist, daß es sich weder in der Handelnsperspektive noch in den beiden Problemformeln der alteuropäischen Tradition mehr einfangen läßt.
Der Mensch ist nicht nur in der Befriedigung, sondern schon im Entwurf seiner Bedürfnisse ein soziales Wesen. Konstitution von Sinn, ja von Welt überhaupt, ist eine intersubjektiv-geschichtliche Leistung,[29] und erst recht gilt dies für die Schematisierung der Welt durch kausale Begrifflichkeit. Aller Sinn könnte anders sein. Es gibt keinen natürlichen Stopp des Weiterfra23gens nach anderen Möglichkeiten, anderen Ursachen, anderen Wirkungen, sondern nur Abhängigkeit dieses Fragens von Geschichte und Struktur vorauszusetzender Sinnbildungsleistungen. Die volle Aufdeckung dieser sozialen Komplexität durch die Sozialontologie, die Soziologie, die Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts entzieht der klassischen Machttheorie die vorausgesetzte Bedürfnisstruktur, macht das Kausalfeld damit unübersehbar komplex und zwingt die Machttheorie, wenn sie weiterhin auf empirisch verifizierbare Aussagen über Kausalbeziehungen zwischen bestimmten Machtquanten und bestimmten Wirkungen hinarbeiten will, sich durch umfangreiche ceteris paribus-Annahmen abzusichern und sich damit in künstlich vereinfachte Situationen, letztlich ins Laboratorium, zurückzuziehen.[30]
4. Indem die klassische Machttheorie von bestimmten, feststellbaren Bedürfnissen ausging, hatte sie zugleich eine Konzeption zur Hand, die erklärte, daß und warum es zu Konflikten kommen müsse. In einer Welt knapper Befriedigungsmöglichkeiten widersprechen Bedürfnisse einander, und es kann daher unter Menschen zum Kampf um knappe Güter, letztlich zur Anwendung physischer Gewalt gegeneinander kommen. Das Faktum ist unbestreitbar. Die Frage ist, 24wie es in die Theorie eingeht und welche Funktion es dort erfüllt.[31]
Wie die Bedürfnisorientierung, so dient auch die Konfliktsorientierung dazu, die Komplexität eines sozialen Feldes kausaler Möglichkeiten zu vereinfachen, so daß der Mensch trotz seiner begrenzten Fähigkeit zur Informationsverarbeitung rational handeln kann. Zwar hat im Grunde jeder Mensch Macht über andere. Aber die physische Austragung eines Konfliktes polarisiert die Situation[32] und läßt nur die eine Seite als Sieger übrig. Dieses Ergebnis kann gedanklich vorweggenommen werden, so daß die Entscheidungsfunktion des Kampfes sich vom Handeln ablösen und auch dann benutzen läßt, wenn die Anwendung physischer Gewalt unterbleibt. Die Antizipation des Ausgangs erspart den Kampf – aber nicht die Orientierung am möglichen Kampf. So wird in der klassischen Theorie Macht sehr oft als Potenz, Chance, Fähigkeit usw., kurz als eine Möglichkeit definiert, die als solche schon wirkt.[33]
25Es liegt demnach nahe, das Wesen der Macht vom Konfliktsfall und diesen vom Kampfausgang her zu bestimmen. In einer solchen Theorie könnte die Macht dessen, der im Kampf verlieren würde, unberücksichtigt bleiben. Er hat im Grunde keine Macht. Alle Macht findet sich stets auf der einen Seite, die im Konfliktsfall die andere übermächtigen könnte.[34] Wer etwas mächtiger ist, hat alle Macht. Dieses Kalkül ließe sich perfektionieren, wenn Macht sich exakt messen ließe. Dann ließe sich das Ausmaß der Übermacht kalkulieren.[35] Wer daran glaubt, muß Kämpfe für unnötig hal26ten. Aber auch wenn man nicht so weit geht und einräumt, daß bei Zweifeln über Machtsummenverhältnisse Kämpfe für die Entscheidung benötigt werden,[36] besitzt man in der Konfliktsorientierung ein grandios vereinfachtes Konzept. Man umgeht damit das, was man in der neueren Entscheidungstheorie die »rationale Unbestimmtheit« sozialer Situationen nennt.[37]
Die Konfliktsorientierung vereinfacht auch insofern stark, als sie es ermöglicht, die meisten sachlichen und zeitlichen Differenzen zwischen Situationen zu neutralisieren. Im Hinblick auf einen etwaigen Kampfausgang können dauernd sehr verschiedenartige Forderungen durchgesetzt werden. Es kann dabei außer acht bleiben, daß einmal der eine und einmal der andere die stärkeren Bedürfnisse hat, oder daß in der einen Hin27sicht dieser, in anderer Hinsicht jener vom anderen abhängig ist und daß diese Abhängigkeiten von Situation zu Situation wechseln können. Die generalisierende, zu Indifferenz ermächtigende Konfliktsperspektive entlastet den Handelnden von einer Vielzahl komplizierter Erwägungen, vor allem von Rücksicht auf die Alternativen, die ihm und seinem Gegner in den einzelnen Situationen in je verschiedener Art und Zahl zur Verfügung stehen.